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Eine Maschine, die Superhelden vorhersagt? Dass so etwas existiert, wäre Hugo, Olivia, Krimhild, Kolja und Chris nicht im Traum eingefallen - bis besagte Maschine die Namen der fünf Teenager nennt und diese sich plötzlich mitten in der Superheldenausbildung bei SOS wiederfinden. Dabei müssen sie sich nicht nur mit mutierendem Kaugummi, einem explodierenden Axolotl-Aquarium und dem Revolver mit Namen Mary Jane herumschlagen, sondern geraten ganz zufällig auch noch auf die Fährte entführter Wissenschaftler. Vor allem aber wird eine Frage immer drängender: Ist der Vorhersagemaschine vielleicht ein gewaltiger Fehler unterlaufen? SOS-Superhelden. Eine zweifelhafte Prophezeiung ist der Auftakt einer Buchreihe über fünf Jugendliche, die hineinstolpern in ein fantastisches Abenteuer mit Superhelden, Schurken und der Frage, ob Freundschaft zwischen so völlig unterschiedlichen Charakteren überhaupt möglich ist.
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Seitenzahl: 514
Veröffentlichungsjahr: 2020
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Von den SOS-Superhelden bisher erschienen:
Band 1: Eine zweifelhafte Prophezeiung
Band 2: Graue Erinnerungen
Vor etwa 60 Jahren
Ein stinknormaler Samstagvormittag
Agenten und Superhelden
Überlegungen
Die Ausbildung beginnt
Gelbe Gummistiefel mit roten Punkten
Ein ungleicher Kampf
Unter Strom
Mr. Evans
Kaugummi-Unfall
Kartoffeln und Pfeffer
Erster Einsatz
Überraschung aus dem Schrank
Aus und vorbei
Ein neuer Tag bricht an
Wiedersehen
Unkontrollierbar
Das Training geht weiter
Henrys Ankunft
Erneut unter Strom
Einbruchsplan
Ablenkungsmanöver
Begegnungen in der Basis
Kampf um Mary Jane
Eine unerwartete Nachricht
Abenteuer in Paris
Offenbarungen
Es ist noch lange nicht vorbei
»Hört auf, euch zu streiten!« Marys lange rotbraune Haare fielen ihr ins Gesicht, als sie aufsprang und wütend mit der flachen Hand auf den Tisch schlug.
Im Allgemeinen war Mary ein zurückhaltendes Mädchen. Solch einen Gefühlsausbruch waren die anderen nicht von ihr gewohnt, weshalb die Streithähne Thomas und Michail auch sofort überrascht innehielten. Rudi, der sich wie immer bei derartigen Zwistigkeiten nicht einmischte und lediglich mit grimmigem Gesichtsausdruck das Geschehen beobachtete, war bei Marys Ausbruch erschrocken zusammengezuckt.
»Können wir nicht wenigstens dieses eine Mal einen Auftrag erledigen, ohne dass ihr dabei mit euren ewigen Streitereien alles vermasselt?«
Thomas und Michail waren nicht zum ersten Mal aufeinander losgegangen. Zumeist ging bei ihren Auseinandersetzungen irgendetwas zu Bruch, was am Ende Ärger für die ganze Gruppe bedeutete.
»Außerdem vertrödeln wir wegen euch wertvolle Zeit!«
Auf wundersame Weise wandelte sich die Wut in Michails Gesicht innerhalb von Sekundenbruchteilen in ein ehrliches, verschmitztes Lächeln.
»Wusste ich es doch!«, sagte er.
»Was wusstest du?«
»Du bist nicht das harmlose Kätzchen, das du uns immer vorspielst. In dir schlummert eine richtige Wildkatze und soeben hast du deine Krallen ausgefahren!« Michail grinste sie an.
Sichtlich genervt schüttelte Mary den Kopf. Ohne weiter auf seine Worte einzugehen, zeigte sie auf den Tisch, auf dem die Grundrisspläne eines großen Gebäudes lagen.
»Bitte konzentriert euch doch jetzt auf die Frage, wie wir unbemerkt dort reinkommen! In dem Punkt sind wir nämlich bis jetzt noch keinen Schritt weitergekommen!«
Der Streit schien fürs Erste gebannt, auch wenn die anderen Jungen noch kein Lächeln auf ihre Gesichter zaubern konnten. Doch auch Thomas und Rudi taten es Michail gleich und traten an den Tisch heran. Gemeinsam besprachen sie ihr weiteres Vorgehen bei diesem Auftrag, den sie für SOS erledigen sollten.
In einer Nebenstraße in einem der ruhigeren Wohnviertel der Stadt parkte an diesem Samstagvormittag ein weißer Transporter mit dem Schriftzug einer Malerfirma. Allerdings hatten die beiden Männer im Transporter so gar nichts mit dem landläufigen Bild von Malern gemein. Ihre Arbeitskleidung bestand aus dunkelgrauen Anzügen, weißen Hemden und einer Krawatte in beinahe demselben grauen Farbton wie die Anzüge. Die beiden harrten bereits seit einer guten Stunde geduldig auf ihrem Beobachtungsposten aus und hatten während dieser Zeit mehr oder weniger konzentriert auf die Haustür eines der Mehrfamilienhäuser gestarrt.
Für den jungen Agenten Novák war es der erste echte Einsatz. Dementsprechend war er besonders bemüht, keinen Fehler zu machen und schaute deshalb zum wiederholten Male die Fotos an, die man ihnen von der Zielperson gegeben hatte. Darauf war ein etwa 14 Jahre alter Junge zu sehen, der auf jedem einzelnen Bild deutlich abgetragene und viel zu weite Kleidung trug. Dem Anschein nach hatte diese Klamotten vor ihm jemand getragen, der weitaus weniger dünn war. Der Name des Jungen auf den Fotos lautete Hugo Weiland.
Agent Novák kaute beim Betrachten der Bilder nachdenklich auf seiner Unterlippe herum. »Fehlt nur noch der Stern auf der Stirn«, murmelte er schließlich kaum hörbar vor sich hin.
Sein Partner hatte die Worte dennoch gehört. »Was denn für ein Stern?«, fragte er verwundert.
»Na, die Narbe auf der Stirn, die aussieht wie ein Stern, oder so.«
»Hm.« Agent Karlsson dachte nach. »Also, ein Stern war das nicht.«
»Kein Stern?«
»Nein.«
Der ältere Agent richtete seinen Blick wieder auf die Tür, durch die ihren Informationen nach die Zielperson jeden Moment treten sollte. Insgeheim verfluchte er den Umstand, dass schon wieder ihm der Neuling aufs Auge gedrückt worden war. Warum musste immer er sich mit den Grünschnäbeln herumplagen? Erschwerend kam hinzu, dass das aktuelle Exemplar ein ausgesprochenes Plappermaul war.
Als sei dies sein Stichwort, überlegte Agent Novák laut: »Vielleicht ein V?«
Seufzend schüttelte Agent Karlsson den Kopf.
»Eine Fledermaus!«, rief sein junger Kollege hoffnungsvoll aus.
»Jetzt hör doch mal auf mit dem Quatsch und pass lieber auf, dass wir den Jungen nicht verpassen. Falls unsere Informationen korrekt sind, sollte er bald herauskommen.«
Eine Zeit lang herrschte nun Stille, als beide auf die Haustür starrten und ihren Gedanken nachhingen. Der Grünschnabel hatte das Thema mit der Narbe allerdings noch längst nicht abgehakt.
»Die Haare passen jedenfalls. Und hast du die Klamotten gesehen?« Nun hielt er seinem Partner eines der Fotos vor die Nase. »Der sieht ja wohl echt aus, als hätte ihn jemand in einen Sack gesteckt. Bestimmt muss der auch die alten Klamotten seines dicken fiesen Cousins tragen!«
Agent Karlsson erwiderte nichts darauf, schlug lediglich nach dem Foto vor seinem Gesicht wie nach einer lästigen Fliege.
Derweil zog Hugo, auf den die Agenten vor dem Haus bereits seit einer Stunde warteten, seinen alten Kapuzenpulli über, schnappte sich den Rucksack mit den Büchern und schlüpfte in seine ausgelatschten Turnschuhe. Anstandshalber rief er ein »Tschau« hinter sich, bevor er die Wohnungstür zuzog. Zwar würde das bei der lautstarken Diskussion am Frühstückstisch sowieso keiner der Anwesenden hören, doch so konnte er guten Gewissens sagen, er habe nicht ohne ein Wort des Abschieds die Wohnung verlassen.
Ein stinknormaler Samstagvormittag, an dem Hugo Weiland wie gewöhnlich seiner Großfamilie entfloh und seine Schritte in die Bibliothek lenkte, die glücklicherweise auch an diesem Wochentag geöffnet hatte. Dort würde er nicht nur die während der letzten Woche ausgelesenen Bücher gegen neuen Lesestoff austauschen, sondern außerdem ein paar Stunden lang in Ruhe und ganz für sich allein herumstöbern.
Noch wies für ihn nichts darauf hin, dass es alsbald eine Änderung im Ablauf dieses stinknormalen Samstagvormittags geben sollte.
Vor dem Haus im Transporter hatte Agent Novák inzwischen vorgeschlagen: »Wir können ja dann einfach mal nachschauen!«
»Nachschauen? Wonach denn?«
»Na, ob er einen Stern, eine Fledermaus oder irgendwas anderes auf der Stirn hat!«
»Ach, hör doch auf.«
Doch der junge Agent dachte keinesfalls ans Aufhören. Mit dramatischer Stimme sprach er, als rezitiere er auf einer Theaterbühne: »Der einzige Überlebende des Angriffs eines mächtigen Zauberers und auf der Stirn trägt er die ewige Erinnerung an dieses unvorstellbar grausame Ereignis!«
Nun riss dem Älteren der Geduldsfaden: »Hey, du sprichst von einer Geschichte aus einem Buch, okay? Ein Buch – erfunden – ein Märchen – nicht in echt passiert! Hier ist die Realität und in der Realität haben wir dafür zu sorgen, dass der kleine Struwwelpeter mit den Schlabberklamotten möglichst bald in unserem Sack zappelt, damit wir ihn pünktlich abliefern können. Ob der eine Turteltaube, ein Bügeleisen oder einen Zeitzünder mit laufendem Countdown auf der Stirn hat, das ist mir so was von absolut –«
»Achtung, Konzentration!«, unterbrach der Neuling seinen Mentor. »Da ist er!«
Hugo hatte das Haus verlassen und machte sich zu Fuß auf den Weg zur nahe gelegenen Bibliothek. Die Agenten planten, ihn auf seinem Weg durch den Park zu schnappen.
Trotz der Nervosität des Agenten Novák verlief diese Mission überraschend glatt. Es gab keinerlei Zeugen, um die sich die beiden kümmern mussten. Als die Zielperson ordnungsgemäß im Transporter verstaut war, klopfte Agent Karlsson seinem jungen Partner lobend auf die Schulter.
In einem anderen Teil der Stadt betrat Krimhild soeben den Umkleideraum ihres Sportvereins. Sie öffnete ihren Spind, hängte den Fahrradhelm hinein und holte ihre noch vom Vortag verdreckten Laufschuhe heraus. Vorsichtig trug sie diese zum Abfalleimer und klopfte die nun getrockneten Dreckklumpen ab.
Krimhild war in diesen frühen Morgenstunden die Erste, die zum Training kam. Doch war sie nicht die Erste, um schneller mit dem Training fertig zu sein. Nein, Krimhild war die Erste, weil nur das zählte. Erste sein war erklärtes Ziel für sie als Sportlerin. Wer wollte schon Zweiter oder Dritter sein! Nun, ganz bestimmt nicht Krimhild. Und dafür musste man eben Opfer bringen. Ihr Sport stand für sie schon seit langem an erster Stelle. Alles andere in ihrem Leben hatte sich dem unterzuordnen, alles hatte sie auf den Kanurennsport ausgerichtet. Dazu gehörte halt auch, als Erste zum Training zu gehen und länger zu trainieren als die anderen. Wenn später ihre Vereinskameraden nach und nach eintrudelten, hatte sie bereits eine Laufrunde absolviert.
Während sie sich umzog, genoss sie die Stille, die jetzt noch hier herrschte. Die Ruhe dieser frühen Stunden zog sie eindeutig dem Trubel des Vormittags vor. Sie fühlte sich ausgesprochen wohl dabei, ganz für sich allein zu trainieren.
Entgegen ihrer Annahme hielt sich Krimhild jedoch keinesfalls als Einzige im Vereinsgebäude auf. Zwei Frauen waren soeben auf dem Weg zum Umkleideraum. Diese passten so gar nicht in diese Umgebung: Weder trugen sie Sporttaschen bei sich, noch waren sie gekleidet wie Sportler. In ihren strengen grauen Hosenanzügen wirkten sie vollkommen fehl am Platz, doch bewegten sie sich zielstrebig vorwärts. Es war nicht das Bedürfnis nach sportlicher Betätigung, welches die beiden so früh am Morgen an diesen Ort verschlagen hatte. Ihr Ziel war keine andere als Krimhild.
Sie hatten exakte Informationen erhalten: Ihre Zielperson sollte mit hoher Wahrscheinlichkeit bereits früh am Samstagmorgen ihr Training beginnen und würde sich zu dieser Zeit noch allein im Vereinsgebäude aufhalten.
Kurze Zeit später trugen die beiden Frauen Krimhild in bewusstlosem Zustand weg. Es gab niemanden, der dies hätte beobachten können. Doch auch wenn es Zeugen gegeben hätte, wäre es für die beiden Frauen kein Problem gewesen, damit fertig zu werden.
Vor dem Haus wartete bereits ein weißer Transporter mit dem Schriftzug einer Malerfirma auf sie.
Wenige Kilometer entfernt lag Kolja im Bett und schlief. Selbstverständlich lag er um diese Zeit noch im Bett und schlief. Welcher normale Mensch würde denn an einem Samstag schon so früh aufstehen? Für Kolja unvorstellbar. Und sollte es doch passieren, dass er früher aufwachte, vielleicht schon gegen zehn Uhr, dann würde er ganz bestimmt nicht auf die Idee kommen, sofort das Bett zu verlassen. Wozu hatten schlaue Leute schließlich Spielkonsolen entwickelt, mit denen man ganz bequem auch vom Bett aus spielen konnte? Mehr brauchte Kolja nicht zum Glücklichsein. Nun ja, ausgenommen Kaugummi natürlich. Ohne Kaugummi war das Leben Koljas Meinung nach traurig und leer. Seine erste Handlung nach dem Aufwachen war an jedem einzelnen Tag der Griff nach der Kaugummipackung neben seinem Bett.
An diesem Samstag musste die Kaugummipackung noch warten. Die Männer in den dunkelgrauen Anzügen, die in diesem Augenblick Koljas Zimmer betraten, würden dafür sorgen, dass er nicht in seinem Bett aufwachen und keinen Kaugummi in greifbarer Nähe finden würde.
In einem anderen Stadtviertel war eine leidenschaftliche Langschläferin bereits wach und dabei, sich ausgehfertig zu machen. Normalerweise würde Olivia an einem Samstag um diese Zeit ebenfalls noch schlafen, doch an diesem Tag stand eine Verabredung mit ihrer Großmutter auf dem Programm. Obgleich noch eine Menge Zeit blieb bis zum Treffen mit ihrer vornehmen adligen Oma, war Olivia schon früher aufgestanden. Zeitig genug, um mit einer Freundin ausführlich die Geschehnisse auf der gestrigen Party bequatschen zu können.
»Hast du gesehen, wie Greta wieder aussah? Ich sage dir, die denkt auf Garantie, das Kleid geht als Vintage durch. Dabei ist es allenfalls alt. Das war es aber auch schon, als ihre Oma noch jung war. Vor allem die Farbe! Würg! Die sah echt wie ein Gespenst in dem Fetzen aus. Von den Haaren ganz zu schweigen!«
Während sie genüsslich ablästerte, zog Olivia mit geübter Hand den Lidstrich nach. Ohne innezuhalten sprach sie weiter in ihr Headset.
»Ist mir absolut unverständlich, wie man so wenig auf sein Äußeres achten kann. Ich jedenfalls wäre vor Scham im Boden versunken, wenn ich in diesem Kleid, mit der Frisur und ohne Make-up dort aufgetaucht wäre.«
Kritisch betrachtete sie ihr Spiegelbild. Schließlich nahm sie den Lippenstift zur Hand, lachte dabei über eine Bemerkung der Gesprächspartnerin am anderen Ende der Leitung, hielt dann kurz inne. Ihre erhobene Hand verharrte in der Luft.
»Ja, genau, da hast du vollkommen recht!«
Konzentriert zog sie den knallroten Lippenstift von rechts über ihre Unterlippe. Dann zögerte Olivia. War die Farbe nicht vielleicht ein wenig zu gewagt für ein Treffen mit ihrer Großmutter? Sie beschloss, sich zunächst einmal das Endergebnis anzuschauen und dann eventuell auf eine andere Farbe umzuschwenken. Also setzte sie den Lippenstift erneut an. Plötzlich jedoch verlor sie die Kontrolle über ihren Arm. Er zuckte zur Seite, der Lippenstift in ihrer Hand fuhr dabei quer über ihre Wange.
Der leuchtend rote Strich im Gesicht ihres Spiegelbildes war das Letzte, was Olivia in dem Bruchteil einer Sekunde sah, bevor ihr schwarz vor Augen wurde. Dass sie zur Seite kippte und jemand sie auffing und wegtrug, nahm sie schon nicht mehr wahr.
Chris schlug zu. Wieder und wieder, bis sein Gegner blutend und regungslos am Boden lag. Noch immer kochte die Wut heiß und brodelnd in ihm. Kampfbereit schaute er sich nach dem nächsten Herausforderer um, doch alle waren mit Entsetzen im Blick vor ihm geflohen. Niemand war mehr da, der es mit ihm aufzunehmen wagte.
Die Häuserwände kamen näher und näher und so schlug er nun auf diese ein, bis das Blut von seinen bloßen Fäusten auf den Boden tropfte. Dabei spürte er keinen Schmerz, er spürte nichts als wilden Zorn in sich. Zorn auf alle und alles, auf die ganze Welt.
Unaufhaltsam verkleinerte sich der Abstand zwischen den Wänden. Von allen Seiten war er umzingelt, es gab keinen Ausweg mehr. Selbst die Decke senkte sich auf ihn herab. Bald würde ihn kalter Stein zerquetschen wie einen Wurm, es gab rein gar nichts, was er dagegen unternehmen konnte.
Als er das erkannte, ließ er seine Fäuste sinken. Anstelle von Zorn spürte er nur noch Resignation und Leere in sich. Er schloss die Augen und wartete darauf, von den Wänden erdrückt zu werden.
Schon spürte er die Wand im Rücken, kalte nasse Steine an seinen Armen, fühlte mit geschlossenen Augen, wie die Luft aus seinem Brustkorb gepresst wurde.
Im letzten Moment riss Chris die Augen auf, doch kein Schrei kam über seine Lippen. Ganz ruhig lag er auf dem Bett, sein Herz schlug gleichmäßig, nicht schneller als gewöhnlich. Dieser Traum war ihm ein guter Bekannter, der ihn oft des Nachts besuchte.
Sein Blick bewegte sich hin zur Uhr. Rasch, doch nicht überstürzt stand er auf, ging ins Bad, kleidete sich an.
In der Wohnung war es still. Seine Eltern hatten seinen Bruder Linus zu einem Auswärtsspiel der Fußballmannschaft begleitet. Die drei waren bereits am frühen Morgen aufgebrochen. Kurz überlegte Chris, ebenfalls die Wohnung zu verlassen, verwarf diesen Gedanken jedoch sogleich wieder. Er war sich sicher, dass er jetzt, in eben diesem Augenblick, genau hier sein sollte. Seinem Gefühl konnte er vertrauen, das hatte er gelernt. Also ging er in die Küche, schenkte sich ein Glas Wasser ein, nahm einen Apfel aus dem Korb und biss herzhaft hinein. Kauend setzte er sich an den Küchentisch und harrte der Dinge, die da kommen mochten.
Fünf Minuten später hatten ihn die Agenten überwältigt. Gewehrt hatte Chris sich nicht, denn er war bewusstlos, noch bevor er die Eindringlinge auch nur bemerken konnte. Die gesamte Aktion hatte weniger als eine Minute gedauert, dann verließen die Männer in den dunkelgrauen Anzügen die Wohnung bereits wieder und trugen den Bewusstlosen mit sich fort.
»Ey Alter, wie krass ist das denn! Sind wir hier in einem Science-Fiction-Film gelandet, oder was!«
Die Stimme, die da gerade viel zu laut in seinen Ohren dröhnte, hatte Hugo noch nie zuvor gehört. Das war der erste Gedanke, der es schaffte, sich einen Weg durch den pochenden Schmerz in seinem Kopf bis in sein Bewusstsein zu bahnen. Der zweite Gedanke war ein deftiger Fluch in Richtung der unbekannten Person, die mit ihrer Stimme das Hämmern im Kopf noch zusätzlich befeuerte.
Hugo konnte ein Stöhnen nicht unterdrücken und kniff seine Augen fest zusammen. Der Redefluss der bisher gesichtslosen Stimme hielt währenddessen ununterbrochen an. Wer um alles in der Welt quasselte da in dieser unerträglichen Lautstärke und woher nur kamen diese furchtbaren Kopfschmerzen?
Als es Hugo endlich gelungen war, seine Augen wenigstens einen Spalt breit zu öffnen, musste er sich zuerst einmal an das grelle Licht an diesem Ort gewöhnen.
Derweil überschlug sich die fremde Stimme beinahe vor Begeisterung: »Das ist so was von abgefahren, ich komme mir vor wie in einem James-Bond-Film! Nein, ich weiß, ich bin auf einem Raumkreuzer gelandet und du bist Königin Padmé Amidala, stimmt’s?«
Mittlerweile hatten sich Hugos Augen ein wenig an das künstliche Licht gewöhnt. Langsam setzte er sich auf, versuchte dabei bewusst, allzu ruckartige Bewegungen zu vermeiden, um den Kopfschmerz und das jetzt einsetzende Schwindelgefühl nicht noch zu verstärken. Blinzelnd schaute er sich um, auf der Suche nach Orientierung.
Dieser Ort war ihm vollkommen unbekannt, so viel stand nach dem ersten Blick bereits fest. Der Raum war groß und nur spärlich möbliert. Er selbst saß auf einer langen Sitzbank, die an der Wand entlang verlief. Außer ihm befanden sich noch weitere Personen in dem Raum.
Ein großer schlaksiger Junge lief aufgeregt hin und her. Anscheinend trug er einen Schlafanzug, wie Hugo erstaunt registrierte. Zumindest vermutete er das, denn bekleidet mit grauem T-Shirt und ebenso grauen Shorts, beide bedruckt mit den weiß behelmten Köpfen von Star-Wars-Stormtroopers, würde doch wohl kein normaler Mensch außer Haus gehen. Zudem waren seine Füße nackt und seine zerzausten braunen Haare, die ihm wirr in die Stirn hingen, hatten heute wohl noch keinen Kamm gesehen. Das vervollständigte das Bild einer Person, die gerade eben aus dem Bett gestiegen war.
Eindeutig war es dieser Junge im Schlafanzug, dessen Stimme Hugo die ganze Zeit schon hörte. Mit Padmé Amidala hatte der wohl das Mädchen angesprochen, das auf der anderen Seite des Raumes auf ebenso einer Sitzbank wie Hugo saß. Der verwirrte Ausdruck auf ihrem Gesicht musste ganz ähnlich auch auf seinem eigenen Gesicht zu sehen sein. An ihren halb zugekniffenen Augen und ihren langsamen Bewegungen las Hugo ab, dass sie wohl ebenfalls mit einem dröhnenden Schädel zu kämpfen hatte.
Zwei Meter neben sich nahm Hugo nun eine weitere Person wahr. Ein Junge, der Jeans und ein einfaches dunkelblaues T-Shirt trug. Zwar besaß das Shirt einen eher lockeren Schnitt, dennoch verbarg es die breiten Schultern und muskulösen Arme des Jungen nicht.
Aufgrund seines Körperbaus stufte Hugo ihn gleich auf den ersten Blick als durchtrainierten Sportler ein. Einer von denen, die Kapitän ihrer Mannschaft waren oder in Einzeldisziplinen Medaillen abräumten. Auf jeden Fall bewunderte Helden ihrer Schule. Oder anders ausgedrückt: Das genaue Gegenteil von ihm.
Der Junge hatte aschblondes, raspelkurz geschnittenes Haar. Seine Augen in einer auffällig hellen Farbe wanderten zwischen Hugo und dem Mädchen hin und her, als wollte er abchecken, wie es ihnen beiden ging.
Als er Hugos Blick bemerkte, sagte er: »Bevor du fragst: Ich bin auch erst vor ein paar Minuten aufgewacht. Und ich habe keine Ahnung, wo wir sind.«
»Und er?« Hugo wies mit einer unbedachten Kopfbewegung, die sogleich ein erneutes Hämmern in seinem Kopf auslöste, auf den Schlaksigen. Dieser hatte sich inzwischen vor einem mitten im Raum stehenden kniehohen Glastisch hingehockt und wischte mit dem rechten Zeigefinger immer wieder auf der Glasplatte herum.
»Der hat die Augen ungefähr zur selben Zeit wie ich aufgeschlagen.«
Begeistert untersuchte derweil der Lange den Glastisch. »Ich wette, das ist ein Kommunikationsgerät! Garantiert kann man das per Touchscreen bedienen!«
»Und wer sollte das bitte schön bedienen?« Das Mädchen war inzwischen leicht wankend aufgestanden und betrachtete mit skeptischem Blick den Jungen, der noch immer voller Elan auf dem Tischchen herumwischte. »Intergalaktische Weltraumzwerge, oder was?«
Mit vorsichtigen Schritten, als wolle sie ihre Standfestigkeit erst einmal testen, trat sie auf die beiden Jungen zu und ließ dabei den Großen vorerst links liegen. Mit verschränkten Armen blieb sie vor Hugo stehen.
»Also, wer seid ihr, wo bin ich, wie bin ich hierhergekommen und was hat das alles zu bedeuten?«
Mit Padmé Amidala aus den Star-Wars-Filmen hatte das Mädchen nun wirklich nichts gemeinsam, sah man einmal davon ab, dass sie dunkelbraune, beinahe schwarze Haare hatte, die momentan zu einem festen Zopf geflochten waren. Ihre Augen besaßen beinahe dieselbe Farbe wie ihr Haar. Einen ganz hellen Braunton dagegen hatte ihre Haut.
Hugo bezweifelte stark, dass Königin Amidala der Naboo jemals mit wadenlangen Laufhosen, einem lila Sportshirt und neongelben, ziemlich verdreckten Laufschuhen bekleidet in einem Raumschiff herumstand.
Laut sagte er: »Ich bin Hugo und ich habe keine Ahnung, wo wir sind. Wie ich hierhergekommen bin, weiß ich auch nicht.« Kurz überlegte er und sprach dann nachdenklich, mehr zu sich selbst: »Ich war gerade auf dem Weg zur Bibliothek. Bin in den Park eingebogen … Tja, und dann hier aufgewacht.«
Angestrengt nachdenkend runzelte er die Stirn. Irgendetwas musste doch dazwischenliegen, irgendetwas musste passiert sein, doch eine Erinnerung daran wollte sich einfach nicht einstellen.
Suchend schaute er neben sich und dann nach unten auf den Boden. Dort entdeckte er, wonach er suchte.
»Mein Rucksack. Den hatte ich dabei.« Hugo öffnete ihn und kramte darin herum. »Ist alles noch da«, stellte er fest.
Fragend schaute er dann das Mädchen an. »Und du? Warst du gerade Laufen?«
»Wollte ich gehen, ja. Ich war noch in der Umkleide. Dort hielt sich niemand außer mir auf, die anderen waren alle noch nicht da. Na, und dann geht es mir wie dir, ich kann mich nicht erinnern, was weiter passiert ist.«
»Und du heißt?«
»Krimhild.«
Hugo durchschoss der Gedanke, dass er selten einen weniger passenden Namen für eine Person gehört hatte. Obwohl – ein wenig ähnelte sie schon der von Rachegedanken getriebenen Krimhild aus der Nibelungensage, wie sie sich mit vor der Brust verschränkten Armen und finsterem Blick vor ihnen aufgebaut hatte. Waren ihre kräftigen Schultern etwa das Ergebnis von Übungen mit dem Breitschwert? Bei diesem Gedanken musste sich Hugo ein Lachen verkneifen. Welchen Sport übte Krimhild wohl aus? Vielleicht war sie Schwimmerin?
Auffordernd blickte Krimhild soeben zu Hugos Nachbarn auf der Sitzbank.
»Chris, mein Name ist Chris. Bevor ich hier aufgewacht bin, saß ich in unserer Küche und habe gefrühstückt. Außer mir war niemand in der Wohnung.« Scheinbar ratlos zuckte er die Schultern. »Wie ich hergekommen bin, weiß ich genauso wenig wie ihr.« Erneut ein Schulterzucken. »Und ich habe auch keine Ahnung, was das hier für ein Ort ist.«
Die Arme noch immer vor der Brust verschränkt, drehte sich Krimhild im Kreis um die eigene Achse und betrachtete ihre Umgebung zum ersten Mal genauer. Chris und Hugo standen auf und taten es ihr gleich.
Sie befanden sich in einem fensterlosen Raum und erstaunlicherweise war auch eine Tür nicht zu entdecken. Wände, Decke und Fußboden waren in hellen Grautönen gehalten, genauso wie die beiden Sessel, die an einem Ende des Raumes standen. An den zwei gegenüberliegenden Wänden zogen sich der Länge nach fast durchgängig breite Sitzbänke mit dunkellila Polstern entlang. Auf denen waren die vier aufgewacht.
Der ganze Raum hatte etwas Unwirkliches an sich. Dieser Eindruck wurde nicht allein durch das Fehlen von Türen und Fenstern erweckt, auch die beinahe klinische Reinheit dieses Ortes wirkte ausnehmend irreal. Nirgends war auch nur das kleinste Staubpartikel zu entdecken. Die wenigen Einrichtungsgegenstände wirkten neu und unbenutzt und wiesen genauso wie auch Wände und Fußboden keinerlei Gebrauchsspuren auf.
Tatsächlich hatte der Junge im Schlafanzug wohl nicht ganz unrecht, wenn er diesen Ort mit der Kulisse aus einem Star-Wars-Film verglich – das musste auch Krimhild zugeben.
Sie wandte sich dem Langen zu, der mittlerweile unter den Glastisch gekrochen war und diesen auf dem Rücken liegend von unten in Augenschein nahm.
»Lass mich raten, dein Name ist Jar Jar Binks, habe ich recht?« Oh ja, mit blöden Vergleichen aus Kinofilmen konnte auch Krimhild dienen.
Unbeirrt führte der so Angesprochene seine Untersuchungen fort.
»Hallo, verstehst du unsere Sprache?« Krimhild sprach nun betont langsam.
»Michse verstehen!« Jar Jar Binks schob sich nun doch wieder unter dem Tisch hervor und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Krimhild und Chris überragte er ein Stück, von Hugo ganz zu schweigen. Dieser war der mit Abstand Kleinste der vier.
»Hallo Kollegens! Michse sein Kolja. Werse ihrse denn?«
Chris und Hugo konnten sich ein Lachen nicht verkneifen, als der Große Jar Jar Binks aus den Star-Wars-Filmen so perfekt imitierte. Krimhild dagegen verzog keine Miene, stellte jedoch sich und die anderen vor.
Suchend klopfte Kolja seinen Schlafanzug ab.
»Von euch hat nicht zufällig jemand einen Kaugummi dabei?«, fragte er hoffnungsvoll in die Runde. Als die anderen das verneinten, zuckte er resigniert mit den Schultern, bevor sein Blick an Hugo in seiner abgetragenen Kleidung hängenblieb. »Falls du Millionärssohn bist, dann aber inkognito.« Kolja schnaubte abschätzig. »Zwei Fehlgriffe bei vieren ist eine ziemlich miese Quote, würde ich sagen.«
Verwirrt starrten die anderen ihn an.
»Hä?« Krimhild klang genervt. »Kannst du dich bitte so ausdrücken, dass wir kapieren, wovon du sprichst?«
»Yesa, michse kann. Michse lieben Euch auch, Euchse Hohigkeit!« Kolja warf Krimhild eine Kusshand zu, setzte dann jedoch sogleich zum Erklären an: »So wie ich das sehe, sind wir entführt worden. Entführt wird man, weil jemand Lösegeld erpressen will. Also dachte ich, bei mir ist den Entführern ein Fehler passiert, da haben sie den Falschen mitgenommen. Bei meiner Familie gibt es nicht sonderlich viel zu holen. Aber du«, wieder schaute er zu Hugo, »scheinst ja genauso ein Fehlgriff zu sein wie ich. Also zwei Fehlgriffe von vieren.«
»Meine Eltern sind auch nicht grad Millionäre«, bemerkte Chris.
»Reichtum ist relativ, oder?«, warf Krimhild ein. »Aber lohnen wird es sich bei mir wohl eher nicht, Lösegeld zu erpressen.« Mit einer Handbewegung, die den ganzen Raum umfasste, fügte sie hinzu: »So richtig bedürftig scheinen unsere Entführer allerdings auch nicht zu sein, wenn man sich anschaut, wie nobel das hier aussieht.«
In diesem Moment vernahmen die vier ein Stöhnen. Es schien aus Richtung der zwei Sessel zu kommen, doch diese waren nach wie vor leer.
»Okaaayyy«, sagte Krimhild gedehnt. Dieses Stöhnen an dem unbekannten Ort war doch reichlich unheimlich.
»Habt ihr das gehört?«, fragte Kolja unnützerweise.
Zögernd ging Hugo ein paar Schritte auf die Sessel zu, als die mysteriöse Stimme erneut ertönte.
»Scheiße, Mann, könnt ihr bitte etwas leiser sprechen? Mein Kopf dröhnt wie eine Waschmaschine im Schleudergang!«
Hinter einem der beiden Sessel erschienen zwei Beine in einer knallengen schwarzen Hose und endeten in leuchtend roten Kuschel-Hausschuhen. Die Füße drückten sich auf dem Boden ab und versetzten den Sessel in eine Drehbewegung. Von vorn nicht einsehbar, besaß dieser auch auf der Rückseite eine Sitzfläche, identisch mit der auf der Vorderseite.
Die Beine hatten den Sessel so weit zum Drehen gebracht, dass jetzt auch der Rest der darin sitzenden Person zu sehen war. Einschließlich der großen Bommel auf der Vorderseite der roten Hausschuhe.
Kolja brach in schallendes Gelächter aus: »Die böse Hexe des Ostens! Magische rote Schuhe und ein furchtbares Antlitz!« Dann zeigte er auf Krimhild und presste unter Gelächter hervor: »Dann bist du gar nicht Padmé, sondern Dorothy!«
Krimhild bedachte ihn mit einem grimmigen Blick. Hugo dagegen war ehrlich erstaunt, dass Kolja neben dem Star-Wars-Universum auch den Zauberer von Oz kannte.
»Wer ist der Arsch und wo bin ich hier?« Stöhnend griff sich das Mädchen an den Kopf. Ihre blonden Haare waren wild zerzaust. Im Großen und Ganzen war sie modisch gekleidet – sah man einmal von den Wohlfühl-Bommel-Hausschuhen ab, die nicht so ganz zum restlichen Outfit passten – und weitestgehend gekonnt geschminkt. Doch quer über ihr Gesicht, ausgehend von ihrem unvollständig bemalten Mund, verlief ein knallroter Strich.
»Warum habe ich so ein Hämmern im Kopf?«
»In ein paar Minuten wird der Kopfschmerz nachlassen«, prophezeite Hugo, der selbst inzwischen auch wieder einen halbwegs klaren Kopf hatte. »Wahrscheinlich kommen die Kopfschmerzen von einem Betäubungsmittel, das man uns verabreicht hat. Ich bin übrigens Hugo, das sind Krimhild, Chris und Kolja.« Er zeigte nacheinander auf die genannten Personen. »Wir sind alle erst vor ein paar Minuten aufgewacht und wissen nicht, wo wir sind und wie wir hierhergekommen sind.«
»Hallo!« Das Mädchen nickte den anderen zu, hielt jedoch abrupt in der Bewegung inne und stöhnte erneut auf. »Ich bin Olivia.«
»Du hast da übrigens einen roten Strich im Gesicht«, teilte Krimhild ihr mit.
Olivia riss die Augen weit auf. »Na klar, ich habe mich geschminkt! Genau! Ich saß in meinem Zimmer, habe telefoniert und mich gleichzeitig geschminkt. Dann ist meine Hand abgerutscht. Ich konnte sie nicht mehr kontrollieren!« Sie griff an ihre linke Wange, rieb darüber und verschmierte dadurch die Farbe zu einem großen roten Fleck. Mit Entsetzen starrte sie anschließend auf die Lippenstiftfarbe an ihren Fingern. »So ein Mist! Hat jemand was zum Abschminken dabei?«
Kolja, der nach seinem Lachanfall immer noch nach Luft schnappte, krümmte sich bei diesen Worten erneut vor Lachen.
»Wie ich sehe, haben Sie sich bereits miteinander bekannt gemacht.« Die fünf wirbelten herum, als hinter ihnen eine Männerstimme erklang.
Eine der vorher makellosen Wände war unbemerkt zur Seite geglitten und zwei Männer in dunkelgrauen Anzügen betraten den Raum. Hinter ihnen schloss sich die Wand lautlos wieder.
»Agent Smith«, platzte Kolja heraus.
»Schulz«, sagte einer der Anzugträger mit gerunzelter Stirn. »Ich bin Agent Schulz, das ist Agent Müller.«
Kolja prustete schon wieder los: »Das ist Matrix auf Deutsch!«
Reichlich entnervt verdrehte Krimhild die Augen. »Oh Mann, das ist hier echt wie in einem schlechten Film!« An Kolja gewandt fuhr sie fort: »Kannst du nicht einfach mal deine Klappe halten?«
»Nun«, fuhr Agent Schulz fort, »es freut mich, Sie alle in guter Verfassung und auch nicht übermäßig verängstigt anzutreffen. Wie ich vermute, haben Sie bestimmt einige Fragen an uns und wir werden uns bemühen, Ihnen so viele wie möglich davon zu beantworten. Zunächst einmal möchten Sie sicherlich wissen, wo Sie sich hier befinden.« Fünf Köpfe nickten beinahe synchron. »Sie befinden sich an einem geheimen Ort. Wo genau in Europa dieser geheime Ort liegt, darf ich Ihnen allerdings noch nicht sagen.«
»Europa?«, fragte Krimhild überrascht. »Das heißt also, wir sind nicht mehr in Deutschland?«
»Deutschland gehört auch zu Europa«, lautete die Antwort von Agent Schulz.
»Schon klar …« Krimhild zögerte.
Hugo sprach für sie weiter: »Aber wenn Sie von einem geheimen Ort in Europa sprechen, gewinnt man den Eindruck, als sei dieser Ort ganz weit weg von zu Hause.«
»Es sei denn, genau dieser Eindruck soll erweckt werden.« Krimhild musterte die Männer mit misstrauischem Blick.
»Was heißt eigentlich zu Hause?«, warf Olivia ein. »Wo kommt ihr denn her?« Fragend blickte sie in die Runde.
»Um wieder zum Wesentlichen zurückzukommen, lassen Sie mich das Thema etwas abkürzen.« Agent Schulz riss das Gespräch wieder an sich. »Zufälligerweise kommen Sie tatsächlich alle fünf aus der gleichen deutschen Großstadt. Das ist das erste Mal, dass alle Neuen aus demselben Land und sogar aus derselben Stadt kommen.«
»Alle Neuen? Soll das heißen, wir sind nicht die Ersten, die Sie entführt haben?«, hakte Kolja nach.
»Nun, von Entführen würde ich nicht gleich sprechen«, entgegnete Agent Schulz.
»Was soll das denn heißen!«, empörte sich Krimhild augenblicklich. »Wir sind ja wohl kaum freiwillig mitgekommen! Wir wurden ja noch nicht einmal gefragt! Wir wurden betäubt und an diesen ›geheimen Ort irgendwo in Europa‹ verschleppt!« Mit den Fingern malte sie imaginäre Anführungszeichen in die Luft. Ihre Worte trieften vor Sarkasmus.
»Eine Entführung liegt vor, wenn eine Person oder Sache heimlich und/oder mit Gewalt an einen anderen Ort gebracht wird.« Chris schien einen Text zu zitieren. »Ziel einer Entführung ist zumeist, Geld zu erpressen oder eine andere Forderung durchzusetzen. Etwas anderes ist es, wenn man Personen entführt, um deren Fähigkeiten zu nutzen. In so einem Fall spricht man von Verschleppung.« Alle starrten Chris an, der sich daraufhin sichtlich unwohl in seiner Haut zu fühlen schien. »Habe ich irgendwo gelesen«, murmelte er.
»Die Frage ist also«, nahm Hugo den Faden auf, »warum haben Sie uns hierhergebracht? Wollen Sie mit uns jemanden erpressen oder wollen Sie irgendwelche Fähigkeiten, die wir besitzen, für sich ausnutzen?«
»Falls Sie jemanden brauchen, der Definitionen auswendig aufsagen kann, scheinen Sie auf jeden Fall die richtige Person erwischt zu haben«, überlegte Kolja mit Blick auf Chris laut. »Was die anderen können – schwer zu sagen.« Demonstrativ schaute er in die Runde und betrachtete die anderen mit übertrieben gerunzelter Stirn. »Ich kann Ihnen höchstens sagen, was die nicht können.«
»Sag bloß«, warf Krimhild ein.
»Ja klar! Also, da hätten wir zum einen den Jungen, der es nie schaffen wird, wie der berühmteste Zauberlehrling der Welt auszusehen. Dafür müsste er klamotten- und haartechnisch noch mindestens fünf Level höher kommen.«
Hugo grinste leicht schief. Sein Schulterzucken sagte lauter als Worte, dass er sich zum einen seines wenig ansprechenden Äußeren durchaus bewusst war, dies jedoch andererseits nicht sonderlich wichtig für ihn war.
»Zum anderen«, fuhr Kolja fort, »haben wir hier eine weibliche Person ohne jegliches Schminktalent.«
Olivia sprang zornfunkelnd auf, erstarrte dann aber mitten in der Bewegung und griff sich stöhnend an den Kopf.
Sogleich sprang Krimhild ihr bei: »Reg dich bloß nicht über den geistigen Müll auf, den der Typ hier von sich gibt!« Mit einem Blick auf Kolja fuhr sie fort: »Ich schätze mal, er hat sowieso von mir gesprochen und da hat er sogar ausnahmsweise mal recht.«
»Falsch gedacht«, entgegnete Kolja. »Das was dir am meisten fehlt – das erkennt man innerhalb von Sekunden – ist der Humor.«
Jetzt war es wieder an Krimhild, mit den Zähnen zu knirschen. »Und wie schaut es bei dir aus? Mal überlegen. Vielleicht fehlendes Taktgefühl?«
»Oder ganz allgemein fehlende Intelligenz«, warf Olivia ein.
»Null Selbstbeherrschung«, führte Krimhild die Aufzählung fort.
»Völlige Unfähigkeit, einfach mal den Mund halten zu können.« Die Mädchen kamen langsam in Fahrt.
»Das liegt vielleicht an einer falschen Verknüpfung seiner Neuronenbahnen: Der Mund wird bei ihm nicht vom Gehirn, sondern vom Arsch gesteuert.«
»Okay, ich glaube, das reicht jetzt«, unterbrach Hugo den Redefluss der Mädchen. »Eigentlich wollten uns Herr Schulz und Herr Müller gerade erklären, warum wir an diesen Ort gebracht wurden. Lassen wir doch die beiden mal wieder zu Wort kommen.«
Nicht ohne ein paar letzte wütende Blicke von Seiten der Mädchen, die das Grinsen jedoch nicht aus Koljas Gesicht vertreiben konnten, wandten sich auch die drei Streithähne wieder den beiden Herren im Anzug zu.
»Es heißt nicht Herr Schulz und Herr Müller.« Zum ersten Mal sprach der andere der beiden Männer, dessen Haar fast vollständig ergraut war, obwohl er wahrscheinlich wenig älter als 30 Jahre alt war. »Agent Schulz und Agent Müller lautet die korrekte Ansprache.«
Hugo war schneller als die anderen, die nach dieser Aussage bereits Luft für eine Entgegnung holten.
»In Ordnung, Agent Müller. Wir sind dann jetzt ganz Ohr für Ihre Erklärungen.«
Es sprach jedoch wieder Agent Schulz, dessen blonde Haare noch von keinem einzigen grauen Haar durchzogen wurden: »Sie kennen doch sicherlich die Geschichten von Superman, Spiderman, Wonder Woman, Hulk, Wolverine und wie sie alle heißen.«
»Meine Helden!« Theatralisch griff Kolja sich an die Brust.
»Sie wissen auch, dass Superman, Spiderman und so weiter nicht wirklich existieren.« Prüfend schaute Agent Schulz von einem zum anderen, wartete deren bestätigendes Nicken ab, bevor er fortfuhr. Koljas Ausruf »Echt? Kann nicht sein!« ignorierte er dabei geflissentlich.
»Nun, diese Annahme ist nur zum Teil korrekt. Natürlich sind die Geschichten überwiegend erdacht. Ihre Herkunftsgeschichte, die ihnen zugeschriebenen Kräfte, ihre Taten, ja sogar die Namen sind größtenteils frei erfunden. Nichtsdestotrotz – sie existieren.« Er hielt inne, um sich der Aufmerksamkeit seiner Zuhörer zu versichern. »Superhelden.«
Zum ersten Mal sagte tatsächlich niemand ein Wort. Selbst Kolja schwieg. Zumindest für einige Sekunden. Dann sprach er, extrem langsam und mit überdeutlicher Betonung: »Ja genau, Superhelden. Natürlich existieren Superhelden. Klar. Hab nie daran gezweifelt.«
Beide Agenten nickten. Verständnis lag in ihren Blicken.
Nun ergriff Agent Müller das Wort: »Natürlich hört sich das für Sie erst einmal absolut unrealistisch an. Ihre Zweifel an dem Wahrheitsgehalt unserer Worte sind nachvollziehbar. Dennoch: Es entspricht der Wahrheit und es gehört zu unseren Pflichten, Sie mit den Tatsachen vertraut zu machen. Ich würde vorschlagen, Sie folgen uns und wir zeigen Ihnen ein wenig mehr von dem Ort, an dem Sie sich hier befinden. Sicherlich werden unsere Ausführungen dann für Sie verständlicher und vor allem glaubwürdiger.«
Er drehte sich zur Seite, presste seine Hand an die Wand, die sich daraufhin wieder öffnete. Die beiden Agenten traten hindurch und blieben dann stehen – augenscheinlich mit der Erwartung, dass die Jungen und Mädchen es ihnen gleichtun würden.
Olivia, Krimhild, Chris, Kolja und Hugo zögerten alle fünf gleichermaßen und sahen einander fragend an. Sollten Sie tatsächlich diesen anscheinend Geistesgestörten folgen?
Schließlich war es Hugo, der sich als Erster einen Ruck gab. Entschlossen schulterte er seinen Rucksack und trat auf die beiden Männer in den Anzügen zu. An die anderen gewandt sagte er mit fester Stimme: »Da wir schon einmal hier sind, können wir uns genauso gut diesen geheimnisvollen Ort näher anschauen.«
Chris folgte ihm und auch die anderen setzten sich schließlich, immer noch recht schweigsam, in Bewegung.
Es war eine bunte Truppe, die den Agenten schließlich einen langen Korridor entlang folgte: Ein klein geratener Junge mit strubbeligen Locken und abgetragenen, viel zu weiten Klamotten, in denen Hugo wie hineingeborgt aussah. Daneben der smarte, muskulöse Chris, mit seinem praktischen Kurzhaarschnitt, an dem sowohl Haare als auch Kleidung perfekt saßen. Hinter den beiden gingen Krimhild in ihren Sportklamotten und mit schmutzigen Laufschuhen an den Füßen und die auf Hochglanz gestylte Olivia, jedoch mit zerzausten Vogelnest-Haaren und verschmiertem Lippenstift im Gesicht. Sie alle überragend folgte der schlaksige Kolja in seinem Star-Wars-Schlafanzug.
Der Korridor beschrieb eine leichte Linkskurve, so dass dessen Ende zunächst nicht zu sehen war. Auch hier waren die hellgrauen Wände scheinbar türenlos. Doch nun, da er wusste, wonach er Ausschau zu halten hatte, fielen Hugo die in Abständen auftretenden Spalte in den ansonsten glatten Wänden auf. Anscheinend gab es also auch hier verborgene Türöffnungen.
Der Korridor endete vor einer weißen Wand. Agent Schulz presste die Innenfläche seiner rechten Hand darauf und auch diese Wand glitt zur Seite. Dahinter lag die Kabine eines großen Aufzugs. Nachdem die ganze Gruppe den Aufzug betreten hatte und während sich die Tür wieder schloss, drückte der Agent wiederum seine Hand auf die Wand. Wie durch Zauberei wurde ein Bildschirm sichtbar. Besser gesagt ein Touchscreen, denn Agent Schulz tippte nun mehrere darauf befindliche Zahlen nacheinander an.
»Muss man einen Code eingeben, um zu einem bestimmten Stockwerk zu gelangen?« Diese Frage kam von Kolja, bei dem nun doch die Neugier den Argwohn besiegt hatte.
»So in etwa«, lautete die vage Antwort von Agent Schulz.
»Fährt der Aufzug schon?« Lediglich ein leichtes Summen war zu hören, aber keinerlei Bewegung zu spüren.
»Wir bewegen uns bereits auf unseren Zielort zu«, antwortete Agent Müller auf Olivias Frage.
Hugo fragte sich, ob er der Einzige war, dem die ausweichenden Antworten der Agenten auffielen. Als er sich umschaute, bemerkte er Chris’ Blick auf sich ruhen. Irgendetwas sagte ihm, dass dieser sich gerade dieselbe Frage stellte.
Kolja hingegen war wieder in genau demselben Zustand begeisterten Interesses wie am Anfang. Konzentriert tastete er die Wände ab und murmelte dabei leise vor sich hin.
Mit vor der Brust verschränkten Armen musterte Krimhild misstrauisch die Agenten. Dazwischen wanderte ihr finsterer Blick immer wieder auch zu Kolja.
Olivia rieb sich wiederholt über ihre Wange, ganz darauf konzentriert, den Schminkschaden zu beheben.
Nach einigen Sekunden verstummte das Summen. Dies war das einzige Zeichen dafür, dass die Fahrt beendet war. Weder ruckte der Aufzug beim Anhalten, noch war irgendeine andere Bewegung zu spüren. Die Türen des Aufzugs öffneten sich. Doch halt – Hugo stutzte – war es nicht gerade eben beim Einsteigen nur eine einzige Schiebetür gewesen? Jetzt jedoch hatte sich eine zweiflügelige Tür geöffnet. Dann fiel sein Blick auf den Korridor vor ihnen und was er dort sah, nahm augenblicklich seine gesamte Aufmerksamkeit in Anspruch.
»Sieht ganz so aus, als ob dieses Raumschiff einen Keller hat«, lautete Krimhilds Kommentar zu dem Anblick, der sich ihnen bot.
Staunend betraten die fünf den Korridor. Hugo kam es vor, als betrete er den Kellergang einer mittelalterlichen Burg. Fast erwartete er, unter seinen Füßen nichts als feste Erde zu spüren, doch im Gegensatz zu den Wänden und der Decke aus Stein, denen man das Alter von Jahrhunderten ansah, war der Fußboden neueren Datums, da aus Beton gegossen. Auch die an der Decke angebrachten Lampen stammten kaum aus der Zeit der Ritter und Burgfräulein.
»Ein Tonnengewölbe. Rundtonne«, sagte Chris, ganz versunken in die Betrachtung des alten Gewölbegangs.
»Wikipedia?« Koljas Frage ließ Chris aufschrecken und es war ihm erneut sichtlich unangenehm, die Aufmerksamkeit der anderen geweckt zu haben.
Agent Schulz forderte die Gruppe auf, ihm zu folgen. Sie gingen den Gang entlang, vorbei an Türen, die zwar mit steinernen Torbogen eingefasst waren, aber nur wenige Jahre alt sein konnten. Bei ihrem Anblick dachte Hugo an moderne Brandschutztüren.
Vor einer dieser Türen blieb Agent Schulz stehen und öffnete sie. Bisher hatten die fünf außer den beiden Agenten keine weiteren Menschen zu Gesicht bekommen. Deshalb war der sich ihnen nun bietende Anblick ein doppelter Schock für ihre Sinne.
»Sieht so aus, als seien wir wieder im Raumschiff angekommen«, bemerkte Kolja trocken.
Vor ihnen hatte sich eine Art riesige Laboranlage geöffnet. Sie betraten einen großen Raum, dem sich weitere Räume anschlossen, wie man durch die zum Teil verglasten Wände sehen konnte. In all diesen Räumen gingen eine Menge Leute in weißen Laborkitteln konzentriert ihrer Arbeit nach.
Eine kleine Frau in eben solch einem weißen Kittel kam auf die Gruppe zugeeilt. Sofort ins Auge stachen ihre rotblonden, schulterlangen Locken, die wild in alle Richtungen von ihrem Kopf abstanden. Sie streckte ihre Arme aus, als wolle sie alle Neuankömmlinge umarmen.
»Willkommen! Herzlich willkommen! Es ist mir eine große Ehre, euch alle hier begrüßen zu dürfen! Ich freue mich schon wie wahnsinnig auf die ganzen Tests mit euch!« Bei den letzten Worten rieb sie sich wie in froher Erwartung die Hände. »Das wird mit Sicherheit so spannend wie noch nie, wo wir doch diesmal gleich fünf auf einmal zur Verfügung haben! Das war noch nie da! Wir werden es schon rauskriegen. Wir kriegen es immer raus!«
»Nun, Frau Doktor, lassen Sie uns doch erst einmal ankommen.« Agent Schulz unterbrach den Wortschwall der schmächtigen Frau, die vor Energie nur so strotzte. Dann versuchte er sich an einer Vorstellung der Anwesenden: »Darf ich vorstellen, Frau Doktor –«
»Doc, bitte«, unterbrach nun die überschwängliche Frau Doktor ihrerseits den Agenten. »Doc ist völlig ausreichend.«
»Ja, also«, Agent Schulz räusperte sich, »Doc. Und hier –« Er zeigte auf die fünf jungen Leute, doch wurde wiederum am Weitersprechen gehindert.
»Krimhild Findeisen, Olivia Hansen, Chris Miller, Hugo Weiland, Nikolai Engel«, zählte Doc die Namen der fünf auf. »Weiß ich doch, wissen wir doch alle!«
»Bei mir ist Kolja ausreichend, Doc«, meldete sich selbiger zu Wort.
Die Frau kicherte, was zusammen mit ihrem roten Haarschopf sehr hexenhaft wirkte. »Kolja also. Schon abgespeichert! Und nun kommt mit, wir können gleich beginnen!« Sie bedeutete der Gruppe, ihr zu folgen und steuerte mit schnellen, wendigen Schritten an Labortischen und Apparaturen vorbei.
Nachdem sie mehrere Räume durchquert hatten, gelangten sie in einen Bereich, der eher an ein Krankenhaus erinnerte. Schließlich betraten sie ein Zimmer, welches den Eindruck eines großen Behandlungsraums beim Arzt erweckte, mit vielen medizinischen Gerätschaften.
»Zuerst messen, wiegen, allgemeiner Check-up zur Aufnahme«, informierte Doc die Gruppe.
»Stopp!«, rief Krimhild energisch. »Das reicht jetzt! Ich werde nichts von alldem mit mir machen lassen und ich werde mich auch nicht mehr von der Stelle bewegen, bis ich endlich weiß, was hier gespielt wird!« Wutschnaubend richtete sie ihren Zeigefinger auf die beiden Agenten: »Sie haben uns Erklärungen versprochen, die haben wir bisher aber noch nicht erhalten. Im Gegenteil, statt Erklärungen häufen sich immer mehr Fragen zu einem riesigen Berg auf. Jetzt sollte endlich mal jemand damit beginnen, diesen Berg abzuarbeiten!«
»Ist das so?« Verwundert wandte sich Doc an die Agenten. »Sie wissen noch nicht Bescheid?«
»Das Gespräch sollte hier stattfinden. Wir sind nur bis jetzt noch nicht dazu gekommen«, antwortete Agent Schulz, der trotz seines bewusst neutralen Gesichtsausdrucks eine gewisse Abneigung gegen Docs Überschwang nicht verbergen konnte.
»Nun gut, dann frisch ans Werk, würde ich sagen!« Doc klatschte energisch in die Hände. »Nehmt Platz!« Sie wies auf eine Sitzgruppe aus Sofa und Sesseln um einen Tisch herum. Sie selbst und die beiden Agenten zogen sich Stühle von einem Schreibtisch heran.
Als alle saßen, war es Hugo, der zu sprechen begann: »Sie wollten erklären, wo wir uns hier befinden, was das für ein Ort ist und vor allem, weshalb wir hierhergebracht wurden.«
»Entführt wurden«, verbesserte Krimhild.
Hugo schien den Einwurf nicht zur Kenntnis zu nehmen. »Natürlich interessiert uns auch, was für eine Art von Agenten Sie beide sind. Für wen arbeiten Sie? Für einen Geheimdienst oder so? Und was hat Ihre Arbeit wiederum mit uns zu tun?«
»Und was für einen Check-up wir hier machen sollen und wozu, das dürfen Sie uns dann auch noch erzählen«, ergänzte Krimhild.
»Zum Thema Superhelden –«, begann Kolja, wurde aber augenblicklich von Krimhild unterbrochen: »Nein, das steht nicht zur Debatte! Wir wollen Fakten, keine Spinnereien!« Sie hielt inne und sah Agent Schulz vorsichtig von der Seite an. »Tut mir leid, ich will Ihnen auf keinen Fall zu nahe treten. Kann ja jeder glauben, woran er will, meinetwegen auch daran, dass Superhelden existieren. Darüber können Sie dann nachher gern mit gewissen Personen noch ausführlich diskutieren.« Mit hochgezogenen Brauen blickte sie in Koljas Richtung.
Während Krimhilds Worten hatte Doc begonnen, hinter vorgehaltener Hand zu husten. Ihr Gesicht war dabei knallrot angelaufen.
Zuvorkommend war Kolja aufgesprungen, um ihr auf den Rücken zu klopfen. »Haben Sie sich verschluckt?«, fragte er mitfühlend.
Hugo jedoch drängte sich der Verdacht auf, Docs Husten entsprang viel eher dem verzweifelten Versuch, sich ein Lachen zu verkneifen. Mit gerunzelter Stirn grübelte er über diese Reaktion nach. Dabei begegnete er einmal mehr dem Blick von Chris, dessen Gedanken offenbar in die gleiche Richtung wie seine eigenen gingen.
Derweil wedelte Doc abwehrend mit der Hand. »Geht schon, geht schon, alles in Ordnung!«, presste sie hustend hervor.
Agent Schulz atmete hörbar ein. »Es gibt einen konkreten Grund, weshalb Sie alle hierhergebracht wurden. Natürlich auch einen Grund, weshalb gerade Sie fünf hierhergebracht wurden.«
»Entführt«, warf Krimhild wiederum ein. »Wir wurden entführt.« Am Misstrauen in ihrer Miene hatte sich nach wie vor nichts geändert.
Ohne auf ihren Einwurf zu reagieren fuhr Agent Schulz fort: »Wir alle sind Mitarbeiter einer Organisation mit dem Namen SOS, von der Sie mit Sicherheit noch nie etwas gehört haben, denn unsere Arbeit findet ausschließlich im Verborgenen statt.«
»SOS? Nach einem Notsignal benannt?«, hakte sogleich Kolja nach.
»Andersrum«, antwortete Agent Müller auf diese erneute Unterbrechung. »Die Organisation war zuerst da.«
»SOS ist die Abkürzung für Superheroes Organization and Service«, fuhr Agent Schulz fort. »Die ganze Einrichtung und alle Personen, die Sie hier sehen, dienen im Prinzip einzig und allein der Aufgabe, Superhelden aufzuspüren, auszubilden und deren Arbeit zu unterstützen. Und natürlich dafür zu sorgen, dass ihre Existenz geheim bleibt.«
Olivia begann leicht hysterisch zu kichern. Krimhild hingegen explodierte förmlich. »Jetzt halten Sie aber mal die Luft an! Hören Sie gefälligst auf, uns zu verarschen!«
Diesmal war es Kolja, der sie unterbrach: »Warte doch mal. Klar, das klingt ziemlich irre, aber sag mir, welche vernünftige Erklärung es für das alles hier sonst geben könnte.« Er hielt Krimhilds zornigem Blick stand. »Lass die Typen doch erst mal weiterreden. Ich jedenfalls will die Story jetzt auch zu Ende hören. Vor allem will ich wissen, welche Rolle wir in dieser Geschichte spielen.«
Hugo war nach den Worten des Agenten innerlich erstarrt. All die Dinge, die er seit seinem Aufwachen an diesem eigenartigen Ort gesehen und gehört hatte, fügten sich in seinem Kopf zu einem Muster. Er betrachtete dieses Muster von allen Seiten, unsicher, ob er glauben sollte, was er sah. Noch war es nicht vollständig, es gab viele graue Stellen, doch einen wichtigen Teil konnte Hugo zweifelsfrei erkennen.
Ein Blick auf Chris genügte, um ihm zu zeigen, dass auch er diese Erkenntnis teilte.
Jegliche Vernunft beiseiteschiebend sprach Hugo aus, was er sich soeben zusammengereimt hatte: »Nun, ich schätze, unsere Rolle soll die der neu aufgespürten Superhelden sein.«
Alle Anwesenden starrten Hugo an. Auf Docs Gesicht machte sich ein Lächeln breit. »Gut erkannt, junger Mann. Gut erkannt. Nun dreht mal alle der lieben Vernunft den Hahn ab und folgt den Pfaden, die Hugo bereits beschritten hat. Immerhin gelten doch die meisten Dinge auf dieser Welt als unwahr und Spinnerei, bevor sie jemand bewiesen hat. Dass die Erde sich um die Sonne dreht und nicht selbst der Mittelpunkt des Universums ist, um den alles andere kreist, galt einst als Schwachsinn. Jeder, der dies behauptete, wurde mindestens als Spinner, wenn nicht gar als Ketzer angesehen.«
Zweifelnd schüttelte Hugo den Kopf. »Mag sein, ich habe erkannt, wofür Sie uns halten, doch das heißt noch lange nicht, dass ich daran glaube!«
Doc erhob ihren Zeigefinger und sprach mit ernster Stimme: »Wohl wahr! Bloß den kritischen Blick nicht verlieren, nicht alles glauben, was andere als gegeben hinstellen!«
»Ein großer Teil unserer Arbeit als Agenten besteht im Vertuschen der Tätigkeiten der Superhelden. Der Beweis für unsere gute Arbeit ist das Unwissen der Bevölkerung«, erklärte Agent Müller.
»Das heißt also«, fasste Hugo das Gehörte mit gerunzelter Stirn zusammen, »Superhelden existieren in der realen Welt und sie gehen ganz normal ihrem Gewerbe nach – Menschen retten, nehme ich mal an – und Agenten sind dafür da, irgendwie, auf irgendeine geheimnisvolle Weise das Ganze zu vertuschen.«
Krimhild schnaubte schnippisch. »Da stellt sich doch die Frage, was Sie mit den Leuten machen, die gerettet wurden oder die Rettungsaktion beobachtet haben?«
Erschrocken sog Olivia die Luft ein: »Die bringen Sie doch hoffentlich nicht alle um, oder?«
Krimhild verdrehte die Augen. »Na, dann wäre ja wohl die ganze angebliche Organisation überflüssig. Denk doch mal nach! Erst jemanden retten und ihn dann umbringen, weil er weiß, dass er gerettet wurde. Das wäre ja wohl schwachsinnig hoch zehn!«
»Puh, ich dachte schon …« Erleichtert sank Olivia im Sessel zurück.
»Gehirnwäsche, nicht wahr?« Triumphierend blickte Kolja in die Runde. »Wie im Film ›Men in Black‹, da haben die so ein Blitzdings und wenn die Leute geblitzdingst werden, vergessen sie, was sie gesehen haben und man kann ihnen jede Erinnerung einreden, die man will.«
Agent Müller nickte leicht. »So in etwa.«
»Schon wieder weichen Sie aus«, warf Krimhild dem Agenten vor.
Der Agent erklärte unbewegt: »Es würde zu weit gehen, den Vorgang im Detail zu erläutern. Wir erreichen einen ähnlichen Effekt wie im genannten Spielfilm durch den Einsatz einer Chemikalie, die wir zumeist gasförmig einsetzen.«
»Cool!«, rief Kolja aus und fragte mit vor Neugierde funkelnden Augen weiter: »Aber wie schützen Sie sich selbst vor dem Gas? Reicht Nase zuhalten? Immer eine Atemschutzmaske mit sich herumzuschleppen wäre doch nicht grad unauffällig, oder?«
»Wir müssen uns nicht davor schützen«, teilte Agent Müller ihm mit. »Alle Agenten sind immun gegen die Wirkung dieser Chemikalie.«
»Bei euch würde es im Übrigen auch nicht wirken«, fügte Doc hinzu. »Auch alle Superhelden und zukünftigen Superhelden besitzen diese natürliche Immunität.«
Einen Moment lang herrschte nachdenkliches Schweigen. Offensichtlich waren die Agenten und Doc also tatsächlich überzeugt davon, dass Olivia, Krimhild, Hugo, Chris und Kolja irgendwann in Zukunft Superhelden sein würden.
»Mal angenommen, es gibt also tatsächlich Superhelden und Agenten und eine Chemikalie, mit der man dem Rest der Menschheit eine Gehirnwäsche verpassen kann.« Krimhild hatte sich mit verschränkten Armen auf dem Sofa zurückgelehnt. »Warum in aller Welt gehen Sie davon aus, dass wir auch zu diesen ominösen Superhelden gehören? Ich meine, wie kommen Sie zu der Annahme? Außergewöhnliche Fähigkeiten besitze ich nämlich keine. Zwar bin ich eine ziemlich gute Sportlerin, aber fliegen kann ich nicht. Oder einen Elefanten stemmen.«
Alles an Krimhild, von ihrer abwehrenden Körperhaltung bis hin zu ihrem verkniffenen Gesicht, zeigte deutlich ihre Ablehnung und ihr Misstrauen den Agenten und allem bisher Gehörten gegenüber.
Schweigend sahen sich die Agenten und Doc an, als warte jeder von ihnen darauf, dass einer der anderen sprechen möge.
Schließlich ergriff Agent Müller das Wort: »Nun, bis vor kurzem besaß SOS eine ganz einmalige Möglichkeit der Vorhersage. Diese hat uns speziell die Namen der Personen genannt, bei denen sich schon bald außergewöhnliche Fähigkeiten zeigen werden.« Kurz zögerte er, als suche er nach den richtigen Worten. »Sie fünf waren die Letzten, die auf diese Weise benannt wurden. Die Vorhersagemöglichkeit existiert nun nicht mehr.« Eindringlich sah er einen nach dem anderen an. »Auch wenn sich zum jetzigen Zeitpunkt noch keine Besonderheiten bei Ihnen gezeigt haben, müssen wir doch davon ausgehen, dass das alsbald noch passieren wird.«
»Kassandra hat sich nie getäuscht«, sagte Doc mit plötzlich starrem, emotionslosem Gesicht. Dann erhob sie sich und forderte die Gruppe auf, ihr zu folgen.
Während die fünf sich in der Basis mit Doc und den Agenten unterhielten, nahm andernorts Herr Özkan sein Frühstück ein. Anschließend würde er ebenfalls zur Arbeit in die Basis gehen.
Der Chemiker liebte seine Arbeit und ganz besonders freute er sich auf die Neuen. Vor einigen Tagen hatte Kassandra deren Namen genannt und heute würden die Agenten die fünf zum ersten Mal in die Basis bringen. Für ihn hieß das, bald wieder unterrichten zu dürfen.
Herr Özkan arbeitete gern mit jungen Menschen. Seit nunmehr über dreißig Jahren war er als Wissenschaftler an der Ausbildung der Pexabilies – die offizielle Bezeichnung für Menschen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten – beteiligt, was ihm heute noch genauso viel Freude bereitete wie vor dreißig Jahren. Er selbst und seine Frau hatten vier Kinder bekommen und inzwischen tobten des Öfteren die Enkel durch das Haus, was seiner Meinung nach dazu beigetragen hatte, dass er im Inneren immer jung geblieben war.
Heute jedoch war das Haus bis auf ihn menschenleer. Seine Frau besuchte ihre kranke Schwester, war dafür bereits vor zwei Tagen nach Istanbul geflogen und würde wohl mindestens noch eine Woche dortbleiben. Natürlich rief sie jeden Tag wenigstens einmal an – vorgeblich, um ihm Aufgaben durchzugeben. Doch er wusste, dass sie eigentlich in ständiger Sorge um ihn war, es kaum ertrug, lange von ihm getrennt zu sein. Für die Zeit ihrer Abwesenheit hatte sie vorgekocht und einen Essensvorrat angelegt, als wolle sie eine ganze Kompanie vier Wochen lang verköstigen.
Herr Özkan lächelte, als das Telefon klingelte. Soeben hatte er sein Frühstück beendet, was seine Frau natürlich ganz genau wusste und exakt die richtige Zeit für den Anruf abgepasst hatte. Ein kurzer Plausch, bevor er sich auch an diesem Samstagmorgen auf den Weg zur Arbeit machte. Lächelnd griff er nach dem Telefon, doch bekam es nicht mehr zu fassen. Sein Bewusstsein schwand und er fiel ohnmächtig zu Boden.
Die Männer, die Herrn Özkan daraufhin wegbrachten, trugen nicht die dunkelgrauen Anzüge der Agenten, denn diese Aktion war nicht von SOS geplant. Herr Özkan würde – wie schon mehrere SOS-Wissenschaftler vor ihm – spurlos verschwinden, so als habe sich der Erdboden geöffnet und ihn verschluckt. Und er sollte nicht der Letzte bleiben, dem das widerfuhr.
Nach einer weiteren verwirrenden Wanderung durch den Labortrakt führte Doc die fünf wiederum in einen Gewölbegang. Nur schwer abzuschätzen war, ob es sich dabei um den gleichen Korridor wie vorhin handelte. Ihr Ziel war ein abseits gelegener Raum, den sie nun nacheinander betraten. Zuvor hatte sich Agent Schulz zwecks Erledigung anderer Pflichten von der Gruppe verabschiedet.
Der Raum war leer bis auf ein eigentümliches Gebilde, das die fünf nun staunend betrachteten. Das Ding war bestimmt zwei Meter hoch und breit wie ein ausladender Kleiderschrank. Mehrere Reihen von verschiedenfarbigen, etwa handgroßen runden Gegenständen waren auf der Vorderseite dieses Kastens angebracht, so als hätte jemand Dosen mit der Unterseite nach vorn daran befestigt.
Neugierig trat Kolja auf dieses rätselhafte Ungetüm zu und streckte die Hand danach aus. Prompt bekam er einen Hieb auf seine Finger.
»Hände weg!«, blaffte Doc ihn an.
Jammernd hielt Kolja seine schmerzende Hand.
»Das ist sie. Das ist Kassandra.« Stolz schwang in Docs Stimme, als sie auf das seltsame Gerät zeigte. Ihre nächsten Worte waren jedoch voller Trauer. »Beziehungsweise, das war Kassandra.«
Kolja, der sich noch immer seine Finger rieb, war trotz allem Feuer und Flamme. »So etwas habe ich schon mal gesehen. In einem Film, denke ich.«
Auch Hugo kam dieses Gerät bekannt vor. Dass es sich hierbei um ein technisches Gerät und nicht um eine Kunstinstallation handelte, schien für ihn außer Frage zu stehen.
Eher desinteressiert klang Olivia, die inzwischen an dem Ding vorbeigelaufen war und nun auf die Rückseite blicken konnte. »Sieht aus wie so ein uralter Computer.«
»Ja, genau!« Kolja trat zu ihr und betrachtete ebenfalls die auf der Rückseite sichtbaren mechanischen Elemente. »Das ist so eine Maschine, mit der man Codes im Krieg geknackt hat. In irgendeinem Weltkrieg.«
»Die Enigma-Codes im zweiten Weltkrieg«, warf Chris ein und präzisierte: »Das sieht aus wie eine Bombe.«
»Eine Bombe?«, schrie Olivia hysterisch auf. »Dann nichts wie raus hier!«
»Keine Bombe, die explodiert. Eine Turing-Bombe«, versuchte Chris sie zu beschwichtigen.
»Oh, na dann ist ja alles in Ordnung.« Krimhilds Stimme triefte einmal mehr vor Sarkasmus. »Da wissen wir ja jetzt alle, was gemeint ist und sind ganz beruhigt, dass es sich nur um eine Turing-Bombe handelt!«
»Es sieht aus wie eine Turing-Bombe. Ob es eine ist, weiß ich nicht«, präzisierte Chris seine Aussage und schien dabei die Kritik in Krimhilds Worten gar nicht wahrzunehmen.
Auf Krimhilds versteckte Frage ging jedoch Doc ein: »Als Turing-Bombe bezeichnet man eine elektromechanische Maschine, mit der man sehr effektiv Nachrichtencodes knacken kann. Entwickelt wurde sie während der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Mit ihrer Hilfe konnten damals die Briten die Funksprüche der Deutschen entschlüsseln.«
»Im Prinzip haben Sie recht«, stimmte Agent Müller Chris zu. »Es hat tatsächlich verblüffende Ähnlichkeit mit solch einem Gerät und es stammt auch aus jener Zeit. Doch es ist etwas anderes. Was genau, wissen wir leider auch nach all den Jahren noch nicht. Bis vor kurzem lieferte es uns zuverlässig Informationen über den Superheldennachwuchs. In regelmäßigen Abständen setzten sich die Walzen in Bewegung, ein ohrenbetäubendes Rattern ertönte. Das war für unsere Mitarbeiter das Signal sicherzustellen, dass ein Blatt Papier in diesem Gerät hier eingespannt ist.«
Bei den letzten Worten wies er auf einen Gegenstand, der sich auf einem kleinen Tisch neben Kassandra befand und mit der Maschine verbunden war. Dem Aussehen nach handelte es sich dabei um eine ganz gewöhnliche alte Schreibmaschine.
»Manchmal bewegten sich daraufhin die Tasten der Schreibmaschine wie von Geisterhand und druckten die Namen von ein oder mehreren Personen mit dazugehörigem Wohnort auf das Blatt. Einige der Namen rot, andere schwarz. Schwarz bedeutete natürliche Befähigung zum Agenten. Bei all den in roten Lettern abgedruckten Personen, die uns Kassandra jemals genannt hat, handelte es sich immer um persons with extraordinary abilities, oder Pexabilies, wie wir sie nennen.«
»Pexabilies«, wiederholte Kolja diesen fremdartigen Begriff, als wolle er ihn sich auf der Zunge zergehen lassen.
»Gern können Sie weiterhin von Superhelden sprechen, das ist genauso verständlich.«
Agent Müller zog einen Zettel aus der Innentasche seiner Anzugjacke. Er faltete ihn auf und reichte ihn Hugo. »Das war die letzte von Kassandras Vorhersagen.«
Hugo betrachtete die fünf Namen, die in roten Lettern auf dem Blatt Papier standen. Die anderen traten näher, um ihm über die Schulter zu blicken. Angespannte Stille machte sich breit, als sie auf dem Zettel in roten Buchstaben gedruckt ihre eigenen Namen lasen.
»Warum funktioniert die Maschine jetzt nicht mehr?«, durchbrach Olivia das Schweigen.
»Nach diesem letzten Ausdruck hat sich Kassandra einfach abgeschaltet.« Doc hob resigniert die Schultern. »Die Lämpchen blinkten plötzlich nicht mehr. Die Walzen setzen sich seitdem nicht mehr in Bewegung. Wir haben auch nach jahrzehntelanger Forschung nicht wirklich eine Ahnung, wie Kassandra funktioniert, was vor allem daran liegt, dass Kassandra uns nie erlaubt hat, sie genauer zu erforschen.«
»Die Maschine hat Ihnen nicht erlaubt, sie genauer zu erforschen?«, wiederholte Krimhild ungläubig die Worte der Wissenschaftlerin.
»Das klingt, als würden Sie von einer lebenden Person sprechen«, stellte Hugo fest.
Doc musste lachen. »Klingt ziemlich verrückt, nicht wahr? Doch immer, wenn wir versucht haben, die Maschine näher unter die Lupe zu nehmen, einzelne Teile genauer zu untersuchen oder gar auszubauen, gab die Maschine Alarm.«
»Ein grässlicher, schriller Alarmton«, präzisierte der Agent.
Doc nickte bestätigend: »Genau. Außerdem legte die Schreibmaschine los und wenn ein Blatt Papier eingespannt war, schrieb sie mehrere Male ›Error‹ in Großbuchstaben.« Doc lächelte in die Runde und flüsterte verschwörerisch: »Da gewinnt man selbst als Wissenschaftler, der einzig und allein der Vernunft verpflichtet ist, irgendwann den Eindruck, man hat ein intelligentes Wesen vor sich!«