Sophienlust - Die nächste Generation 51 – Familienroman - Carolin Weißbacher - E-Book

Sophienlust - Die nächste Generation 51 – Familienroman E-Book

Carolin Weißbacher

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Beschreibung

Irene lebt seit ihrer Scheidung mit ihren beiden Kindern in einer kleinen Stuttgarter Wohnung. Mit ihrem Spielzeuggeschäft versucht sie ihre Familie über Wasser zu halten. Dann geschieht es: Irene wird von einem betrunkenen Autofahrer angefahren. Ein fremder Mann ist sofort zur Stelle, der sich als Dr. Klaus Meier vorstellt und ihr seine Hilfe anbietet. Er sorgt auch dafür, dass Luina und Lukas in Sophienlust untergebracht werden, solange Irene im Krankenhaus liegt. Warum aber fühlt sich Klaus eigentlich so stark verpflichtet? "Tschüss, Luina! Und viel Spaß in der Schule! " Breit lächelnd winkte der fünfjährige Lukas seiner großen Schwester nach, als sie aus dem Auto sprang, sich ihren Schulrucksack überwarf und auf das Schulgebäude zutrabte. "Dir auch viel Spaß im Kindergarten, Lukas", rief Luina über die Schulter zurück. "Und tschüss, Mama! "Tschüss, mach's gut! " Irene Burger schloss die Beifahrertür hinter Luina und wollte gerade das Auto wieder starten, um zu Lukas' Kindergarten 'Spielzwerge' weiterzufahren, als ihr Blick auf das sorgfältig eingewickelte Pausenbrot fiel, das in der Ablage zwischen Fahrer- und Beifahrersitz liegen geblieben war. "Luina, du hast dein Pausenbrot vergessen", rief sie und rannte ihrer Tochter nach. Mit ein paar raschen Schritten hatte sie sie eingeholt und stopfte ihr das Pausenbrot in den Rucksack. "Danke, Mama! "Schon gut. Und du weißt, ich kann dich heute leider nicht von der Schule abholen. Weil ich auf die neue Warenlieferung für mein Geschäft warten muss. Du musst also ausnahmsweise zu Fuß heimgehen. Du kannst dir, wenn du Hunger hast, fürs Erste einen Schokoriegel nehmen. Richtiges Essen gibt es dann später. Ich bringe Currywurst und Pommes mit Ketchup mit. Das ist zwar eigentlich auch kein richtiges Essen, aber für heute wirds gehen. Und vergiss nicht: den Wohnungsschlüssel habe ich in die Außentasche deines Rucksacks gesteckt. "Alles klar, Mama.

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Sophienlust - Die nächste Generation – 51 –

Zusammen sind wir stark

Irene, Klaus, Luina, Lukas und Rena wagen einen Neuanfang!

Carolin Weißbacher

„Tschüss, Luina! Und viel Spaß in der Schule!“ Breit lächelnd winkte der fünfjährige Lukas seiner großen Schwester nach, als sie aus dem Auto sprang, sich ihren Schulrucksack überwarf und auf das Schulgebäude zutrabte.

„Dir auch viel Spaß im Kindergarten, Lukas“, rief Luina über die Schulter zurück. „Und tschüss, Mama!“

„Tschüss, mach’s gut!“ Irene Burger schloss die Beifahrertür hinter Luina und wollte gerade das Auto wieder starten, um zu Lukas’ Kindergarten ‚Spielzwerge’ weiterzufahren, als ihr Blick auf das sorgfältig eingewickelte Pausenbrot fiel, das in der Ablage zwischen Fahrer- und Beifahrersitz liegen geblieben war.

„Luina, du hast dein Pausenbrot vergessen“, rief sie und rannte ihrer Tochter nach. Mit ein paar raschen Schritten hatte sie sie eingeholt und stopfte ihr das Pausenbrot in den Rucksack.

„Danke, Mama!“

„Schon gut. Und du weißt, ich kann dich heute leider nicht von der Schule abholen. Weil ich auf die neue Warenlieferung für mein Geschäft warten muss. Du musst also ausnahmsweise zu Fuß heimgehen. Du kannst dir, wenn du Hunger hast, fürs Erste einen Schokoriegel nehmen. Richtiges Essen gibt es dann später. Ich bringe Currywurst und Pommes mit Ketchup mit. Das ist zwar eigentlich auch kein richtiges Essen, aber für heute wirds gehen. Und vergiss nicht: den Wohnungsschlüssel habe ich in die Außentasche deines Rucksacks gesteckt.“

„Alles klar, Mama. Das hast du mir doch schon erklärt, ehe wir losgefahren sind“, kam ein wenig ungeduldig Luinas Antwort. Dann lief sie, ohne sich noch einmal umzublicken, zu ihren Freundinnen.

Irene schaute ihr mit einem leisen Seufzer hinterher und wandte sich dann zu ihrem Auto zurück.

„Mama, Mama!“, krähte ihr Lukas entgegen. „Duckduck ist schon wieder davongeflogen. Und sie will einfach nicht mehr herkommen. Dabei möchte ich sie heute doch Rena zeigen. Nur deshalb habe ich Duckduck erlaubt, mich in den Kindergarten zu begleiten!“ Lukas beugte sich in seinem Kindersitz weit nach vorn, um mit seinen Händchen die Spielzeugente aus Plüsch zu greifen, die zu Boden gefallen war.

„Warte, Lukas! Bleib ruhig sitzen, sonst kippst du am Ende noch vornüber! Ich hole Duckduck für dich zurück“, versprach Irene und beschleunigte ihre Schritte.

Keuchend kniete sie sich rittlings auf den Fahrersitz und tastete den Raum zwischen dem Rücksitz und den Vordersitzen ab. Es dauerte eine geraume Weile, bis sie Duckduck gefunden hatte. „Da ist der Ausreißer, siehst du“, sagte sie und reichte Lukas die quittengelbe Plüschente mit dem großen breiten Schnabel.

Er hatte sie vor zwei Wochen zu seinem fünften Geburtstag bekommen, dem ersten Geburtstag ohne seinen Papa …

„Rena ist schon ganz neugierig auf Duckduck“, plapperte Lukas weiter. „Sie will Duckduck unbedingt sehen. Sie möchte Duckduck schwimmen lassen.“ Lukas drückte die Spielzeugente fest an sich. „Rena glaubt mir nämlich nicht, dass Duckduck schwimmen kann. Und sie glaubt mir auch nicht, dass Duckduck einen so riesigen roten Schnabel hat.“

Irene richtete sich auf, klappte den Spiegel über dem Beifahrersitz herunter und ordnete ihre zerzauste Frisur.

Dabei überlegte sie, wer Rena war.

Und kam zu dem Schluss, dass es das zierliche kleine Mädchen mit den dunklen Locken und dem ausgefransten Pony sein musste. Das Mädchen, das immer von seinem Papa abgeholt wurde. Von diesem schlanken blonden Mann in Anzug und Krawatte, der stets so freundlich lächelte.

Irene erinnerte sich, sogar ein oder zwei Mal mit ihm gesprochen zu haben, allerdings aus Zeitmangel nur ein paar knappe, unbedeutende Worte.

„Da wird Rena aber staunen, wenn sie Duckduck sieht und feststellt, dass alles wahr ist, was du gesagt hast“, antwortete Irene und blinzelte Lukas zu.

„Und ob sie staunen wird“, ereiferte sich Lukas. „Ich will, dass Rena Duckduck toll findet. Ich will, dass Rena überhaupt alles toll findet, was ich habe und tue. Weil Rena doch später einmal meine Frau wird.“

Irene hatte Mühe, sich das Lachen zu verkneifen. „Wirklich? Du willst Rena heiraten?“, fragte sie, um einen halbwegs ernsthaften Ton bemüht. „Hast du sie denn schon gefragt, ob sie dich zum Mann will?“

„Natürlich“, gab Lukas zurück. „Gestern. Und sie hat Ja gesagt.“

„Gratuliere, das sind ja wunderbare Neuigkeiten“, meinte Irene, während sie den Blinker setzte und sich in den Verkehrsfluss einfädelte. „Dann muss ich Rena und ihren Papa wohl bald einmal näher kennenlernen.“

„Ja, das musst du“, erwiderte Lukas. „Unbedingt. Soll ich dir Rena zeigen, wenn du mich abholen kommst?“

„Ja, gute Idee“, erklärte Irene. „Ist sie denn nachmittags überhaupt noch da?“

„Wahrscheinlich schon“, gab Lukas zurück. „Ihr Papa holt sie meistens ziemlich spät ab. Er muss nämlich noch viel mehr arbeiten als du. Aber Rena sagt, dass er trotzdem ein ganz toller Papa ist.“

„Ach ja? Ist er das?“

„Bestimmt. Ich finde ihn auch cool.“

Einen Augenblick lang sah Irene Renas Vater vor sich.

Fast war es ihr, als blickte sie direkt in sein freundliches Gesicht mit den strahlend blauen, warmherzigen Augen.

Als eine Sekunde später das lautstarke Hupkonzert sie darauf aufmerksam machte, dass die Ampel vor ihr auf grün stand und sie längst hätte losfahren sollen, ärgerte sie sich über sich selbst.

Was in aller Welt ging sie dieser Mann an? Hatte sie sich nicht geschworen, für den Rest ihres Lebens nie mehr einen Mann sympathisch zu finden? Mit Männern hatte sie abgeschlossen – ein für alle Mal.

Nie, nie, nie wieder würde sie einem Mann vertrauen, auch wenn er noch so gut aussah und noch so nett war.

Nie, nie, nie wieder würde sie einem Mann erlauben, ihre Liebe derart zu missbrauchen und sie derart hinters Licht zu führen, wie Karl es getan hatte.

Fast ruckartig brachte Irene ihren Wagen in der Parkbucht vor dem Kindergarten zum Stehen.

„Da wären wir, mein Schatz“, sagte sie und half Lukas beim Aussteigen. Zum Abschied drückte sie ihm noch einen zärtlichen Kuss auf die Wange und begleitete ihn bis zum Eingang, wo ihn die Kindergärtnerin in Empfang nahm.

Als Irene wieder in ihr Auto stieg, dachte sie dankbar daran, wie gut Lukas und Luina über die Trennung von ihrem Papa hinweggekommen waren.

Mittlerweile erwähnten sie ihn kaum noch.

Stattdessen waren die beiden Kinder und sie selbst zu einer neuen, kleinen Familie zusammengewachsen, und sie fühlten sich in ihrer liebevoll eingerichteten Stuttgarter Wohnung, die sie nach der Scheidung bezogen hatten, sehr wohl.

Nicht einmal an Lukas’ Geburtstag, den sie zu dritt in einem Freizeitpark verbracht hatten, war ein Gefühl von Wehmut aufgekommen.

In ihre Gedanken versunken lenkte Irene ihren Wagen in die Tiefgarage, die sich ganz in der Nähe ihres Geschäfts ‚Irenes Kinderwelt’ befand, schloss ihn ab und fuhr mit dem Aufzug wieder nach oben.

Auch was ihre berufliche Situation betraf, hatte sie allen Grund, dankbar zu sein.

Während der Zeit ihrer Ehe hatte sie hin und wieder in einem Spielwarenladen namens ‚Kinderecke’ ausgeholfen, um ihre Haushaltskasse ein wenig aufzubessern.

Als sie nach der Scheidung bei den Inhabern der ‚Kinderecke’, einem älteren Ehepaar, angefragt hatte, ob sie nicht eventuell auch Vollzeit arbeiten könnte, hatten die beiden ihr von der geplanten Geschäftsaufgabe erzählt.

Daraufhin hatte Irene, obwohl sie sich vor dem Sprung ins kalte Wasser gefürchtet hatte, dem Paar spontan angeboten, das Geschäft zu übernehmen.

Sie hatte den Laden kurzerhand in ‚Irenes Kinderwelt’ umgetauft und, obwohl als Geschäftsfrau vollkommen unerfahren, ihr Glück versucht.

Und einen richtig guten Start hingelegt.

Mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen trat Irene aus dem Aufzug ins Freie.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite grüßte im vollen Licht der Morgensonne das Schaufenster ihres Geschäfts zu ihr herüber.

Es war inzwischen nicht nur mit Spielwaren bestückt, sondern auch mit Kleidchen, Hosen, Röckchen, lustigen T-Shirts und bunten Pullis für die Kleinen. Irene hatte ihr liebstes Hobby, das Nähen, mit in ihre berufliche Tätigkeit eingebunden und angefangen, Kinderkleidung selbst zu entwerfen und auch selbst zu schneidern.

Die hübschen, fantasievollen und trotzdem praktischen Sachen verkauften sich ausgezeichnet, und was das Wichtigste war: Ihre Arbeit und ihr eigener Laden machten Irene jede Menge Freude.

Fast beschwingt ging sie auf den Zebrastreifen zu, um die Straße zu überqueren und zu ihrem Geschäft zu kommen.

Ihr Blick wanderte im Gehen wieder zum Schaufenster ihres Geschäfts.

Wenn sie den großen Stoffhund mit der Baseballkappe etwas weiter links drapierte und stattdessen die beiden Spieluhren neben das bunte Sommerkleid und den Teddybären mit der Sonnenbrille rückte, könnte sie in der frei gewordenen Fläche den hübschen roten Badeanzug mit den Rüschen und den gelben Kinderbikini drapieren. Das würde heißen, dass sie …

Als Irene das Quietschen von Reifen hörte, fuhr sie erschrocken herum und erstarrte im selben Moment zur Salzsäule: Ein hochglanzpolierter schwarzer SUV kam ungebremst direkt auf sie zugeschossen.

Nur einen Sekundenbruchteil später spürte sie den Aufprall und einen heftigen Schmerz am ganzen Körper. Gleichzeitig fühlte sie sich in die Luft gewirbelt, als wäre sie plötzlich schwerelos. Alles drehte sich um sie, Farben und Geräusche verschwammen.

Dann wurde es mit einem Schlag dunkel.

*

„Auf alle Fälle würde ich Ihnen raten, sich strikt auf den Status Ihrer Firma als Gesellschaft mit beschränkter Haftung zu berufen und keinerlei Fragen oder Einwände in Bezug auf …“

Weiter kam Rechtsanwalt Dr. Klaus Meier mit seinen Ausführungen nicht, denn in diesem Moment wurde die Tür zu seinem Büro aufgerissen, und sein Bruder Heiko stürzte ohne Anmeldung und Vorankündigung mit Siebenmeilenschritten herein. Zielstrebig stürmte er auf Dr. Meiers schweren Mahagonischreibtisch zu.

Frau Heinrich, Dr. Meiers Vorzimmerdame, folgte Heiko auf den Fuß.

Als es ihr endlich gelang, ihn einzuholen und ihre Hand beschwichtigend auf seinen Arm zu legen, um ihn zurückzuhalten, stieß er sie so rüde beiseite, dass sie für einen Moment ins Taumeln geriet und schließlich kopfschüttelnd aufgab.

Heiko hatte indessen Dr. Meiers Schreibtisch erreicht, stützte sich mit beiden Händen darauf und beugte sich so weit nach vorn, dass sein Gesicht fast das seines Bruders berührte. „Du musst mir helfen, Klaus“, stieß er hervor. „Ich brauche deine Hilfe. Unbedingt.“

Der Angesprochene wich angewidert zurück, als er von einer Alkoholfahne eingehüllt wurde, die ihm fast den Atem nahm.

„Hab dich nicht so, Klaus. Versteh doch, du musst mir helfen. Nur noch dieses eine Mal. Wenn du mir nicht hilfst, weiß ich nicht mehr, wie es weitergehen soll. Dann … dann bin ich am Ende. Dann ist alles aus. Diesmal stecken sie mich ins Gefängnis.“

Klaus Meier schloss für einen Moment die Augen und versuchte, so ruhig wie möglich zu atmen, um der Erregung und der Wut, aber auch der Angst, die in ihm aufstieg, Herr zu werden.

Was, in aller Welt, hatte Heiko diesmal wieder angestellt?

Eine neue Trunkenheitsfahrt? Ein weiterer Unfall?

Nein, das konnte es nicht sein. Immerhin hatte Heiko mittlerweile keinen Führerschein und kein Auto mehr.

Dr. Meier wurde ruhiger.

„Soll ich Ihren Mandanten einstweilen bitten, draußen zu warten?“, drang nach einer Weile die Stimme seiner Vorzimmerdame an seine Ohren.

Er öffnete die Augen wieder und nickte.

„Ja. Wenn Sie bitte einen Moment draußen warten würden, Herr Krümmel“, wandte er sich an seinen Mandanten, der während dieses seltsamen Auftritts stumm auf dem Besucherstuhl gesessen hatte. „Es tut mir sehr leid. Aber es …, es wird nicht lange dauern. Wir werden unsere Besprechung in Kürze fortsetzen und zu Ende führen können.“

Als Frau Heinrich und Herr Krümmel das Büro verlassen hatten, ließ Heiko sich in den frei gewordenen grünen Ledersessel vor Klaus Meiers Schreibtisch fallen. „Hilfst du mir nun, Klaus? Ja oder nein?“, fragte er, seinen Blick bohrend auf seinen Bruder geheftet. „Oder bin ich dir weniger wert als deine übrige Klientel, nur weil ich dich nicht bezahlen kann?“

Dr. Meier gab keine Antwort. „Worum geht es diesmal?“, wollte er stattdessen wissen.

Heiko senkte seinen Kopf und zögerte.

„Ein Autounfall. Ein neuer verdammter Autounfall“, stieß er schließlich hervor. „Die Frau ist mir direkt vor die Kühlerhaube gelaufen. Ich konnte beim besten Willen nicht mehr bremsen.“

Klaus Meier bedeckte einen Augenblick lang sein Gesicht mit beiden Händen. „Du hast keinen Führerschein mehr, Heiko“, sagte er dann so ruhig wie möglich. „Und du wirst ihn in absehbarer Zeit auch nicht wiederbekommen. Und du hast kein Auto mehr, seit du den Sportwagen, den du dir von deinem Anteil am Erbe unserer Eltern gekauft hast, zu Schrott gefahren hast. Kannst du mir bitte erklären, wie du unter diesen Umständen eine weitere, eine dritte Trunkenheitsfahrt tätigen konntest? War das Unfallfahrzeug etwa gestohlen?“

Heiko presste stumm die Lippen aufeinander, dann schüttelte er langsam den Kopf.

„Geliehen? Von einem deiner Freunde?“, hakte Klaus Meier nach.

Heiko hob unsicher die Schultern und ließ sie wieder sinken. Nach einer Weile nickte er.

Dr. Meier konnte einen tiefen Seufzer nicht unterdrücken.

Zweimal hatte er Heiko bereits aus einer vergleichbaren misslichen Situation herausgepaukt, aber für dieses dritte Mal sah es mehr als düster aus. Zumal Heiko die Entziehungskur, die ihm nach seiner letzten Verurteilung das Gefängnis erspart hatte, schon nach einer Woche abgebrochen und bisher trotz aller gut gemeinten Ermahnungen nicht wiederaufgenommen hatte.

„Wer ist bei dem Unfall zu Schaden gekommen, Heiko?“, fragte Klaus Meier streng. „Die Frau, die du erwähnt hast, und wer sonst noch?“

„Nur diese Frau“, antwortete Heiko, während er sich mit Daumen und Zeigefinger die Augen rieb.

„Wie schwer ist sie verletzt?“

Heiko kaute auf seiner Unterlippe herum. „Keine Ahnung. Ich weiß es nicht. Sie …, sie wurde durch den Aufprall in die Luft geschleudert. Mehr weiß ich nicht. Ich war zu erschrocken, um genauer hinzusehen.“ Er wandte sich ab, weil er das entsetzte Gesicht seines Bruders nicht länger ertragen konnte. „Es ist ganz in der Nähe dieses Spielzeuggeschäfts in der Wedekindstraße passiert. Die Frau hat auf dem Zebrastreifen die Hauptstraße überquert. Ich kam unglücklicherweise zur gleichen Zeit an die Kreuzung und …“

„Auf dem Zebrastreifen? Du hast die Frau auf dem Zebrastreifen erfasst?“, unterbrach Klaus Meier seinen Bruder.

„Ja, verdammt. Wie hätte ich denn ahnen sollen, dass dort ausgerechnet in diesem Augenblick jemand über die Straße ging.“

Einen Moment lang sah Dr. Meier den Unfallort vor sich.

‚Irenes Kinderwelt’ hieß das Geschäft, das Heiko meinte. Erst vor ein paar Tagen hatte er mit der kleinen Rena vor dem Schaufenster des Ladens gestanden, und Rena hatte einen großen Stoffhund mit Baseballkappe bewundert. ‚Papa, kaufst du mir den Hund mit der Kappe? Bitte, bitte‘, hatte sie gebettelt. ‚Ich möchte so gern einen Hund. Und wenn ich schon keinen Echten haben kann, dann kauf mir wenigstens den hier. Er ist so süß.‘

Natürlich war er wieder einmal sofort schwach geworden und nur allzu bereit gewesen, Renas Wunsch zu erfüllen, aber leider war das Geschäft bereits geschlossen gewesen. Er hatte sich deshalb vorgenommen, noch diese Woche wiederzukommen und den Hund als Überraschung für Rena zu kaufen.

Nun würde er notgedrungen das Angenehme mit dem Notwendigen verbinden müssen. Er würde sich die Stelle ansehen müssen, an der sein Bruder die arme Frau angefahren hatte.

„Ich muss mich bei der Polizei erkundigen, in welche Klinik die Frau gebracht wurde. Und wie schwer sie verletzt ist“, sagte Klaus Meier. „Ich muss in Erfahrung bringen, ob sie Angehörige, vielleicht sogar Kinder hat, die Hilfe brauchen. Wer weiß, welche Katastrophe du angerichtet hast, Heiko. Die Polizei wird mir mit Sicherheit sagen können …“

„Lass gefälligst die Polizei aus dem Spiel. Zumindest soweit es möglich ist“, fiel Heiko seinem Bruder ins Wort. „Oder willst du, dass sie mich schnappen?“

Klaus Meier runzelte verständnislos die Stirn. „Aber das haben sie doch längst. Mich wundert ohnehin, dass sie dich wieder auf freien Fuß gesetzt haben.“

Heiko sprang auf, schob Klaus‘ Laptop zur Seite, packte seinen Bruder an den Schultern und schüttelte ihn.

„Kapierst du denn wieder einmal gar nichts?“, zischte er. „Manchmal muss ich mich wundern, wie du bei deiner Begriffsstutzigkeit ein derart erfolgreicher Anwalt sein kannst.“

Dr. Meier rutschte auf die hinterste Kante seines Schreibtischstuhls zurück und wischte sich mit seinem Taschentuch die Speicheltröpfchen seines Bruders aus dem Gesicht. Dann schaute er Heiko fragend an – und plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. „Un … Unfallflucht?“, stammelte er.

Heiko ließ sich wieder in den grünen Ledersessel zurücksinken. „Endlich hast du es erfasst“, gab er zurück. „Allerdings kann ich nicht ausschließen, dass irgendein Passant sich meine Autonummer gemerkt hat. Auch wenn ich voll auf die Tube gedrückt habe.“

„Du meinst, die Autonummer deines sogenannten Freundes?“