Spargelmord - Manfred Krämer - E-Book

Spargelmord E-Book

Manfred Krämer

4,9

Beschreibung

Beschmierte Wände, Brandstiftung und ein versuchter Mord! Wer will mit allen Mitteln verhindern, dass die Lampertheimer Landwirte die romantischen alten Spargelhäuschen abreißen? Solo und Tarzan, Krämers kultige Ermittler, geraten wieder einmal unfreiwillig zwischen die Fronten. Birgt eine der maroden Hütten ein grausiges Geheimnis? Tarzan steht kurz davor, dieses Rätsel zu lösen, da wird er plötzlich selbst zur Zielscheibe eines kaltblütigen Mörders. Ein rasantes Abenteuer rund um die Spargelstadt Lampertheim. Solo und Tarzan in absoluter Topform!

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Manfred H. KrämerSpargelmordEin Rhein-Neckar-Krimi

Gesamtherstellung:WAP Waldkirch Produktion GmbH, MannheimTitelidee: Manfred H. KrämerSatz & Gestaltung: Verena Kessel

ISBN Taschenbuch               978-3-927455-83-2

ISBN E-Book EPUB             978-3-86476-502-5

ISBN E-Book PDF                978-3-86476-503-2

Verlag Waldkirch KGSchützenstraße 1868259 MannheimTelefon 0621-79 70 65Fax 0621-79 50 25E-Mail: [email protected]

© Verlag Waldkirch Mannheim, 2012Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise,nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Verlags.

Manfred H. Krämer

Spargelmord

Ein Rhein-Neckar-Krimi

Verlag Waldkirch

Für Moni

Ohne Dich wär ich nicht ich.

Liebe Leserinnen und Leser,

aus Gründen des regionalen Bezugs und der Authentizität werden in diesem Roman viele gängige Lampertheimer Namen verwendet. Dies führt zwangsläufig zu Ähnlichkeiten oder gar Namensgleichheiten mit realen Personen. Seien sie jedoch versichert, dass fast alle Personen in diesem Roman rein fiktiv sind und auch keinerlei reale Vorbilder haben. Einige wenige gibt es allerdings wirklich. Diese wissen jedoch über ihren „Auftritt“ Bescheid und erteilten mir die Erlaubnis, sie literarisch zu verewigen. Darunter befindet sich der Autor selbst in einer Hitchcockschen Kleinstrolle. Viel Glück bei der Suche.

Die Geschichte selbst ist in allen Teilen frei erfunden. Die örtlichen Gegebenheiten wurden in manchen Szenen der Dramaturgie angepasst. Das Hausboot, auf dem Tarzan und Solo leben, gibt es längst nicht mehr, das beschriebene Großgewächshaus in den Böllenruthen steht in Wirklichkeit woanders.

Die Spargelstadt Lampertheim allerdings wurde weitgehend authentisch dargestellt, so dass sich auch Ortsfremde ein Bild von dieser schönen, lebens- und liebenswerten Stadt machen können.

 

Es liegt in der Natur von Kriminalromanen, dass recht oft Fachbegriffe aus der Kriminalistik, Dienstgradkürzel und Ermittlerslang verwendet werden. Zu Ihrem besseren Verständnis habe ich am Ende des Buches ein Glossar eingefügt, in dem diese Begriffe erklärt werden.

Ein kleines Lampertheimer Wörterbuch gibt darüber hinaus Einblick in den Dialekt der Südhessen.

Ich wünsche Ihnen spannende Unterhaltung.

Direkter Link zum Bilderbogenhttp://www.verlag-waldkirch.de/pics/Spargelmord1.pdf

Prolog

Der Mann stand am Waldrand, die Axt über der Schulter, den verschlissenen Rucksack schlaff auf dem Rücken und schaute hinab ins Tal. Sein kantiges Gesicht mit den buschigen Augenbrauen und dem dunklen Bartschatten hatte etwas Furchteinflößendes an sich. Die tief in den Höhlen liegenden stechenden Augen wanderten über die sanften bewaldeten Hügel zu dem mäandernden kleinen Fluss, der das Rad der Mühle trieb. In der regenschweren Abendluft sah das alte Fachwerkhaus mit seinen windschiefen Anbauten aus, als kauere es ängstlich in der Senke. Aus dem Schornstein stieg ein dünner Rauchfaden in den windstillen Himmel, aus den Fenstern drang warmer Lichtschein. Der Mann hatte heute länger gearbeitet als sonst. Hatte fast doppelt so viele Festmeter Fichtenholz geschlagen, wie an einem normalen Arbeitstag. Die Angst hatte ihn am heiligen Sonntag in den Wald getrieben. Dieselbe Angst, die ihn trotz der Kälte schwitzen ließ, als er wie gebannt auf sein Haus starrte.

Es war das Brüllen. Dieses grauenerregende heisere Brüllen wie von einem todkranken Stück Vieh, das sich in Krämpfen wand. Der Mann mit der Axt hatte gehofft, dass es vorbei wäre, wenn er nur lange genug fortblieb. Er hatte sich getäuscht. Ein Schauer lief über seinen Rücken, als sich die Haustür öffnete und eine gedrungene Gestalt eine Schüssel mit einer dampfenden Flüssigkeit ausschüttete.

Wieder das Brüllen. Dem Mann schien es, als wäre es im ganzen Tal, ja im ganzen Umland zu hören. Nichts Menschliches war an diesen Lauten, sie schienen direkt aus dem Schlund höllischer Kreaturen zu dringen, steigerten sich zu einem sägenden Kreischen und verstummten so plötzlich, dass dem Mann die Ohren klangen, ob der mit Wucht über ihn hereinbrechenden Stille.

Die Stille war ebenso unwirklich wie das ihr vorangegangene Gebrüll. Dann, nur wenige Augenblicke später, wurde sie verzaubert durch ein leises, auf die Entfernung kaum hörbares Weinen. Kein schmerzvolles, angestrengtes Wehklagen, eher ein erschöpftes, resigniertes Jammern, fein und zart und … unschuldig.

Der Mann nahm einen tiefen Atemzug, sein düsteres Wolfsgesicht glättete sich um eine Nuance und in seinen Augen schimmerte ein schwacher Abglanz von Zärtlichkeit.

Es war vorbei. Vorbei, und gleichzeitig begann etwas Neues, Wunderbares. Er hatte gewusst, dass es die Mutter nicht überleben würde. Hatte es schon gewusst, bevor die alte Amme die hochschwangere Frau untersuchte und ihn kopfschüttelnd aus ihren wässrigen Augen ansah.

Adam Schwarz lauschte noch einen Moment dem nun leiser werdenden Weinen des Säuglings, packte die schwere Axt fester und hinkte mit müdem aber festem Schritt nach Hause.

Katharina Schmidt, die sie überall nur die „Lumbekaddel“ nannten und der Mutter Natur zum höhnischen Ausgleich für ihr geschädigtes Gehirn gewaltige Brüste und einen unersättlichen Trieb beschert hatte, hatte der im Krieg zerrissenen Welt eine stramme Tochter geschenkt. Der herbeigerufene alte Doktor hatte das Neugeborene untersucht und behauptet, im letzten Jahr nicht ein einziges Baby gesehen zu haben, das so rundherum gesund und drall und rosig war wie dieses. Es schien, als strecke die Lumbekaddel ihrer Nachwelt damit die Zunge heraus.

Sie würden ein Kind haben. Frieda und er. Es war ein milder, verregneter Winter im Jahre 1943/44. Ringsumher tobte die Weltenschlacht, die den Müllermeister verpönt hatte, wegen seines Klumpfußes und des fast blinden rechten Auges.

Oben auf den Sommerweiden hatte eine Lancaster nach einem Flaktreffer ihre Bombenlast anstatt auf Mannheim auf die sumpfigen Wiesen abgeworfen. Das war alles, was der Krieg für das abgelegene Odenwaldtal übriggehabt hatte. Zum Glück für Frieda und Adam Schwarz und die winzige rosige Katharina. So sollte sie heißen. Katharina, nach ihrer Mutter, die der völlig aufgelöste Hans-Adolf hierhergebracht hatte, vor vier Tagen.

Ja nichts dürfe herauskommen! Hatte er Adam und Frieda beschworen, Er wäre erledigt, könne sich gleich aufhängen, sein Ansehen! Sein Leben! Seine Familie! Um Gottes Willen, seine Familie! Er würde für alles aufkommen, für alle sorgen, es sollte ihr Schaden nicht sein, aber kein Wort! Zu keinem lebenden Wesen auch nur ein einziges Wort!

1964

Sie war noch immer schön. Auch jetzt noch, verrenkt und nackt auf dem festgestampften Sandboden des Spargelhäuschens. Ihre sonnengebräunten Beine, der sanft gerundete Leib, die schweren Brüste, fast weiß im Kontrast zu Armen, Gesicht und Hals. Das von der Sonne gebleichte Haar …

Die geschlossenen Holzläden des winzigen Häuschens ließen nur ein paar wenige Sonnenstrahlen durch. Wie die Bahnen von Filmprojektoren schnitten sie durch den kleinen, quadratischen Raum. Staubpartikel tanzten darin, die stickige Luft roch nach Spargel, alten Kartoffelsäcken … und Blut.

Sein Herz schlug bis hinauf in seinen dröhnenden Kopf. In den Ohren rauschte es. Ihr Haar … lang, blond und fransig. Er hatte es schon so oft bewundert, wie es im Sommerwind fröhlich flatterte, wie sie Strähnen davon lächelnd aus ihrem Gesicht wischte. Ihr Lächeln … oft hatte sie es ihm geschenkt. Mal freundlich, manchmal frech, dann wieder auffordernd neckend. So wie heute.

Alle waren schon am frühen Morgen mit ihren Fahrrädern hinaus zum Klippelacker gekommen. Dort wartete schon ein rostiger VW-Pritschenwagen. Der alte Klippel stand daneben, die unvermeidliche Zigarre im Mund. Körbe wurden ausgegeben, die Stecheisen und die Kellen verteilt. Der Korb mit der Vesper und den Getränken wurde im Spargelhäuschen abgestellt. Dort befand sich auch ein großer steinerner Wassertrog samt Handpumpe. Hier würden später die Frauen den Spargel putzen, sortieren und sorgfältig in den großen braunen Weidenkörben ablegen.

Sie waren fast durch, als sie ihm gegenüber am letzten Spargelbalken ankam. Tief bücken musste sich, wer Spargel stechen wollte. Er hatte es immer genossen, dabei den Frauen in den Ausschnitt zu schauen. Viel welkes Fleisch gab es da zu sehen, Altersflecken und Hälse wie von hundertjährigen Schildkröten. Aber auch die appetitlich gerundeten Äpfelchen der Schulmädchen. Am besten gefielen ihm jedoch große, vollentwickelte Brüste. Wie diese hier…

Die Frauen waren längst fort, der VW-Bus des alten Klippel schon vor Stunden schwerbeladen in Richtung Spargelhalle gerumpelt.

Sie war noch immer schön. Bis auf den Kopf. Die rechte Seite war eingedrückt wie ein schlecht aufgeschlagenes Frühstücksei. Da, wo die stumpfe Seite der mächtigen Spaltaxt sie getroffen hatte. Blut verklebte das helle Haar und versickerte im Sandboden.

Ein Schluchzen stieg in ihm auf. Warum hatte sie das getan? Warum hatte sie gelacht? Warum hatte sie ihn dazu gebracht, rasend vor Wut und Scham zu der Axt zu greifen, die staubbedeckt vermutlich schon seit Jahren an der Wand lehnte? Das Dreckstück! Recht geschah ihr! Es hätte so schön werden können. Sie hatte kokett ihren Ausschnitt gelüftet, da draußen auf dem Spargelacker. Hatte ihm immer wieder aufmunternde Blicke gesandt. Bei der Vesper, der Mittagspause, jedes Mal, wenn sie während der Ernte Blickkontakt hatten. Heute würde es geschehen. Er wusste es, konnte seine Erregung nur schwer verbergen. Heute würden sich seine Träume erfüllen. Heute würde er wissen, wie sich weibliche Brüste wirklich anfühlten, ob ihr Haar dort unten auch so blond war, wie das auf ihrem Kopf, wie sie schmeckte, wie sie roch …

Jetzt war sie tot. Er hatte sie umgebracht. Ihr Lachen ausgelöscht. Das Lachen, das ihm immer so gefallen hatte. Hell, fröhlich, laut. Das Lachen, das hier im dämmerigen Geviert des Spargelhäuschens so ganz anders war. So voller Hohn und Spott. Gehässig. Gemein.

Sie war tot. Sie war selbst schuld. Er kam langsam wieder zu sich. Seine Gedanken fuhren Achterbahn in seinem Kopf. Sie musste weg. Die Sonne würde bald untergehen, dann würde er wiederkommen. Er musterte den mächtigen Steintrog mit der Pumpe. Es würde harte Arbeit werden. Eine Lampe durfte er nicht vergessen. Sie musste weg. Spurlos. Schwitzend und schnaufend schob er ihre Leiche in eine Ecke und bedeckte sie notdürftig mit ein paar alten Jutesäcken. Dann öffnete er vorsichtig die Tür. Weit weg tuckerte ein kleiner Schlepper mit zwei Anhängern in Richtung Stadt. In der Ferne zog eine schwarze Dampflok mit rhythmischem Stampfen einen Güterzug. Vögel zwitscherten. Der Abend sank auf die Spargeläcker Lampertheims. Ricky schloss sorgfältig die Tür und schwang sich auf sein altes Miele-Rad. Mit knarrender Kette und klapperndem Schutzblech strebte er der Silhouette der nahen Stadt zu. In einer halben Stunde gab es Essen. Der Vater schätzte es gar nicht, wenn er nicht pünktlich erschien. Vor zwei Tagen war Ricky 16 Jahre alt geworden.

 

2010

Das modrig riechende, brackige Wasser war fast ganz von einem grünen Algenteppich bedeckt. Libellen schwirrten darüber und Wasservögel dümpelten träge in der Morgensonne. Tarzan beschattete seine Augen mit der linken Hand und musterte die undurchdringlich grüne Wand des gegenüberliegenden Ufers. Ein Raubvogel schrie hoch am Himmel und in der Ferne hörte man dumpfes Trommeln.

Tarzan erschlug eine Stechmücke, die auf seinem Unterarm gelandet war, schloss das Toilettenfenster des Hausbootes und schlurfte gähnend in die geräumige Wohnküche. Das dumpfe Wummern kündigte Solos Ankunft an, die wie immer die Musikanlage ihres 68er Firebird voll aufgedreht hatte wie ein spätpubertärer Golf-Fahrer. Solo war heute mit Brötchen holen dran, so dass sich Tarzan, der mit richtigem Namen Lothar Zahn hieß, in Unterhosen an den Frühstückstisch setzen konnte, den er bereits am Vorabend eingedeckt hatte. Lediglich Marmelade, Butter und seine geliebte Nuss-Nougat-Creme hatte er noch ergänzt. Auf der Anrichte dampfte der Eierkocher vor sich hin und die Kaffeemaschine rülpste verhalten in ihrer Ecke.

„Fauler Stinker, bist ja noch nicht mal angezogen“, frotzelte die hoch aufgeschossene Rothaarige, stellte eine riesige Papiertüte auf den Tisch, legte die Tageszeitung daneben und warf ihre Armeejacke auf die durchgesessene Couch im angrenzenden Wohnbereich. Solo hieß eigentlich Bertha Solomon und zog die kupierte Version ihres Familiennamens dem ihrer Meinung nach prähistorischen Vornamen vor.

„Gefallen dir meine Unterhosen nicht?“ entgegnete Tarzan und neigte den Kopf, um ihren flüchtigen Kuss zu erwidern.

„Ich liebe Homer Simpson im Engelskostüm, aber ich hasse Körperbehaarung in der Butter.“

„Und ich überquellende Aschenbecher am Frühstückstisch.“ Als Antwort blies sie ihm den Rauch der soeben angezündeten Zigarette ins Gesicht.

„Hättest dir eben eine gesucht, die nicht raucht, Meckerkopp.“

„Ich hab‘ dich auch lieb.“

„Ich mich auch.“

Sie grinsten sich an. Solo und Tarzan waren seit vielen Jahren ein Paar. Fast genauso lange lebten sie auf dem zum Hausboot umgebauten ehemaligen Fahrgastschiff „Lady Jane“, welches im Lampertheimer Altrhein seinen letzten Liegeplatz gefunden hatte. Sie waren die einzigen Gesellschafter der AAHAUS-Security GmbH, die aus der ehemaligen SECURITRUCK hervorgegangen war, ihrer ersten, noch ziemlich naiv gegründeten Sicherheits- und Überwachungsfirma. Der Name AAHAUS hatte nichts mit irgendwelchen real existierenden Städten zu tun, er diente lediglich dazu, dass in Verzeichnissen wie Telefonbüchern und Suchergebnissen im Internet ihr Firmenname ziemlich oben auf den Listen erschien. Das Unternehmen bot seinen Klienten umfassende Sicherheitschecks sowie Ermittlungen in offener, aber auch verdeckter Form an. Die Erstellung von Dossiers über Bewerber gehörte ebenso dazu wie das Ausspähen undichter Stellen oder das Verfolgen von Warenströmen im Großlagerbereich. Vieles erledigte Solo von ihrem heimischen Computer aus, einem hochgerüsteten und mit modernsten Systemen abgesicherten Rechner, der nach ihren eigenen Plänen von einer nur Eingeweihten bekannten, halblegalen Computerschmiede in der Schweiz zusammengenagelt worden war.

Die AAHAUS-Security ermittelte, dank der langjährigen Erfahrung von Solo und Tarzan als Disponentin und LKW-Fahrer, hauptsächlich in der Logistik- und Transportbranche. Ihr derzeitiger Auftraggeber trug den wohlklingenden Namen Karl-Wilhelm Seelinger II., war Diplom-Landwirt und Chef des größten einheimischen Agrarbetriebes mit über 40 festen Mitarbeitern und je nach Saison bis zu 200 Erntehelfern. Die Firma Seelinger-Agrar GmbH vertrieb Obst und Gemüse in großem Stil europaweit, setzte zwei moderne Kühlzüge ein und besaß außerhalb von Lampertheim mehrere Sortier- und Lagerhallen. In den letzten Wochen verzeichneten die Bücher einen stetigen Schwund von hochwertigem Gemüse, vorzugsweise Spargel, dessen Saison gerade begonnen hatte. Tarzan und Solo hatten sich als Arbeiterin, bzw. Maschinenführer und Fahrer einstellen lassen und hatten so Einblick in fast alle Bereiche, von der Ernte über die Verarbeitung bis zum Versand.

„Machst‘n du heute?“ nuschelte Solo mit vollem Mund, während sie versuchte, die Zeitung auf dem vollgeräumten Frühstückstisch auszubreiten.

„Bauschutt abfahren“, antwortete Tarzan und leckte genüsslich sein Nougat-Creme-Messer ab. „Dimitrij hat vergangene Nacht ein Spargelhäusel plattgemacht. Charly braucht ihn aber heute Morgen in der Werkstatt. Ich lad‘ das Gerümpel auf ne Rolle und fahr es auf die Deponie.“

„Heute Nacht, ja?“ Solos Stimme hatte einen aggressiven Unterton angenommen. „Damit es keiner mitkriegt. Was bringen dem Seelinger die lächerlichen 20 oder 30 Quadratmeter Fläche? Die Spargelhäuschen sind doch Zeugnisse vergangener Kultur, die muss man doch nicht plattmachen, wie du das nennst!“

„Vergangen, meine Liebe, vergangen, wie du selbst bemerkt hast. Wir haben 2010. Die Bruchbuden sind sowieso schon halb verfallen, Jugendliche treffen sich dort zum Koma saufen, die Wände werden besprüht, Penner übernachten darin. Tolle Kultur.“

„Banause.“

„Bist du sauer?“

„Ich bin überhaupt nicht sauer! Ich finde es nur Schade um die romantischen kleinen Häuschen, das ist alles.“

Tarzan legte sein angebissenes Brötchen zurück auf den Teller und schaute Solo ungläubig an. „Du findest die romantisch? Ausgerechnet du? Du bist doch sonst so romantisch veranlagt wie ein Schlachthofarbeiter. Was gehen uns die alten Schuppen an? Was soll ich machen? Aus Gewissensgründen verweigern? Seelinger bezahlt uns, und das nicht schlecht. Der hat dieses Brötchen hier bezahlt!“ Tarzan balancierte eine frisch bestrichene Brötchenhälfte auf vier Fingern, als handele es sich um ein Kunstobjekt.

„Pass bloß auf, das gibt eine Riesen …“ -sauerei, wollte sie vollenden, doch da war es bereits zu spät. Das Brötchen landete physikalisch korrekt mit der Nugat-Creme-Seite nach unten mitten auf dem lächelnden Gesicht des scheidenden hessischen Ministerpräsidenten. Glücklicherweise grinste Herr Koch von Seite drei der Tageszeitung, und so musste Lothar Zahn sich wegen seiner Ungeschicktheit nur vor seiner Lebensabschnittsgefährtin verantworten. Die Strafe folgte auf dem Fuß in Form eines Verweises vom Tisch und der Anweisung, Brötchen samt Zeitung umgehend zu entsorgen. Tarzan tat, wie ihm geheißen, entsorgte das Brötchen in seinem Mund und den Ministerpräsidenten im Mülleimer und verschwand im Bad, froh darüber, dass das Gericht am unteren Rand des Strafmaßes geblieben war.

Eine halbe Stunde später saßen beide friedlich vereint in Solos 68er Firebird und fuhren die kurze Strecke zu einer Tiefgarage im Bachfeld. Dort hatten sie zwei Stellplätze gemietet. Solo wartete, bis Tarzan einen älteren VW-Bus ausgeparkt hatte und fädelte dann das liebevoll restaurierte Cabrio zentimetergenau in die Lücke. Den zweiten Parkplatz beanspruchte ein schwarzer VW-Touran mit Tönungsfolie auf den hinteren Scheiben. Ihre Dienstfahrzeuge. Sowohl der VW-Bus, als auch der Touran waren mit modernster Überwachungstechnik ausgestattet, die Motoren top-gepflegt und nur das Äußere absichtlich etwas angegammelt. Gerade der VW-Bus wirkte wie das Gefährt eines schlampigen Maurermeisters, samt zerknüllter BILD-Zeitung, Fast-Food-Verpackungen und Bierdosen hinter der Frontscheibe.

Tarzan steuerte den Bulli durch die Römerstraße und die Neuschloßstraße in Richtung Osten, bog am Hundeplatz rechts ab und erreichte wenig später über eine schmale Anliegerstraße den Gebäudekomplex der Seelinger-Agrar GmbH. Er stellte das Auto auf den Parkplatz vor der Fahrzeughalle, schnappte sich seine kleine Kühltasche und winkte Solo fröhlich zu, als diese in Richtung Verpackungshalle ging. Kopfschüttelnd blieb sie stehen, als sie sah, wie Tarzan einen Mann im Arbeitsanzug mit Handschlag begrüßte, der gerade von einem riesigen Schlepper kletterte. Solo erkannte die hochgewachsene, schlanke Gestalt von Karl-Wilhelm Seelinger II. Hoppla, dachte sie, der Boss persönlich. Dann wurde ihr plötzlich klar, warum Tarzan heute Morgen so fröhlich war und er es gar nicht abwarten konnte zur „Arbeit“ zu kommen: Das gelbgrüne Monstrum hatte die Ausmaße eines Bergepanzers und zweifellos auch dessen Motorstärke. Damit durch Feld und Flur zu preschen war etwas, wofür Tarzan wahrscheinlich sogar fünf Jahre seines Lebens gegeben hätte. Gelächter drang zu ihr herüber und sie sah, wie Seelinger Tarzan auf die Schulter schlug, bevor dieser die Stufen zur Führerkabine erklomm. Männer, dachte sie, und setzte ihren Weg fort.

Tarzan war im Himmel. Der Himmel bestand zum größten Teil aus grauem Kunststoff, einem luftgefederten Sitz mit schätzungsweise 700 Funktionen, zwei Monitoren und einem Cockpit, das auch in einer Oberklasselimousine niemanden erstaunt hätte.

Unter der langen grünen Schnauze des John-Deere 7930 werkelten 245 PS, die ein maximales Drehmoment von fast 1000nm an die über zwei Meter hohen Hinterräder brachten. Seelinger hätte damit wahrscheinlich sogar den ICE abschleppen können, der vor einer Woche auf der nur wenige hundert Meter entfernten Bahnstrecke liegengeblieben war.

Tarzan thronte auf seinem Kommandosessel wie ein Captain Kirk mit Schiebermütze und spielte mit dem Joystick, mit dem die angebaute Frontladereinheit bedient wurde. Die große Schaufel hob und senkte sich gehorsam und Seelinger, der neben ihm in der geräumigen Kabine stand, erklärte ihm die wichtigsten Funktionen.

Tarzan kapierte schnell, war er doch viele Jahre als LKW-Fahrer tätig gewesen. Er hatte nicht schlecht gestaunt, als er vor einer Woche zum ersten Mal einen modernen Schlepper fahren durfte. Das hatte was, stellte er begeistert fest und revidierte im Stillen seine Vorurteile gegen die Landwirtschaft treibende Zunft im Allgemeinen und Treckerfahrer im Besonderen. Gemeinsam mit seinem Auftraggeber koppelte er eine zweiachsige Rolle an. Froh, endlich alleiniger Herrscher über das Gespann zu sein, steuerte Tarzan das gelbgrüne Kraftpaket vom Hof. Zunächst über den asphaltierten Wirtschaftsweg, dann über Feldwege rumpelte er, eine Staubwolke hinter sich herziehend, zu seinem Ziel, einem traurigen Steinhaufen, aus dem noch die morschen Dachbalken ragten.

Als Lampertheimer, der in seiner Jugend noch mit Freunden durch Wald und Feld gestromert war, hatte er natürlich auch das Verschwinden der kleinen Häuser bemerkt. Vor Jahrzehnten, als die Spargeläcker noch fast 90 Prozent der Anbaufläche in der Gemarkung Lampertheim ausgemacht hatten, besaß fast jeder Bauer mindestens einen kleinen Acker, der manchmal nur vier oder fünf der typischen „Balken“ aufwies, in denen das Stangengemüse in Richtung Sonne strebte. Die Spargelhäuschen, je nach Geschmack und Geldbeutel einfachste Hohlblockgevierte mit Pultdach und winzigem Fenster oder richtige kleine Schmuckstücke mit Giebeldach, überdachter Veranda und Klappläden, standen damals zuhauf auf den Feldern der topfebenen Landschaft, im Osten begrenzt durch einen ausgedehnten Kiefern- und Mischwald, über den die Berge des nahen Odenwaldes ragten. Wegen des speziellen Sandbodens, den der Rhein in den Jahrtausenden seiner mäandernden Geschichte hier abgeladen hatte, gedeihen die Spargel in der Oberrheinebene hervorragend. Sogar an Bord des Luftschiffes Hindenburg wurde das schmackhafte Lampertheimer Gemüse serviert.

Im Zuge der modernen Landwirtschaft waren die mittlerweile halb verfallenen Bauwerke den Agrarökonomen meist ein Dorn im Auge und wurden deshalb kurzerhand abgerissen. Zudem hatte der Spargelanbau nicht mehr den Stellenwert vergangener Jahrzehnte. Auf den Feldern der südhessischen Stadt wurden auch Mais, Raps, Erdbeeren und der beliebte Fertigrasen kultiviert. Erst als vor etwas über einem Jahr der populäre Lampertheimer Tierarzt, Stadtverordneter und Heimatforscher Dr. Hans Raunheimer die übriggebliebenen Hütten dokumentiert hatte, Vorträge darüber hielt und die Bürgerinitiative Rettet die Spargelhäuschen gegründet hatte, rückten die Bauwerke in den Blickpunkt der Öffentlichkeit. Raunheimer, der mit dem Geld seiner verstorbenen Frau ein Spargelmuseum im Bereich der Lampertheimer Heide plante, machte sich stark für die seiner Meinung nach unersetzlichen Zeitzeugen und erreichte, dass Bürgermeister Erich Maier das ungenehmigte Abreißen verbot. Seitdem fielen viele Häuschen aus unerklärlichen Gründen nachts von „alleine“ in sich zusammen, wurden angeblich von jugendlichen Vandalen mutwillig zerstört oder wurden Opfer ungeschickter Mähdrescher- oder Schlepperfahrer. Sorry, schade drum, aber nicht zu ändern, zuckten die betroffenen Landwirte mit den Schultern.

Tarzan waren die kleinen Häuschen wurscht. Er verstand die ganze Aufregung darüber nicht und Dr. Raunheimer war für ihn nur ein Wichtigtuer, der unbedingt eines Tages eine Straße nach sich benannt haben wollte: Hans-Raunheimer-Allee, Heimatforscher und Retter der Spargelhäuschen. Ha, ha, ha. Tarzan grinste bei der Vorstellung, dass einmal seine nicht vorhandenen Enkel durch eine nach ihm benannte Straße toben würden. Lothar-Zahn-Weg, Privatschnüffler und Hausbootbewohner.

Er rangierte die Rolle an den Rand des Feldes, koppelte sie ab und sicherte sie durch Keile vor dem Wegrollen. Dann maß er die Trümmer mit kritischem Blick, umrundete sie mit pfeifendem Turbolader und hoch erhobener Schaufel wie ein Torero einen tödlich verletzten Stier und legte schließlich einen der unteren Gänge ein. Die Schaufel schrappte tiefe Furchen in den Sand und grub sich knirschend in die mörtelverklebten Backsteine. Polternd und Staub aufwirbelnd krachte die Ladung auf die Ladefläche der Rolle. Dimitrij hatte in der Nacht ganze Arbeit geleistet. Die grauen Holzbalken der Dachkonstruktion zerbröselten unter der massiven Schaufel, als seien sie aus Pappmaché. Die eiserne Handpumpe war schon vor Jahren ausgebaut worden, lediglich der betonierte Steintrog, in dem die Spargel früher gewaschen wurden, hatte die Abbruchaktion fast unversehrt überstanden. Ihn lud Tarzan nahezu komplett auf den Wagen.

Ein paar alte Stiefel ragten aus dem Wirrwarr aus Steinen, Holz und Dachziegeln hervor. Richtige Knobelbecher, wie sie Tarzans Großvater noch im Keller gehabt hatte, als sie das kleine Haus in der Ersten Neugasse damals, nach seinem Tod, ausgeräumt hatten.

Tarzan nahm seine Kühltasche, kletterte aus der Kabine und setzte sich auf einen der alten Balken. Zeit, eine zünftige Vesper zu halten. Er schob sich seine speckige Schiebermütze ins Genick, holte eine Plastikdose mit Kartoffelsalat und einem kalten Schnitzel aus der Kunststoffbox und betrachtete die Stiefel. Ärgerlich verscheuchte er eine dicke Schmeißfliege, deren sensibles Ortungssystem das Schnitzel sofort registriert hatte. Die ramponierten Stiefel sahen aus, als hätten sie den Zweiten Weltkrieg noch erlebt. Schön ordentlich nebeneinander schauten sie aus dem Schutt, gerade so, als hätte sie noch jemand an.

Tarzan biss in sein Schnitzel, jagte Bruder und Schwester der Schmeißfliege ebenso davon und häufte sich Kartoffelsalat auf die Gabel. Eines der wenigen Gerichte aus Solos Küche, die wirklich genießbar waren. Was wohl daran lag, dass es ein Rezept ihrer Oma war. Er registrierte immer mehr nerviges Gesumm. Argwöhnisch musterte er sein zweites Frühstück. Zwei Tage im Kühlschrank? Kein Alter für diese Art von Zugemies1. In etwa zwei Metern Entfernung tanzte ein ganzer Schwarm der schillernden fetten Fliegen. Einige krabbelten emsig unter die kreuz und quer liegenden Backsteine. Tarzan stand auf. Das war ja eklig. Wäre er besser in der klimatisierten Fahrerkanzel des John-Deere geblieben.

Er konnte später nicht mehr sagen, was ihn dazu bewogen hatte, einem der Stiefel einen Tritt zu versetzen. Der Knobelbecher rutschte auf die Seite und gab den Blick frei auf ein blaues Hosenbein.

Die Gabel fiel in den Sand, die Kunststoffbox landete gleich daneben. Wie hypnotisiert starrte Tarzan auf den schmutzigen, zerrissenen Denimstoff. Unmittelbar über dem Schaft des Stiefels schimmerte weiße, behaarte Haut. Tarzan schluckte schwer, rannte zurück zum Schlepper und holte seine Arbeitshandschuhe. Unter dem wütenden Brummen der Fliegen räumte er mit den Händen einzelne Steinbrocken beiseite, wuchtete Balken hoch und legte schließlich den Unterkörper eines Menschen frei. Das rechte Bein schien ziemlich unversehrt, das linke war völlig zerschmettert, der Stoff der Hose schwarz von getrocknetem Blut. Mechanisch zog Tarzan einen der Handschuhe aus und betastete den rechten Unterschenkel. Kalt - ohne jedes Leben. Jetzt konnte er auch den süßlichen Geruch einordnen, den er die ganze Zeit dem in der Nähe befindlichen riesigen Komposthaufen zugerechnet hatte. Sein Magen hob sich, rasch richtete er sich auf, wankte zum Schlepper und trank einige große Schlucke Wasser. Dann klappte er sein Handy auf. Mit zitternden Fingern wählte er die Notrufnummer der Polizei. Nach drei Anläufen war es ihm endlich gelungen, seinen Standort an den diensthabenden Beamten weiterzugeben. Der Mann wollte noch Tarzans Namen und Adresse wissen und versprach, eine Streife vorbeizuschicken. Schwer atmend setzte Tarzan sich in den Schatten eines der großen Hinterräder und vermied es, zu dem Trümmerhaufen hinzusehen. Wieder aktivierte er sein Handy, tippte eine Kurzwahlnummer und musste nicht lange warten, bis die Verbindung zustande kam.

„Lass mich raten, du hast Seelingers nagelneues Spielzeug umgeworfen.“ Solos fröhlicher Sarkasmus verging augenblicklich, als sie Tarzans Stimme hörte. Er erklärte ihr aufgeregt, was er unter den Trümmern gefunden hatte.

„Bleib, wo du bist, ich informiere Seelinger. Wir kommen raus zu dir. Fass nichts an!“ Die letzte Bemerkung fand Tarzan ganz schön blöd, er wusste aus eigener leidvoller Erfahrung, wie man sich an einem Leichenfundort verhielt. Aber er war froh, dass seine Gefährtin unterwegs hierher war. Seine Kehle war ausgedörrt. Er griff nach der Wasserflasche und nahm erneut einen tiefen Zug.

Wenige Minuten später hörte er aus Richtung Ostumgehung das Geräusch von Martinshörnern. Ächzend erhob er sich, beschattete seine Augen mit einer Hand und beobachtete den Fahrzeugkonvoi, der eine mächtige Staubwolke hinter sich her zog. Ein Streifenwagen, ein Zivilfahrzeug und ein Notarztwagen, gefolgt von einem Rettungswagen hielten in gebührendem Abstand vom ehemaligen Spargelhäuschen. Tarzan ging den Leuten entgegen, wurde von den uniformierten Beamten zu dem dunklen Audi geführt, aus dem eine blonde Frau in den Fünfzigern und ein gut gekleideter, etwas affektiert wirkender Mann in Anzug und Krawatte gestiegen waren.

„Hauptkommissarin Martens, Kripo Heppenheim“, stellte sich die Frau vor, „das ist mein Kollege Oberkommissar Antwerpes. Wir waren bei einer Besprechung in der Lampertheimer Polizeistation, deswegen sind wir gleich mit rausgekommen. Sie haben einen Leichenfund gemeldet?“

„Ja, äh, Entschuldigung, Tarzan mein Name, ich meine Zahn, Lothar Zahn“, stammelte Tarzan und reichte beiden die Hand.

„Ihnen gehört dieses Feld?“ Die Kommissarin machte eine umfassende Handbewegung. Die beiden Schutzpolizisten, ebenfalls ein Mann und eine Frau, umrundeten vorsichtig und mit großem Abstand den Fundort und machten sich Notizen.

„Nein, ich fahre nur den Schlepper, ich sollte den Bauschutt aufladen und zur Deponie bringen. Das Feld gehört Karl-Wilhelm Seelinger II.“

Die Beamtin schenkte ihm einen verwunderten Blick. „Sie sehen nicht aus wie ein Erntehelfer. Arbeiten sie für Herrn Seelinger?“

„Ja“, entgegnete Tarzan einsilbig. Er verspürte nicht das geringste Bedürfnis, der Kommissarin gegenüber jetzt schon Einzelheiten über seinen Auftrag preiszugeben.

„Warum haben Sie das Gebäude abgerissen?“ Der Begleiter der Kommissarin sagte zum ersten Mal etwas. Seine Stimme passte zu seiner Erscheinung. Arrogant, gestochenes Hochdeutsch. Die hochgezogenen Augenbrauen und der herablassende Blick ließen ihn augenblicklich in die von Tarzan bereits aufgezogene Schublade plumpsen: Diplom-Idiot.

„Ich habe es nicht abgerissen. Ich sollte nur den Schutt abtransportieren“, erwiderte Tarzan und versuchte erst gar nicht, seine Gereiztheit zu verbergen.

Die Kommissarin hatte sich dünne Handschuhe übergezogen und inspizierte das, was von der Leiche zu sehen war.

„Ruf in Heppenheim an, Marc, ich brauche die Spusi!“, rief sie ihrem Kollegen zu. Der zückte ein Designerhandy und wandte sich von Tarzan ab, der froh war, nicht noch mehr Fragen beantworten zu müssen.

Ein Landrover Defender kam aus Richtung Bürstadt und hielt unmittelbar vor dem Streifenwagen. Bevor das Fahrzeug richtig stand, öffnete sich die Beifahrertür und Solo sprang heraus. Sie lief gleich zu Tarzan und nahm ihn in den Arm. Seelinger zog die Handbremse an und stieg ebenfalls aus. Er trug eine Lederweste zum kurzärmeligen Karohemd, einen speckigen Hut und sah aus wie Indiana Jones´ jüngerer Bruder. Er stellte sich den Polizisten vor und wurde von der Kommissarin höflich aber bestimmt von den Überresten des Spargelhauses weggezogen.

Eine halbe Stunde später traf ein Team mit Kriminaltechnikern aus der Kreisstadt ein. Mittlerweile hatte sich auch eine kleine Schar aus Spaziergängern, viele mit Hunden, einigen Joggern und drei älteren Fahrradfahrern in beigen „Rentnerjacken“ eingefunden. Die Gaffer drängten sich hinter den hastig gespannten Flatterbändern und stellten die gewagtesten Theorien auf. Ein eifrig knipsender Fotograf wurde von den Schutzpolizisten verwarnt, als er trotz Aufforderung die Absperrung missachtete. Die Lokalpresse hatte naturgemäß rasch Wind von dem makabren Fund bekommen. Eine blasse Volontärin sprach kurz mit dem Oberkommissar und kritzelte eifrig auf ihren Block. Als die Nacht hereinbrach, tauchte ein mobiler Lichtmast des THW den Ort in weißes Halogenlicht, während die Spurensicherer vorsichtig Krümel für Krümel den Toten freilegten. Mittlerweile waren sämtliche Zufahrten gesperrt worden. Der Leichenwagen eines örtlichen Bestattungsunternehmens stand etwas abseits. Die Bestatter lehnten rauchend an der Motorhaube.

Tarzan war mit Hauptkommissarin Martens zur Lampertheimer Polizeistation in der Florianstraße gefahren, wo er seine Aussage zu Protokoll gab, während der Kollege Antwerpes vor Ort die Ermittlungen leitete.

Der Tote war männlich, 1,78 groß, kräftig gebaut, zwischen 50 und 60 Jahre alt und hatte schütteres halblanges rotes Haar. Der Notarzt vor Ort attestierte Tod durch Einwirkung stumpfer Gewalt in Brust- und Schädelbereich. Die Art der Verletzungen sowie die Lage des Toten legten den Schluss nahe, dass der Mann während des Schlafes vom Einsturz des Gebäudes überrascht wurde. Der allgemeine Zustand, die Bekleidung und die bei der Leiche gefundenen Gegenstände deuteten auf eine Zugehörigkeit zur Obdachlosenszene hin. Der Tote trug keinerlei Papiere bei sich. In den Taschen fanden sich zwei Euro und fünfunddreißig Cent, drei kleine Flaschen eines billigen Kräuterschnapses, wie ihn ein bekannter Discounter im Sortiment hatte, ein beschädigtes Schweizer Offiziersmesser und eine Packung Zigaretten, ebenfalls eine Discountmarke.

Der Eigentümer des Feldes, Karl-Wilhelm Seelinger II., räumte bei seiner Befragung ein, einem seiner Arbeiter den Auftrag erteilt zu haben, das Spargelhäuschen in der Nacht einzureißen. Die Staatsanwaltschaft Darmstadt erhob Anklage wegen fahrlässiger Tötung gegen den ukrainischen Staatsangehörigen Dimitrij Jegorow, weil dieser es versäumt hatte, sich davon zu überzeugen, dass sich niemand darin aufhielt. Wegen des illegalen Abbruchs wurde gegen Seelinger ein Ordnungsgeldverfahren eingeleitet.

Die beiden Lampertheimer Tageszeitungen brachten die Nachricht samt Bildmaterial in ihren Lokalteilen mit Ankündigung auf den Titelseiten. In der Hessenschau, auf dem Lokalsender RNF und bei den regionalen Radiostationen erhielt der „Tote vom Spargelacker“ entsprechende Würdigung.

Seine Identität bereitete den Ermittlungsbeamten jedoch weiterhin Kopfzerbrechen. Schließlich fertigte man ein retuschiertes Porträt des unbekannten Toten, sandte eine Kopie davon an alle Dienststellen im Umkreis und veröffentlichte es in der Presse.

Drei Tage später rief eine Mitarbeiterin der Mannheimer Tafel an, die den Mann auf dem Foto zu kennen glaubte. Bei einem Termin in der Gerichtsmedizin und der Inaugenscheinnahme der persönlichen Gegenstände sowie der Kleidung des Toten identifizierte die Frau ihn als den „Roten Boss“, einen in Obdachlosenkreisen sehr populären Berber, dem der Ruf anhing, früher ein mächtiger Unternehmer gewesen zu sein.

Die hessische Polizei bat die badischen Kollegen um Amtshilfe und die Mannheimer Streifenpolizisten erhielten den Auftrag, das Bild vom „Roten Boss“ in der örtlichen Berberszene herumzuzeigen und wenn möglich einen Namen herauszufinden, der dann hoffentlich zu irgendwelchen Angehörigen führen würde.

Dies alles war dem massigen Mann mit der markanten Glatze von ganzem Herzen egal. Für ihn zählte einzig und allein, dass ein Mensch im Zuge des illegalen Abrisses eines Spargelhäuschens ums Leben gekommen war. Er löschte den letzten Absatz des Word-Dokumentes, schaute nachdenklich aus dem Fenster seines Bungalows auf den parkähnlichen Garten mit der gewaltigen Libanonzeder als Mittelpunkt. Auf dem angrenzenden Altrheindamm waren zahlreiche Spaziergänger unterwegs. Dr. Hans Raunheimer kippte den mächtigen Ledersessel zurück, sog an seiner Dunhill-Pfeife und blies exakte Kringel in die Luft. Der unglückliche Penner kam wie gerufen. Gleich am Morgen hatte er einige Telefonate geführt, dann war er für sechs Stunden in die Praxis gefahren. Heute war Kleintiersprechstunde. Mit seiner jovialen, fürsorglichen Art war er der beliebteste Tierarzt in weitem Umkreis und so war das Wartezimmer fast immer voll mit Hunden, Katzen, greisen Hamstern, adipösen Meerschweinchen und verschnupften Zwergkaninchen, samt ihren stets heftig mitleidenden Besitzern.

Am späten Nachmittag war er noch am Grab seiner vor zwei Jahren verstorbenen Frau gewesen, hatte den Blumenstrauß gewechselt, was er jede Woche zweimal tat, das Bild auf dem schlichten Stein geputzt und ihr von den Fortschritten seines Museumsprojektes berichtet. Das beträchtliche Vermögen, das die im Alter von 58 Jahren an einer Gehirnblutung verstorbene Elisabeth Leibnitz-Raunheimer hinterlassen hatte, wollte er zum größten Teil für seinen Lebenstraum verwenden, die Einrichtung eines multimedialen Spargelmuseums auf einem ehemaligen Spargelacker auf der Lampertheimer Heide. Dem stand allerdings noch der örtliche Bebauungsplan im Wege. Für einen engagierten und beliebten Bürger und Stadtrat stellte dies jedoch kein unüberwindliches Hindernis dar. Der Bürgermeister und die Bauaufsichtsbehörde sowie der Kreisausschuss waren zwar noch nicht ganz auf seiner Linie, aber es wäre doch gelacht, wenn der charismatische Dr. Raunheimer dies nicht in seinem Sinne zu ändern vermochte. Als er gegen 17.00 Uhr nach Hause kam, hatte er sich von seiner Haushälterin eine Kanne Tee zubereiten lassen, das Mac-Book Pro hochgefahren und an seiner Rede gefeilt, die er morgen im Sitzungsaal des Stadthauses halten würde. Er hatte durchgesetzt, dass das Thema Spargelhaus mit auf die Tagesordnung der morgigen Stadtverordnetenversammlung gesetzt wurde.

Dies hatte einige Mandatsträger zu Augenrollen und genervten Seufzern verleitet, war der streitbare Doktor doch als unbeugsamer Kämpfer für den Erhalt der kleinen Gebäude auf den Feldern rund um die Spargelstadt bekannt. Seit er auch noch die rührige Bürgerinitiative Rettet die Spargelhäuschen gegründet hatte, galt er gar als die maskuline Wiedergeburt der Jeanne d’Arc.