Sozialstruktur und sozialer Wandel in Deutschland - Bernhard Schäfers - E-Book

Sozialstruktur und sozialer Wandel in Deutschland E-Book

Bernhard Schäfers

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  • Herausgeber: UTB
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2012
Beschreibung

Die 9., völlig überarbeitete Auflage dieses Standardwerkes gibt einen aktuellen Überblick über die Sozialstruktur Deutschlands und ihren Wandel seit 1945. Bernhard Schäfers führt anschaulich in die erforderlichen Grundbegriffe ein und berücksichtigt ausführlich die wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Zusammenhänge. Ausgehend von den Grundlagen des Staats- und Gesellschaftssystems werden folgende Themen behandelt: politisches System und Parteienstruktur; der Vereinigungsprozess 1990 und die bisherige Entwicklung; Grundlagen des Wirtschaftssystems, der Arbeits- und Berufsstrukturen; Bevölkerungsstruktur, Ausländer und Integration; Familie, Ehe und Lebensgemeinschaften; Bildung und Ausbildung, Religionen und Kirchen; Struktur und Wandel des Sozialstaats; Wandel der Klassen- und Schichtungsstruktur und soziale Ungleichheit; Gemeinden, Städte und Wohnverhältnisse; Deutschland in Europa. Ein ausführliches Sachregister erleichtert das Auffinden wichtiger Begriffe und Sachverhalte.

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Seitenzahl: 416

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Bernhard Schäfers

Sozialstruktur und sozialer Wandel in Deutschland

9., völlig überarbeitete Auflage

UVK Verlagsgesellschaft mbH · Konstanz mit UVK/Lucius · München

Bernhard Schäfers ist emeritierter Professor der Soziologie an der Universität Karlsruhe (jetzt KIT)

Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede

Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne

Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für

Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und

Verarbeitung in elektronischen Systemen.

8. Auflage: © Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft mbH, Stuttgart 2004

9. Auflage: © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2012

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Lektorat: Claudia Hangen, Hamburg

Satz und Layout: Claudia Wild, Konstanz

UVK Verlagsgesellschaft mbH

Schützenstr. 24 · D-78462 Konstanz

Tel.: 07531-9053-0 · Fax 07531-9053-98

www.uvk.de

UTB-Band Nr. 2186

ISBN 978-3-84633-827-8

eBook-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheimwww.brocom.de

Vorwort zur neunten Auflage

Das in neunter Auflage vorgelegte Studienbuch zur Sozialstruktur und zum sozialen Wandel Deutschlands erschien erstmals im Jahr 1976. Jede Neubearbeitung spiegelt den stattgehabten sozialen und kulturellen Wandel. Hatten die Ausgaben nach 1990 die Auswirkungen der unverhofften Vereinigung der beiden deutschen Staaten zu berücksichtigen, so ist seit den letzten Bearbeitungen hervorzuheben, in welchem Umfang die digitale Revolution mit ihren neuen Kommunikations- und Informationsmöglichkeiten alle Bereiche der Sozialstruktur verändert, und zwar viel schneller als prognostiziert wurde.

So zeigt sich abermals: Prognosen über die gesellschaftliche Entwicklung können allenfalls mögliche Pfade beschreiben, nicht aber den Wandel, wie er sich ereignet und sich auf das soziale Handeln und die Institutionen auswirkt. Relativ stabil waren hingegen Voraussagen im Hinblick auf die Bevölkerungsentwicklung seit den 1970er Jahren; sie führten jedoch auf keinem Gebiet zu konsequentem politischem Handeln. Der jetzige Zustand der Gesellschaft resultiert daher auch aus der Anhäufung nicht erledigter Aufgaben aus der Vergangenheit. Die wachsende Verflechtung der deutschen Gesellschaft mit der Europäischen Union und ihren gegenwärtig 27 Mitgliedsstaaten schafft einen zusätzlichen Problemstau, wie in mehreren Kapiteln des Bandes deutlich wird, öffnet aber zugleich Perspektiven für die Zukunft.

Bewährte didaktische Prinzipien wurden beibehalten. Großes Gewicht wird auf die Definition relevanter Begriffe gelegt, auch auf ihren Zusammenhang mit soziologischen, politologischen und ökonomischen Theorien. Begriffe und wichtige Sachverhalte werden kursiv hervorgehoben; das ausführliche Sachregister lässt sie leicht auffinden. Am Ende eines jeden Kapitels findet sich das Literaturverzeichnis für den Themenbereich. Verweise auf Internetadressen erfolgen im Text selbst. Die für die Empirie wichtigsten Grundlagen werden im ersten Kapitel genannt.

Für Hilfen bei der Textgestaltung danke ich meiner Frau Christa, Herrn Gerd Tehler in Münster und Herrn Alexander Hercht M. A., gegenwärtig Promovent im Fach Geschichte an der Universität Konstanz. Die freundliche Unterstützung von Frau Sonja Rothländer M. A., Lektorin im UVK-Verlag, in allen Arbeitsphasen, war unentbehrlich wie auch die kritische Durchsicht des gesamten Textes durch Frau Dr. Claudia Hangen.

Karlsruhe, im Juni 2012

Bernhard Schäfers

Inhaltsübersicht*

Verzeichnis der Tabellen

Verzeichnis der Abbildungen

Abkürzungen

Kapitel I

Gesellschaft, Sozialstruktur und sozialer Wandel

Kapitel II

Gründung und Grundlagen des bundesrepublikanischen Staats- und Gesellschaftssystems

Kapitel III

Vereinigungsprozess. Seitherige Entwicklung

Kapitel IV

Bevölkerungsstruktur. Wanderungen. Ausländer und Integration

Kapitel V

Familie, Ehe und Lebensgemeinschaften

Kapitel VI

Elemente des kulturellen Systems: Bildung, Religion, Netzwerke und Medienkultur

Kapitel VII

Struktur und Wandel des politischen Systems

Kapitel VIII

Grundlagen und Wandel des Wirtschaftssystems

Kapitel IX

Struktur und Wandel des Sozialstaats

Kapitel X

Soziale Ungleichheit. Wandel der Klassen- und Schichtungsstruktur

Kapitel XI

Wandel der Siedlungsstruktur, Städte und Wohnverhältnisse

Kapitel XII

Deutschland in Europa

Sachregister

* Ein ausführliches Inhaltsverzeichnis findet sich vor dem jeweiligen Kapitel

Verzeichnis der Tabellen

Nr. Inhalt der Tabellen

1 Bevölkerungsentwicklung in Deutschland 1871–2009 in Mio.

2 Einwohner der Länder/Stadtstaaten in Mio. 2009; Größe in qkm

3 Entwicklung der Altersstruktur. Jugend- und Altenquotienten

4 Ausländische Arbeitnehmer nach ausgewählten Herkunftsländern

5 Ausländische Wohnbevölkerung am 31.12.2010

6 Personen je Haushalt nach Gemeindegröße 2010

7 Durchschnittliche Haushaltsgrößen/Anteil der Einpersonenhaushalte 2010

8 Lebensformen der Bevölkerung

9 Familien mit Kindern unter 18 Jahren 1996 und 2010

10 Erwerbsquoten von Müttern und Vätern 2009

11 Kinder unter 3 bzw. 6 Jahren 2010 in Kindertagesbetreuung

12 Austritte aus der evangelischen und der katholischen Kirche

13 Internetaktivitäten im Jahr 2010

14 Mitgliederentwicklung bei SPD und CDU 1950–2007

15 Mitgliedschaft bei CSU, FDP, Die Grünen, Die Linke 2009

16 Wahlen zum deutschen Bundestag seit 1998

17 Bundestagswahl/Zweitstimmen 2009 nach Berufsgruppen

18 Bevölkerung und Struktur des Arbeitsmarktes 1991–2010

19 Erwerbstätige nach Stellung im Beruf 1950–2010

20 Berufliche Stellung von Frauen mit und ohne Migrationshintergrund

21 Anteile der Erwerbstätigen in den Produktionssektoren seit 1950

22 Beiträge der Wirtschaftsbereiche zum BIP

23 Entwicklung der Arbeiterschaft 1882–2010

24 Anteile der Selbstständigen und mithelfenden Familienangehörigen an den Erwerbspersonen 1881–2010

25 Registrierte Arbeitslose seit 1950

26 Frauenanteile in Spitzenpositionen verschiedener Institutionen

27 Schichtung der Bevölkerung nach relativen Einkommenspositionen

28 Betroffenheit von Armut nach verschiedenen Kriterien

29 Hartz IV-Empfänger mit Kindern in den Bundesländern

30 Subjektive Schichtzugehörigkeit 1990 und 2010

31 Städtewachstum in der Hochindustrialisierungsphase

32 Zahl der Gemeinden über 20 Tsd. Einwohner

33 Entwicklung des Kraftfahrzeugbestandes seit 1950

34 Einteilung des Bundesgebietes in siedlungsstrukturelle Typen

35 Wohnqualität in einigen europäischen Ländern

36 Museumsarten und Zahl der Besuche im Jahr 2009

37 Fläche und Bevölkerung in den 27 EU-Staaten im Jahr 2010

38 Personalbestand der EU-Organe im Jahr 2011

Verzeichnis der Abbildungen

Nr. Inhalt der Abbildungen

1 Altersaufbau und Migrationshintergrund der Bevölkerung

2 Zu- und Fortzüge in Deutschland 1994 bis 2000

3 Das Bildungswesen in Deutschland

4 Drei Säulen des Systems sozialer Sicherheit

5 Haushalte mit Bezug von Wohngeld

Abkürzungen

BRD

Bundesrepublik Deutschland. Diese Abkürzung ist nicht amtlich

BVerfGE

Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen

DDR

Deutsche Demokratische Republik

et al.

et alii (lat.) und andere

GG

Grundgesetz

i. d. R.

in der Regel

i. e. S.

im engeren Sinn

KZfSS

Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie

rde

Rowohlts deutsche Enzyklopädie

St. Jb.

Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland

stw

suhrkamp taschenbuch wissenschaft

u.ö.

und öfter (bei Auflagen von Büchern)

w.u.

weiter unten

z. T.

zum Teil

Hist. Lex.

Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. v. Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck, Stuttgart 1972 ff. (alle Bände in neueren Auflagen)

Hist. Wb.

Historisches Wörterbuch der Philosophie, Hrsg. Joachim Ritter et al., der Phil. Basel 1971 ff. (alle Bände in neueren Auflagen)

Kapitel I

Gesellschaft, Sozialstruktur und sozialer Wandel

1.Begriffe. Empirische Grundlagen

1.1 Gesellschaft – Vergesellschaftung – Vergemeinschaftung

1.2 Gesellschaft im soziologischen Verständnis

1.3 Sozialstruktur und Sozialstrukturanalyse

1.4 Empirische Grundlagen

2.Theoretische Ansätze der Sozialstrukturanalyse

3.Sachdominanz, Raum und Zeit als Elemente der Sozialstruktur

4.Theorien und Trends des sozialen Wandels

4.1 Definition und theoretische Ansätze

4.2 Theorie der gesellschaftlichen Mobilisierung und Modernisierung

4.3 Sozialer Wandel im Strukturfunktionalismus

4.4 Kultur und Wertideen als Quellen des Wandels

5.Globalisierung als Quelle des Strukturwandels

Literatur

1. Begriffe. Empirische Grundlagen

1.1 Gesellschaft – Vergesellschaftung – Vergemeinschaftung

Beim Begriff Gesellschaft* besteht die Gefahr, ihn vorschnell zu objektivieren und als real leicht nachweisbar anzusehen. Bereits Georg Simmel (1858–1918) hatte davor gewarnt. Seinem Werk »Soziologie« stellte er einen Exkurs voran: »Wie ist Gesellschaft möglich«? (1908/1968 : 21–30)**. Gesellschaft ist nach Simmel nicht nur die Summe der vergesellschafteten Individuen, von den sozialen Gruppen bis zu komplexen Organisationen und dem Staat, sondern zugleich die Summe aller möglichen Wechselwirkungen, die daraus entstehen können.

Gesellschaft ist auch im Alltagsverständnis ein vielschichtiger Begriff, der von der Tischgesellschaft bis zur Reisegesellschaft, von der Gesellschaft der Musikfreunde bis zur Aktiengesellschaft reicht. Die Verbundenheit oft sehr unterschiedlicher Personen mit einem bestimmten Zweck, ob kurz- oder langfristig, ist entscheidend. Das besagt auch der Wortursprung. Danach bedeutet Gesellschaft »den Inbegriff räumlich vereint lebender oder vorübergehend auf einem Raum vereinter Personen«, so der Soziologe und Begründer der Schichtungssoziologie Theodor Geiger (1891–1952) im ersten deutschsprachigen »Handwörterbuch der Soziologie« (1931/1957).

Für die Geschichte des Gesellschaftsbegriffs ist bis heute die griechisch-römische Tradition wegweisend (einen Überblick gibt Riedel 1975). In allen Etappen der europäisch-abendländischen Geschichte blieb bewusst, was Platon (428–348) und Aristoteles (384–322) in ihren Werken über Staat und Gesellschaft ausführten. Der Mensch »ist von Natur ein nach der staatlichen Gemeinschaft strebendes Wesen« (Aristoteles, Politik, 1278 b), aber erst die Polis, der griechische Stadtstaat, lässt seine Anlagen im Zusammenspiel mit den Aktivitäten anderer Menschen zur Entfaltung kommen. Die Bürger sind zur Selbstverwaltung aufgerufen. Der Staat sorgt vor allem für den Schutz der Bürger nach innen und außen in einem territorial klar definierten Gemeinwesen.

Diese Gemeinwesen sind heute komplexe, nationalstaatlich verfasste Gesellschaften. In soziologischer Perspektive sind zwei Begriffe hilfreich: Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung. In der Vielfalt ihrer Formen und in ihren Wechselwirkungen spiegelt sich die Lebenswirklichkeit der vergesellschafteten Individuen. Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung sind Begriffe, die der wohl bekannteste deutsche Soziologe, Max Weber (1864–1920), im Anschluss an ein frühes Hauptwerk der deutschen Soziologie, Ferdinand Tönnies’ »Gemeinschaft und Gesellschaft« (zuerst 1887), bildete.

»›Vergemeinschaftung‹ soll eine soziale Beziehung heißen, wenn und soweit die Einstellung des sozialen Handelns (…) auf subjektiv gefühlter (affektueller oder traditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteiligten beruht. ›Vergesellschaftung‹ soll eine soziale Beziehung heißen, wenn und soweit die Einstellung des sozialen Handelns auf rational (wert- oder zweckrational) motiviertem Interessenausgleich oder auf ebenso motivierter Interessenverbindung besteht« (Weber 2002 : 694 f.).

Vergemeinschaftung umfasst also alle Formen des sozialen Handelns, die auf persönlicher Nähe, Bekanntschaft und Vertrautheit beruhen. Neben der Familie, Verwandtschaft und Nachbarschaft ist die Mehrzahl der sozialen Gruppen zu nennen. Es gibt ein ausgeprägtes Wir-Gefühl, das Du als Anrede ist vorherrschend.

Vergesellschaftung setzt die weitgehende personale Anonymisierung der sozialen Strukturen und ein funktionales Rollenverständnis voraus. Es basiert auf der Trennung von Familie/Haushalt und Arbeitsplatz, von Arbeit und Freizeit, von Privatheit und Öffentlichkeit. Das Sie gehört zur vorherrschenden Umgangsform, die Stadt zum typischen Umfeld.

1.2 Gesellschaft im soziologischen Verständnis

Gesellschaft im soziologischen Verständnis bezeichnet sozial- und soziologiegeschichtlich zunächst jene Form des menschlichen Zusammenlebens, die als bürgerliche Gesellschaft die ständisch-feudale Ordnung überwand.

Die Aufklärung und die bürgerlichen Revolutionen seit dem 17. Jahrhundert verstärkten den Trend zur Herausbildung eigenständiger Handlungssphären für die Bürger. Die Entwicklung wurde durch die Französische Revolution 1789 ff. und die Herausbildung der Nationalstaaten – mit den Bürgern als Staatsbürgern (citoyens) – beschleunigt. Der Rechtsstaat soll die Gleichheit aller Bürger garantieren, die bürgerliche Handlungssphäre schützen und zugleich dem Staatsbürger die Grenzen seiner individuellen Freiheit aufzeigen. Eine für Deutschland wichtige Konzeption dieses Modells der bürgerlichen Gesellschaft stammt von Georg Friedrich Wilhelm Hegel (1770–1831). In seiner »Philosophie des Rechts« (zuerst 1821) werden die bürgerliche Familie, die Gesellschaft und der Staat als Basisinstitutionen in ein Verhältnis gesetzt.

Sieht man von Vorläufern ab – Wilhelm Heinrich Riehl (1823–1897), Lorenz von Stein (1815–1890) –, so hat erst Ferdinand Tönnies (1855–1936) einen spezifisch soziologischen Gesellschaftsbegriff entwickelt. In »Gemeinschaft und Gesellschaft« analysierte er die Entwicklung von der ständisch-feudalen, agrarischen Gesellschaft zur modernen städtisch-industriellen Gesellschaft mit ihren Trends der Anonymisierung sozialer Beziehungen und der Verselbstständigung der Individuen als autonom handelnden Personen. So lässt sich nach Tönnies Gesellschaft denken, »als ob sie in Wahrheit aus getrennten Individuen bestehe, die insgesamt für die allgemeine Gesellschaft tätig sind, indem sie für sich tätig zu sein scheinen« (Tönnies 1963 : 251).

Dieses Gesellschaftsmodell hatte theoriegeschichtlich Aufklärung und Liberalismus, materiell-praktisch die Industrielle Revolution zur Voraussetzung. Der englische Sozialhistoriker Eric Hobsbawm spricht daher von der Doppelrevolution (1962 : 1), in der sich die jeweiligen Elemente in einem Prozess der Beschleunigung wechselseitig vorantreiben, wobei die Forderungen nach Freiheit und Gleichheit sowie die Verbesserung der Lebenssituation die Haupttriebfedern sind (über Beschleunigung als Grundkategorie der Moderne vgl. Koselleck 1989 : 76 ff.). Zu den Grundlagen dieser industriell-bürgerlichen, liberal-rechtsstaatlichen Gesellschaft gehören:

Freisetzung des Einzelnen zu selbst gewählter Familienbildung, Berufswahl, freier Wahl von Wohnort und Arbeitsplatz, Zugehörigkeit zu Vereinen.

Ablösung ständischer und städtischer Formen der gesundheitlichen und sozialen Fürsorge durch gesamtgesellschaftliche bzw. staatliche Institutionen.

Voraussetzung für das Wirksamwerden dieser Forderungen und Trends der gesellschaftlichen Entwicklung war die Ausdifferenzierung und relative Autonomie der gesellschaftlichen Teilbereiche: Recht, Politik, Wirtschaft, Religion und Kirche, Kultur und Bildung, Arbeit und Freizeit.

Gesellschaft in diesem Verständnis wird in allen soziologischen Makrotheorien thematisiert. Im Strukturfunktionalismus, der für die Entwicklung der Sozialstrukturanalyse wichtig war, von Talcott Parsons (1902–1979) und Robert K. Merton (1910– 2003), in der Systemtheorie von Niklas Luhmann (1927–1998), in der Theorie der Frankfurter Schule und in der Modernisierungstheorie. Für Luhmann ist Gesellschaft »das umfassende soziale System, das alle anderen sozialen Systeme in sich einschließt« (1998 : 78).

1.3 Sozialstruktur und Sozialstrukturanalyse

Der Begriff Struktur findet sich in allen Wissenschaften; er zielt auf den Zusammenhang der jeweils konstitutiven Elemente in einem abgrenzbaren Bereich der dem Menschen zugänglichen Wirklichkeit. In der Soziologie gehört der Begriff – wie Institution, Organisation, System – zu den ältesten einer spezifisch soziologischen Begriffsgeschichte. Im Strukturfunktionalismus erlangte er einen zentralen Stellenwert. Struktur verweist für alle sozialen Systeme zunächst auf den Tatbestand, dass diese durch Normen, soziale Rollen, durch Institutionen und Organisationen relativ dauerhaft eingerichtet sind und Handlungen anderer in ihrem Verlauf berechenbar werden.

Sozialstruktur bezeichnet die Gesamtheit der relativ dauerhaften Norm- und Wertgefüge, der Rechtsgrundlagen, der politischen, ökonomischen und weiteren Institutionen und Handlungsmuster in einer Gesellschaft. Hierbei kommt jenen Elementen eine besondere Bedeutung zu, die die Integration und Identität des gesellschaftlichen Systems sichern.

Rainer Geißler versteht unter Sozialstruktur »die Wirkungszusammenhänge in einer mehrdimensionalen Gliederung der Gesamtgesellschaft in unterschiedliche Gruppen nach wichtigen sozial relevanten Merkmalen sowie in den relativ dauerhaften sozialen Beziehungen dieser Gruppen untereinander« (2011 : 19; dort und bei Huinink/Schröder 2008 finden sich weitere Definitionen zu Sozialstruktur).

Die Sozialstrukturanalyse hebt aus der Vielzahl der relevanten Elemente jene hervor, die für ein gesellschaftliches System und seine Integration zentral sind. Die Sozialstrukturanalyse ist zwar eine Momentaufnahme, berücksichtigt aber die Prozesse des sozialen Wandels, die zum gegebenen Zustand geführt haben und Ausgangspunkt weiterer Entwicklungen sind.

Felder der Sozialstrukturanalyse:

Bevölkerungsstruktur, Binnen- und Außenwanderungen (Migrationen);

Familien, Lebensgemeinschaften und Haushalte;

politisches System, Institutionen des Rechts und des staatlichen Handelns;

Wirtschaftssystem: Eigentumsstrukturen, Produktionsstätten, Handel;

Bildung und Ausbildung, Kultur, Kirchen und religiöse Gemeinschaften;

Siedlungsformen wie Dörfer und Städte, Infrastruktur für Verkehr und Energie;

Informations- und Kommunikationssysteme, deren Ausweitung auf allen Ebenen des sozialen Handelns die Basis der »Netzwerkgesellschaft« sind;

Wandel der Klassen- und Schichtungsstrukturen, der Sozialmilieus und zeittypischen Ausprägungen der sozialen Ungleichheit.

Die in der Soziologie übliche Unterteilung der Handlungs- und Strukturebenen in einen »Mikrobereich« des konkreten sozialen Handelns, einen »Mesobereich« der Institutionen und Organisationen und einen »Makrobereich« der gesellschaftlichen Strukturen lässt sich auch auf die Sozialstruktur und ihre Analyse übertragen. Karl Lenz (2002 : 336 f.) bezieht, die genannte Unterscheidung von Max Weber aufnehmend, makrosoziologische Fragen auf alle Prozesse und Strukturen der Vergesellschaftung, mikrosoziologische Fragen auf Prozesse und Strukturen der Vergemeinschaftung. Bei den Handlungsformen der Vergesellschaftung sind die Beziehungsmuster indirekt und anonym, bei den gemeinschaftlichen sind sie am Handeln naher und bekannter Personen orientiert.

1.4 Empirische Grundlagen

Für die Analyse der Sozialstruktur der deutschen Gesellschaft sind folgende Quellen und Datengrundlagen wichtig:

Sozialstatistische Aspekte der Sozialstruktur, die sich in den Statistischen Jahrbüchern der Bundesrepublik, der Bundesländer, der Städte und Landkreise finden (sozialstrukturanalytisch aufbereitet im seit 1983 alle zwei Jahre erscheinenden Datenreport).

Berichte der Bundes- und Landesministerien, der Städte und Landkreise über Zuwanderung und Integration, über Armut und Gesundheit, über Wohnversorgung usw.

Datenhandbücher mit sozialstatistisch aufbereiteten langen Zeitreihen für verschiedene europäische Länder, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts beginnen (Flora 1983 und 1987) und Auswertungen auf der Basis des Sozio-Ökonomischen Panels (SOEP) und des ALLBUS (»Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften«) unterstützen die Analysen der Sozialstruktur und ihre Entwicklung (vgl. Habich 2011 : 432 f.; dort auch Hinweise auf die Internetadressen).

Das SOEP ist eine repräsentative Längsschnittuntersuchung zur empirischen Beobachtung des sozialen Wandels, in der es seit 1984 zwei Ausgangsstichproben (Deutsche und Ausländer) gibt. Das SOEP hat eine hohe Stichprobenstabilität, mit anfangs 5 921 Haushalten und über 12 Tsd. befragten Personen.

Bei ALLBUS handelt es sich um eine seit 1980 durchgeführte repräsentative Befragung im zweijährigen Turnus. Verantwortlich ist die Forschungsgruppe »Dauerbeobachtung der Gesellschaft« beim Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften in Mannheim.

2. Theoretische Ansätze der Sozialstrukturanalyse

Die Begriffe Struktur und Sozialstruktur tauchen in allen Paradigmen der soziologischen Theoriebildung auf, in mikro- und makrosoziologischen Ansätzen, in marxistischen und phänomenologischen, in verhaltenswissenschaftlichen und systemtheoretischen (vgl. zu den Ansätzen der soziologischen Theoriebildung Rosa et al. 2007). Der Streit um die »richtige« soziologische Theorie liegt jenseits der Grundlagen und Grundelemente des Sozialen und jener sozialen Tatsachen (faits sociaux, nach Émile Durkheim, 1858–1917), die das Grundgerüst einer Gesellschaft bilden.

Wichtige Grundlagen für die Analyse der Sozialstruktur finden sich in der soziologischen Theorie des Strukturfunktionalismus und der Systemtheorie bei Talcott Parsons, Robert King Merton und Niklas Luhmann für den Ansatz einer funktionalstrukturellen Systemtheorie. Die Prämissen des Strukturfunktionalismus schließen ein, dass sowohl die individuellen Handlungen als auch die Aktivitäten der Gruppen und Institutionen auf Integration und Stabilität eines als Einheit gedachten sozialen Systems und damit auf die Sozialstruktur einer Gesellschaft bezogen werden. Diesem Ansatz ist weiterhin zu eigen, dass die mikrotheoretische Perspektive auf die individuellen Handlungen und die makrotheoretische auf die gesamtgesellschaftliche Dimension wechselseitig bezogen sind. Die Systemtheorie von Niklas Luhmann durchbricht die im Strukturfunktionalismus gegebene Vorrangigkeit der Struktur und des Strukturerhalts. Der bei Luhmann wichtige Begriff der Kontingenz verweist auf die Möglichkeit, dass alles auch anders sein könnte (zur vielfachen Bedeutung des Kontingenzbegriffs, auch im Zusammenhang der jeweils dominanten Semantik von Begriffen und Bedeutungen für die Sozialstruktur und ihre Teilbereiche, vgl. Luhmann 1997).

Die marxistische Sozialstrukturanalyse geht davon aus, dass in allen Sozialbereichen und auf allen Handlungsebenen die Verfügung über Produktionseigentum maßgeblich ist. Desweiteren sind die damit verbundenen Formen der Aneignung, der Macht- und Herrschaftsbeziehungen und daraus resultierender Klassenstrukturen bestimmend. Unter dem Aspekt der weiterhin bestehenden Klassenspannungen ist die modifizierte Klassentheorie von Pierre Bourdieu (1930–2002) hervorzuheben. Seine Theorie der »feinen Unterschiede« und der »gesellschaftlichen Urteilskraft« (2003) basiert auf einer Reformulierung des Kapitalbegriffs. Das ökonomische Kapital der marxistischen Tradition bildet weiterhin die Basis, ist aber zu unspezifisch und muss durch weitere Kapitalbegriffe ergänzt werden:

Kulturelles Kapital, das vor allem durch Bildung und Ausbildung und entsprechende Zertifikate erworben wird;

soziales Kapital, das auf sozialen Beziehungen und Netzwerken beruht.

Die auf der Grundlage dieser »Kapitalvermögen« erfolgenden »Distinktionen« (Bourdieu) und die Herausbildung »feiner Unterschiede«, die im Habitus, also in grundlegenden Formen des Verhaltens, zum Ausdruck kommen (wobei dem Sprachverhalten zentrale Bedeutung zukommt), führen letztlich zur Herausarbeitung eines weiteren Kapitalbegriffs: symbolisches Kapital. Es bezieht sich auf den sozialen Rang und das Prestige von Individuen und sozialen Gruppen. Auf dieser Basis unterscheidet Bourdieu eine primäre Ungleichheit von einer sekundären Ungleichheit. Eine große Anzahl von »Klassenfraktionen« ist nach den genannten Differenzierungen des Kapitalbegriffs denkbar. Der Habitus ist die Schnittstelle, er ist »Erzeugungsprinzip objektiv klassifizierbarer Formen von Praxis und Klassifikationssystemen dieser Formen« (Bourdieu 2003 : 277).

Theoretische Ansätze zur Analyse der Sozialstruktur (Smelser, 1988) behandeln auch die Frage nach der Genese sozialer Strukturen. Ausgangspunkte liegen auf der Mikro-, der Meso- und der Makroebene der Sozialstruktur:

Die Theorie des Strukturfunktionalismus betont den stets neu auszuhandelnden gesellschaftlichen Konsens über bestimmte Werte und Normen, der zielgerichtetes Handeln in den Institutionen und Organisationen überhaupt erst ermöglicht.

Soziale Strukturen entstehen nach Émile Durkheim im Zusammenhang mit einer immer differenzierteren Arbeitsteilung oder, nach Georg Simmel, durch die unablässige »Verschränkung sozialer Kreise«, wie er dies im »Gesetz der sozialen Differenzierung« (1890) herausgearbeitet hatte.

In marxistischer Perspektive sind es die Eigentumsverhältnisse und Klassenspannungen als gesellschaftlicher Grundwiderspruch, die durch immer neue Formen der Herrschaft und der sozialen Zwänge die gesellschaftliche Evolution blind vorantreiben. Erst wenn die Ausbeutung der Menschen durch Menschen an ihr Ende gekommen ist, kann die planvolle Gestaltung des menschlichen Zusammenlebens beginnen.

Auch die Ansätze von Rainer Geißler (2011), von Gerd Nollmann et al. (2007), die Formen sozialer Ungleichheit ins Zentrum von Sozialstrukturanalysen rücken, sind an dieser Stelle zu nennen. Weitere Ursachen der Genese oder der Veränderung sozialer Strukturen werden im Zusammenhang der Theorien des sozialen Wandels dargestellt.

3. Sachdominanz, Raum und Zeit als Elemente der Sozialstruktur

Das soziale Handeln ist durch materielle Artefakte, bebaute oder unbebaute Räume und i. d. R. durch Zeiteinteilungen vorstrukturiert. Émile Durkheim sprach vom »materiellen Substrat« oder von der Dinghaftigkeit des Sozialen (faits sociaux), zu denen er auch das Geld rechnete. Hans Linde prägte, nicht zuletzt im Ausgang von Durkheim, den Begriff der Sachdominanz in Sozialstrukturen. Es werde zumeist übersehen, »dass der von profanen Artefakten ausgehende Anpassungszwang durch eine hochselektive, spezifische ›Gebrauchsanweisung‹ bereits handlungsrelevant ist« (Linde 1972 : 9).

Die sachlich-materielle und technische Seite der Sozialstruktur hat immer auch mit der Frage zu tun, wie technische Normen soziale Normen und kulturelle Standards verändern und umgekehrt: wie bestimmte soziale und kulturelle Werte und Normen die Entwicklung und Akzeptanz des »Gestells« (Martin Heidegger) überhaupt erst ermöglichen.

Das Zeitbewusstsein und die Bewertung der Zeit sind kultur- und epochenspezifisch sehr verschieden. Mit der Benediktinerregel, ora et labora, und der Verzeitlichung des christlichen Tagesablaufs durch die Mönchsorden kam ein Zeitverständnis auf, das zum Grundelement des kapitalistischen Arbeitsethos’ wurde (vgl. von Max Weber »Die protestantische Ethik und der ›Geist‹ des Kapitalismus«, in: Weber 2002 : 155–277).

Die Rationalisierung der Arbeits- und Berufswelt, des Rechts usw., in der Max Weber einen durchgängigen Trend des abendländischen Geschichtsverlaufs und der gesellschaftlichen Entwicklung sah, hat in der Verzeitlichung der Handlungsstrukturen ihre wichtigste Basis. Das verweltlichte Credo der Mönche lautete seit dem Aufkommen von Kapitalismus und Fabriksystem: Time is money (Benjamin Franklin, 1706–1790). Taschenuhren, und seit Ende des 19. Jahrhunderts Armbanduhren für immer breitere Bevölkerungsschichten sagten nun jedem, was die Stunde geschlagen hatte. Das war auch erforderlich, zumal in der Großstadt, wie Georg Simmel ausführte: »So ist die Technik des großstädtischen Lebens überhaupt nicht denkbar, ohne dass alle Tätigkeiten und Wechselbeziehungen aufs pünktlichste in ein festes, übersubjektives Zeitschema eingeordnet würden« (Simmel 1998 : 122).

Im »Prozess der Zivilisation«, den Norbert Elias (1897–1990) im hohen Mittelalter beginnen lässt, ist die zunehmende Zeitregulierung ein wichtiges Element. Zeitregulierungen als Elemente des Alltags, zu wissen, in welchem Jahr man lebt, wie alt man ist usw. sind allesamt Ergebnisse neuzeitlicher Entwicklungen (vgl. Elias 1994).

Das mit der Doppelrevolution einsetzende Zeitalter der Beschleunigung führte zu einem immer strengeren Zeitreglement, zumal am Arbeitsplatz, in den Schulen, im Verkehrswesen und damit zwangsläufig auch in der Organisation des familiären Alltags (dass das Phänomen der Beschleunigung auch semantisch seit Beginn der Doppelrevolution eine entscheidende Rolle spielt, kann man den Analysen von Reinhart Koselleck, 1989, entnehmen). Einen ersten Höhepunkt erreichte diese Entwicklung mit den Arbeitsplatz- und Zeitstudien durch Frederick W. Taylor (1856–1915), die in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg vom »Reichsausschuss für Arbeitsstudien« (REFA) verankert wurden.

In soziologischen Theorien spielt der Faktor Zeit eine sehr unterschiedliche Rolle. In einem Beitrag über die »Beziehung zwischen Zeithorizonten und sozialen Strukturen« führte Niklas Luhmann (1975) aus, dass soziale Systeme – gleich welcher Größe – Zeithorizonte institutionalisieren müssten. Zeithorizonte müssten schon deshalb sinnhaft verfügbar gemacht werden, um auf diese Weise einen Beitrag zur erforderlichen Reduktion von Komplexität zu leisten. Zu den weiteren Prämissen der Argumentation gehört, dass Zeit komplexer und reflexiver gemacht werden muss, um die erforderlichen Koordinationsleistungen in verdichteten sozialen Beziehungen überhaupt erbringen zu können.

Alle Handlungsfelder und Sozialstrukturen haben eine räumliche Dimension: Familienleben und Arbeit, Lernen, Ausbildung und Freizeit. Städte mit ihren differenzierten Raumnutzungsmustern, vom Wohnen bis zum Verkehr, sind das augenfälligste Beispiel dafür, dass das soziale Leben eine räumlich klar vorgegebene Struktur hat, zu der Grenzziehungen ebenso gehören wie öffentliche und halböffentliche Räume. Simmel arbeitete fünf Grundqualitäten des Raumes heraus, wozu gehören:

Die Ausschließlichkeit des Raumes als »Territorium«;

die Begrenzung und die Grenze;

die Fixierung und Lokalisierung von Tätigkeiten und Handlungsformen an einem Ort;

die durch den Raum mitgeprägten Bestimmungen von Nähe und Distanz und allen damit verbundenen Wechselwirkungen zwischen Individuen und daraus resultierenden Sozialverhältnissen.

Grenze und Begrenzung werden von Simmel als sozial und psychisch bedeutende Tatbestände einsichtig: »Die Grenze ist nicht eine räumliche Tatsache mit sozialem Wirken, sondern eine soziale Tatsache, die sich räumlich formt« (1968 : 467). Die Differenzierung der ja auch räumlich ausgeprägten Eigentumsverhältnisse und die Zugangsmöglichkeiten zu Territorien sind für Simmel sozial wirksame Tatsachen, deren sozialstrukturelle Bedeutung offenkundig ist (vgl. auch die von Simmel ausgehende Soziologie des Raumes von Schroer, 2006).

4. Theorien und Trends des sozialen Wandels

4.1 Definition und theoretische Ansätze

Unter sozialem Wandel wird die Veränderung der Sozialstruktur einer Gesellschaft oder einzelner Bereiche in einem bestimmten Zeitraum verstanden. Sie ist verknüpft mit Veränderungen im Normen- und Wertesystem, in den Institutionen und Organisationen. Je nachdem, wie schnell sich die Basisstrukturen einer Gesellschaft verändern, spricht man von langsamem oder beschleunigtem Wandel.

Sozialer Wandel wurde mit dem Werk »Social Change« von William F. Ogburn (1886–1959) zu einem Grundbegriff der Soziologie. Ogburn verband ihn mit seiner These vom cultural lag. »Ein cultural lag tritt ein, wenn von zwei miteinander in Wechselbeziehungen stehenden Kulturelementen das eine sich früher oder stärker verändert als das andere und dadurch das zwischen ihnen bisher vorhandene Gleichgewicht stört« (Ogburn 1967 : 328). Ogburn ging davon aus, dass der Motor des sozialen Wandels im Erkenntnisfortschritt der Natur- und Ingenieurwissenschaften und deren Umsetzung in technischen Innovationen liegt. In ihrem Kern ähnelt die These der von Karl Marx über das Verhältnis von materieller Basis, den Produktivkräften, und dem Überbau von Recht und Politik, Moral und Kultur, der entsprechend dem Produktionsfortschritt angepasst werden muss.

Die um das Jahr 1970 einsetzende digitale Revolution hat zu einer zuvor für undenkbar gehaltenen Beschleunigung technischer Innovationen in allen Produktionsbereichen, Informations- und Kommunikationssystemen geführt. Die kulturellen, rechtlichen und sozialen Anpassungszwänge sind schwer zu bewältigen. Die Theorie vom cultural lag hat also durchaus ihre Berechtigung, zumal wenn man sie ganz generell auf den Tatbestand bezieht, dass sich nicht alle gesellschaftlichen Bereiche im Gleichmaß des technisch vorgegebenen Fortschritts bewegen.

Die Bewertung, wie fortschrittlich oder rückschrittlich ein Bereich im Hinblick auf bestimmte Entwicklungen ist – z. B. Schule und Ausbildung in Bezug auf die neuen Strukturen der Netzwerkgesellschaft (Castells 2004) – ist politisch kontrovers. Eine Anmerkung von Ogburn sei in Erinnerung gerufen: »In der großen Perspektive der Geschichte sind allerdings Verspätungen nicht erkennbar, weil sie aufgeholt worden sind. Sichtbare Phänomene sind sie hauptsächlich in der Gegenwart« (Ogburn 1967 : 338).

Eigentlich sind alle soziologischen Theorien seit Auguste Comte (1798–1857), auf den nicht nur der Begriff der Soziologie zurückgeht, sondern auch die Frage nach Statik und Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung sowie Theorien des sozialen Wandels. Das gilt für Karl Marx und Herbert Spencer (1820–1903) ebenso wie für Émile Durkheim oder Max Weber. In dieser Perspektive lassen sich folgende Ansätze unterscheiden (vgl. Dreitzel 1967, Zapf 1984, Jaeger/Meyer 2003, Scheuch 2003):

Evolutionistische (Herbert Spencer) und neo-evolutionistische (Niklas Luhmann),

strukturfunktionalistische und systemtheoretische (Talcott Parsons, Niklas Luhmann),

marxistische und neo-marxistische (Pierre Bourdieu),

Theorien der sozialen Mobilisierung, der gesellschaftlichen Transformation und der Modernisierung (Karl W. Deutsch, Daniel Lerner, Wolfgang Zapf),

mikrosoziale Theorien der Veränderung von Wert- und Normensystemen (George C. Homans).

In allen Theorien über die Änderung der Sozialstruktur bzw. einzelner Bereiche werden Fragen nach den »eigentlichen« Ursachen gestellt. Wie hervorgehoben, spielen hierbei Technik und Wissenschaft und damit die verschiedenen Entwicklungsphasen der Industriellen Revolution eine große Rolle. Aber auch politische Ideologien oder fundamentalistische Religionen können ein dominanter Faktor sozialer und kultureller Veränderungen sein.

Überwunden sind Theorien, die nur eine Ursache des sozialen Wandels hervorheben, wie z. B. die fortschreitende Arbeitsteilung (Émile Durkheim) oder den Wechsel der politischen Eliten, die die Geschicke von Staat und Gesellschaft lenken (Vilfredo Pareto, 1848–1923). Neben Ogburn seien aus dieser Vielzahl der Theorien zum sozialen Wandel drei weitere hervorgehoben.

4.2 Theorien der gesellschaftlichen Mobilisierung und Modernisierung

Die Theorien der sozialen Mobilisierung und der Modernisierung verbinden sich vor allem mit den Namen von Karl W. Deutsch, Daniel Lerner und Wolfgang Zapf.

Soziale Mobilisierung bezeichnet einen »umfassenden Wandlungsprozess, den wesentliche Teile der Bevölkerung von Ländern durchmachen, die auf dem Wege von traditionellen zu modernen Lebensformen sind« (Deutsch 1984 : 329).

Dieser Begriff umfasst eine größere Anzahl an Teilprozessen auch auf der individuellen Ebene: Wohnsitzwechsel, Berufswechsel, Wandel der Erfahrungen und Erwartungen, der Gewohnheiten und Bedürfnisse. Die meisten Veränderungen fordern Reaktionen auf der institutionellen und politischen Ebene heraus.

Daniel Lerner (1917–1980) ging davon aus, »dass das westliche Modell der Modernisierung gewisse Komponenten und Sequenzen aufweist, die universell relevant sind. Überall hat z. B. die Urbanisierung das Analphabetentum vermindert; dadurch nahm die Benutzung der Massenmedien zu. Parallel dazu kommt es zu einer erhöhten wirtschaftlichen Teilhabe (Steigerung des Pro-Kopf-Einkommens) und zu einer Erhöhung der politischen Teilnahme durch die Ausdehnung des Wahlrechts« (Lerner 1984 : 362).

Lerner betonte die Bedeutung einer besonderen Eigenschaft für die Modernisierung des Lebensstils: Empathie (von griech. empathes, eindringlich, »einfühlend«). Lerner versteht unter Empathie jenen »inneren Mechanismus, der es den gerade mobil gewordenen Personen erlaubt, in einer sich dauernd verändernden Welt wirksam vorzugehen. Empathie ist die Fähigkeit, sich selber in der Situation eines anderen zu sehen. Sie ist für Personen, die ihre traditionelle Umgebung verlassen, eine unerlässliche Fähigkeit«. »Hohe Empathie« gebe es »nur in modernen Gesellschaften, in industriellen, urbanisierten, auf Elementarbildung und Beteiligung beruhenden Gesellschaften« (Lerner 1984 : 364 f.).

Lerner zeigte in einem einführenden historischen Exkurs, welch ein langer Prozess in der europäischen Kultur- und Sozialentwicklung erforderlich war, jene Fähigkeiten zu entwickeln, die er mit dem Begriff der Empathie zusammenfasste. Vergleiche zu den langen Zeitreihen, die Max Weber für den abendländischen Rationalisierungsprozess oder Norbert Elias für den »Prozess der Zivilisation« herausarbeiteten, liegen nahe.

Sowohl die Grundlagen der sozialen Mobilisierung als auch der Modernisierung des Lebensstils lassen sich mit den Trends zusammenfassen, die durch die Doppelrevolution in Gang gesetzt wurden bzw. sich verstärkten:

Kapitalisierung der Eigentums- und Besitzverhältnisse, zunächst an Grund und Boden (in Deutschland mit der »Bauernbefreiung« verknüpft) und des Produktivkapitals;

Rationalisierung und Verwissenschaftlichung der Daseinsgrundlagen;

Verrechtlichung, Demokratisierung und Erhöhung der Partizipation;

sozialstaatliche und private Absicherung von Gesundheit und Lebensrisiken;

Verstädterung, Urbanisierung und Verbesserung des Lebensstandards;

Trennung von Wohn- und Arbeitsplatz.

4.3 Sozialer Wandel im Strukturfunktionalismus

Talcott Parsons und die Theorie des Strukturfunktionalismus hatten sich gegenüber dem Vorwurf zu verteidigen, ausschließlich am Strukturerhalt einer bestimmten Gesellschaft orientiert zu sein. In einem Beitrag über »Das Problem des Strukturwandels« (1984) unterschied Parsons zwischen der morphologischen Analyse der Systemstrukturen und der dynamischen Analyse der Systemprozesse. Sein besonderes Augenmerk galt den Ressourcen in Austauschbeziehungen »sowohl zwischen der Gesellschaft und den anderen Systemen und ihren ›Umwelten‹ als auch zwischen den Subsystemen innerhalb der Gesellschaft selbst«.

Entscheidend für den Wandel ist die Integration dieser Ressourcen – Güter, Motivationen, Informationen – und deren schwer kontrollierbare Mobilisierung. Als Kontrollmechanismen stehen u. a. Macht, Geld und »integrative Kommunikation« (Parsons) zur Verfügung. Strukturwandel wird also nicht ausgeschlossen, sondern er hat kontrolliert auf der gegebenen Basis zu erfolgen. Seine Analyse ist für die strukturellfunktionale Theorie »der letzte und wichtige abschließende Problembereich« (Parsons 1984 : 36).

Die »Quellen des Strukturwandels« sind sowohl exogen als auch endogen und »gewöhnlich eine Kombination beider«. Exogene Quellen des sozialen Strukturwandels sind »die endogenen Wandlungsprozesse ihrer ›Umwelten‹«. Als letzten Punkt behandelte Parsons den Wandel im gesellschaftlichen Wertsystem. Zwei Haupttypen werden unterschieden. Beim Ersten kann das »Kulturmodell« von einer exogenen Quelle übernommen werden; Parsons nannte als Beispiel den Kulturtransfer von England nach Amerika/USA. Beim zweiten Haupttyp muss der »Bezugsrahmen des sozialen Systems innerhalb der Gesellschaft entwickelt werden. Für diesen Fall kann Webers berühmte Kategorie der charismatischen Innovation verwendet werden«. Der Ausgangspunkt liegt in religiösen Aspekten des kulturellen Systems: »Es muss sich um Änderungen in der Definition der einzelnen Gesellschaftsmitglieder handeln, um die Änderungen in der Definition des Charakters selbst« (Parsons 1984 : 51).

Parsons erwähnte nicht die nahe liegende politische Variante, dass charismatische Figuren aus großen gesellschaftlichen Krisen herausführen wollten und wollen: durch hyper-nationalistische, anti-demokratische Ideologien. So geschah es in mehreren europäischen Ländern nach dem Ersten Weltkrieg (zur Differenzierung des Begriffs im Ausgang von Max Weber und seine Verankerung in der Handlungsstruktur der Individuen vgl. Lipp 2010).

4.4 Kultur und Wertideen als Quellen des Wandels

Der Kultursoziologe Friedrich H. Tenbruck wies darauf hin, dass erst um 1800 die Begriffe Gesellschaft, Kultur und Geschichte zu Schlüsselbegriffen der Moderne wurden und die damit verbundenen Bereiche als eigenständig ins Bewusstsein traten: »Aus der Entstehung einer säkularen Kulturintelligenz, der Dauerproduktion von immer neuen Kulturgütern und der Eigendynamik dieser Kulturprozesse« sei die Verselbstständigung der Kultur hervorgegangen (Tenbruck 1989 : 84).

Ebenso verhält es sich mit der Verselbstständigung der gesellschaftlichen Systeme. Niklas Luhmann stützte seine funktional-strukturelle Systemtheorie auf eben diesen Tatbestand: Dass die Aufklärung und die nachfolgenden revolutionären Prozesse zur Ausdifferenzierung der einzelnen gesellschaftlichen Systeme führten. Am Ende dieses Prozesses steht die Autopoiesis der Teilsysteme: Recht und Politik, Ökonomie, Kultur, Religion und Erziehung. »Autopoietische Systeme sind Systeme, die nicht nur ihre Strukturen, sondern auch die Elemente, aus denen sie bestehen, im Netzwerk eben dieser Elemente selbst erzeugen« (Luhmann 1997 : 65).

Einen anderen Punkt im Verhältnis von Kultur und Gesellschaft bzw. von Ökonomie und der kulturellen Wertordnung hatte Max Weber hervorgehoben. Sein Werk ist auch eine »Antwort« auf den marxistischen Standpunkt, dass allein die materielle Basis und das Profitinteresse den Geschichtsverlauf bestimmen. Unter dem Einfluss der Wertphilosophie Heinrich Rickerts und Friedrich Nietzsches (1844–1900) betonte Weber einen entgegen gesetzten Standpunkt: Es seien letztlich Werte, seit Beginn der Neuzeit vor allem die Dominanz des protestantischen Arbeitsethos, die der Kultur- und Gesellschaftsentwicklung die Richtung weisen.

Max Webers Soziologie hat neben der (zumeist impliziten) Frontstellung gegen Marx auch methodologische Probleme einer »Kulturwissenschaft« zum Ausgangspunkt. Diese war nicht nur gegen die Ansprüche des Historischen Materialismus gerichtet, sondern auch gegen die Naturwissenschaften und deren Objektivitäts- und Exaktheitsanspruch. Im »Objektivitätsaufsatz« von 1904 heißt es: »Wir haben als ›Kulturwissenschaften‹ solche Disziplinen bezeichnet, welche die Lebensbedingungen in ihrer Kulturbedeutung zu erkennen streben. Die Bedeutung der Gestaltung einer Kulturerscheinung und der Grund dieser Bedeutung kann aber aus keinem noch so vollkommenen System von Gesetzesbegriffen entnommen, begründet und verständlich gemacht werden, denn sie setzt die Beziehung der Kulturerscheinung auf Wertideen voraus. Der Begriff der Kultur ist ein Wertbegriff. Die empirische Wirklichkeit ist für uns ›Kultur‹, weil und sofern wir sie mit Wertideen in Beziehung setzen, sie umfasst diejenigen Bestandteile der Wirklichkeit, welche durch jene für uns bedeutsam werden, und nur diese« (Weber 2002 : 108).

Weber zeigte an Beispielen, dass ein und dasselbe Phänomen wie Tausch oder Geldwirtschaft in unterschiedlichen Kulturen, z. B. der des Altertums oder »unserer sozioökonomischen Kultur« (2002 : 146), etwas anderes bedeuten kann, ebenso bei verschiedenen Klassen und Schichten.

Der Begriff »sozioökonomische Kultur« beinhaltet aber auch, dass die gesamte Kultur unter die Dominanz von Tausch- und Geldbeziehungen geraten ist. Man mag darin eine Annäherung an den Standpunkt von Marx sehen, sollte aber nicht den methodologisch völlig anderen Stellenwert Webers verkennen. Der kulturelle Faktor ist eben gegenüber der materiellen und ökonomischen Basis nicht nur im Rückstand, wie auch die These vom cultural lag suggeriert, sondern ermöglicht durch den Wert- und Kulturwandel überhaupt erst den technischen und sozialen Wandel. Auch die Prozesse der Rationalisierung und Kapitalisierung der okzidentalen Kultur haben nach Max Weber ihre Basis in sich verändernden Werten.

5. Globalisierung als Quelle des Strukturwandels

Es ist eine täglich nicht nur den Medien zu entnehmende Erfahrung, dass sich die sozialen Strukturen bis in das persönliche Umfeld hinein durch die Prozesse der Europäisierung und der Globalisierung, aber auch der Auswirkungen der digitalen Revolution im Produktions- und Medienbereich verändern (über diese Auswirkungen im Zusammenhang der sich entwickelnden Kreativgesellschaft vgl. E. Schäfers 2007).

Der Begriff Globalisierung ist nur dann aussagekräftig, wenn er die Spezifika einer neuen Form weltweiter Vernetzung und Abhängigkeit deutlich machen kann (über Epochen und Dimensionen der Globalisierung vgl. Osterhammel/Petersson 2007). Weltweite Handelsbeziehungen gab es bereits in der Antike, z. B. Seidenwaren aus China auf römischen Märkten. Seit Beginn der Kolonialzeit Ende des 15. Jahrhunderts verdichteten sich die weltweiten Handelsbeziehungen unter Einschluss von Afrika, Nord- und Südamerika und den Inselgruppen des asiatischen Festlandes (dem heutigen Indonesien und den Philippinen).

Mit China, Indien und der arabischen Welt wurden alte Handelsbeziehungen intensiviert. In den neu entdeckten und eroberten Gebieten, die die Kolonialmächte Portugal und Spanien, England, Frankreich und die Niederlande unter sich aufteilten, kam es zur Errichtung von Ausbeuter- und Sklavenhaltergesellschaften, die erst im 19. und 20. Jahrhundert ihre Unabhängigkeit erringen konnten. Kuba erlangte erst 1898, nicht zuletzt mit Hilfe der USA, als letztes lateinamerikanisches Land seine Unabhängigkeit von Spanien. Dieses Beispiel wird deshalb angeführt, weil die Rückwirkungen des spanischen Kolonialismus auf das Mutterland besonders gravierend waren. Spanien beschritt praktisch erst nach dem Tod des Diktators Franco im Jahr 1975 den Weg der westlichen Verfassungsgeschichte und der Modernisierung (vgl. zu diesen Prozessen der frühneuzeitlichen Kolonialisierung und Kapitalisierung der Welt Wallerstein 1974/1980, Osterhammel 2005).

Es gibt kaum eine präzisere und frühere Analyse dieser ersten Stufe der Globalisierung unter den Vorzeichen des expansiven Kapitalismus als das von Karl Marx und Friedrich Engels im Jahr 1848 veröffentlichte »Manifest der Kommunistischen Partei«. Dort heißt es: »Die große Industrie hat den Weltmarkt hergestellt, den die Entdeckung Amerikas vorbereitete. Der Weltmarkt hat dem Handel, der Schiffahrt, den Landkommunikationen eine unermessliche Entwicklung gegeben (…) Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftliche Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren«. Erwähnt werden auch »die unendlich erleichterten Kommunikationen«, die zur Beschleunigung der genannten Prozesse beitrugen. Neu waren zu dieser Zeit die Telegraphie, die Eisenbahn, die Dampfschifffahrt und die Schnellpresse.

Die neue Stufe der Globalisierung hat die digitale Revolution seit Beginn der 1970er Jahre zur Voraussetzung. Das Besondere liegt u. a. in folgenden Punkten:

Zunahme transnationaler Unternehmen, Investitions- und Finanzaktivitäten;

weltumspannende Kommunikationen und Informationsnetze, die zur Entstehung von »Netzwerkgesellschaften« (Castells 2004) führten;

digitale Steuerung von Produktionsprozessen, die auch die globalen Zeitverschiebungen ausnutzen;

Ausweitung des weltweiten Verstädterungsprozesses und der Global Cities (Sassen 1991).

Diese Prozesse beeinflussen die nationalen und internationalen Politiken in erheblichem Umfang, und zwar auf allen Gebieten: Produktion und Konsum, Information und Kultur, Bildung und Wissenschaft, Religion und Wertsysteme, Umwelt und Umweltverschmutzung, Freizeit und Tourismus. Die Auswirkungen auf die Sozialstruktur in allen ihren Teilbereichen sind nicht immer gleich sichtbar (für das Wirtschaftssystem sei auf Kap. VIII/Pt. 7, für Europa/Europäisierung auf Kap. XII verwiesen).

Literatur

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Zapf, Wolfgang, Hrsg., Theorien des sozialen Wandels, 4. Aufl., Köln/Berlin 1984 (1969)

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* Auf die Mehrzahl der kursiv gesetzten Wörter wird im Sachwortverzeichnis verwiesen. Die Lebensdaten wichtiger Personen werden in der Regel nur bei der ersten Namensnennung angefügt.

** Zur Zitierweise: Name des Autors, Erscheinungsjahr des Werkes/Aufsatzes und die Seitenzahl stehen in Klammern. Die vollständige Angabe findet sich im Literaturverzeichnis am Ende des Kapitels. Hinweise auf wichtige Internet-Adressen finden sich im Text.

Kapitel II

Gründung und Grundlagen des bundesrepublikanischen Staats- und Gesellschaftssystems

1.Ausgangsbedingungen

1.1 Bedingungslose Kapitulation

1.2 Die territoriale und demographische Situation

2.Wiedererwachen des politischen Lebens

2.1 Die Entwicklung in den westlichen Besatzungszonen

2.2 Die Entstehung von CDU und CSU

2.3 Die SPD und ihr Selbstverständnis

2.4 Gemeinden und Länder als Rückhalt

2.5 Die Entwicklung in der SBZ. Gründung der DDR

3.Gründung der Bundesrepublik Deutschland

3.1 Voraussetzungen für einen neuen Gesellschaftsvertrag

3.2 Die neue Wirtschaftsordnung: Soziale Marktwirtschaft

3.3 Das Grundgesetz als neuer Gesellschaftsvertrag. Hauptstadtfrage

3.4 Die Bundesrepublik als »demokratischer Verfassungsstaat«

3.5 Restauration und Neubeginn

4.Kultur und Werte als Rückhalt

4.1 Die Situation in Westdeutschland

4.2 Kulturentwicklung in der SBZ/DDR

5.Religion und Kirchen in Westdeutschland und der SBZ/DDR

Literatur

1. Ausgangsbedingungen

1.1 Bedingungslose Kapitulation

Die deutsche Staats- und Gesellschaftsgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg lässt sich in folgende Etappen einteilen:

Verlust der staatlichen Eigenständigkeit mit der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Streitkräfte (unconditional surrender) am 7. und 8. Mai 1945 in Reims und Berlin-Karlshorst.

Herausbildung demokratischer Strukturen auf Gemeinde- und Länderebene in den drei westlichen Besatzungszonen ab Ende 1945; Beginn einer von der Sowjetunion gelenkten Entwicklung zum sozialistischen Staatsaufbau in der sowjetischen Zone.

Gründung der Bundesrepublik Deutschland mit der Verabschiedung des Grundgesetzes am 23. Mai1949 und der Deutschen Demokratischen Republik am 6. Oktober 1949.

Vereinigung der beiden deutschen Staaten am 3. Oktober 1990 durch Beitritt der neuen Bundesländer und Ost-Berlins zum Staatsgebiet der BRD.

In der »Berliner Deklaration« vom 5. Juni 1945 der Oberbefehlshaber der Alliierten Streitkräfte wurde auch formell die Regierungsgewalt in Deutschland durch die USA, die UdSSR, Großbritannien und Frankreich im Alliierten Kontrollrat übernommen und die Einteilung des Deutschen Reiches in vier Besatzungszonen und vier Berliner Sektoren endgültig festgelegt. Die Verwaltung wurde auf allen Ebenen von den Besatzungsmächten übernommen; wo Deutsche mit ihrer Wahrnehmung betraut wurden, geschah dies im Auftrag und unter Kontrolle der jeweiligen Besatzungsmacht. Deutsche Gerichte durften erst 1946 ihre Tätigkeit wiederaufnehmen (vgl. »Akten …«; Eschenburg 1983).

Die bedingungslose Kapitulation war das Ende einer zwölfjährigen totalitären Gewaltherrschaft, die die Deutschen aus eigener Kraft nicht hatten beseitigen können. Nur wenige Länder in Europa – Schweden und die Schweiz, Spanien und Portugal – waren durch die deutsche Kriegsmaschinerie und die nachrückenden Sondereinheiten, der SS, die mit der Vernichtung von Juden, Kommunisten, Zigeunern (Sinti und Roma) et al. beauftragt waren, nicht heimgesucht worden.

In mehreren sozialwissenschaftlichen Untersuchungen zur Sozial- und Bewusstseinslage in der unmittelbaren Nachkriegszeit, an denen auch bekannte Soziologen aus den USA teilnahmen, wurden die dominanten Lebensgefühle wie folgt beschrieben: introvertiert, apathisch, gebrochener Lebenswille, das Gefühl, »nun endgültig erledigt zu sein« (Articus/Braun 1984 : 716). Nicht alle Deutschen empfanden die Niederlage als Akt der Befreiung von einer menschenverachtenden Diktatur, verbunden mit der Hoffnung auf einen demokratischen Neubeginn.

Im Alliierten Kontrollrat, der Entscheidungen, die ganz Deutschland betrafen, einstimmig zu treffen hatte, wurde die Konsensbasis zwischen den Alliierten immer schmaler. Daran konnte auch die Potsdamer Konferenz, die vom 17. Juli bis zum 2. August 1945 abgehalten wurde, nicht viel ändern. Die Konferenz hatte zwar den Neuaufbau des demokratischen Lebens zugestanden, aber die Auffassungen von Demokratie differierten zwischen den zwei Westmächten (Frankreich war in Potsdam nicht vertreten) und der Sowjetunion erheblich. In der sowjetisch besetzten Zone (SBZ) zeichnete sich ein Sonderweg ab.

Auch in den osteuropäischen Ländern Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn wurden unter dem Diktat der Sowjetunion kommunistische Regimes errichtet, die nicht aus freien Wahlen hervorgingen. Der Kalte Krieg hatte begonnen. Die Besatzungspolitik wurde mehr und mehr zum Anlass, die aus den unterschiedlichen Gesellschaftssystemen resultierenden Differenzen zu Vehikeln auf eigenen Wegen zu nutzen. Am 20. März 1948 zerbrach der Alliierte Kontrollrat endgültig und damit die gemeinsame Basis der vier Besatzungsmächte im Hinblick auf die Neuordnung Deutschlands.

1.2 Die territoriale und demographische Situation

Grundvoraussetzung für einen Staat ist die Souveränität über ein klar abgegrenztes Territorium mit zugehöriger Bevölkerung. Nach dem 8. Mai 1945 war dies für Deutschland nicht mehr gegeben. Neben der Machtausübung durch den Alliierten Kontrollrat in den Besatzungszonen und Berliner Sektoren gab es Gebietsverluste in erheblichem Umfang. Die bisherigen deutschen Gebiete östlich der Oder-Neiße-Linie wurden formell unter sowjetische und polnische Verwaltung gestellt, faktisch aber diesen Staaten einverleibt. Die deutschen Ostgebiete umfassten 1939 insgesamt 114 296 qkm und hatten 9,6 Mio. Einwohner; der geringere Teil mit 13 205 qkm und 1,16 Mio. Einwohnern (1939) fiel unter die sowjetische, der Rest unter polnische Verwaltung (u. a. Ostpommern, Ostbrandenburg und Schlesien). Auch vor dem Zweiten Weltkrieg waren diese Grenzen nicht unstrittig; der »Korridor« in die Freie Stadt Danzig und nach Ostpreußen war ein Dauerproblem.

Von den 11,73 Mio. Vertriebenen und nationalen Flüchtlingen der Jahre 1945– 1947 in den vier Besatzungszonen kamen 6,94 Mio. aus den deutschen Ostgebieten (Ostpreußen, Ostpommern, Ostbrandenburg und Schlesien) und 4,79 Mio. aus deutschen Siedlungsgebieten im Ausland, die Mehrzahl aus der Tschechoslowakei (2,92 Mio. Sudetendeutsche; vgl. Brockhaus-Enzyklopädie in 20 Bänden, Bd. 19).

Im Westen des ehemaligen Deutschen Reiches fielen Elsass und Lothringen nach kurzem deutschem »Zwischenspiel«, das von 1940 bis 1945 dauerte, an Frankreich zurück. Das Saarland blieb bis zum 1. Januar 1957 unter französischer Verwaltung und Teil des französischen Wirtschaftsraums. In einer Volksabstimmung wurde die Rückgliederung an Deutschland entschieden.

Eine besonders gravierende Einschränkung der gesellschaftlichen und staatlichen Erneuerung lag in der Zerstörung der Städte. Auf insgesamt 131 deutsche Städte waren Großangriffe aus der Luft geflogen worden, in Berlin allein 29 Mal. Die Zentren großer Städte waren zu etwa vier Fünfteln zerstört, unter ihnen Berlin, Dresden, Hamburg, Hannover, Kassel, Köln, Mainz, Münster und Würzburg. Für einige Städte, z. B. Hannover und Dresden, wurde erwogen, sie an der bisherigen Stelle nicht wieder aufzubauen (vgl. die Dokumentationen zum Bombenkrieg und dem Zerstörungsgrad der Städte bei von Beyme 1987, Groehler 1990, Friedrich 2002). Eine vergleichbar chaotische territoriale und demographische Situation gab es in der deutschen Geschichte in der Zeit des 30-jährigen Krieges und nach der Zerstörung der Pfalz und Badens durch französische Truppen Ende des 17. Jahrhunderts.

Einige Fakten können die Ausgangssituation 1945 beschreiben:

Die 11,7 Mio. Flüchtlinge und Vertriebene der Jahre 1945–1947 verteilten sich sehr disproportional auf die vier Besatzungszonen, vor allem auf die amerikanische und britische Zone, und wegen des hohen Zerstörungsgrades der Städte überwiegend auf die ländlichen Räume. In Schleswig-Holstein und in Niedersachsen (britische Zone) nahm bis 1946 die Bevölkerung gegenüber 1949 um 62 % bzw. 37 % zu, in Bayern, wohin ca. drei Mio. Sudetendeutsche flüchteten, um 24 %.

Die Rückkehr der ca. 9 Mio. Evakuierten aus den großen Städten zog sich über viele Jahre hin.

Am 1.4. 1947 gab es unter den 65,9 Mio. Einwohnern der vier Besatzungszonen noch 3,1 Mio. Evakuierte.

Ein Evakuierungsproblem besonderer Art stellten die Displaced Persons (DPs) dar. Bei Kriegsende sollen es etwa neun Mio. gewesen sein, der Großteil von ihnen ins Reich verschleppte Zwangsarbeiter aus fast allen Ländern Europas.

Die Verkehrsinfrastruktur lag weitgehend brach, über den Rhein gab es keine Brücke mehr; was Bombardierungen an Eisenbahnlinien nicht getroffen hatten, wurde nun zum Teil demontiert und in die Länder der Alliierten gebracht (»Reparationen«). Die SBZ war hiervon besonders stark betroffen.

Die Disproportionalität zwischen Frauen- und Männeranteilen an der Gesamtbevölkerung war gravierend. Am 1. April 1947 kamen auf 100 Männer 125 Frauen. In der Altersgruppe der 25- bis 45-Jährigen betrug um das Jahr 1950 der Frauenanteil bezogen auf 100 Männer 164 (Köllmann 1983).

2. Wiedererwachen des politischen Lebens

2.1 Die Entwicklung in den westlichen Besatzungszonen