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Luina glaubt nicht an Wunder, nicht an das Schicksal, vielleicht nicht mal mehr daran, dass sie es verdient zu leben. Jedenfalls nicht seit dem tödlichen Unfall ihres besten Freundes. Als sie dann den mysteriösen Linus kennenlernt, wünscht sie sich, dass sie sich irrt. Denn er zeigt ihr eine den Menschen unbekannte Welt, verborgen, voller fantastischer Wesen und Magie. Seine Welt, die ihrer so fremd ist. Linus ist überzeugt, dass es Luinas Schicksal ist, so zu werden wie er. Und er wird alles tun, damit sie sich für seine Welt entscheidet, selbst wenn es verboten ist. Während Kane, Linus Erzfeind, dafür sorgt, dass sie keine Gesetze brechen. Ein Verstoss könnte ihnen beiden das Leben kosten. Doch hat Luina überhaupt das Recht zu leben? Sind die Unfälle in ihrer Nähe Zufälle, ist es ihr Schicksal zu sterben? Oder will jemand Luina töten? Eine Geschichte über die Mythen der Welt, das Schicksal und eine Verbindung stärker als alles vorher Bekannte.
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Seitenzahl: 598
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Dem Ursprung meiner Wurzeln entsprang Ehrlichkeit,
Liebe und der Glaube an mich und in die Welten.
Der Ursprung meiner Worte fand Flügel im Schutz
meines Entstammens, und in meinesgleichen fand ich die Treue
und den Halt in dieser zerrütteten Welt.
Sehnsucht
Verbrannte Haut
Hinter dem Nebel
Heimatlos
Schicksal?
Kalte Hand
Zu nah
Blutspuren
Flüstern
In den Kronen
Selegis
Gespalten
Weisses Fell
Ankommen
Unbrechbar
Alwins Schatten
Wahres Gesicht
Guarddestin
Epilog
Die Gedanken der Einwohner gingen nie weit über die Grenze dieses Dorfes hinaus. Ich fühlte mich wie eine Aussätzige, während ich durch die Gassen schlich, die ich bereits seit Kindertagen kannte. Immer noch suchte ich den einsamsten Weg, wich jedem Kontakt zusätzlich aus. Genau genommen kannte jeder jeden hier, und es war eine Beleidigung, einen Namen zu vergessen oder jemandem nicht Guten Morgen zu wünschen. Ich war die Ausnahme. Es gab zwar ein paar wenige, die neugierig aufschauten, wenn ich in ihrer Nähe war, doch sobald sie mich erkannten, drehten sie sich um oder senkten den Kopf, taten beschäftigt. Besonders in solchen Momenten, wo mein Inneres aufriss, mich befehligte und unkontrollierbar wurde, war es mir recht, denn ich wollte allein sein.
Andiast war ein kleines Dorf in den Bergen, zweihundert Einwohner. Und seit einiger Zeit war es beängstigend ruhig geworden, als würde es langsam aussterben. Die Wohnungen blieben leer, und neue würde es nicht mehr geben, obwohl die meisten hier vom Tourismus lebten. So auch meine Mutter, die nun mit dem Minimum auskommen musste. Meine Mutter war im Gegensatz zu mir beliebt, wurde freundlich begrüsst und geschätzt. Weil sie dazugehörte. Ich hatte mich noch nie als Teil ihrer kleinen Welt gefühlt. Mein sicherer Hafen war der Wald, mein Rückzugsort, der mir genügend Ruhe und Schutz versprach, um nicht wegzuwollen. Die Tannen waren sattgrün, und es roch nach Regen und nassem Holz. Der kühle Wind zog sich heute stärker durch die Bäume und liess die Blätter tanzen, beruhigte meine Wangen. Der Schnee war grösstenteils geschmolzen, und die ersten Blumen kämpften sich schon durch die Erde. Der Wald schien hier oben ruhig, fast, als würde er sich vor einem Sturm zurückziehen, sich in Sicherheit bringen. Wie eine Mauer schützten die Tannen und Bäume vor allem, nur nicht vor dieser Sehnsucht. In meiner Brust brannte es, darunter zog es, als würde mein Inneres aufreissen. Tränen flossen heimlich über die Wange meinen Hals hinunter, während ich in die Bäume schaute, die wie dunkle Kronen den Himmel umrahmten. Alles in mir vermisste etwas, was ich weder kannte noch benennen konnte. Ich wusste nicht, wonach mein Körper rief, doch es war schon immer so gewesen. Schon in meinen frühesten Erinnerungen war die Sehnsucht ein Teil von mir. Damals als kleines Mädchen hatte es sich wie eine Art Vorfreude angefühlt, doch das hatte nicht lange angehalten, schnell wurde es zur Last. Jetzt breitete sich die Sehnsucht in meinem Inneren aus, schrie in mir drin, doch ich schwieg weiter. Ich lehnte mich an einen Baum und liess mich auf den Boden nieder. Irgendwie gaben mir die Bäume Halt und Sicherheit im Durcheinander meiner Gedanken. Noch immer schien alles in mir nach etwas zu rufen. Sehnsucht, so tief, dass es wehtat. Ich konnte nur abwarten, den Schmerz aussitzen. Die Belastung liess mich weder tief durchatmen noch mich ablenken, alles konzentrierte sich auf diese mir unbekannte Wärme, die mich von dieser Welt zu ziehen drohte. Wie konnte man nur vermissen, ohne zu begreifen, warum?
So verharrte ich eine Weile, weinend, verborgen im Wald, als würde ich nirgendwo hingehören. An den Lichtverhältnissen erkannte ich, dass die Zeit vorbeiging. Die Tränen trockneten, das Schlimmste war vorbei. Ich blieb ein paar Minuten weiter im Gras sitzen, dann öffnete ich die Augen, als würde ich aus einem weit entfernten Traum aufwachen. Stand auf und lief langsam durch den Wald, kostete jede einzelne Sekunde im sicheren Grün aus. Ironischerweise fühlte sich der Weg zurück ins Dorf viel länger an als jener in den Wald hinein. Wie immer sah man mir nichts mehr an, als ich an der Holzbrücke ankam, die das Dorf vom Grün trennte. Weder die Tränen noch der bleibende Schmerz der Sehnsucht, beides verborgen in meinem Inneren.
Der schmale Bach suchte durch die Steine seinen Weg, kämpfte sich über die Brocken. Als Kinder hatten wir darin noch gebadet, nun war nur noch eine feine Linie klaren Wassers vorhanden, die den einfachsten Weg über die Steine nahm, um sicher unten anzukommen. Es stimmte mich traurig, zu sehen, wie der Bach immer weniger Leben hatte, die Brücke wurde überflüssig und so verlor der Übergang zwischen Dorf und Wald seine ganze Magie. Eine Gestalt bewegte sich auf mich zu, ich spürte, dass sich mir jemand näherte. Doch ich erschrak nicht, als Prem seine Arme um mich legte. «Hey Kleines, wieder in den Wald geflüchtet?» Die Schwere fing an, ihn zu verlassen, als könnte er jetzt plötzlich wieder durchatmen. Er lächelte schelmisch und steckte mich damit an. An seiner Seite wurde die Sehnsucht weniger, als würde er einen Filter darauflegen, um sie zu schwächen, dennoch spürte ich sie ganz klar in mir verborgen. Ich versuchte, es zu verbergen.
Dunkelbraune Haare fielen ihm ins Gesicht, er sah aus, als wäre er gerade aufgestanden. Unter seiner schlichten dunkelgrauen Sweatjacke trug er die Kette, die ich ihm geschenkt hatte, sie blitzte am Hals hervor. Prem war so alt wie ich, obwohl man ihn öfters älter schätzte, so um die fünfundzwanzig, nicht nur, weil er einen halben Kopf grösser war als ich. Wenn man seinen jungen schmächtigen Körper nicht beachten würde und ihn anschaute, sah man einen starken Mann, reif, erfahren und voller Wissen. Seine indigoblauen Augen leuchteten auf, während er mich ansah. Sein Gesicht war etwas eierförmig, doch dies fiel durch die zerzausten Haare und die gebräunte Haut kaum auf. Prem wollte zurück, doch er wartete auf mich. Gemeinsam liefen wir durch das Dorf, dieses Mal achtete ich nicht darauf, über die Schleichwege zu gehen, denn mit ihm war ich nicht mehr die Aussätzige. An seiner Seite grüssten mich alle, die wir trafen, obwohl sie dabei nur Prem ansahen, und ich grüsste freundlich zurück. Er war der einzige Grund, warum ich niemals von hier fortgehen wollte, obwohl ich nicht hierhergehörte. Wir hatten oft davon geredet, wollten studieren und die Welt zu entdecken, doch als seine Mutter krank geworden war, waren die Ideen gestorben. Unsere Pläne waren nur noch schwacher Rauch, der in der Weite schwebte, nicht greifbar, nicht definierbar.
Ich zog meine Jacke zu, es wurde zwar immer wärmer, und der Winter hatte nun endlich nichts mehr zu sagen, aber die Kälte schien zu bleiben, auf ihre zurückhaltende und versteckte Weise. Prem fuhr mit unserem Gespräch dort fort, wo er gestern Abend am Telefon geendet hatte. «Hast du darüber nachgedacht?» Ich schwieg, wollte nicht darüber reden. «Ich denke, dass es für dich das Richtige wäre.» Jetzt, wo es Richtung Ende des Schuljahres ging, waren meine Möglichkeiten, weiterzumachen, begrenzt, damit hatte er recht, dann jedoch, müsste ich von hier fortziehen. Ohne Prem und den Wald fühlte ich mich jedoch nicht fähig, ein normales Leben zu führen.
«Du willst doch Biologin werden und etwas in der Welt verändern?» Ich nickte unmerklich. «Also dann wirst du irgendwann von hier fortmüssen.» Ich versuchte, Stärke in meine Stimme zu legen: «Sobald du mitkannst.» «Und was willst du in der Zwischenzeit machen, Bücher stapeln?» Ich hielt seinem Blick stand. «Warum nicht?» «Das ist ein Ferienjob, nicht deine Berufung.» «Schreiner ist auch nicht deine Berufung.» Er lächelte. «Ich freue mich darauf.» Ich war unsicher, ob ich ihm glauben konnte. Auch wenn er mich niemals anlügen würde, sich selbst schon. Seine Augen senkten sich, er dachte nach, und gleich darauf hob er sie wieder, um mich anzusehen. «Du brauchst mich nicht, um deinen Weg zu gehen.» Obwohl er lächelte, sah er traurig aus. «Du wirst neue Freunde finden. Und wir verlieren uns nicht.» Nervös strich er sich mit der Hand über den Nacken. «Hast du dir die Uni angeschaut?» Ich schüttelte den Kopf, ich wollte mir selbst keine Hoffnung machen. Denn es war nicht gelogen, dass es mein Wunsch war, Biologie zu studieren, den Wald zu erforschen, das Denken der Menschen gegenüber ihrer Natur und ihrer Umgebung zu verändern und vielleicht sogar, sie zu retten. «Es ist dein Schicksal, dich um den Wald zu kümmern, auf deine Art.» Ich musste meine Augen von ihm abwenden, sah zu Boden. «Du überschätzt mich.» «Nein, aber wenn du dich nicht unterschätzen würdest, wärst du nicht du.» «Ich finde schon etwas anderes.» «Du solltest nicht etwas anderes suchen. Dein Weg ist bereits gefunden, jetzt musst du ihn nur noch gehen.» Erneut hob ich den Kopf. «Müssen?» «Na, es ist deine Bestimmung.» Ich lachte nur. Ich mochte es nicht, wenn er oder meine Mutter über das Schicksal redeten, als wäre es eine Tatsache. Ich lief schneller, um seinem Blick auszuweichen, denn die Stärke, die er darein legen konnte, war zu kraftvoll, um sie zu ignorieren und nicht an seine Worte glauben zu wollen. Seine Stimme brachte mich dazu, stehen zu bleiben. «Seit ich dich kenne, rennst du mit einem Buch über Tiere oder Pflanzen herum. Was für einen Grund gibt es, das aufzugeben?» Es fiel mir schwer, ihm nicht zu sagen, warum ich nicht fortkonnte, doch noch schwerer wäre es gewesen es irgendwie zu erklären. Den Schmerz und die Sehnsucht nach dem Unbekannten, was stärker war als alles. Schnell lief ich weiter, um mein Gesicht zu verbergen. Schritte verrieten, dass er mir folgte. «Versuch es wenigstens. Bitte.»
Prem öffnete die Tür, liess mich ins Haus und schaltete als Erstes Musik an. Immer noch hatte keiner von uns mehr etwas gesagt. Das Haus war menschenleer und warm geheizt. Prem lebte mit seiner Mutter in einem kleinen Haus, das sein Vater sogar teils mitgebaut hatte, als er in derselben Firma gearbeitete hatte, in der bald Prem lernen würde. Das meiste war aus dunklem Holz, wie die Schränke, der Boden und die Wände. Im Gang war es eher dunkel, da kaum Licht hineinkam. Ich hörte, wie Prem in die Küche ging, um Getränke zu holen. Ich ging am Wohnzimmer und an der Küche vorbei und blieb im Gang zwischen den Zimmern stehen, wo ein grosser Spiegel hing. Ich war bleich und die kräftig schwarz geschminkten Augen unterstrichen dies noch mehr. Meine langen mittelaschblonden Haare waren zu einem Pferdeschwanz geknotet, ein schwarzblaues Bandana war um den Kopf gebunden. Passend dazu trug ich ein paar Armbänder, Hosen aus Leder und einen dicken blauen Pullover. Obwohl ich trotz Sport einfach nur dünn und knochig war, fühlte ich mich wohl in meinem Körper. Meine Augen dagegen waren langweilig, blaugrüngrau, ohne Make-up mochte ich sie nicht. Während ich mein Gesamtbild betrachtete, erkannte ich, wie lange ich das nicht mehr getan hatte. Ich hörte Prem kommen, fühlte mich ertappt und eilte durch die Tür. Sein Zimmer war der einzige Raum, in dem einige Möbel angemalt waren und der optisch nicht nur aus Holz bestand. Schrank und Bett waren olivgrün. Pult und Nachttische waren grau wie das kissenlose Sofa. So wie das ganze Haus waren die Räume eher dunkel, nur durch die kleinen Fenster kämpfte sich Sonnenlicht. Ich setzte mich neben das Sofa auf den Boden, Premmachte das Licht an und stellte auf den Tisch einen Saft und für sich einen Cappuccino hin. Ich nahm einen Schluck, während ich zum hundertsten Mal die volle Pinnwand neben seinem Bett betrachtete. Es waren Fotos von ihm, seinem Vater oder der ganzen Familie. Nicht selten waren wir zusammen drauf, Grimassen schneidend oder lachend. Die Fotos zogen sich querbeet durch unser Leben. Das älteste Foto zeigte unser erstes Aufeinandertreffen. Als ich vier Jahre alt gewesen war, waren wir hierhergezogen. Damals, so erzählten unsere Mütter gern, wartete Prem mit seiner Mutter auf uns, um uns zu begrüssen. Als wir ankamen, sahen Prem und ich uns an, lächelten und nahmen uns wie selbstverständlich in den Arm, als würden wir uns schon ewig kennen. Seitdem waren wir Freunde. Unzertrennlich.
Auch hier schaltete Prem die Boxen ein, er mochte die Stille nicht. Im ganzen Haus war nun in angenehmer Lautstärke dieselbe Musik zu hören. Unter dem kleinen dunkelblauen Tisch lagen für mich Stifte, Leuchtmarker sowie Sachbücher, die Prem niemals freiwillig lesen würde. Er las gerne Fantasyromane oder Science-Fiction-Bücher, die neben seinem Bett herumlagen. Prem setzte sich auf die Couch und ich lehnte mich an seine Beine. Routinebewegungen. Ich begann zu lesen, so konnte er nicht erneut mit dem Thema anfangen, bevor wir zum Training mussten. Eine halbe Stunde später klingelte mein Handy, ich hatte einen Wecker gestellt. Dennoch liefen wir in letzter Sekunde los, Prem hatte mal gesagt, dass es sich nicht lohne, zu warten, es sei vergeudete Zeit, und wir hielten uns beide daran. Wir kamen pünktlich an, auch wenn wir die Letzten waren, die in die Umkleide liefen. In kompletter Montur liefen wir wenige Minuten später wieder raus. Der Kimono war weiss und unser Gürtel braun. Natürlich trug ich keinen Schmuck, bis auf meinen Ring. Wahrscheinlich war dies die grösste Regel, die ich mich getraute zu brechen. Der Ring war aus Gold und sehr filigran. Ein Mond war darin eingraviert, den man jedoch nur im Licht erkannte. Die Erinnerung erschien mir so klar vor meinem inneren Auge: Prem und ich waren im Garten, hatten uns am Baum angelehnt, um zu sonnen. Plötzlich streichelte Prem mir über die Finger. Seine Hände waren grob und rau, dennoch waren seine Bewegungen sanft. Ich liess die Augen geschlossen vor Müdigkeit, dann spürte ich das kalte Metall, das über meinen Finger glitt. Seine damals schon recht raue Stimme weckte mich, genau wie sie es jetzt tat. «An was denkst du?» Ich zeigte ihm als Antwort den Ring. «So bedeutend ist er nicht.» Er lächelte, doch das Lächeln erreichte seine Augen nicht wirklich.
Es wurde bereits dunkel, als die kleine Truppe sich im Dojo versammelte. Prem hatte mich zu diesem Kampftraining überredet, als wir gerade mal sechs Jahre alt gewesen waren, er bettelte und forderte mich auf, auch in unserer Freizeit zu trainieren. Doch mittlerweile wollte ich es nicht missen. Ju-Jutsu war mehr als nur Selbstverteidigung, es gab Kraft und machte einen selbstsicherer. Als Ju-Jutsuka blieben wir nach den zwei Stunden intensiven Trainings gerne noch etwas länger, vielleicht, weil es einfach zur Gewohnheit geworden war. Da wir nicht die Einzigen waren, zogen wir uns etwas zurück und gingen erneut ein paar Bewegungsabläufe durch. Prem nahm diese spassige Art, zu trainieren todernst, er war in seinem Todo-Modus, indem er sich nur darauf konzentrierte und es nichts anderes mehr gab. So entwickelte sich aus dem Ablauf ein kampfartiges Handeln, meine Aufgabe war es, auf seine Bewegungen zu achten, darauf zu reagieren und schneller zu sein. Er machte einen Schritt auf mich zu, darauf schlug ich meine Hand gestreckt in Richtung Hals, er wich seitlich aus, um mich von rechts anzugreifen, doch ich war vorbereitet und drehte mich zu ihm um und fing seinen Schlag mit dem Unterarm ab. Ein weiterer Angriff folgte augenblicklich, diesmal war es seine Faust, die meinem Oberkörper nah kam, als Antwort führte ich seinen Arm weiter, rollte mich seitlich ein und riss ihn so über meinen Rücken, warf ihn zu Boden. Vertieft in meinen Bewegungsablauf spürte ich zwar, wie seine Hand über meine fuhr, doch erst als er am Boden lag, mich verräterisch angrinste, wusste ich, dass etwas falsch war. Irgendetwas hatte er ausgefressen. Er fing an zu lachen und zeigte mir meinen Ring. «Du weisst, dass du den nicht tragen darfst.» Ich schnappte nach dem Ring, doch genau das hatte er erwartet und zog ihn schnell weg. Ich klang etwas genervter, als ich wollte. «Er bringt mir Glück.» Kritisch sah er zu dem kleinen Schmuckstück in seiner Hand, setzte sich auf. «Seit wann glaubst du denn an solche Sachen?» Erneut streckte er mir den Ring hin, und als ich blindlings danach griff, zog er mich am Arm runter, drehte mich auf den Rücken. Bevor ich mich weiterdrehen konnte, spürte ich schon seinen schweren Körper, der mich am Boden hielt. Nun wurde sein Grinsen stärker, als hätte er schon gewonnen. «Was bekomme ich dafür?», fragte er neckisch. Ich versuchte, sein Bein mit meinem zu erwischen, doch er wich mir gekonnt aus, sodass wir uns im Kreis drehten. Seine so unernste Miene brachte mich zum Lachen, er lachte mit. Die ganze Wucht der Schwere fiel von mir, wenigstens für diese Zeit fühlte ich mich leicht. Erneut zeigte mir Prem den Ring und gab so seine Deckung auf. «Ist er dir wirklich so wichtig?» Ich nickte nur. «Wie wäre es mit einem Deal?» Obwohl ich mich aus seinem Griff hätte befreien können, blieb ich liegen. «Für meinen eigenen Ring?» In seinen Augen war ein Bitten zu sehen, es war ihm wirklich wichtig. Manchmal sah er mich mit solch einem Bewusstsein an, dass es mir Angst machte, fast so, als würde er zu viel wissen. Er hätte mit seinem festen Blick einer Menschenmenge standhalten können. «Okay.» Seine Stimme war so ernst wie seine Augen. «Versprich mir, dass du es dir nochmals überlegst, und diesmal wirklich.» Er liess mich aufstehen und streifte, ohne mich zu berühren, den Ring zurück an seinen Platz. «Warum ist es dir so wichtig?», fragte ich. Prem sah mich nicht an. «Weil ich weiss, dass du für etwas anderes bestimmt bist, und ich darf nicht der Grund sein, dass du das aufgibst. Dein Leben erwartet noch mehr von dir.» Er hob den Blick. «Es wird Zeit, dass du zu der wirst, die du wirklich bist.»
Prem wartete draussen auf der grossen Steintreppe vor der Halle. Es brannte Licht, dennoch lag sein dickes Buch neben ihm, der Rücken abgenutzt, das Buchzeichen steckte noch in der Mitte. Es war kalt draussen und still, was nicht ungewöhnlich war, denn hier war es unglaublich eng für Autos und Passanten, weshalb sich wenige hierher verirrten. Die meisten gingen lieber direkt nach oben, den längeren Weg durch das Dorf, um diesen dunklen Fleck zu meiden. Prem stand auf, als er mich rauskommen sah. Irgendwie war immer noch eine merkwürdige Stimmung zwischen uns. «Dein neues Buch schon fertig?» Er nickte nur, schien nachdenklich.
Wir liefen die Strasse hinauf, aufmerksam darauf achtend, ob Licht an der Mauer vor nahendem Verkehr warnte. Erneut versuchte ich, ein Gespräch zu beginnen. «Ist es gut?» Er kämpfte mit sich. «Es geht um einen Jungen, der nichts anderes mehr will, als ein Meermann zu werden. Er nutzt die erste Gelegenheit, um in die neue Welt zu flüchten.» Ich stieg auf seine Erzählung ein. «Na, hört sich doch nach deinem Geschmack an?» «Nicht, wenn nicht darüber nachgedacht wird, was das bedeutet. Niemand denkt an diejenigen, die er zurücklässt, wenn er gehen muss. Es wird nicht einmal auf seine Heimat eingegangen. Ich meine, würdest du …?» Er stoppte seine Frage und sah in den Himmel. Ich wartete kurz darauf, dass noch mehr kam. Irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, dass es um mehr ging als um die Geschichte im Buch. «Was ist?» Prem dachte lange nach, bevor er antwortete. «Ich würde lieber ein Mensch sein.» «Zum Glück bist du es auch.» Ich lachte, doch er ging nicht darauf ein. Prem atmete nur aus, war weit weg in seinen Gedanken. «Das Schicksal entscheidet darüber, was richtig ist, und darauf muss ich vertrauen.» Ich blieb stehen. «Worum geht es dir wirklich?» Er antwortete nicht. «Geht es dir darum, dass du denkst, dass ich nicht meinen Weg gehe? Glaubst du, dass ich flüchte in eine falsche Welt, wenn ich bleibe?» Es fühlte sich an, als würde er zurückkehren, seine Gedanken ordnen können. Er zeigte auf unser ausgestorbenes Dorf. «Du hast mehr drauf als das hier.» «Du auch.»
Prem strich mit seiner Hand über den Nacken und gleichzeitig war sein Lächeln, das folgte, warm und wohltuend, als würde er meine Sorgen als Geschenk sehen. «Jeder hat einen Platz, so auch ich meinen. Nicht mal ich kann flüchten vor dem, was ich bin. Und mein Vater würde sich wünschen, dass ich diesen Weg gehe.» Prem lief weiter und ich folgte ihm. «Er ist nicht hier.» «Ich weiss, dass er irgendwo ist, auch wenn er sich so weit weg anfühlt.» Prem sprach solche Gedanken selten aus. Ich wusste zwar, dass er in diesem Punkt anders empfand, meistens hielt er sich zurück mit dieser Offenheit, obwohl ich es akzeptierte. Ich verurteilte ihn und meine Mutter nicht, weil sie an einen Gott oder an ein Leben danach glaubten, doch ich war nicht fähig, es selbst zu tun. Ich hatte höchstens mal mitbekommen, wie sie miteinander über solche Sachen geredet hatten, da sie beide ähnliche Vorstellungen hatten, im Gegensatz zu mir. «Vielleicht würde er sich wünschen, dass du das machst, was du willst.» Prems Lächeln kehrte zurück. Seine Traurigkeit war verflogen, er war zurück im To-do-Modus. Mittlerweile fiel es ihm zu leicht, zu wechseln. «Befolge deinen eigenen Rat.» In seiner Stimme lag etwas Warnendes. «Ich will nicht schuld sein, dass du dir deine Chance verspielst. Und wenn du sie wahrnimmst, kann ich versprechen, dass wir uns nicht verlieren.» Es war ein schweres Flehen. «Bitte.» Ich fand keine Worte, um zu antworten. Prems Stimme wurde rauer. «Du kannst mir diese Bürde nicht auflasten.» Ich hielt seinem Blick stand. «Es ist auch nicht deine.» Ich konnte ihn verstehen, wäre es umgekehrt, würde ich ihn nicht zurückhalten wollen, schuld sein.
Er war der einzige Ruhepol in meiner sehnsüchtigen Welt, und die Angst, diese Momente des Friedens zu verlieren, war grösser als jede Vernunft und Bitte. Sogar seine. Wie immer kämpfte ich mit mir, wollte alles erklären, doch ich brachte es nicht übers Herz. Prem suchte meine Augen. «Ich habe mehr Pflichten, die mich hier halten. Du deine Aufgaben. Wir müssen die sein, die wir sind. Dem wird keiner von uns zwei entkommen.» Noch bevor ich ihm widersprechen konnte, drehte er sich um und lief in die Nacht. Für seine Mutter würde er alles tun, wahrscheinlich blieb er nur deshalb hier, ohne auch nur eine Sekunde über die Uni nachzudenken. Er hatte seine Träume aufgegeben. Doch ich tat das Gleiche, ich blieb auch wegen einer Person, ich konnte es ihm nicht vorwerfen.
Bereits als ich die Tür aufmachte, wusste ich durch die Geräuschkulisse, dass meine Mutter in der Küche war, nicht mal ihre ABBA-Musik übertönte das Scheppern. Die loftähnliche Wohnung versprach viel Licht, mit den grossen Fenstern im Ess- und Wohnzimmer, mit der Schiebetür zum Garten, doch gerade erreichte uns von draussen nur Dunkelheit. Meine Mutter war ins Kochen vertieft, bewegte sich im Rhythmus der Musik und sang heimlich mit, man sah an ihren Bewegungen und der eleganten Haltung, dass sie früher getanzt hatte, obwohl sie etwas fülliger war. Ich liebte es, ihr zuzusehen, ihre lebensfrohe Art hatte etwas Stärkendes. Ich hoffte immer, dass ich es mal schaffte, so zu werden, stattdessen erinnerte mich die Sehnsucht daran, dass sie mehr Macht hatte. Ein kleiner Stich durch den Körper, als würde ein Teil fehlen, als wäre ich nicht komplett und könnte zerbrechen, dann flaute das Gefühl ab, ohne zu verschwinden.
Meine Mutter war so ins Kochen vertieft, dass ich sie erschrak, als ich neben ihr auftauchte, um die Sachen zu holen, damit ich den Tisch decken konnte. Wir mussten beide lachen. Ihre warmen haselnussbraunen Augen leuchteten dabei auf und ihre welligen Haare bewegten sich sprunghaft mit. Wir lachten, bis die Sosse überzuschwappen drohte, was uns beide wieder an die Arbeit schickte. Kaum hatte sie den Topf vom Herd gezogen, sprach sie mich an, ohne mich anzusehen. «Dein Vater hat wieder angerufen.» Mehr musste sie nicht sagen, ich wusste, was er wollte. Sie wartete auf eine Reaktion von mir, doch ich wollte nicht darüber reden. Bestimmt hatte mein Vater meine Mutter damit beladen. Und mein Verdacht bestätigte sich beim Essen, denn nun begann sie davon zu reden. «Hast du dir die Uni angeschaut?» «Noch bleiben mir einige Monate.» Meine Mutter hatte Verständnis und trotzdem genug Strenge. «Du kannst diesem Thema nicht mehr lange ausweichen.» Sie legte die Gabel zur Seite und sah mich erwartungsvoll an, Sorge tauchte in ihren Augen auf. «Warum willst du nicht gehen?» Ich suchte nach Worten. «Es macht mir Angst.» Noch während ich sprach, erkannte ich selbst die Wahrheit in meinen Worten, als hätte ich versucht, sie vor mir selbst zu verbergen. Allein sein, ohne ihn und ohne den Wald der Sehnsucht ausgeliefert. «Veränderungen machen immer Angst. Nur manchmal ist es wichtig, etwas zu riskieren.» Nun legte auch ich die Gabel zur Seite. «Ich mag keine Veränderungen.» Auch wenn ich mir nichts mehr wünschte, als dass die Sehnsucht für immer gestillt wurde, war es die Wahrheit. «Ohne Veränderungen gibt es kein Leben. Denk an die Zellen, die sich jeden Tag neu produzieren.» Ihre Aussage stimmte nicht genau, doch ich musste sie jetzt nicht über die Zellenreproduktion belehren. «Und was stellst du dir vor, sollte ich tun?» «Ein Schritt nach dem anderen. Schau dir mal die Uni an, vielleicht gefällt sie dir nicht.» Unsicher drückte ich an meinen Händen herum. Ich wusste, warum ich sie mir nicht anschaute, es würde mir sicherlich gefallen. Spätestens dann wenn ich sah, was für Kurse auf mich warten würden. Doch ich würde es nicht schaffen. «Ich denke nicht, dass es richtig ist, zu gehen.» «Du kannst nicht immer hierbleiben. Musst deinen Weg finden, etwas ausprobieren. Ich habe selbst lange gebraucht, um das einzusehen. Erst ein guter Freund konnte mir beibringen, dass es keine Grenzen gibt und dass ich alles schaffen kann. Es ist so wichtig, dass wir es riskieren, bevor es zu spät ist.» In ihren Augen sammelte sich heimlich Wasser, das das Licht brach und so ihre Augen zum Schimmern brachte. Sie wich meinem Blick aus. «Warte nicht darauf, dass deine Welt dich so sehr verändert, dass du nicht mehr das tun kannst, was du wirklich willst. In diesem Leben haben wir nicht viele zweite Chancen.» «Was ist aus diesem Freund geworden?» Meine Mutter versuchte, ihre Tränen zu verbergen, sie abzufangen, bevor ich sie sehen konnte. «Er musste plötzlich fort. Ich habe ihn nie wiedergesehen. Gleich darauf traf ich zum Glück deinen Vater und neun Monate später warst auch schon du da.» Sie sah mich an und kehrte so gedanklich zurück. «Das Leben wird für dich noch genügend Überraschungen bereithalten, du musst nur den Mut haben, zu leben.» «Woher wusstest du, was richtig war?» Meine Mutter legte ihre warme Hand auf meine, aufmunternd. «Du wirst es schon merken, hör auf dein Herz.»
Die Dämmerung ging, die Nacht brachte die Dunkelheit und das Mondlicht durch die Fenster ins Wohnzimmer. Es sah kalt aus. Vielleicht war es nur mein Inneres, das sich so fühlte, weil die Sehnsucht sich durchkämpfte und mein Inneres einnahm. Alles in mir war nur noch Sehnsucht. Mit einem «Gute Nacht» zog ich mich zurück, bevor sie es bemerkte, schuldbewusst.
Eine Stimme riss mich aus der Ferne, aus dem gemütlichen Nichts. Die Stimme kannte ich, sie kam näher. Oder war ich es, die zurückkehrte? «Steh auf, Luina, du musst zur Schule», rief meine Mutter. Ein lautes «Bumm», als wäre eine Mauer zu Boden gedonnert, zog mich endgültig aus dem Schlaf, liess mich erschrocken aufsitzen. Es war zwar nur so laut gewesen, weil es neben meinem Ohr passiert war, dennoch hatte es den gewünschten Effekt. Mein Buch war zusammengeklappt, da ich wieder mal mitten beim Lesen eingeschlafen war, und war schliesslich vom Bett gerutscht. Mein Handy blinkte auf, es war schon sieben Uhr, was mich erneut aufscheuchte. Mir blieben noch fünfzehn Minuten Zeit, um rechtzeitig in die Schule zu kommen. Acht Minuten später wünschte ich meiner Mutter einen schönen Tag, nachdem ich mich angezogen und bereit gemacht hatte. Ich frühstückte, räumte hastig ab, um dann zum Gymnasium zu rennen. Gerade als es klingelte, kam ich beim grössten Gebäude in unserem Dorf an, Prem lehnte mit seinen Kopfhörern an der Wand und wartete, während alle anderen schon an ihm vorbeiliefen. Unser Alltag. Nicht mal der strenge Blick der Lehrerin brachte ihn aus der Ruhe, er wartete weiter. Sein Lächeln war warm, und obwohl er mich jeden Morgen damit begrüsste, war es etwas Besonderes. Wir waren die Letzten, und die schwere Tür fiel hinter Prem mit einem lauten Aufschlag zu, drohend. Das Klassenzimmer war altmodisch, wie das ganze Gebäude. Die Pulte waren voller Narben und Nachrichten der letzten Jahre von ehemaligen Schülern. Wir hatten Geschichte, eines meiner Lieblingsfächer, obwohl die Lehrerin so etwas Spannendes meistens zum langweiligen Zahlenstoff machte. Zuerst wiederholten wir durch gezielte Fragen das letzte Thema. Die Lehrerin meinte, uns so lange mit Wiederholungen zu nerven, bis niemand von uns mehr die Prüfung verhauen konnte. Die Bartholomäusnacht, darüber fragte sie uns aus, als wäre es lebensnotwendig. «Wann?», begann sie schroff und zeigte auf einen Schüler, willkürlich herausgepickt. «August 1572.» «Genauer?» «Vom dreiundzwanzigsten bis zum vierundzwanzigsten.» «Und wie nannte man sie noch?» Neben dem Fenster flogen einige Raben umher, vermutlich hatte der Hausmeister wieder Reste aus dem Fenster geworfen. «Bluthochzeit», antwortete die Klassenbeste, die vorn in der Mitte sass. Die Raben flogen gezielt und wirkten dennoch chaotisch. Ihre Flügel waren stark und trotz ihrer Farbe präzise sichtbar, unglaublich faszinierend. «Wieder abgelenkt, Miss Earde?» Ein sanfter Schlag erreichte mein Bein, er kam von Prem, sofort spürte ich den wütenden Blick der Lehrerin auf mir ruhen, und ich sah sie erstarrt an. Doch ich konnte mir ihre Frage nicht in Erinnerung rufen, jedenfalls keine zum Thema. «Wenn du glaubst, nicht aufpassen zu müssen, hast du also alles schon im Kopf. Erzähl, was du sonst noch so weisst.» Ihre Abneigung machte mich nervös, sie mochte mich nicht, obwohl ich keine schlechte Schülerin war. «Die Königsfamilie wie auch der Papst nahmen dies als Sieg und so die unschuldigen Toten in Kauf. Der Verdacht, dass der König sogar den Befehl …» herablassend unterbrach sie mich, obwohl ich noch mehr zu erzählen gehabt hätte, denn ich hatte mich informiert, weit über die Schulbücher hinaus. «Das sind Interpretationen und unwichtige Fakten. Du musst nochmals gründlich über die Bücher gehen vor der Prüfung, Madame.» Femi und ihre Freundinnen in meinem Rücken lachten, das Stechen durch Hals und Magen breitete sich aus. Eine Energie voller Hass legte sich um michherum. Doch die Lehrerin fuhr einfach fort, als wäre nichts. Daher antwortete Femi: «Getötet wurde aus religiösen Motiven, nicht aus politischen. Und begonnen hat alles mit dem fehlgeschlagenen Attentat auf Admiral de Coligny.» Ich spürte Femis Blick auf mir ruhen, arrogant, selbstsicher, als würde sie mir zeigen wollen, dass sie es besser konnte. «Sehr gut», unterstützte die Lehrerin sie dabei.
Der Gong war nicht nur für mich der befreiende Schlag in die Freiheit, so füllte sich der Gang am Mittag mit Lärm wie bei Schulschluss. Noch bevor wir entkamen, hielt Femi Prem am Arm und lächelte dann gekonnt. Femi hatte lange schwarze Haare, die sie verführerisch zurückwarf. Sie trug enge Jeans und ein luftiges blumiges T-Shirt. Nicht nur wegen ihrem Äusseren war sie beliebt, sondern ihre ganze scheinheilige Art funktionierte hier fantastisch. Ich hatte sie nie gemocht. «Ich möchte dich zu meiner Geburtstagsparty nächsten Freitag einladen.» Prem antwortete nicht, sah sie nur an. Sie flirtete mit ihm, offensichtlich, und liess sich von mir nicht stören, ihm streichelnd mit den rosa Nägeln über den Arm zu fahren. «Ich würde mich sehr freuen, wenn du dabei wärst.» Prem sah weg, ein unsicherer Blick von ihm erreichte mich. Ich sah nichts in seinem Gesicht, nur seine geweiteten Augen, als Würden die sich erschrecken und etwas sehen, was sein Körper noch nicht kannte. Doch bevor ich ihn fragen konnte, was los war, kam Femi mir zuvor: «Also, was meinst du?» «Wir haben schon etwas vor.» Sofort liess sie ihn los, die Enttäuschung konnte sie nicht verbergen. Prem nahm meine Hand, wir gingen die Treppe runter, nach draussen.
Ich konnte seinen Gesichtsausdruck von vorhin nicht vergessen. Ich flüsterte, damit niemand von den vorbeigehenden Schülern uns hören konnte. «Was war eben?» Prem erkannte meinen besorgten Blick, versuchte, mich zu beruhigen. «Mir ist nur was Wichtiges eingefallen.» Ich wusste, dass er log, denn er presste seine Lippen zusammen. Und er begriff, dass ich es erkannt hatte. Hinter uns liefen ein paar kichernde Mädchen aus der Unterstufe. Prem sah sie finster an. «Komm mit.» Erst an der Steintreppe waren wir dann endlich allein. Auch die meisten Schüler vermieden diesen engen Weg hinter dem Trainingsraum. Prem blieb gleich an der Tür stehen, sah sich um. «Du hast nicht mal darüber nachgedacht, oder?» Seine Hand ruhte immer noch an meinem Arm, als würde ich davonlaufen. «Warum ist es dir so wichtig?», fragte ich. Seine stillen Augen, die früher die ganze Welt reflektierten, starrten mich an. «Weil es das Richtige ist.» Ich fing wieder an, loszulaufen, in der Hoffnung, dieses Gespräch dort zu lassen und endlich ein anderes Thema zu finden. Seine Stimme klang plötzlich sanft. «Vertrau mir.» Ich traute mich nicht, ihn anzusehen, da ich das gleiche Flehen wie gestern in seiner Stimme hörte. Prem hob sanft meinen Kopf, sah mir in die Augen, um den Blick wieder zu senken, nur kurz. «Wenn ich nicht wäre, würdest du gehen?» Seine Gedanken machten mir Angst. «Warum sagst du so etwas?» Prem liess mein Gesicht immer noch nicht los. «Versprich mir, deinen Traum zu verwirklichen, egal, was passiert, selbst wenn ich nicht mehr bin.» «Du machst mir Angst.» «Ich lass dich noch lange nicht allein, versprochen. Aber ich möchte, dass du mir schwörst, dass du alles für deinen Traum tust, dass du lebst und glücklich bist.» Seine Augen schienen zu glühen, obwohl sie still waren. Pures Blau. «Schwör es mir.» Nun klang auch meine Stimme flehend. «Wenn du dieses Thema jetzt beendest.» Ich wollte gehen, doch Prem liess mich nicht los. «Schwör es.» Ich wollte dieses Gespräch endlich beenden. «Ich schwöre es.»
Seine Augen loderten auf, bevor sie still wurden. Meine Sorgen waren in meiner Stimme zu hören. «Dir darf nichts passieren.» Prem lachte, aufmunternd. «Ich hab dir doch gerade versprochen, weiterhin bei dir zu sein. Schon vergessen?» Ich konnte jedoch nicht so leicht seine Worte vergessen, in sein Lachen einsteigen. Prem wollte mich aufmuntern. «Lass uns am Freitag gemeinsam dahin.» Erleichtert über den Themenwechsel stieg ich darauf ein. «Femi hätte da keine grosse Freude.» «Das ist unwichtig.» Ich lief los. «Ich denke, sie mag dich.» Prem blieb weiterhin stehen. «Ich will nicht sie.» Ich drehte mich zu ihm. Erneut sah er mich mit diesem Blick an, den ich nicht verstand. «Du bist echt unglaublich …», sprach er mehr zu sich selbst, als würde er mit sich ringen. Dann zog er mich zu sich und küsste mich. Ich war mehr als überrascht, vielleicht sogar etwas überfordert. Seine Lippen waren trocken und sanft. Niemals hatte ich solche Gedanken zugelassen, mir diese Fragen gestellt oder gar etwas geahnt. Wie lange hatte er solche Gefühle? Wie konnte er sie vor mir verbergen? Der Kuss fühlte sich so an, als würde er sich in uns brennen, um für ewig dortzubleiben. Umgeben von einer schimmernden Kraft, die das Versprechen gab, dass sich alles ändern würde.
Dann löste er sich von mir. Erst nach einer kleinen Weile sah er mir entschuldigend tief in die Augen. Sie sahen traurig und müde aus, und vielleicht ahnte er, dass ich mich nicht mit all dem beschäftigt hatte. «Ich musste das tun. Wenigstens einmal.» Mir fehlten die Worte. Er verlangte keine Antwort, lächelte und zog mich auf die Strasse, als würde er uns gewähren, die letzten verwirrenden Augenblicke hinter uns zu lassen, ohne Erwartungen. Er wollte, dass ich lebte. Vielleicht war es wirklich die Veränderung, die ich so fürchtete, zumal sein Kuss mein Herz rasen liess, mir Angst machte. Wie weit würde sich alles verändern, was mich zusammenhielt? Ich brauchte ihn, um gegen die Sehnsucht anzukommen. Es musste sich nichts ändern, denn alles, was mir wichtig war und was ich brauchte, hatte ich bei mir. Dann wurde es mir aus der Hand gerissen.
Prem selbst stiess mich von sich, bevor er mir entrissen wurde. Ich verlor das Gleichgewicht und fiel durch Prems Kraft hart zu Boden, rollte über die Strasse und landete auf dem Rücken. Prem! Innerlich erfasste mich die gleiche Panik, die ich vorher in seinen Pupillen gesehen zu haben glaubte, diese Panik hatte uns eingeholt. Mir war schwindlig, doch ich hatte keine Schmerzen. Versuchte, aufzustehen, doch als wäre ich am Boden festgeklebt, rührte sich mein Körper nicht. Meine erschöpften Augen suchten die Strasse, die wie hinter Nebel verborgen schien, nach Prem ab. Gerenne, fremde Menschen, ein blaues Fahrzeug. Alles war wild durcheinandergemischt und laut. Schmerzhaft laut. Ich hörte immer noch das Quietschen der Bremsen, und es roch nach verbrannter Haut und geschmolzenem Gummi, als würde der Gestank an der Lunge festkleben wollen. Obwohl die Menschen um michherum in meiner Muttersprache redeten, verstand ich doch nichts. Es war alles verwirrend und gleichzeitig unwichtig, weit weg. Ein fremder Mann mit purer Angst in den Augen kam zu mir, er traute sich nicht, mich zu berühren, und fragte, ob ich Schmerzen hätte. Ich wollte, dass er nach Prem sah, doch mein Mund bewegte sich nicht. Der Mann war panisch, bewegte sich zu hastig. Er versuchte mich durch Worte, die an mir vorbeiflogen, zu beruhigen, dabei hätte er selbst Hilfe gebraucht. Ich suchte immer noch nach Prem in diesem grauen Nebel, nur das war wichtig. Weitere Men schen sammelten sich um mich, sie trugen rot-weisse Kleidung und hatten eine beruhigende Art, mit mir zu reden. Der Mann wurde endlich weggezogen, während er aufbrausend erzählte. Das musste der Fahrer sein. Nun redete eine Frau mit mir, die meinen Körper abtastete und fragte, ob ich Schmerzen hätte. Doch einzig allein mein Inneres, wo mein Herz sein sollte, schmerzte vor Dunkelheit, weil ich zu Prem wollte, während die Angst mich zwang, hastig zu atmen. Alles wurde undeutlich und schien weit weg, als ich ihn endlich mit meinen Augen fand. Er lag blutend am Boden vor dem Auto, das uns erwischt hatte. Um ihn herum weitere Fremde, die ihn zu lange verborgen hatten. Zuerst war ich erleichtert, als ich sein Gesicht sah, seine verstrubbelten Haare. Er bewegte seinen Mund, doch seine Worte gingen in den Geräuschen der Umgebung unter. Ich fühlte mich weit weg von der Welt, vom Leben. Ich versuchte, nur auf ihn zu achten und an den Bewegungen seiner Lippen abzuleiten, was er sagte. «Bitte geh, dann bleibe ich bei dir …», dann schloss er seine Augen. Aus mir kam ein schmerzerfüllter Schrei, den ich nicht kontrollieren konnte.
Tage vergingen dumpf in dunklem Schwarz, als hätte ich diese nie wirklich erlebt. Nur dank Beruhigungsmittel, die alles abschwächten, fanden sie überhaupt ein Ende. Dem unangenehmen Geruch nach Desinfektions- und Putzmittel zu urteilen, befand ich mich im Krankenhaus. Das sterile Gefühl liess die Zeit vergehen, als wäre sie nicht wirklich da, während immer Leute in den Raum traten und wieder verliessen. Die Stimmung war gedrückt. Ich hielt dennoch weiterhin meine Augen zu und liess die Zeit vergehen. Das Blut, die Laute, der Geruch des geschmolzenen Gummis, seine geschlossenen Augen, der Nebel. Die Erinnerungen hatten sich festgesaugt und klebten an mir wie die Schuld. Ich hatte nur eine leichte Gehirnerschütterung, der Arzt meinte, ich hätte Glück gehabt. Ich würde keine bleibenden Schäden haben. Seine Art machte mich wütend, ich hatte kein Glück. Prem hatte mich zur Seite geschubst. Er hatte mich gerettet. Doch zu welchem Preis? Ich spürte die warme Hand meiner Mutter auf meiner ruhen, die ganze Zeit über, dennoch war sie mir fremd und schien weit weg. Die Sehnsucht fesselte mich dabei an die Realität und ans Leben. Wie eine Peitsche hielt sie mich wach, bis ich endlich meine Augen öffnete, um ihr zu entkommen. Sofort bereute ich es. Leid war alles, was ich sah und spürte. Die Augen meiner Mutter waren müde und voller Trauer. Sofort fragte ich nach Prem, indem ich seinen Namen murmelte, mit schwacher Stimme, doch die Augen meiner Mutter blieben still und dunkel. Ein kalter Hauch durchzog meinen Körper, und ich fing an, zu weinen, meine Mutter trauerte mit und nahm mich fest in den Arm, sie wollte mich zusammenhalten. Sichergehen, dass ich nicht zerbrach. In meiner Brust zog ein grosses dunkles Loch auf, das alles verschlang an Glück und Hoffnung. Mein Kopf pochte, der Mund war trocken, und dennoch hörte ich nicht auf, zu weinen.
Zu Hause war es still, als wären wir hier von der Aussenwelt abgeschnitten. Ich schlief auf dem Sofa, um nicht ins Zimmer voller Erinnerungen gehen zu müssen. Ich hatte kaum geschlafen, ständig waren die Bilder des Unfalls da, die sich schliessenden Augen von Prem. Meine brannten, ich hatte wohl auch in der Nacht geweint. Der Himmel war noch nicht erwacht, die Röte der Morgendämmerung versuchte, gegen die Müdigkeit in der Welt anzukommen, als würde sie mir zeigen wollen, dass es funktionieren würde, doch ich probierte es gar nicht. Nachdem ich zwei Gläser Wasser getrunken hatte, um das Pochen in meinem Kopf zu stillen, ging ich in den Garten hinaus. Zum ersten Mal war ich dankbar, dass die Nachbarn unser Terrain durch Sträucher, Hecken und Mauern abgetrennt hatten. Obwohl ich nicht fror, zitterte mein Körper vor Kälte. Hier schien alles noch im Winterschlaf gefangen zu sein, ich fühlte mich passend dazu. Der Baum war kahl und still, die Stühle auf dem Tisch zur Seite geschoben, und bisher hatte nichts begonnen zu blühen, nirgends war etwas Grünes zu sehen, als würde der Garten mein Inneres widerspiegeln. Es fühlte sich wirklich so an, als würde ich warten.
Kaffeegeruch kam mir aus dem Wohnzimmer entgegen, der Föhn im Badezimmer füllte die Stille mit einem unangenehmen monotonen Ton. Es mussten Stunden vergangen sein. Meine Mutter trug ein schlichtes schwarzes Kleid, ich hatte nicht mal gewusst, dass sie schwarze Kleidung besass. Irgendwo hatte sie auch eine alte passende dunkle Tasche ausgegraben und packte ein Paar weisse Kerzen hinein, die sie mit einem schwarzen Band zusammengebunden hatte. Das restliche Band hatte sie auf dem Tisch liegen gelassen. Ed trug ebenfalls Schwarz, einen schlichten Anzug. Durch diese Kleidung wirkte er noch viel asiatischer, oder hatte ich ihn nie lange betrachtet, weil er einfach da war? Eward Oyen, der jüngere Freund meiner Mutter mit den typisch dunkelbraunen Haaren, die bis zu den dunklen Augen fielen. Hatte ich mich schon an ihn gewöhnt? Er legte den Arm um meine Mutter, um sie zu stützen, und küsste sie dann liebevoll. Ich drehte mich weg.
Wir gingen durch die Strassen, auf einem Weg,der mir so bekannt war, und doch lief ich nur hinterher. Wir trafen keine Menschenseele, als würden sich alle verstecken. Dann erreichten wir das alte Haus, schritten durch die Holzräume ins Wohnzimmer, wie ich es schon so oft getan hatte. Heute drang noch weniger Licht in die Räume, alle Vorhänge waren zugezogen, und nur Kerzen spendeten etwas Helligkeit. Inmitten des Raumes war ein Sarg. Er wirkte, als wäre er Teil dieses Hauses. Weil er aus demselben braunen Holz bestand wie der Boden und die Möbel. Wir setzten uns auf Stühle, die den Sarg umkreisten, nachdem wir seiner Mutter die Hand gegeben hatten. Sie hatte meine kraftlos gedrückt. Der Raum war erfüllt von Trauer und Schmerz, es roch nach geschmolzenem Wachs,Leere und Einsamkeit. Als weitere Menschen in den Raum kamen, um sich auf weitere Stühle zu sitzen, kamen sie auch zu mir, um die Hand zu geben und mir ihr Beileid auszusprechen, doch das alles geschah hinter einem Panzerglas, weit weg. Die Stille war messerscharf, als würde sie bedrohlich vor dem Kommenden warnen. Ich konnte nicht glauben, dass Prem in diesem Sarg lag, vielleicht wollte ich es auch einfach nicht. Es fühlte sich nicht so an, obwohl mein Kopf genau das sagte. Ich starrte nur eine Kerze an, ihr Licht flammte auf und schwächte dann wieder ab, als wäre mein Blick ihr unangenehm. Die Dunkelheit hatte in diesen Räumen die Überhand, alles war gefühlt dunkel, bis auf die kleine Flamme und ihren kleinen Einflussbereich. Doch dieser war zu gering, um etwas zu bewirken, so spiegelte er mein Inneres wider und überdeckte die Welt mit Schwärze.
Gegen zwei kam der Pfarrer, er sprach ein paar Worte, und dann wurde der Sarg von Prems Patenonkel, Ed und zwei weiteren Männern rausgetragen. Während der ersten Schritte nach draussen packte mich der Schmerz, als hätte die Realität mich eingeholt. Sie trugen ihn fort, als hätte er nicht mehr das Recht, zu Hause zu sein. Der ganze Weg zur Kirche war von den Tränen hinter Unschärfe versteckt. Das Schluchzen hörte nicht auf. Ich wusste nicht, ob ich es mir einbildete oder ob die Sonne wirklich hinter einer Schicht aus grauer Masse vergraben war, doch genau so fühlte es sich an. Während in der Kirche viel erzählt und gesungen wurde, starrte ich nur auf den Sarg, er fühlte sich leer an. Da ist niemand drin, sprach eine Stimme in meinem Kopf, während ich ihr nicht glaubte und weinte. Dann fiel die Stimmung beunruhigend, als würde etwas Schlimmeres passieren. Meine Mam drückte mir erneut die zwei Kerzen in die Hand, die mit einem schwarzen Band zusammengebunden waren, wie schon beim Weg zur Kirche. Mit ihren Worten im Kopf lief ich nach vorn, zündete sie an der Osterkerze an und lief an allen vorbei nach draussen, als müsste ich ihnen den Weg freiräumen. Die Gesichter, die früher immer weggesehen hatten, starrten mich nun mitleidig an, doch auch sie verschwammen hinter den Tränen. Früher wollte ich nicht, dass sie mich ansahen, jetzt waren alle unwichtig, weil nur eine Frage zählte: Wo bist du, Prem?
Ich lief langsam, als könnte ich das, was kommen würde, hinauszögern. Vor einem Haufen Erde, neben einem Loch, blieb ich stehen. Ich spürte die Hand meiner Mutter auf meinen Schultern und dennoch fühlte es sich nicht so an, als wäre sie neben mir. Die Gäste versammelten sich um uns herum, sie fühlten sich alle wie Fremde an, und hinter der Unschärfe waren sie mir nicht traurig genug. Niemand schien wirklich zu begreifen, was wir gerade verloren hatten. Hätte meine Mutter mich nicht festgehalten, während sie den Sarg in die Tiefe jagten, wäre ich zu Boden gefallen, vielleicht sogar mit hinuntergesprungen, um den Sarg zu öffnen und sicher zu sein, dass er wirklich da drin war. Alles, was ich brauchte, alles, was ich hatte, vergruben sie tief in der Erde. Und die Versammelten wollten das noch unterstützen, indem sie es besangen. Innerlich schien ich jeden Halt und jede Verbindung zur Welt zu verlieren. Dann trat einer nach dem anderen vor, um Erde hinunterzuwerfen, dabei verspürte ich den Wunsch, sie anzuschreien, doch mir war, als wäre mein Akku leer, ich hatte keine Kraft mehr, denn meine Batterien lagen in der Erde vergraben. Ich konnte ihnen nur nachsehen, wie sie meine Welt zurückliessen. Meine Mutter zeigte wieder einmal viel Geduld, die ganze Zeit stand sie neben mir und wartete ohne Vorwürfe. Der Platz leerte sich, jeder ging davon, man würde nichts zurücklassen. Als ich anfing, zu frieren, da es schon wieder zu dämmern begann, schob meine Mutter mich fort. Ihre sanften Worte, versuchten zu trösten, zu wärmen, doch ich hörte sie nicht, alles war so weit weg. Ich gab ihr die Kerzen zurück, doch das Band behielt ich. Schnürte es um meinem Hals. Ich würde nicht vergessen.
Ed wartete mit Tee auf uns, den ich nicht anrührte. Stattdessen legte ich mich aufs Sofa, weinend schloss ich die Augen. Genoss das Schwarz und hoffte, so mit Prem ins Nichts zu fallen, und schlief erschöpft ein.
Die stille und ferne Nacht umhüllte mich. Der Wind zog sich durch Raum und Zeit. Wie in zähem Gummi gefangen, als würde die Zeit sich selbst einfrieren, in Zeitlupe gefangen. «Mir geht es gut …», flüsterte Prem aus der Ferne, doch ich glaubte ihm nicht. Ich fiel hart zu Boden, starrte ins Nichts raus, während er in das Dunkel fiel und dabei weiter lächelte. Obwohl ich mich bemühte, ich erreichte ihn nicht. Seine Stimme hallte durch mich hindurch. «Ich bin bei dir.» Die Dunkelheit verschwand und die Strasse blieb zurück. Sein Körper, der leblos am Boden lag. Menschen suchten nach ihm, in einer unangenehmen Lautstärke. Doch ich wusste, er war nicht mehr hier. Hitze stieg empor. Sein Gesicht war wie erfroren, innerhalb von Sekunden, die eine Ewigkeit dauerten.
Ich wachte mit demselben Zeitgefühl aus dem Albtraum auf, in dem sich Geschehen und Erinnerungen vermischen und konkurrieren. Es war mitten in der Nacht, die Dunkelheit aus dem Traum überschattete das Dorf, unseren Garten. Die Sehnsucht war erwacht und meine Unruhe half nicht. So lange war sie still im Hintergrund der Trauer geblieben. Ich begann, hastig zu atmen, und fühlte mich eingesperrt, gefesselt. Alles ging plötzlich ganz schnell. Jacke, Schlüssel, Schuhe. Draussen war es kühler als erwartet, da ein bissiger Wind durch die Gassen zog. Vom Atmen brannte mein Hals. Doch die Sehnsucht trieb mich weiter. Aus Gewohnheit verlangsamten sich meine Schritte an der Brücke, zuerst erreichte mich ein ungutes Gefühl. Etwas war anders. Etwas fehlte, das vertraute Plätschern, das notorische Geräusch, das immer weiterfloss. Die Stille war angsteinflössend, fast schon drohend. Im Mondschein spiegelten sich Tropfen auf den Blättern der Bäume und Steine, doch das Wasser spiegelte sich nicht, es war schwarz und still. Der Fluss war endgültig ausgetrocknet. Das Gefühl, sicher zu sein, war mit dem Wasser verschwunden, die dunklen Flecken im Dickicht drohten, Düsteres zu beherbergen, dennoch trieb mich die Sehnsucht weiter in den Wald hinein.
Müde setzte ich mich an einen Baum, Tränen flossen einsam und kalt an meinen Wangen hinunter. Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich einsam. Wolken zogen über den Mond, der zwischen den Ästen versteckt blieb, so verflüchtigte sich das letzte bisschen Licht, die letzte Hoffnung. Die Sehnsucht hatte gewonnen, sie kontrollierte endgültig meinen Körper und meine Gedanken, denn ich hatte niemanden mehr, der sie abschwächte, sie den ganzen Tag eindämmte, damit die Welle mich nicht komplett überrollte. So traf mich der Schmerz, filterlos, er schien mich beinah innerlich zu zerreissen, als wollte er mich mitnehmen, fort von hier. Es war, als wäre ich nur eine Marionette dessen, was ich hätte sein können. Fern der Welt und der Realität. Ich wollte aufgeben, doch ich hätte nicht mal gewusst, wie und was ich aufgab.
Auch die nächsten Wochen erwachte ich viel früher als erwartet, spätestens um fünf war ich hellwach und zog mich in den Wald zurück, bevor meine Mutter aufstand und mich wieder auf dem Sofa vorfand. In der Schule und im Dorf hatten es alle schnell vergessen. Ich hatte erwartet, dass sie mich mit mitleidigenden Blicken ansahen, stattdessen wurde ich ignoriert und teils sogar übersehen. Die Schüler konzentrierten sich auf ihre Prüfungen oder ihre Partys. Sie taten so, als wäre nichts geschehen, als würde nichts fehlen. Meine Mutter und mein Vater gaben sich Mühe, mir Zeit zu geben, einfach da zu sein. Doch auch sie konnten nicht immer schweigen. «Lass ihn gehen», meine Mutter versuchte zu lächeln, aufmunternd und Mut machend. Erneut erklärte sie mir, dass die Verstorbenen nur dann gerufen würden, wenn sie bereit seien, dass wir sie gehen lassen müssten, damit wir sie nicht an die Welt fesselten. Dort, wo sie nun seien, würden sie ihren Frieden finden, glücklich sein, und immer, wenn wir sie brauchen, würden sie uns helfen und da sein, wir müssten sie nur um Hilfe bitten. Sie glaubte daran. So wie es Prem getan hatte. Ich konnte es nicht, obwohl ich nun flehte, dass etwas nach dem Tod kommen würde, damit irgendetwas von ihm noch irgendwo war. Doch die Biologie zeigte uns, dass es einen Zyklus gab und alles schliesslich vergänglich war, selbst die Welt starb und wurde eine neue. Wir könnten dies nicht aufhalten, so sehr die Forscher auch weiterarbeiten würden, den Verfall konnte niemand aufhalten. Vielleicht dachte ich zu rational, doch ich mochte es nicht, Wissen aus dem Himmel zu greifen. Vielleicht wäre es einfacher, wenn ich meiner Mam glauben könnte, dass er irgendwo noch war. «Prem würde nicht wünschen, dass du dein Leben so aufgibst.» Sie hatte recht, er würde es nicht wünschen. Doch wie konnte ich daran denken, während ihm nichts geblieben war, nicht mal seine Träume. Er hatte noch nicht mal wirklich gelebt. All das, was wir erlebt hatten, war zu wenig, um seiner würdig zu sein. Meine Mutter klang einfühlsam. «Er ist bei dir.» Doch ich glaubte ihr nicht, dass es mehr gab als dieses Leben, mehr als nur ein Leben und mehr als wir sahen.
Als das Gold der Sonne die Spitzen der Berge streichelte, lief ich schon durch die friedlichen Strassen des Morgengrauen. Die Wolken zogen sich zu einer grauen Masse zusammen und der Geruch in der Nase versprach Regen. Ich wollte zu ihm und vermisste seine Nähe, seine Wärme, sogar seine Stimme. Zeit heilte keine Wunden, nicht im Geringsten, man lernte höchstens, im Alltag so zu tun, als wären sie nicht wirklich da.
An seinem Grab kniete ich mich hin. Doch auch hier war er mir nicht näher, nicht spürbar. Der Schmerz war schwer und dunkel, und ich hatte ihn verdient. «Es tut mir leid», flüsterte ich und senkte meinen Kopf. «Das sollte es auch.» Die Stimme war pures Gift, ich fuhr herum. «Denn ohne dich wäre er noch hier!» Femi sah aus, als hätte sie noch weniger geschlafen als ich, ihre dunklen Ringe und leeren Augen erzählten von schlechten Träumen. «Hau ab von hier. Du hast weder das Recht, an seinem Grab zu stehen, noch in seiner Heimat zu wohnen», schrie sie, hasserfüllt. «Verschwinde!» Ich suchte ihre Augen, doch darin fand ich nichts, sie waren dunkel und verschlossen, sie erinnerten mich an Glasaugen von Puppen mit ihren erweiterten Pupillen, ihre starre Art. «Ich wollte das nicht», versuchte ich, nach Worten zu suchen, doch ich verlor jeglichen Halt, während sie weitersprach: «Verschwinde. Für immer.» Ich stand auf und rannte. So hatte sie noch nie mit mir geredet, selbst wenn sie mich noch nie gemocht hatte. Ihre Worte hallten in meinem Kopf: Du bist schuld. Verschwinde. Hau ab von hier. Du bist schuld. Ich fühlte mich, als wäre ich nur der Rauch von seinem Feuer gewesen und würde mich jetzt endgültig auflösen. Ich wollte bei ihm sein, ihn in den Arm nehmen und dann wissen, dass alles wieder gut werden wird. Doch sie hatte recht, er hatte mich zur Seite geschubst, um mich zu retten, sonst hätte das Auto mich getroffen. Das wäre der Plan gewesen, doch stattdessen blieb ich zurück. Ohne mich hätte er weiterhin lachen können und seine Ziele verfolgen. Wenn es wirklich so etwas wie Schicksal geben würde, hätte es seinen eigentlichen Plan verfolgt und der Tod hätte mich getroffen, nicht ihn.
Der Regen prasselte sanft auf meine Haut und sog sich in den Jackenschichten voll, noch bevor ich die Lichtung erreichte. Ich wollte nicht nach Hause, konnte es auch nicht. Man sah mir die Schuld an, und ich verdiente es. Durch den Wald zu laufen, erweckte die Sehnsucht, und sie war stärker. Stärker als die Trauer, stärker als die Schuld. Ich lehnte mich an eine grosse Tanne, bevor ich zusammenbrach, in der Hoffnung, sie könnte mich verstecken. Doch die Regsamkeit im Inneren blieb. Ich grub die Finger in die Erde, erlöste mich von jeder Begrenzung und liess dem Schmerz freien Lauf, als hätte ich es noch nie vorher gekonnt. Die Schreie entflohen meiner Kehle, stiegen empor, doch kein Ton folgte. Es war erlösend, der Schmerz bekam seinen Raum, doch die Schreie schallten stumm in die Nacht, auch wenn sie sich nicht so anfühlten. Zum ersten Mal erwachte eine Angst in mir: Was stimmte nicht mit mir? Mein Herz raste in den wirren Gedanken. Ich schnappte panisch nach Luft, während ich weinte. Die dunkle Wolke hielt mich in einem einsamen Käfig gefangen, Schwärze, Schmerz, mehr spürte ich nicht. Abgetrennt von der Welt, heimatlos. Es war befreiend, zu spüren, dass die Schmerzen nachliessen. Atmen, tief durchatmen. Hier fühlte ich mich ihm näher als am Grab. Erschöpft verlor ich wieder die Verbindung zur Welt und gab mich müde dem hin, was kam. Denn alles war so unwichtig und vergänglich.
Plötzlich wurde es um mich sanftmütiger, fast schon beunruhigend ruhig. Ich öffnete die Augen, Sterne und Mond leuchteten hell in die Nacht, boten sanftes Licht, es versprach, morgen zu werden, während die Nacht wachte. Wie aus dem Nichts stand ein Schatten vor mir, doch ich war zu müde, um mich zu erschrecken. Die rote Lederjacke hatte einen altmodischen Schnitt, wie aus den Siebzigern, mit Streifen auf den Ärmeln. Der Mann grinste, sein Mund war schief und er hatte eine Narbe an der Wange, wie gross konnte ich, im Schatten verborgen, nicht mehr erkennen. Ich war müde, sehr müde und starrte ihn deshalb nur an. Als würde sich die Zeit sprunghaft verhalten, so wurde aus diesem langsamen Moment plötzlich pure Hektik, alles bewegte sich wahnsinnig schnell. Der Mann streckte seine Finger nach mir aus, um mich am Hals zu packen, ich spürte seine kalten Hände nah an meiner Haut. Jetzt wurde die Zeit wieder normal, fast schon langsam. Der Angreifer griff sich panisch an den Hals. An seinen eigenen. Als würde jemand Unsichtbares ihn erwürgen. Er stolperte nach hinten, während er sich wehrte. Dann verschwand er blitzartig und tauchte am Ende der Lichtung auf, um wieder zu entschwinden. Erneut tauchte er vor mir auf, und immer noch kämpfte er gegen eine unsichtbare Hand, während die Zeit einzufrieren drohte, sie zerfiel in eine Art Zeitlupe. Genau in dieser Trägheit schoss etwas Silbriges an mir vorbei. Das Rauschen hatte es verraten. Ich hörte, wie der Mann zu Boden fiel, doch ich beobachtete nur den Wald hinter mir, suchte nach sich bewegenden Blättern oder offenen Türen. Nichts. Wie konnte ich wissen, dass es ein Traum war, wenn er doch so anders war als mir bekannt? Ich hörte würgende Geräusche, doch ich drehte mich nicht zu ihnen, als könnte ich nicht mal das selbst entscheiden. Jede dunkle Stelle wurde genau betrachtet, suchte nach Prem. Denn jemand verbarg sich im Schatten des Waldes. Und als seine Stimme erfroren und leblos aus dem Dickicht kam, spürte ich mein Herz rasen. «Verschwinde.» Seine Stimme war fremd. Nicht wie aus den Albträumen, die ich von ihm kannte. «Wach auf», flüsterte er, während der Ast neben ihm zerbarst.
Erschrocken wachte ich auf. Nach Atem ringend. Als wäre ich aus einer Starre erwacht, die ich nicht kontrollierte. Es war still, zu still, was mich beunruhigte. Kein Vogel oder sonst ein Tier hatte sich genähert oder war in der Ferne zu hören. Ich stand auf und lief los, bei jedem Geräusch schreckte ich auf. Ich rannte so schnell, wie ich bei diesem Licht konnte. Schlich mich durch das Dorf, als hätte ich etwas verbrochen. Und das Einzige, was ich ausgefressen hatte, war, einem Traum zu glauben. Doch er war so real gewesen und so anders, dennoch war es nur ein Traum gewesen.
Zu Hause war es dunkel und ich schlich durch die Räume, um mich vom Schlaf fernzuhalten, trotz meiner Müdigkeit und des Wissens, dass ich morgen wieder früh aufstehen und zur Schule gehen musste. Doch ich wollte nicht mehr träumen, nicht von ihm, denn die Träume drohten, mir den Verstand zu rauben. Irgendwann übermannte mich die Müdigkeit dann doch und ich gab mich ihr hin, legte mich im Wohnzimmer aufs Sofa, während ich den halb leeren Mond betrachtete, das einzige Licht, das mich erreichte. Ich hatte das Gefühl, etwas zu übersehen, mich zu verlaufen. Es fühlte sich an, als würde ich mich verzweifelt an einem Grashalm festhalten, während ich drohte, über die tiefen Klippen hinabzufallen. Denn ein Ende entpuppte sich nicht als Anfang, sonst wäre es kein Ende.
Bekannte Hitze, die drohend meine Haut erwärmte und mich von ihm abschirmte. Es roch nach geschmolzener Haut, Kohle und Feuer. Das Licht der Glut brannte in den Augen, rundherum war nichts als Schwärze, Dunkelheit. Mitten im Feuer stand Prem, bewegungslos. Dieses Mal sah er mich an, doch seine Augen waren schwarz und leer.