Es geht auch ohne Vati - Ursula Hellwig - E-Book

Es geht auch ohne Vati E-Book

Ursula Hellwig

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Beschreibung

Der Sophienlust Bestseller darf als ein Höhepunkt dieser Erfolgsserie angesehen werden. Denise von Schoenecker ist eine Heldinnenfigur, die in diesen schönen Romanen so richtig zum Leben erwacht. Das Kinderheim Sophienlust erfreut sich einer großen Beliebtheit und weist in den verschiedenen Ausgaben der Serie auf einen langen Erfolgsweg zurück. Denise von Schoenecker verwaltet das Erbe ihres Sohnes Nick, dem später einmal, mit Erreichen seiner Volljährigkeit, das Kinderheim Sophienlust gehören wird. Als Sylvia Landknecht die Wohnungstür öffnete, schlug ihr dumpfer Alkoholgeruch entgegen. Sie wunderte sich nicht darüber, aber es verbitterte sie, daß ihr Mann Manfred sich seit einiger Zeit regelmäßig betrank. In den ersten Jahren ihrer Ehe war alles anders gewesen. Sylvia glaubte damals, das große Los mit ihm gezogen zu haben. Aber das Glück und die Zuversicht hatten nicht lange angehalten. Auf einem Betriebsausflug hatte Manfred Jutta Reinhold kennengelernt. Sie war fast zehn Jahre jünger als er, und es schmeichelte ihm, daß sie sich für ihn interessierte. Er machte weder in der Firma noch zu Hause einen Hehl daraus, daß er mit dieser jungen Frau ein Verhältnis hatte. Immer häufiger kam es vor, daß er nachts nicht nach Hause kam. Auch seine Arbeit vernachlässigte er, erschien oft zu spät an seinem Arbeitsplatz oder blieb sogar ganz weg. Es war daher nicht verwunderlich, daß ihm eines Tages gekündigt wurde. Manfred Landknecht störte das wenig. Er gab das Verhältnis mit Jutta Reinhold trotzdem nicht auf und begann obendrein, auch noch zu trinken. Sylvia hatte zwangsläufig eine Stelle als Bürokraft angenommen, um selbst für den Unterhalt ihrer Familie aufzukommen. Sie gab die Hoffnung nicht auf, daß ihr Mann zu ihr zurückfinden und sich eine neue Arbeitsstelle suchen würde. Ihre Hoffnungen schienen sich jedoch nicht zu erfüllen. Schon oft hatte sie ein ernstes Wort mit Manfred sprechen wollen, es aber immer wieder hinausgeschoben. Heute mußte sie allerdings endlich mit ihm reden. Sie zog ihren Mantel aus, hängte ihn an die Garderobe und betrat das Wohnzimmer. Ihr Mann saß im Sessel und sah sie aus glasigen Augen an.

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Sophienlust Bestseller – 32 –

Es geht auch ohne Vati

... auch wenn, müsste es ein netter sein!

Ursula Hellwig

Als Sylvia Landknecht die Wohnungstür öffnete, schlug ihr dumpfer Alkoholgeruch entgegen. Sie wunderte sich nicht darüber, aber es verbitterte sie, daß ihr Mann Manfred sich seit einiger Zeit regelmäßig betrank.

In den ersten Jahren ihrer Ehe war alles anders gewesen. Sylvia glaubte damals, das große Los mit ihm gezogen zu haben. Aber das Glück und die Zuversicht hatten nicht lange angehalten.

Auf einem Betriebsausflug hatte Manfred Jutta Reinhold kennengelernt. Sie war fast zehn Jahre jünger als er, und es schmeichelte ihm, daß sie sich für ihn interessierte. Er machte weder in der Firma noch zu Hause einen Hehl daraus, daß er mit dieser jungen Frau ein Verhältnis hatte.

Immer häufiger kam es vor, daß er nachts nicht nach Hause kam. Auch seine Arbeit vernachlässigte er, erschien oft zu spät an seinem Arbeitsplatz oder blieb sogar ganz weg. Es war daher nicht verwunderlich, daß ihm eines Tages gekündigt wurde. Manfred Landknecht störte das wenig. Er gab das Verhältnis mit Jutta Reinhold trotzdem nicht auf und begann obendrein, auch noch zu trinken.

Sylvia hatte zwangsläufig eine Stelle als Bürokraft angenommen, um selbst für den Unterhalt ihrer Familie aufzukommen. Sie gab die Hoffnung nicht auf, daß ihr Mann zu ihr zurückfinden und sich eine neue Arbeitsstelle suchen würde. Ihre Hoffnungen schienen sich jedoch nicht zu erfüllen. Schon oft hatte sie ein ernstes Wort mit Manfred sprechen wollen, es aber immer wieder hinausgeschoben. Heute mußte sie allerdings endlich mit ihm reden.

Sie zog ihren Mantel aus, hängte ihn an die Garderobe und betrat das Wohnzimmer. Ihr Mann saß im Sessel und sah sie aus glasigen Augen an.

»Es wird Zeit, daß du kommst. Mach mir etwas zum Abendbrot. Ich bin schon halb verhungert. Wo hast du dich nur wieder so lange herumgetrieben?«

Sylvia machte keine Anstalten, seinen Anweisungen zu folgen. Sie setzte sich ihm gegenüber in einen gemütlichen Clubsessel und zündete sich eine Zigarette an. Zwar rauchte sie nicht viel, aber wenn sie müde und abgespannt war, griff sie hin und wieder nach einem Glimmstengel.

»Manfred, so kann es nicht weitergehen. Ich habe ja nichts dagegen, daß du ab und zu einmal ein Glas trinkst. Ich verstehe, daß du über die Kündigung verärgert bist, und ich bin auch bereit, dir deinen Seitensprung zu verzeihen. Aber du mußt doch einsehen, daß dies nicht das Leben ist, wie wir es uns früher ausgemalt haben. Du mußt mit der Trinkerei aufhören und dir eine neue Arbeitsstelle suchen.«

Manfred sah seine Frau zornig an. »So, muß ich das? Ich denke ja überhaupt nicht daran. Du verdienst doch genug Geld für uns. Glaubst du etwa, du seist zum Arbeiten zu schade? Mir gefällt mein Leben so wie es ist. Du wirst dich mit meinen Gewohnheiten und mit Jutta abfinden müssen.« Er lachte zynisch. »Oder willst du dich vielleicht von mir trennen?«

Sylvia gab insgeheim zu, daß sie das nicht wollte. Auch wenn es ihr schwerfiel, wollte sie Conny um jeden Preis den Vater erhalten. Sie selbst war ohne Vater aufgewachsen und hatte dadurch viel Unangenehmes erlebt. Das wollte sie ihrer Tochter unbedingt ersparen. Trotzdem antwortete sie: »Ja, das will ich, und das werde ich auch tun, wenn du dich nicht änderst.«

Manfred sprang auf. Obwohl er tüchtig angetrunken war und schwankte, wurde ihm die Tragweite einer Scheidung doch bewußt. Wenn seine Frau ihn verlassen würde, müßte er selbst wieder etwas für seinen Lebensunterhalt verdienen, denn von Jutta konnte er keine Hilfe erwarten. Im Gegenteil. Vermutlich würde sie sogar mit ihm Schluß machen, wenn sie nicht ab und zu einen Geldschein von ihm zugesteckt bekäme, wie es jetzt der Fall war.

Der Mann stemmte die Hände in die Hüften. »Bist du denn wahnsinnig geworden?« brüllte er. »Was glaubst du eigentlich, wer du bist? Hältst du das für dankbar, nach allem, was ich für dich getan habe? Glaubst du vielleicht, außer mir wäre noch jemand so dumm gewesen, dich mitsamt deinem unehelichen Balg zu heiraten? Aber es geschieht mir ganz recht. Ich muß ein

Idiot gewesen sein, jahrelang so ein Gör mit durchzufüttern, das mich gar nichts angeht. Das hat man nun von seiner Gutmütigkeit. Aber du wirst schon sehen, was passiert, wenn du dich scheiden läßt. In der Gosse wirst du landen. Dort, wo du hergekommen bist und wo du auch hingehörst. Du und auch dein reizender Sprößling. Es war nicht leicht, all die Jahre den liebenden Vater zu spielen, obwohl mich dieses Balg einfach anwiderte.«

Sylvia saß da wie vom Donner gerührt. Was ihr Mann eben gesagt hatte, konnte doch gar nicht sein Ernst sein. Fast versagte ihr die Stimme, als sie fragte: »Du liebst Conny also gar nicht?«

Er lachte auf. »Lieben? Ich soll diese Cornelia lieben? Ich habe sie von Anfang an nicht ausstehen können. Nur um dir einen Gefallen zu tun, habe ich sie in dem Glauben gelassen, daß ich ihr Vater bin. Aber heute war ich es leid. Ich habe ihr die Wahrheit gesagt. Die volle Wahrheit. Das war schon längst fällig. Sie weiß jetzt, daß ihr Vater ein dahergelaufener Windhund ist.«

Das Zimmer begann sich vor Sylvias Augen zu drehen. »Was hast du getan?« fragte sie verstört. »Ist dir eigentlich klar, was du angerichtet hast? Wo ist Conny jetzt?«

Manfred zog die Schultern hoch. »Woher soll ich das wissen? Fortgelaufen ist sie.«

Sylvia nahm all ihre Kraft zusammen und bat: »Bitte, erzähle mir der Reihe nach ganz genau, was passiert ist.«

Er setzte sich wieder, goß sich erneut sein Glas voll und begann zu berichten. »Conny kam um ein Uhr von der Schule nach Hause. Ich habe ihr gesagt, sie solle mir eine Flasche Cognac kaufen. Was glaubst du, hat mir dieses ungeratene Gör darauf erwidert? Sie hätte jetzt keine Zeit, weil sie in den Turnverein müsse. Ich habe ihr eine Ohrfeige gegeben. Sie hat sich angestellt, als hätte ich sie halb totgeschlagen und meinte dann auch noch frech, daß andere Kinder bessere Väter hätten. Diese Unverschämtheit habe ich mir nicht bieten lassen. Ich habe ihr die schon lange fällige Tracht Prügel verpaßt und ihr über ihren Vater die Wahrheit gesagt. Dann ist sie fortgelaufen. Die Flasche Cognac mußte ich mir schließlich selber kaufen.«

Sylvia Landknecht erlebte alles wie in einem bösen Traum. Jetzt war es fast acht Uhr. Seit sieben Stunden also war ihre neunjährige Tochter fort. Wahrscheinlich irrte sie durch die Straßen. Was sollte sie, die Mutter, nun tun? Sie beschloß, um zehn Uhr die Polizei zu benachrichtigen, wenn Conny bis dahin noch nicht zurück sein sollte. Vorher rief Sylvia noch bei Connys Freundin an und erfuhr, daß sie am Nachmittag nicht im Turnverein gewesen war.

Die Frau fand keine Ruhe. Immer wieder dachte sie daran, daß ihrer kleinen Tochter etwas zugestoßen sein könnte. Was mochte in dem ohnehin schon sensiblen Kind nach der Auseinandersetzung mit Manfred jetzt vorgehen?

*

Conny lief wie gehetzt durch die Straßen. Ihr schmaler Körper schmerzte noch immer von den Schlägen ihres Stiefvaters. Noch mehr aber taten ihr die Worte weh, die er ihr ins Gesicht geschrien hatte. Sie konnte und wollte einfach nicht glauben, daß sie nicht seine Tochter war. Jedes Kind hatte doch einen Vater. Also mußte auch sie einen haben. Aber wenn es nicht Manfred Landknecht war, wer war es dann? Die lauten, häßlichen Worte hallten jetzt noch in Connys Ohren.

»Dein Vater ist ein Windhund. Ein Taugenichts, mit dem deine Mutter sich eingelassen, und der sie dann im Stich gelassen hat. Deine Mutter hat dir zwar erzählt, daß ich dein Vater sei, aber das stimmt nicht. Das war nur eine fromme Lüge. Dein richtiger Vater hat sich rechtzeitig aus dem Staub gemacht.«

Conny war nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Ihre sonst so liebe Mutti hatte sie belogen. Das war alles, was sie denken konnte. Sie kannte ja die wahren Zusammenhänge nicht und war auch noch zu jung, um sie zu begreifen.

Sie überlegte, wohin sie nun gehen sollte. Nach Hause wollte sie auf keinen Fall zurück, und Verwandte hatte sie nicht. Es gab da zwar Tante Helga, aber die wohnte weit weg, irgendwo in München. Das Mädchen kannte nicht einmal die Adresse.

In ihrer Verzweiflung fiel Conny ein Zeitungsartikel ein, den sie kürzlich gelesen hatte. Darin war von einem Kinderheim Sophienlust die Rede gewesen. An den Ort, in dem das Kinderheim lag, konnte sie sich nicht erinnern. Sie wußte nur, daß er in der Nähe von Maibach war. In der Kreisstadt war sie schon einmal mit ihrer Mutti gewesen, als dort ein Zirkus gastierte. Es war gar nicht so weit. In der Zeitung war auch ein Bild von Sophienlust gewesen. Es hatte fast wie ein Schloß ausgesehen, das in einem großen schönen Park lag. Auf der Wiese hatten ein paar Kinder mit einem Schäferhund gespielt. Vielleicht würde man ihr dort helfen und sie sogar behalten können.

Connys Entschluß stand fest. Sie wollte zum Kinderheim Sophienlust. Allerdings wußte sie nicht, wie sie dorthin kommen sollte.

Sie erinnerte sich an eine Autofahrt mit ihrer Mutter. Sie waren damals eine Landstraße entlanggefahren. Am Straßenrand hatte Conny zwei winkende junge Leute entdeckt und ihre Mutter gefragt, was denn mit den Leuten los sei und warum sie ihnen zuwinken würden.

Die Mutter hatte ihr erklärt, daß das Anhalter seien und diese Leute an einen ganz bestimmten Ort wollten, der vermutlich weit weg sei. Sie würden auf ein Auto warten, das in die richtige Richtung führe. Durch das Winken würden sie dem Autofahrer zu verstehen geben, daß sie mitgenommen werden wollten.

Auf diese Weise wollte Conny nun auch versuchen, nach Maibach zu gelangen. Sie stellte sich an den Straßenrand und winkte den heranfahrenden Autos zu, wie sie es bei den Anhaltern gesehen hatte.

Nach kurzer Zeit hielt ein grüner Wagen an. Ein Mann mit grauen Haaren und einem grauen Vollbart saß am Steuer. Er beugte sich hinüber und öffnete die Beifahrertür.

»Was ist denn los mit dir? Hast du dich verlaufen?« fragte er.

Conny wußte nicht so recht, was sie sagen sollte. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe mich nicht verlaufen. Ich möchte nach Maibach und warte darauf, daß mich jemand mitnimmt.«

Der Fahrer sah sie erstaunt an. »Sag mal, weiß deine Mutter etwas davon, daß du hier Autos anhältst?«

Schuldbewußt schüttelte Conny erneut den Kopf.

Das Gesicht des Autofahrers wurde sehr streng. »Dann geh nur schnell wieder nach Hause. Du kannst doch nicht per Anhalter nach Maibach fahren. Besonders dann nicht, wenn deine Eltern noch nicht einmal etwas davon wissen.«

Die Beifahrertür wurde wieder zugeschlagen. Dann fuhr der Wagen davon.

Conny beschloß, sich klüger zu verhalten, wenn wieder ein Auto anhalten sollte. Aber sie mußte lange warten. Alle fuhren vorbei, ohne sie auch nur zu beachten

Endlich hielt ein Lastwagen an. Der Fahrer öffnete die Tür und lachte ihr zu. »Na, kleines Fräulein, wohin soll die Reise denn gehen?«

»Nach Maibach«, antwortete Conny. »Ich muß ganz dringend nach Maibach.«

»Da hast du aber Glück. Dort will ich auch hin«, meinte der Fahrer. »Dann steig mal ein.«

Zaghaft kletterte Cornelia ins Führerhaus. Sie erinnerte sich daran, daß ihre Mutter ihr immer wieder verboten hatte, zu fremden Leuten ins Auto zu steigen, oder mit ihnen zu gehen. Deshalb war ihr nun doch ein bißchen unheimlich zumute. Aber das würde bestimmt vergehen, wenn sie erst mal in Maibach angekommen war.

Der Fahrer zündete sich eine Zigarette an und fragte: »Bist du denn ganz allein unterwegs? Das kommt mir etwas seltsam vor. Dafür bist du nämlich eigentlich noch ein wenig zu jung. Du bist doch nicht etwa zu Hause ausgerissen, oder?«

»Ich?« fragte Conny und versuchte, ihrer Stimme einen sicheren Klang zu geben. »Nein, natürlich nicht. Ich will meine… meine Tante in Maibach besuchen. Meine Mutti weiß, daß ich unterwegs bin«, log Conny ungern. Aber nun war schon alles egal, wenn sie nur bald nach Sophienlust gelangen würde. Daß sie in ein Kinderheim wollte, hätte der Fahrer ihr ganz bestimmt nicht geglaubt. Welches Kind ging auch schon freiwillig in ein Kinderheim? Heime konnte man mit einem richtigen Zuhause nicht vergleichen. Das wußte Conny von ihrer Freundin Gabi, die einmal für einige Wochen in einem Kinderheim gelebt hatte. Aber sie, Cornelia, war sicher, daß es überall schöner sein mußte, als bei ihr zu Hause mit ihrem Stiefvater.

Der Fahrer sah Conny mit einem skeptischen Blick an. Die Geschichte von der Tante schien er nicht so recht zu glauben.

»Deine Mutti läßt dich doch gewiß nicht per Anhalter zu deiner Tante fahren. Sie würde dich wahrscheinlich in den Zug setzen. Soll ich dir einmal sagen, was ich denke? Ich glaube, daß du mich beschwindelst, kleines Fräulein.«

Conny suchte verzweifelt nach einer Ausrede. »Ich sollte auch mit dem Zug fahren. Meine Mutti hat mich sogar zum Bahnhof gebracht«, log sie. »Aber dann…, ich habe…, ich meine…« Es fiel ihr nichts mehr ein, was sie hätte sagen können.

»Dann hast du wohl das Geld für die Fahrkarte vernascht, was?« vermutete der Fahrer.

Das Mädchen atmete erleichtert auf, weil der Mann ihm selbst eine plausible Ausrede in den Mund legte.

»Ja«, gestand die Neunjährige kleinlaut. »Aber bitte, verraten Sie mich nicht. Ich darf nämlich nicht mit fremden Leuten mitfahren.«

»Das ist auch ganz richtig so. Es ist manchmal gefährlich, wenn man sich fremden Menschen anvertraut. Aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich werde dich nicht verraten. Weißt du, ich habe selbst zwei Kinder, die ungefähr so alt sind wie du. Deshalb weiß ich, daß die Nascherei mitunter wichtiger sein kann, als eine Fahrkarte. Ich bringe dich nach Maibach und liefere dich bei deiner Tante ab.«

»Nein, das ist nicht nötig«, stieß Conny hastig hervor. »Sie ist ja doch nicht zu Hause. Sie wartet auf mich am Bahnhof. Sie glaubt doch, daß ich mit dem Zug ankomme.«

Der Fahrer nickte nur. Er schien

ihr die Geschichte nun doch zu glauben.

In der Nähe des Maibacher Bahnhofs hielt er den Wagen an und ließ seinen kleinen Fahrgast aussteigen.

Conny bedankte sich und schlug auch gleich den Weg zum Bahnhof ein. Sie blieb erst stehen, als der Lastwagen weitergefahren und nicht mehr zu sehen war. Dann sah sie sich um. Sie wußte nicht, wie es jetzt weitergehen sollte. In welche Richtung mußte sie gehen, um nach Sophienlust zu kommen?

Einer alten Frau fiel das kleine Mädchen auf, wie es unschlüssig am Straßenrand stand und sich suchend umschaute. Sie ging auf das Kind zu und sprach es an.

»Hast du dich verlaufen und findest jetzt den Rückweg nicht mehr?«

Conny hatte die Frau nicht kommen sehen und schrak zusammen. Dann schüttelte sie heftig den Kopf. »Nein, verlaufen habe ich mich nicht. Aber ich weiß nicht genau, wo der Weg nach Sophienlust langgeht. Kennen Sie vielleicht Sophienlust und können mir den Weg zeigen?« Die alte Frau hatte ein so liebes Gesicht, daß Conny ihr vertrauensvoll das Ziel ihrer Reise nannte.

Die fremde Frau lächelte freundlich. »Soso, zum Kinderheim Sophienlust willst du. Ja, das kenne ich. Aber es ist noch ein ziemlich weiter Weg. Zu Fuß kannst du nicht gehen. Es ist besser, wenn du mit dem Bus fährst. Dort drüben fährt er ab und hält ganz in der Nähe von Sophienlust.« Die Frau wies auf eine Haltestelle.

Conny bedankte sich artig und dachte daran, daß sie noch etwas Geld besaß. Ihre Mutti hatte es ihr gestern gegeben, damit sie heute den Monatsbeitrag für den Turnverein bezahlen konnte. Für die Fahrkarte würde dieses Geld sicher ausreichen.

Conny brauchte nicht lange auf den Bus zu warten. Sie löste eine Fahrkarte und setzte sich gleich hinter den Fahrer auf einen leeren Platz. Zuvor hatte sie ihn gebeten, ihr zu sagen, wann der Bus an der richtigen Haltestelle angekommen war.

Es dämmerte schon, als der Fahrer sich umdrehte und zu ihr sagte: »An der nächsten Station mußt du aussteigen.«

Conny nickte nur. Der Tag hatte viel Aufregung für sie bereitgehalten, und sie war nun entsprechend müde.

Als sie den Bus verlassen hatte, umfing sie eine unfreundliche kalte Dunkelheit. Das Mädchen zog fröstelnd die Schultern hoch. In der Ferne erblickte es ein hell erleuchtetes Haus. Ob das wohl das Kinderheim war?

Conny machte sich auf den Weg dorthin. Bald erreichte sie das schmiedeeiserne Parktor. Zögernd ging sie die breite Auffahrt entlang, der Freitreppe entgegen. Immer langsamer wurden ihre Schritte. Den ganzen Tag über hatte sie sich gewünscht, schnell an ihr Ziel zu kommen. Nun wurde sie jedoch immer unsicherer. Vielleicht wollte man sie hier gar nicht haben und würde nur mit ihr schimpfen, weil sie von zu Hause ausgerissen war.

Cornelia stand nun auf der untersten Stufe der Freitreppe und wagte nicht, weiterzugehen. Sie überlegte, ob ihr Entschluß nicht doch falsch gewesen war. Das Haus sah tatsächlich aus wie ein Schloß und lag mitten in einem großen Park. Möglicherweise lebten hier nur Kinder von reichen Eltern. Ihre Eltern waren aber nicht reich. Mutti mußte oft aufpassen, daß sie mit dem Geld, das sie verdiente, auskam.

Das Mädchen ließ sich auf den Stufen nieder und konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Was sollte es jetzt nur tun? In der Nacht traute es sich nicht, den Heimweg anzutreten. Es wollte ja auch gar nicht mehr nach Hause. Was sollte es schon bei einem Vater, der gar nicht sein richtiger Vater war, und bei einer Mutter, die es so sehr belogen hatte.

Conny war ganz in Gedanken versunken, als sich hinter ihr plötzlich das Portal öffnete. Sie wollte aufspringen und weglaufen, aber ihre Beine gehorchten ihr nicht. Wie gelähmt blieb sie sitzen und beobachtete, wie eine Frau aus dem Haus trat.

Denise von Schoenecker, die das Kinderheim für ihren Sohn Nick bis zu dessen Volljährigkeit verwaltete, war an diesem Abend länger als gewöhnlich in Sophienlust geblieben. Jetzt verabschiedete sie sich von der Heimleiterin Frau Rennert, um nach Hause zum Gut Schoeneich zu fahren. Gerade als sie die Tür hinter sich zuziehen wollte, erblickte sie unten auf der Treppe das kleine Mädchen, das sie erschrocken ansah. Denise blieb verblüfft stehen. Im Lichtschein, der aus der noch geöffneten Tür fiel, sah sie die verweinten Augen des Kindes. Die Tränen hatten helle Spuren durch das inzwischen verschmutzte Gesicht gezogen. Denise hatte ein feines Gespür für Situationen wie diese und ahnte, daß sie ein völlig verzweifeltes Kind vor sich hatte.