Papa, Mama und die Pferde - Carolin Weißbacher - E-Book

Papa, Mama und die Pferde E-Book

Carolin Weißbacher

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Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie wird die von allen bewunderte Denise Schoenecker als Leiterin des Kinderheims noch weiter in den Mittelpunkt gerückt. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. »Also gut, ich lese dir noch etwas vor, damit du besser einschlafen kannst.« Sonja rückte ihren Stuhl zurecht, griff nach dem Kinderbuch auf dem Nachttischchen und schlug es auf. »… und dann brachen Paolo und sein bester Freund Angelo auf, um ein großes Abenteuer zu erleben«, begann sie. »Die beiden Jungen hatten nur ein Zelt bei sich, einen Schlafsack und ein bisschen Proviant. Und natürlich ihre Hunde Carlo und Timo, die sie überallhin begleiteten. Sogar nach Laorna, in das geheimnisvolle Land in den Bergen, das Paolo und Angelo entdecken wollten. Die Jungen hatten gehört, dass es das einzige Land der Welt war, in dem es noch Drachen gab. Und Elfen und Trolle. Und weiße Wölfe, die sprechen konnten wie Menschen …« Sonja verstummte, als sie sah, dass ihr kleiner Sohn Nils tief und fest eingeschlafen war. Sie legte das Kinderbuch beiseite und hauchte Nils einen liebevollen Kuss auf die Stirn. Ehe sie das Licht löschte, tätschelte sie noch Murphy, den zotteligen braunen Mischlingshund, der es sich am Fußende von Nils' Bett bequem gemacht hatte, und verließ dann auf Zehenspitzen das Kinderzimmer. Fast gleichzeitig verschwand das Lächeln aus ihrem Gesicht, und ihre Miene wurde ernst und traurig. Die quälenden Gedanken und Bilder, die jedes Mal nur darauf warteten, bis sie allein war und ein paar Mußestunden hatte, drangen auch jetzt wieder mit Macht auf sie ein und ließen sie nicht mehr los. Einmal mehr sah sie ihren Lebensgefährten Birger vor sich, wie er morgens die Wohnung verlassen hatte, um zur Arbeit zu fahren. Er hatte sich mit einem ›High five‹ von Nils verabschiedet und mit einem zärtlichen Kuss und einer Umarmung von ihr. Am Treppenabsatz hatte er noch einmal »tschüss« gerufen und zurückgewinkt. Und war am Abend nicht mehr nach Hause gekommen.

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Sophienlust - Die nächste Generation – 62 –

Papa, Mama und die Pferde

Als sich für Sonja und Nils doch noch alles zum Guten wendete …

Carolin Weißbacher

»Also gut, ich lese dir noch etwas vor, damit du besser einschlafen kannst.« Sonja rückte ihren Stuhl zurecht, griff nach dem Kinderbuch auf dem Nachttischchen und schlug es auf. »… und dann brachen Paolo und sein bester Freund Angelo auf, um ein großes Abenteuer zu erleben«, begann sie. »Die beiden Jungen hatten nur ein Zelt bei sich, einen Schlafsack und ein bisschen Proviant. Und natürlich ihre Hunde Carlo und Timo, die sie überallhin begleiteten. Sogar nach Laorna, in das geheimnisvolle Land in den Bergen, das Paolo und Angelo entdecken wollten. Die Jungen hatten gehört, dass es das einzige Land der Welt war, in dem es noch Drachen gab. Und Elfen und Trolle. Und weiße Wölfe, die sprechen konnten wie Menschen …«

Sonja verstummte, als sie sah, dass ihr kleiner Sohn Nils tief und fest eingeschlafen war.

Sie legte das Kinderbuch beiseite und hauchte Nils einen liebevollen Kuss auf die Stirn. Ehe sie das Licht löschte, tätschelte sie noch Murphy, den zotteligen braunen Mischlingshund, der es sich am Fußende von Nils’ Bett bequem gemacht hatte, und verließ dann auf Zehenspitzen das Kinderzimmer.

Fast gleichzeitig verschwand das Lächeln aus ihrem Gesicht, und ihre Miene wurde ernst und traurig.

Die quälenden Gedanken und Bilder, die jedes Mal nur darauf warteten, bis sie allein war und ein paar Mußestunden hatte, drangen auch jetzt wieder mit Macht auf sie ein und ließen sie nicht mehr los.

Einmal mehr sah sie ihren Lebensgefährten Birger vor sich, wie er morgens die Wohnung verlassen hatte, um zur Arbeit zu fahren. Er hatte sich mit einem ›High five‹ von Nils verabschiedet und mit einem zärtlichen Kuss und einer Umarmung von ihr. Am Treppenabsatz hatte er noch einmal »tschüss« gerufen und zurückgewinkt.

Und war am Abend nicht mehr nach Hause gekommen.

Sie hatte gewartet und gewartet. Sie hatte in seinem Büro angerufen und bei seinen Freunden.

Vergebens.

Endlich, nach langem Hin und Her, hatte sie sich dazu durchgerungen, die Polizei zu verständigen, doch dann hatte sie, den Telefonhörer bereits in ihrer Hand, durch einen Zufall unter dem Telefon den Briefumschlag entdeckt. Den Briefumschlag mit der Aufschrift ›Sonja‹ in Birgers großen, raumgreifenden Schriftzügen.

Mit zitternden Fingern hatte sie den Umschlag geöffnet – und war gleichsam aus allen Wolken gefallen.

Birger hatte ihr auf einem Zettel, der allem Anschein nach aus einem von Nils’ Schulheften stammte, in wenigen, knappen Zeilen mitgeteilt, dass er am Ende sei und dass es für sie und Nils das Beste wäre, wenn sie allein, ohne ihn, weitermachen würden.

Sie hatte die Welt nicht mehr verstanden.

Wie betäubt war sie auf den Sessel neben dem Telefon gesunken und hatte eine Zeit lang einfach nur dagesessen. Wieder und wieder hatte sie den Kopf geschüttelt, unfähig, auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen.

Sonja seufzte.

Mittlerweile waren seit diesem schrecklichen Tag mehr als acht Wochen ins Land gezogen.

Acht Wochen, in denen alles nur noch schlimmer geworden war.

Mehr und mehr war ihr Leben zu einem einzigen Albtraum geworden.

So konnte es nicht weitergehen!

Mit allen Fasern ihres Herzens hoffte Sonja, dass der entsetzliche Albtraum, in dem sie sich befand, bald zu Ende gehen und ein neuer Morgen heraufziehen würde, denn wenn noch weitere Katastrophen passierten …

Geistesabwesend räumte Sonja Nils’ Schuhe, die mitten auf dem Flur standen, ins Schuhbänkchen und warf Murphys Ball in die dafür vorgesehene Spielzeugkiste.

Schließlich holte sie sich eine Coladose und eine Tüte Chips, setzte sich ins Wohnzimmer und stellte den Fernseher an. Ein bisschen Ablenkung von ihren Sorgen würde ihr mit Sicherheit guttun.

Leider stellte Sonja schon nach wenigen Minuten fest, dass sie sich getäuscht hatte.

Der Krimi im Ersten gefiel ihr nicht. Er erinnerte sie unangenehm an die ersten Stunden nach Birgers Verschwinden, in denen sie befürchtet hatte, Birger wäre einem Verbrechen zum Opfer gefallen.

Auch dem Liebesfilm im Zweiten konnte Sonja nichts abgewinnen. Sie hatte einfach keine Lust auf verlogenen Kitsch. Wohin es führte, sich romantischen Vorstellungen und Träumen hinzugeben, hatte sie am eigenen Leib deutlich genug erfahren.

Während ihre Freundinnen schon mit fünfzehn oder sechzehn Jahren Spaß mit wechselnden Männern gehabt hatten, hatte sie selbst unverbrüchlich an die einzig wahre, große Liebe geglaubt. Keinem Geringeren als Mr. Right hatte sie sich schenken wollen, um für immer und ewig bei ihm zu bleiben. In guten und in schlechten Tagen.

Sonja lachte bitter auf und zappte weiter.

Was sie in den letzten Wochen durchgemacht hatte, war das Ergebnis ihrer romantischen, schwärmerischen Blauäugigkeit.

Ihre Freundinnen waren mittlerweile samt und sonders glücklich verheiratet, lebten wohlsituiert und sorgenfrei in schönen Wohnungen oder Häusern und machten Ferien an der Nordsee oder auf Gran Canaria.

Sie selbst dagegen …

Sonja nahm erneut die Fernbedienung zur Hand und versuchte es diesmal mit einer Talkshow. Eine Weile hörte sie interessiert zu, hatte aber schon bald nicht mehr die geringste Lust, sich mit den heiß und heftig diskutierten Themen und Vorschlägen zu befassen. So bedauerlich gesellschaftliche Missstände und Umweltprobleme auch waren, sie selbst hatte im Moment schon mehr als genug mit den Missständen und Problemen in ihrem eigenen Leben zu kämpfen.

Aber sie würde es schaffen.

Sie würde sich ihr Leben zurückerobern. Sie musste es einfach schaffen.

Morgen würde sie ihre beste Freundin Lilli aufsuchen und um Hilfe bitten.

Und wenn Lilli ihr nicht helfen konnte oder wollte, würde sie sich an ihre Mutter wenden, so schwer es ihr auch fiel.

Sollte allerdings auch diese letzte Anlaufstelle versagen …

Schwerfällig erhob sich Sonja, ging zu dem kleinen Schreibsekretär in der Wohnzimmerecke und holte den Brief mit der Räumungsklage ihres Vermieters hervor.

Sonja las ihn zum gefühlt hundertsten Mal durch, als hoffte sie insgeheim, den Inhalt nur falsch verstanden zu haben.

War es nicht möglich, dass es ihr beim neuerlichen Lesen wie Schuppen von den Augen fiel und sie plötzlich erkannte, dass sie die Wohnung gar nicht in spätestens anderthalb Wochen zu verlassen hatte?

Leider erfüllte sich Sonjas Hoffnung nicht.

Der Termin für die Räumungsklage stand unverrückbar fest, und an der Begründung war ebenfalls nicht zu rütteln. Genau wie es ihr die Anwältin, die sie vor etlichen Wochen im Zuge einer kostenlosen Beratung aufgesucht hatte, erklärt hatte. Das Recht sei hundertprozentig auf der Seite des Vermieters, hatte die Anwältin gesagt. Schließlich sei sie, Sonja, mit der Miete ein halbes Jahr im Rückstand und hätte auf die Abmahnungen des Vermieters nicht reagiert.

Umständlich faltete Sonja das Schriftstück wieder zusammen.

Genau genommen war nicht sie, sondern Birger im Rückstand und hatte nicht reagiert. Aber da der Mietvertrag auf sie beide lief, machte das keinen Unterschied.

Gedankenverloren trank Sonja ihre Coladose leer.

Sie hätte eigentlich eher ein Glas Wein gebrauchen können, aber Birgers ehemals gut bestückter Weinkeller hatte bei seinem Verschwinden leider nur noch eine einzige Weinflasche enthalten.

Hatte Birger den Wein mitgenommen?

Oder hatte er ihn in der Zeit vor seinem Abtauchen klammheimlich getrunken, um seine Probleme zu vergessen?

Sonja schüttelte müde den Kopf. Nie hätte sie ihm so etwas zugetraut!

Und doch war der leere Weinkeller nur ein Klacks gegen die Tatsache, dass Birger auch das gemeinsame Konto und ihr gemeinsames Sparguthaben geplündert hatte!

Er hatte sie und Nils vollkommen mittellos und obendrein noch mit Mietschulden zurückgelassen!

Sonja griff nach der Chipstüte, schob sie aber im selben Augenblick wieder von sich. Nicht einmal mehr auf ihre geliebten Chips verspürte sie wirklichen Appetit.

Es hätte nicht viel gefehlt, und ihr wären vor Selbstmitleid die Tränen gekommen.

Aber war sie nicht mitschuldig an ihrer finanziellen Schieflage?

War es richtig gewesen, Birger sämtliche Vollmachten zu geben, obwohl sie nicht verheiratet waren und sie somit im Gegenzug keinerlei Rechte besaß?

Bequem war es allemal gewesen.

Sie war voll und ganz in ihrer stundenweisen Arbeit im Tierfachmarkt ›Pfotenwelt‹, in ihren hausfraulichen Aktivitäten und in Nils’ Erziehung aufgegangen, froh sich um die restlichen alltäglichen Aufgaben nicht kümmern zu müssen. Die Überweisung der Miete und gegebenenfalls die Korrespondenz mit dem Vermieter, die Bankgeschäfte, der Versicherungskram …, all das waren Birgers Obliegenheiten gewesen.

Wie oft hatte sie sich bei Birger dafür bedankt, dass er ihr diese ungeliebten Tätigkeiten, die ihr so schwerfielen, abnahm!

Er hatte sie dann in den Arm genommen, hatte sie sein Baby genannt und vollmundig von dem Vertrauen geschwafelt, das die Grundlage jeglicher Liebe sei.

Sonja stieß einen Laut tiefster Verachtung aus.

›Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser‹, hatte ihre Mutter ihr immer wieder eingeschärft, doch sie hatte Mamas Warnungen in den Wind geschlagen und geglaubt, es besser zu wissen.

Nun hatte sie die Quittung.

Aber leider ging es nicht nur um sie selbst, sondern auch um Nils, der nun wirklich nichts falsch gemacht hatte.

Was, wenn sie und Nils in einer Woche obdachlos wurden?

Was würde dann mit Nils geschehen?

Die Anwältin war der Ansicht gewesen, dass Nils bis auf Weiteres in einer Pflegefamilie unterkommen würde.

In einer Pflegefamilie!

Allein schon bei dem Gedanken an diese Lösung drehte sich Sonja fast der Magen um.

Nils würde bei völlig fremden Menschen leben.

Und er würde sich von Murphy trennen müssen, der wahrscheinlich, ohne zu wissen, wie ihm geschah, vorübergehend in einem Tierheim landen würde …

Sonja begann, ruhelos im Zimmer auf und ab zu laufen.

Sie durfte sich jetzt nicht systematisch verrückt machen. Damit war niemandem geholfen, weder ihr selbst noch Nils noch Murphy.

Stattdessen musste sie nachdenken, wie sie morgen Lilli oder gegebenenfalls ihrer Mutter ihre prekäre Lage erklären sollte.

Lilli wusste natürlich bereits von Birgers Verschwinden und hatte ihr, gleich in den Tagen danach, bereitwillig ihre Unterstützung angeboten. Sonja vermutete zwar, dass Lilli in erster Linie finanzielle Unterstützung gemeint hatte, aber sollte ihre beste Freundin es deshalb ablehnen, Nils, Murphy und sie vorübergehend in ihrer Wohnung aufzunehmen?

Es war schließlich nicht für ewig, sondern nur für ein paar Tage.

Oder für ein paar Wochen?

Oder für ein paar Monate?

Sonja schluckte trocken.

Sie erinnerte sich noch vage an eine Zeit, in der Lilli davon geträumt hatte, mit ihr zusammenzuziehen, doch das war nun wirklich schon eine ganze Weile her.

Sonja kehrte zum Sofa zurück, stand aber gleich wieder auf und lief in die Küche, um sich eine weitere Dose Coca-Cola zu holen.

Sollte ihre beste Freundin Lilli nicht geneigt sein, sie, Nils und Murphy zu beherbergen, blieb immer noch ihre Mutter.

Mama war allerdings ihre Letzte, wenn nicht sogar ihre allerletzte Option.

Während Sonja zischend die Coladose öffnete, fragte sie sich mit einem Mal, ob ihre Mutter überhaupt eine Option war.

Immerhin war der Kontakt zwischen ihr und ihrer Mutter schon vor Jahren abgebrochen.

Mama und Birger hatten sich einfach nicht verstanden.

Mama hatte an Birger von Anfang an kein gutes Haar gelassen, sodass der Konflikt zwischen ihr und ihrer Mutter vorprogrammiert gewesen war.

Als Nils auf die Welt kam, war das Verhältnis zwar zunächst wieder aufgetaut, doch leider nur für kurze Zeit.

Es hatte nicht lange gedauert, bis ihre Mutter Birger rundheraus gesagt hatte, was sie von einer ›wilden Ehe‹ hielt, wenn erst einmal ein gemeinsames Kind geboren war. Sie hatte Birger einen bindungsscheuen und verantwortungslosen Bruder Leichtfuß gescholten, und Birger hatte seinerseits mit dem Vorwurf der spießbürgerlichen Rückständigkeit und der ebenso unerhörten wie unerwünschten Einmischung in seine ureigensten Angelegenheiten gekontert.

Danach war beiderseitiges Schweigen eingekehrt.

Und nun…

Sonja atmete schwer.

Trotz allem war sie immer noch Mamas einzige Tochter und Nils das einzige Enkelkind. Ihre Mutter konnte und würde sie und Nils nicht einfach im Regen stehen lassen, vor allem nicht Nils.

Alles würde gut werden.

Sonja wiederholte sich diese Worte wie ein Mantra.

Auch dann noch, als sie bereits in ihrem Bett lag und vergeblich versuchte, einzuschlafen.

*

»Ach, Sonja, es tut mir so unendlich leid, dass du zurzeit so viele Probleme am Hals hast. Nie und nimmer hätte ich gedacht, dass Birger ein derart gemeiner Schuft ist. Du hättest wirklich etwas Besseres verdient als diesen …, diesen … Mir fehlen echt die Worte.« Lilli, Sonjas beste Freundin, legte tröstend ihre Hand auf Sonjas Arm und zog Sonja zu sich in die Wohnung.

Sonja folgte ihr zögernd.

Was hatte sich in Lillis Wohnung nicht alles verändert!

Anstelle der Flickenteppiche von früher waren nun überall plüschige, flauschige Teppichböden, an den Wänden hingen jede Menge Kunstdrucke von abstrakten, modernen Gemälden, und das gemütliche, wenn auch schon ein wenig zerschlissene Wohnzimmersofa mit den vielen Kissen war einer stylishen, modernen Wohnlandschaft aus weißem Leder gewichen.

»Elmar und ich …, wir haben uns völlig neu eingerichtet«, sagte Lilli, der Sonjas erstaunte Blicke nicht entgangen waren.

»Elmar?«

Lilli klopfte sich mit der flachen Hand auf den Mund. »Jetzt bin ich doch damit herausgeplatzt«, entschuldigte sie sich. »Eigentlich wollte ich es dir in deiner momentanen Situation lieber nicht sagen, um dir alles nicht noch schwerer zu machen, aber ich …, ich bin nicht mehr Single. Elmar und ich …, wir kennen uns schon eine ganze Weile aus der Firma, aber vor sechs Wochen haben wir endgültig beschlossen, zusammenzuziehen. Ich …, ich bin so froh, nicht mehr allein zu sein. Weißt du, im Stillen habe ich dich immer ein bisschen um Birger beneidet. Ich dachte, du hättest das große Los gezogen und …« Lilli unterbrach sich. »Möchtest du eine Tasse Kaffee, Sonja?«

Sonja nickte, während sie vorsichtig auf der Ledergarnitur Platz nahm. »Aber nur, wenn es dir keine Umstände macht, Lilli.«

»Umstände! Wie kommst du denn darauf?«, antwortete Lilli beinahe entrüstet. »Für meine beste Freundin da zu sein, wenn sie mich braucht, und für sie Kaffee zu kochen, ist Vergnügen pur. Es freut mich wirklich sehr, dass du mich besuchst. Zumal wir uns seit deinem verzweifelten Anruf nach Birgers Verschwinden nicht mehr gesehen haben. Ach, Sonja! Wenn ich dir irgendwie helfen kann … Ich könnte dir Geld leihen, wenn du möchtest. Oder dir bei der Suche nach einer neuen Wohnung zur Seite stehen. Falls du nicht ohnehin schon fündig geworden bist.«

Sonja schaute Lilli zu, wie sie sich an der ultramodernen Kaffeemaschine zu schaffen machte.

»Leider bin ich noch nicht fündig geworden. Die Wohnungssuche hat sich als wahres Trauerspiel entpuppt«, klagte Sonja. »Seit acht Wochen bemühe ich mich verzweifelt darum, endlich eine neue Bleibe zu finden, aber als alleinstehende Frau mit Kind und Hund im Schlepptau ist es fast unmöglich, einen Mietvertrag zu bekommen.«

Lilli stellte einen Becher Kaffee vor Sonja hin und befüllte auch einen für sich selbst. »Zucker, Milch?«

Sonja schüttelte nur stumm den Kopf.

»Verlier nicht den Mut, Sonja«, versuchte Lilli, die Freundin aufzumuntern. »Was lange währt, wird endlich gut. Du findest schon noch ein passendes Apartment für dich, Nils und Murphy.«

»Dein Wort in Gottes Ohr, Lilli. Das Problem ist nur, dass mir die Zeit davonläuft. In zwei Tagen stehe ich auf der Straße. Dann bin ich praktisch … obdachlos.«

Lilli musste lachen. »Wenn ich mir dich unter einer Brücke schlafend vorstelle, einen Rucksack mit deinen Siebensachen neben dir …«

»Das ist nicht lustig, Lilli.«

»Nein, natürlich nicht. Bitte entschuldige. Ich wollte dich nicht kränken.«

»Ich weiß, Lilli. Du hast nur nicht verstanden, worum es wirklich geht. Ich im Schlafsack unter einer Brücke – meinetwegen. Aber wenn ich obdachlos bin, wird das Jugendamt mir Nils wegnehmen. Sie werden Nils in ein Heim oder in eine Pflegefamilie stecken, bis ich wieder einen festen Wohnsitz nachweisen kann. So ist das.«

»Mist. Obwohl … Hast du schon einmal von diesem Kinderheim Sophienlust in Wildmoos gehört? Ich glaube, da wäre Nils, zumindest vorübergehend, gar nicht einmal schlecht untergebracht.«

»Ein Kinderheim? Für Nils?« Sonjas Stimme überschlug sich beinahe vor Entrüstung. »Tickst du eigentlich noch richtig?«

Lilli hob beschwichtigend die Hände. »Schon gut, schon gut. Es war nur ein Vorschlag. Aber dieses Sophienlust hat wirklich einen ausgezeichneten Ruf. Meine Putzfrau hilft dort hin und wieder aus, und sie sagt…« Lilli verstummte unter Sonjas eisigem Blick. »Okay, dann eben eine Pflegefamilie«, begann sie nach einer Weile von Neuem. »Nette Leute, die keine Kinder bekommen können, obwohl sie Kinder über alles lieben. Was wäre daran so schlimm? Es ist ja ohnehin nur auf Zeit.«