Auf Regen folgt Sonne - Carolin Weißbacher - E-Book

Auf Regen folgt Sonne E-Book

Carolin Weißbacher

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Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie wird die von allen bewunderte Denise Schoenecker als Leiterin des Kinderheims noch weiter in den Mittelpunkt gerückt. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. »Nimmst du mich mit nach Maibach, Nick? Bitte, bitte, nimm mich mit!« Pünktchen hielt die Autotür fest, die Nick soeben zuschlagen wollte, und schaute ihn mit großen Augen erwartungsvoll an. Nick blinzelte unsicher in die grelle Mittagssonne. Seine rechte Hand hielt startbereit den Zündschlüssel umklammert, seine linke lag auf dem Lenkrad. »Ehrlich gesagt, ich …, ich glaube, das ist keine besonders gute Idee, Pünktchen.« »Und warum nicht?« Pünktchen kam einen Schritt näher und tippte Nick auf die Schulter. »Ich für meinen Teil finde, dass die Idee nicht nur gut, sondern sogar sehr gut ist.« »Ach ja? Aber ich fahre doch nur einkaufen, Pünktchen. Seit wann begeisterst ausgerechnet du dich dafür, im Supermarkt eine Einkaufsliste abzuarbeiten? Das …, das ist in deinen Augen doch total langweilig. Dazu hattest du doch noch nie Lust.« »Bis jetzt nicht, das stimmt. Aber ich habe meine Meinung eben geändert«, gab Pünktchen zurück und zog dabei ihr sommersprossiges Näschen kraus. Nick, der es eilig hatte, klimperte mit seinen Fingern nervös auf dem Lenkrad herum. »Ach, Pünktchen, sei doch vernünftig! Ich werde im Maibacher Supermarkt wirklich nur meinen Einkaufswagen füllen und dann an der Kasse Schlange stehen.

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Sophienlust - Die nächste Generation – 78 –

Auf Regen folgt Sonne

Wie Marion wieder glücklich wurde

Carolin Weißbacher

»Nimmst du mich mit nach Maibach, Nick? Bitte, bitte, nimm mich mit!« Pünktchen hielt die Autotür fest, die Nick soeben zuschlagen wollte, und schaute ihn mit großen Augen erwartungsvoll an.

Nick blinzelte unsicher in die grelle Mittagssonne.

Seine rechte Hand hielt startbereit den Zündschlüssel umklammert, seine linke lag auf dem Lenkrad. »Ehrlich gesagt, ich …, ich glaube, das ist keine besonders gute Idee, Pünktchen.«

»Und warum nicht?« Pünktchen kam einen Schritt näher und tippte Nick auf die Schulter. »Ich für meinen Teil finde, dass die Idee nicht nur gut, sondern sogar sehr gut ist.«

»Ach ja? Aber ich fahre doch nur einkaufen, Pünktchen. Seit wann begeisterst ausgerechnet du dich dafür, im Supermarkt eine Einkaufsliste abzuarbeiten? Das …, das ist in deinen Augen doch total langweilig. Dazu hattest du doch noch nie Lust.«

»Bis jetzt nicht, das stimmt. Aber ich habe meine Meinung eben geändert«, gab Pünktchen zurück und zog dabei ihr sommersprossiges Näschen kraus.

Nick, der es eilig hatte, klimperte mit seinen Fingern nervös auf dem Lenkrad herum. »Ach, Pünktchen, sei doch vernünftig! Ich werde im Maibacher Supermarkt wirklich nur meinen Einkaufswagen füllen und dann an der Kasse Schlange stehen. Allenfalls gehe ich hinterher noch in die Konditorei Haider, um Mamas Lieblingspralinen zu besorgen. Falls du dir also im Stillen Hoffnung auf einen Bummel durch die Stadt oder einen Kinobesuch machst, muss ich dich leider enttäuschen. Soll ich dir aus der Konditorei irgendetwas mitbringen?«

Pünktchen schüttelte ihren Kopf so heftig, dass die rotblonden Locken flogen. »Du sollst mir nichts mitbringen, du sollst mich mitnehmen. Bitte, nimm mich mit«, wiederholte sie. »Du könntest mich zum Beispiel, wenn du die Pralinen für Tante Isi besorgt hast, in der Konditorei Haider zu einem Eisbecher einladen. Das wäre supermegalieb von dir. Wirklich.«

»Zu einem … Eisbecher einladen? Du möchtest, dass ich dir einen Eisbecher spendiere?«

Pünktchen nickte eifrig. »Einen riesenriesenriesengroßen Eisbecher. Mit mindestens fünf Kugeln Vanille- und Erdbeereis. Und mit einer knusprigen Waffel. Und mit gaaaanz viel Schokosoße.«

Nick zog skeptisch die Augenbrauen hoch. »Das …, das wäre aber nicht gerecht den anderen Kindern gegenüber, weißt du. Wenn schon, müsste ich sämtliche Sophienlust-Kinder auf einen Eisbecher mitnehmen, und alle haben in meinem kleinen Auto beim besten Willen nicht Platz. Dazu bräuchte ich ja unseren Bus.«

»Brauchst du nicht«, widersprach Pünktchen. »Heute nimmst du mich mit. Und wenn du das nächste Mal nach Maibach fährst, nimmst du ein anderes Kind mit. Zum Beispiel Heidi. Und beim übernächsten Mal nimmst du Vicky mit. Oder Martin. Oder Fabian. Falls die Jungen überhaupt einen Eisbecher mögen. Die Sache mit dem Mitnehmen ist also wirklich total einfach.«

»Na, ich weiß nicht.« Nick zögerte noch, aber Pünktchens flehender Blick traf ihn mitten ins Herz.

Als seine Lippen sich langsam, aber sicher zu einem Schmunzeln verzogen, merkte Pünktchen, dass sie gewonnen hatte. »Und? Ich darf also mitkommen?«

»Meinetwegen«, seufzte er. »Steig schon ein. Den Eisbecher gibt es aber erst ganz zum Schluss. Und du musst mir als Gegenleistung auf dem Supermarkt-Parkplatz helfen, den Einkaufswagen leer zu räumen und alle Sachen im Auto zu verstauen.«

»Ich helfe dir, versprochen. Großes Ehrenwort.« Flink wie ein Wiesel umrundete Pünktchen Nicks Auto und machte es sich auf dem Beifahrersitz bequem.

»Anschnallen nicht vergessen«, mahnte er, aber Pünktchen war ohnehin bereits im Begriff, sich den Gurt anzulegen.

Sie stieß einen jubelnden Laut aus, als Nick startete.

Langsam fuhr er, während die beiden Hunde Barri und Anglos bellend dem Auto hinterherrannten, durch das schmiedeeiserne Tor von Sophienlust und bog nach wenigen Metern auf die Landstraße ab.

Pünktchen grinste, als sie an den von den Sophienlust-Kindern selbst gebastelten Wegweisern vorbeikamen.

In kunterbunten Buchstaben prangte auf den hölzernen Hinweisschildern der Name ›Sophienlust‹, umgeben von Blumen, manchmal Schmetterlingen oder Noten in allen Regenbogenfarben. Sogar eine Sonne mit einem lachenden Gesicht fehlte auf einem der Hinweise nicht, als hätten die Kinder mit ihren kleinen Kunstwerken zeigen wollen, dass im ›Haus der glücklichen Kinder‹ selbst der Himmel immer guter Laune war.

»Warum schaltest du eigentlich keine Musik ein, Nick?«, fragte Pünktchen nach einer Weile.

»Was möchtest du denn hören?«, antwortete er mit einer Gegenfrage.

»Etwas Schönes. Etwas Fröhliches«, erwiderte Pünktchen.

Nick überlegte kurz, dann legte er eine CD mit Schlagern ein.

Pünktchen war zufrieden und sang eine Weile lautstark und mit vielen falschen Tönen mit, dann brach sie plötzlich ab. »Kannst du nicht ein bisschen schneller fahren, Nick?«, schlug sie vor. »Wenn du in diesem Schneckentempo weiterfährst, erreichen wir Maibach erst, wenn der Supermarkt längst geschlossen hat.«

»Frechdachs! Ist das etwa der Dank dafür, dass ich dich mitgenommen habe?«, wehrte sich Nick, drückte aber dessen ungeachtet prompt ein wenig stärker aufs Gaspedal.

»Und das ist echt alles, was dein Auto hergibt?«, meldete sich nach ein paar Minuten Pünktchen mit einem betont gelangweilten Gesichtsausdruck wieder zu Wort. »Vielleicht hätten wir lieber mit dem Fahrrad fahren sollen. Oder reiten. Selbst auf unserem übergewichtigen Pony Sancho wären wir schneller gewesen.«

Nick verdrehte die Augen und beschleunigte erneut, worauf Pünktchen vergnügt in die Hände klatschte.

»Schon besser«, meinte sie und spähte stolz auf den Geschwindigkeitsanzeiger.

Nick tat es ihr nach und bekam augenblicklich ein schlechtes Gewissen.

Hatte Denise ihn kurz vor seiner Abfahrt nicht ausdrücklich ermahnt, vorsichtig zu sein und nicht zu schnell zu fahren? Er hatte ihr daraufhin versprochen, nicht zu rasen. Schließlich wusste er nur zu gut, dass sie sich, obwohl er ein sicherer Fahrer war, im Stillen immer noch Sorgen machte, wenn er mit seinem kleinen Auto unterwegs war.

»Du fährst nur hundert Stundenkilometer. Kannst du nicht doch noch ein kleines bisschen schneller?«, drängte Pünktchen nach einer kurzen Pause erneut.

Diesmal schüttelte Nick den Kopf. »Nein«, gab er energisch zurück und bremste gleichzeitig ein wenig ab. »Weil ich hier nämlich nur achtzig Stundenkilometer fahren darf. Hast du gerade eben das Schild nicht gesehen? Wir waren viel zu schnell unterwegs.«

Pünktchen seufzte und ließ sich wieder in ihren Sitz zurücksinken. »Schade, dass dein Auto kein offenes Verdeck hat«, meinte sie nach kurzem Schweigen. »Wir könnten …«

Weiter kam sie nicht, denn im selben Moment rannte aus den Büschen, die auf der linken Seite die Landstraße säumten, ein Kind hervor. Ohne auch nur im Geringsten auf den Verkehr zu achten, lief es auf die Fahrbahn.

Nick trat sofort geistesgegenwärtig auf die Bremse. So fest, dass die Reifen quietschten. Sowohl Nick als auch Pünktchen wurden unsanft in ihre Sicherheitsgurte geschleudert, und Pünktchen schloss vor Schreck die Augen.

Als sie sie wieder öffnete, riss Nick bereits die Fahrertür auf und sprang auf die Straße.

Er kniete sich neben das Kind, das völlig verstört regungslos neben dem rechten Vorderreifen seines Autos kauerte. »Bist du verletzt? Tut dir etwas weh?«, fragte er das kleine Mädchen besorgt.

Die Kleine, die nach Nicks Schätzung höchstens sieben Jahre alt sein konnte, schüttelte den Kopf. »Ich …, ich glaube nicht«, sagte sie mit leiser, piepsiger Stimme.

Nick atmete erleichtert auf. In der Tat konnte er, zumindest auf den ersten Blick, keine Verletzungen feststellen.

»Warum bist du denn so plötzlich über die Straße gelaufen?«, wollte nun Pünktchen wissen, die sich zu dem Mädchen auf den Boden setzte und liebevoll seine Hand nahm.

Die Kleine schaute mit großen, ängstlichen Augen zuerst auf Pünktchen, dann auf Nick und schließlich auf ein paar Autos, die die Unfallstelle passierten.

Sie senkte den Kopf und duckte sich zusammen, als erwartete sie eine Strafe. »Es war wegen Sam«, sagte sie endlich. »Ich habe da drüben auf der Wiese Sam gesehen.«

»Und wer ist Sam?«, forschte Nick.

»Mein Hund«, antwortete das Mädchen.

Die Kleine richtete ihren Blick auf die Wiese auf der anderen Seite der Straße, wo jetzt tatsächlich ein Golden Retriever auftauchte. Gefolgt von einer jungen Frau, die ihn zu sich rief und ihn an die Leine nahm.

»Ist das Sam? Ist das deine Mama?«, fragte Pünktchen.

Das Mädchen schaute mit großen Augen auf die Frau und den Hund, dann schüttelte sie traurig den Kopf und wischte sich die Tränen fort, die ihr über die Wangen kullerten. »Nein. Ich …, ich habe mich getäuscht. Das ist nicht Sam. Der Hund sieht Sam nur sehr ähnlich. Und die Frau …, die Frau kenne ich auch nicht«, brachte das Mädchen schließlich unter Schluchzen hervor. »Sie ist nicht meine Mama.«

»Du brauchst nicht zu weinen. Alles wird gut«, tröstete Nick.

Er zog ein Taschentuch heraus und wischte der Kleinen die Tränen ab.

Dabei fielen ihm einige kleinere Blutergüsse an den Wangenknochen auf, die zuvor von den lockigen dunklen Haaren des Mädchens verdeckt gewesen waren und die er fürs Erste dem Sturz auf der Straße zuschrieb.

»Wie heißt du eigentlich?«, fragte er.

»Marion. Ich heiße Marion«, kam leise die Antwort.

»Ein schöner Name«, stellte Pünktchen fest. »Er gefällt mir. Ich heiße Angelina, aber alle nennen mich Pünktchen.« Sie lächelte und wies dann auf Nick. »Und das ist Nick. Eigentlich heißt er Dominik, aber dieser Name ist zu kompliziert und viel zu lang. Deshalb haben wir ihn abgekürzt.«

»Hallo Pünktchen, hallo Nick«, sagte Marion, allerdings ohne auch nur den Anflug eines Lächelns.

Sie fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen, wobei der Ärmel ihrer Jacke zurückfiel. Zu Nicks Entsetzen wies auch der schmale Kinderarm blaue Flecken auf.

»Darf ich jetzt wieder gehen und weiter nach Sam suchen?«, fragte Marion und machte Anstalten, sich aufzurappeln.

»Ich … mache dir einen anderen Vorschlag, Marion«, sagte Nick. »Um sicherzugehen, dass du dir nicht doch wehgetan hast, bringe ich dich zu einer netten Ärztin, die dich untersucht. Und die dir Creme auf deine Blutergüsse gibt.«

Marion zog sofort ihren Jackenärmel bis fast zu den Fingerspitzen wieder herunter.

»Und danach suchen Pünktchen und ich mit dir zusammen nach deinem Sam. Und dann bringe ich dich zu deinen Eltern zurück.« Nick nahm Marion auf den Arm und trug sie zu seinem Auto. »Oder vielleicht bringe ich dich, wenn du verarztet bist, besser zuerst zu deinen Eltern, und dann machen wir uns alle gemeinsam auf die Suche nach Sam, dem Ausreißer.«

Marion schwieg. Ihre Miene verriet weder Zustimmung noch Ablehnung. Wie eine Puppe ließ sie sich von Nick auf den Rücksitz seines Autos setzen und anschnallen.

»Wo wohnst du eigentlich?«, erkundigte er sich.

»In Maibach. Also, am Stadtrand von Maibach. Stuttgarter Straße 14«, antwortete Marion.

»Hmm«, meinte Nick. »Dann ist dein Hund aber ein schönes Stück weit gelaufen, wenn du glaubst, dass er sich hier in der Gegend herumtreibt. Seit wann ist Sam denn schon fort?«

Marion zuckte die Schultern. »Seit gestern Nachmittag. Das hat jedenfalls der Mann, zu dem ich Papa sagen muss, behauptet, als Mama und ich nach Hause gekommen sind.«

»Der Mann, zu dem du Papa sagen musst?«, wunderte sich Pünktchen, die sich zu Marion auf die Rückbank von Nicks Auto setzte.

»Ist der Mann denn nicht dein richtiger Papa?«, wollte Nick wissen, während er den Motor anließ.

Marion schüttelte langsam den Kopf. »Nein, er ist nicht mein richtiger Papa. Mein richtiger Papa ist im Himmel. Deshalb behauptet Carlo, der Mann, der seit einem Jahr bei meiner Mama wohnt, dass er jetzt mein Papa ist. Aber das ist gelogen. Ich möchte auf gar keinen Fall Papa zu ihm sagen. Auch dann nicht, wenn er deswegen wieder böse mit mir wird.«

Nick warf einen raschen Blick in den Rückspiegel und sah, wie Pünktchen liebevoll und fürsorglich ihren Arm um Marions schmale Schultern legte.

»Meine Mama musste gestern Nachmittag nicht arbeiten. Sie hat mit einer Kollegin ihre Schicht getauscht, weil ich Geburtstag hatte«, redete Marion, die allmählich zutraulicher wurde, nach einer Weile weiter. »Mama hat mich von der Schule abgeholt, und dann sind wir zusammen ein Eis essen gegangen. Und dann hat mir Mama neue Turnschuhe und einen Armreif mit bunten Holzperlen gekauft. Aber das schönste Geschenk war, dass Mama wieder einmal Zeit nur für mich hatte. Wie früher. Ich habe mich so gefreut. Doch als wir nach Hause gekommen sind, war Sam nicht mehr da. Ich glaube, er hat Angst gehabt allein mit Carlo. Genau wie ich. Und deshalb ist er fortgelaufen.«

Nick schluckte. Er gewann mehr und mehr den Eindruck, dass in Marions Familie einiges im Argen lag. Am liebsten hätte er Marion auf der Stelle nach Sophienlust gebracht, aber das ging natürlich nicht an.

Er fuhr also erst einmal nach Bachenau und parkte dort sein kleines Auto vor der Praxis der Kinderärztin Dr. Frey.

Anja Frey kümmerte sich, nachdem Nick Marion in der Praxis angemeldet und den Unfallhergang geschildert hatte, sofort um Marion.

Nick und Pünktchen blieben währenddessen im Wartezimmer.

Nick starrte eine Weile vor sich hin und blätterte dann in einer Zeitschrift, hatte aber keine wirkliche Lust zu lesen. Seine Gedanken kreisten unentwegt um Marion.

»Können wir Marion nicht einfach mit nach Sophienlust nehmen?«, fragte Pünktchen plötzlich, wobei sie an Nicks Zeitschrift zupfte, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. »Ich glaube, dass sie in ihrer Familie nicht glücklich ist. Vor allem wegen dieses Carlo. Sie hat gesagt, dass sie Angst vor ihm hat. Wenn Marion bei uns in Sophienlust wäre, bräuchte sie keine Angst mehr zu haben und …«

Pünktchen verstummte unter Nicks verblüfftem Blick.

»Du hast ein gutes Herz, Pünktchen«, sagte er schließlich. »Aber Marion muss bei ihrer Familie bleiben. Sie gehört zu ihrer Mutter.«

»Auch wenn da dieser …, dieser Carlo ist?«, wollte Pünktchen wissen.

»Auch dann«, versicherte Nick widerwillig. »Dass Marion vor ihm Angst hat und ihn nicht Papa nennen will, ist kein Grund, Marion einfach mit nach Sophienlust zu nehmen.«

»Aber dieser Carlo …«, Pünktchen wusste nicht recht, wie sie ihre Gedanken ausdrücken sollte, »Barri und Anglos …, sie würden doch nie und nimmer einfach von Sophienlust fortlaufen«, sagte sie schließlich. »Marions Hund hat also anscheinend wirklich Angst gehabt. Vielleicht hat dieser Carlos ihn geschlagen. Und wenn er den Hund schlägt, schlägt er bestimmt auch Marion.«

Nick zuckte bei diesen Worten unwillkürlich zusammen, weil ihm Marions Blutergüsse wieder einfielen.

Hatten sie sich nach Marions Sturz auf die Fahrbahn wirklich in so kurzer Zeit so ausgeprägt bilden können? Wenn sie nun gar nicht von dem Unfall herrührten, sondern stattdessen …

Der Gedanke erschien Nick so ungeheuerlich, dass er nicht wagte, ihn zu Ende zu führen.

»Deinen Eisbecher wirst du jetzt leider mit ziemlicher Verspätung bekommen«, versuchte er stattdessen, Pünktchen und auch sich selber abzulenken. »Weil wir zuvor noch Marion nach Hause bringen und dann ihren Hund suchen müssen. Es wird wohl später Nachmittag werden, bis wir …«

»Ach, der Eisbecher«, unterbrach Pünktchen. »Der ist mir im Moment ziemlich egal. Dass wir den Hund finden, ist viel wichtiger. Und hoffentlich schimpfen Marions Mama und dieser Carlo nicht mit ihr, weil sie sich alleine auf die Suche nach Sam gemacht hat.«

»Das …, das glaube ich nicht«, erwiderte Nick, bemüht, seiner Stimme einen festen, beruhigenden Klang zu geben. »Sie haben sich bestimmt schon schreckliche Sorgen um Marion gemacht und sind froh, sie heil wiederzuhaben.«

»Und wenn nicht?«

»Was soll das heißen: Wenn nicht? Selbstverständlich haben sie sich Sorgen gemacht. Eltern machen sich immer Sorgen um ihre Kinder. Und deshalb werden Marions Eltern mit Sicherheit grenzenlos dankbar und erleichtert sein, wenn wir ihre Kleine zurückbringen. Viel zu erleichtert, um ihr Vorwürfe zu machen.«

»Aber Carlo …« Pünktchen verstummte, weil sich die Tür öffnete, die Praxisraum und Wartezimmer verband.

Dr. Frey trat mit Marion an der Hand zu Nick und Pünktchen.

Sie bat Pünktchen, Marion zum Auto zu bringen, und wandte sich dann an Nick: »Die Kleine hatte Glück im Unglück«, sagte sie. »Dank deiner schnellen Reaktion, Nick. Bei einem weniger umsichtigen und geschickten Autofahrer hätte Marion wohl kaum eine Chance gehabt, mit heiler Haut davonzukommen. So aber hat sie außer ein paar Schürfwunden und ein paar Blutergüssen keine weiteren Verletzungen erlitten.«