Sparks - Nico Abrell - E-Book

Sparks E-Book

Nico Abrell

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Beschreibung

»Frei - wirklich frei - war ich seit dem Zeitpunkt schon nicht mehr, als ich erfahren habe, dass meine Zukunft in der Hand des Systems liegt.« An ihrem siebzehnten Geburtstag ändert sich Skyes komplettes Leben. Ihr wird ein Beruf zugeteilt, den sie bis an ihr Lebensende ausführen soll - und es kommt noch schlimmer: Das System bestimmt nicht nur, was Skye zu tun hat und wo sie leben soll, sondern auch über alles andere, was im Leben zählt. Doch als Skye etwas erfährt, was nicht für ihre Ohren bestimmt ist, ist nichts mehr so, wie es vorher war. »Rising Sparks« und »Flying Sparks« (Band 1 und 2) erstmals in einem Sammelband erhältlich!

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Sparks

SPARKSProlog123456789101112131415161718192021222324252627282930313233Epilog Buch 12_Prolog2_12_22_32_42_52_62_72_82_92_102_112_122_132_142_152_162_172_182_192_202_212_222_232_242_252_262_272_282_292_302_312_32Epilog Buch 2Impressum

SPARKS

 Skye & Kiran (Sammelband)

Prolog

Damals

Es platzt aus mir heraus – gefolgt von unnachgiebiger Wärme, die mir ins Gesicht steigt, als seine Augen auf die meinen treffen.

   »Wetten, du holst mich nicht ein?«

   Es ist ein Spiel. Jedes Mal, wenn Mom und Dad nicht zuhause sind. Seine blauen Augen, die mich mustern. Mit diesen animalischen Zügen. Gleich wird er aufspringen, nach mir greifen.

   Und ich werde rennen. Das Lachen, das ich nicht zurückhalten kann, wird mich zwar daran hindern, Geschwindigkeit aufzubauen – aber ich werde rennen. Quer durch das gesamte Haus.

   Seine blauen Augen.

   Die hat er von Mom. Unfair. Einfach nur unfair. Wie oft ich mir gewünscht habe, seine Augen zu haben. Wie oft ich vor dem Plasma-Fernseher gesessen bin und gehofft habe, zu hören, dass das System endlich eine Methode entwickelt hat, um Augenfarben zu ändern.

   Vergeblich.

   Seine blauen Augen.

   Meine hingegen sind schlicht und braun. Kein Verlauf, keine Ornamente. Braun in braun.

   Und dann geht Emilian in Angriffsstellung. Das Lächeln eines Jägers auf seinem Gesicht. Dann dieses Funkeln in seinen Augen.

   »Und ob ich das tue!«, höre ich ihn sagen und kehre ihm den Rücken, noch ehe er sich bewegt.

   Setze einen Fuß vor den anderen und werde immer schneller.

   »Na warte!«, ruft er mir hinterher. Er ist ganz nah. Ich kann es spüren.

   Und dann das Lachen aus meinem Hals. Ich krümme mich, schüttle den Kopf und renne weiter. Weiter und weiter. Vor mir die Wendeltreppe ins untere Stockwerk.

   »Schneller, Emilian«, krächze ich, wage einen Blick über die Schulter. Er ist nur ein oder vielleicht zwei Einheiten hinter mir.

   Verdammt.

   Dann greife ich nach der Säule, die die Treppen zusammenhält, und lasse mich förmlich nach unten gleiten. Tippe die Stufen sachte mit den Zehenspitzen an und schwebe hinab.

   Ein schnelles Streifen an meinem Bein.

   Etwas seltsam Hohes dringt aus meinem Mund. Ich zucke zusammen. Lache. Werde schneller.

   Will auf der letzten Stufe der Treppe aufkommen.

   Und dann knicke ich plötzlich um. Taumle. Und falle rittlings mit dem Gesicht voraus. Ich halte meine Hände schützend vor das Gesicht und durchbreche die Glasfront der Gartentür, noch bevor ich weiß, wo ich bin.

   Es geht alles ganz schnell.

   Ein Klirren.

   Ein Ziehen.

   Messerscharf wie Rasierklingen.

   Dann der harte Boden.

   Meine Hände suchen Halt. Glasscherben durchbohren meinen Körper. Ich fletsche die Zähne wie ein wildgewordenes Tier und stoße durch verkrampfte Lippen hindurch Luft aus.

   Blut. Überall klebt Blut. Mein Blut.

   Panik durchzuckt mich, umschlingt mich und drückt zu. Ein Stöhnen. Und dann ein Wimmern, als Feuer durch meine Adern fließt.

   Es brennt so sehr. Ich will aufstehen. Die Glasscherben schneiden sich in mein Bein und hindern mich daran.

   Ich höre Emilian meinen Namen schreien. Spüre seine Hände auf meiner Schulter. Seine Augen suchen die meinen. Eine Frage, auf die er die Antwort schon längst weiß: »Geht es dir gut?«

   Er umrundet mich, betrachtet die Rückseite meines Körpers. »Das wird eine Narbe«, sagt er.

   Mein Bein.

   Dann tritt er vor mich, geht in die Knie. Emilian verzieht sein Gesicht zu einem traurigen Grinsen und berührt mit Daumen und Zeigefinger meinen Arm, der ausgestreckt im getrimmten Gras des Gartens liegt. »Ich gehe und hole Verbandszeug!«

   Ich nicke. Nehme die unscharfen Umrisse seines Körpers wahr, als er weggeht.

   Ich stöhne, kaue auf meiner bereits blutigen Unterlippe herum und versuche, das stetige Pochen und Ziehen meiner unteren Gliedmaßen zu ignorieren. Die Schnitte in meinen Handflächen. Das Blut, das meine Arme entlangfließt.

   Suche einen Punkt in der Ferne und versuche mich abzulenken. Studiere die einzelnen Konturen der Hochhäuser, konzentriere mich auf das Zischen und Fahren der Hoover-Bahnen, die zwischen den Hochhäusern und sechs bis sieben Einheiten über dem Boden entlangschweben. Ich blicke den fliegenden Maschinen weit über meinem Kopf entgegen und folge den Routen, die sie entlanggleiten.

   Dann höre ich Schritte. Unterdrücke den Schwall von Tränen.

   Gleich wird es besser.

   Gleich wird es besser.

   »Ich bin hier«, sagt Emilian. »Ich bin hier.«

   Ich weiß, dass er hier ist.

   Er wird immer hier sein.

   Emilian.

   Dann greift er nach dem Verbandszeug und einer Pinzette und verschwindet aus meinem Blickfeld.

1

Ein Schuss.

   Ich zucke zusammen und schließe instinktiv die Augen. Etwas in meinem Magen zieht sich zusammen.

   Mein Körper schreit: »Geh in Deckung, Skye!«

   Und noch bevor ich realisiere, dass das ohrenbetäubende und zerstörerische Geräusch aus dem Plasma-Fernseher im unteren Stockwerk stammt, höre ich Dad lachen. Laut und inbrünstig.

   Ich atme auf. Die Luft entweicht meinem Mund und nimmt die Angst mit sich. Ich fasse mir an den Kopf und kann nicht anders, als über meine eigene Dummheit zu schmunzeln. »Mein Gott, Skye«, flüstere ich, »reiß dich zusammen!«

   Ich durchforste mit den Augen mein Zimmer, ohne mich an irgendeinem Gegenstand allzu lange festzuhalten. Vermutlich um mir selbst einzureden, dass alles in Ordnung ist. Dass sich kein kaltblütiger Killer in meinem Kleiderschrank versteckt und wartet, bis ich für ihn leichte Beute bin.

   Das wäre ich so gut wie immer.

   Ich konzentriere mich wieder auf das Buch in meinen Händen. Versuche, mich in die Kissen unter mir und die Decke über mir einzukuscheln. Vergeblich.

   Auch wenn ich weiß, dass der Schuss lediglich aus irgendeinem doofen Film aus Dads Sammlung stammt, hallt er noch immer in meinen Ohren nach. Dieser stechende und tiefe Laut einer abfeuernden Waffe. In Momenten wie diesen wird mir immer wieder klar, wie schnell das Leben vorbei sein kann. Einfach so. Einmal den Abzug betätigen und ein kostbares Leben wird ausgelöscht.

   Seltsam. Oder vielleicht doch bemerkenswert?

   Fast schon eine Art Ironie des Schicksals.

   Uns wird immer wieder beigebracht, was für ein Privileg es sei, der Spezies »Mensch« anzugehören.

   Ein Privileg, das durch ein so kleines Ding wie eine Pistole einfach so vernichtet werden kann.

   Ein Mensch, der durch ein so kleines Ding wie eine Pistole einfach so vernichtet werden kann.

   Vielleicht nicht einmal mit Absicht. Vielleicht einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort.

   So wie mein Bruder.

   Einfach so und ohne Vorwarnung.

   Die Outlaws haben uns aus unserer damaligen Siedlung verdrängt und ihr Gebiet erweitert. Mit ihren schweren Geschützen, ihrer leichten Rüstung. Schnell und beweglich. Zu schnell für Emilian.

   Sie wollten uns aus unserer Wohnung drängen. Mom, Dad, Emilian und mich. »Keine schnellen Bewegungen!«, haben sie uns entgegengebrüllt. Bewaffnet und in der Überzahl. Was hätten schon ein Lehrer, eine Zählerin und zwei Schüler gegen bewaffnete, durchtrainierte Männer unternehmen sollen?

   »Hände über den Kopf!«, war der Befehl.

   Wir gehorchten. Emilian nicht.

   Emilian wollte Grandmas Kette aus seinem Zimmer retten, bevor er hinausgeführt wurde.

   »Keine schnellen Bewegungen!«, brüllten sie. Emilian hörte nicht. Dad schrie ihm nach, er solle stehenbleiben. Genauso wie Mom. Ich konnte mich nicht rühren. Hielt die Luft an.

   Ein Kloß bildet sich in meinem Hals, wenn ich daran denke. Meine Lippen beginnen zu beben.

   Emilian rannte weiter, wich dem ersten Schuss aus. Er war fast oben. Und dann ...

   Der nächste Schuss traf ihn am Bein. Ich zuckte zusammen, hielt mir die Hände vor mein Gesicht und unterdrückte einen Schmerzensschrei. Emilian taumelte, fiel den Weg hinunter, den er zurückgelegt hatte.

   Dann der nächste Schuss.

   Ein tiefes Loch zwischen seinen Augen.

   Überall sein Blut. An den Wänden, auf dem Boden.

   Überall dieses verdammte Blut.

   Mein armer Emilian.

   Grandmas Halskette wurde unter den Trümmern verschüttet – genauso wie Emilians Körper.

   Das war vor sieben Jahren. Ich war gerade einmal zehn. Viel zu jung, um seinen Bruder zu verlieren. Ist man überhaupt jemals alt genug, ein Mitglied seiner Familie gehen zu lassen?

   Wenn ich bei meiner besten Freundin Cassie bin, höre ich sie immerzu jammern. Wie gut ich es doch hätte, ein Einzelkind zu sein. Wie gut ich es doch hätte, mich nicht ständig mit Geschwistern streiten zu müssen.

   Ich weiß, dass sie das nicht mit Absicht macht. Immer in der tiefen Wunde herumbohren, meine ich. Meistens gebe ich keine Antwort. Meistens starre ich sie nur an und entgegne stillschweigend Kommentare, wie beispielsweise »Wie kannst du so etwas nur sagen?« oder »Sei froh, dass es jemanden gibt, der genauso ist wie du ... zumindest ansatzweise.«

   »Blut ist dicker als Wasser«, hatte Emilian damals gesagt, als er ein Mädchen mit nach Hause gebracht hatte und ich sie auf den Tod nicht ausstehen konnte. Einen Tag später war sie weg. »Du bist mir wichtiger als jedes Mädchen auf dieser Welt!«, war seine Antwort, als ich ihn fragte, wo seine schlechtere Hälfte sei.

   Das alles war vor sieben Jahren. Jetzt ist alles ganz anders: Seit dem wiederholten Angriff der Outlaws hat die Regierung die Gesetze verschärft und die Ausgangszeiten um einiges reduziert. Rund um die Stadt wurden Grenzen errichtet und Patrouillen positioniert. Niemand verlässt Sektor One – der Sektor, in dem ich wohne – ohne die Genehmigung der Regierung. Umgekehrt betritt keiner die Stadt, ohne sich ausweisen zu können. Freundschaften oder Kontakte zu den Outlaws sind strengstens untersagt und werden mit dem Tod bestraft. Aber wer will schon mit solchen Mördern befreundet sein? Selbst diejenigen, die von einer solchen Straftat wissen, werden auf dem Großen Platz hingerichtet. Und das in aller Öffentlichkeit. Wir werden gezwungen, dieses Exempel der Ungehorsamkeit mit anzusehen, um daran erinnert zu werden, was passiert, wenn wir den Gesetzen nicht Gehorsamkeit entgegenbringen. Und selbst wenn man aus gesundheitlichen Gründen nicht auf dem Großen Platz antreten kann, gibt es immer noch die Live-Übertragungen, die dafür sorgen, dass sämtliche Fernseher in ganz Sektor One eingeschaltet werden und das Exempel wiedergeben.

   Glücklicherweise lag ich beim letzten und meinem ersten Exempel im Krankenhaus, weil ich mir den Kopf ziemlich übel in der Schule gestoßen hatte.

   Zwar flackerten die Bildschirme in den Krankenzimmern erst auf und zeigten dann den Großen Platz, aber man konnte mich nicht dazu zwingen, die Augen zu öffnen. In meinem Zimmer befand sich zu dem Zeitpunkt keine Krankenschwester, die mir die Augenlider hätte zurückstreifen können oder irgendetwas anderes hätte unternehmen können, um mich dazu zu zwingen, dieses ... Blutbad mit anzusehen.

   Klingt alles ziemlich grausam, oder? Ist es auch.

   Aber im Grunde herrscht ein einfacher Grundsatz: Halte dich an die Gesetze und dir wird nichts passieren. Niemand zwingt einen dazu, gegen aufgestellte Regeln zu verstoßen.

   Und das alles nur wegen dieser Outlaws. Wegen jenen, die sich dem Gesetz widersetzen und ihre mörderischen Pläne außerhalb der Sektoren schmieden, um uns zu stürzen. Um weitere Unschuldige zu töten. Um ein Zeichen zu setzen, dass sie die Besten sind. Diejenigen, die es geschafft haben, das Gesetz zu umgehen.

   Das Gesetz ist ziemlich ungerecht, das stimmt.

   Aber ohne das Gesetz würden wir uns wie die Generation vor uns die Köpfe einschlagen.

   Wir nennen unsere Vorgänger Generation Z.

   »Z«, weil es die letzte Generation der Menschheit war, die sich sinnlos und ohne Nachsicht bekriegt und nicht daran gedacht hat, was vielleicht morgen auf einen wartet, wenn sämtliche Menschen dem Erdboden gleichgemacht wurden und nur noch Verwüstung und Krieg herrschen.

   »Z«, weil es der letzte Buchstabe im Alphabet ist und man danach nur von vorne anfangen kann.

   Weil es keinen Buchstaben gibt, der nach Z kommt.

   Weil man gezwungen ist, wieder bei A anzufangen.

   Weil wir

2

Emilian, damals

Grandma starb, als ich acht war. Da lag sie, in einem der Betten im Krankenhaus, und tat ihre letzten Atemzüge.

   Dad, Skye auf Moms Arm und ich standen am Bett. Dieses Gefühl erdrückender Stille hatte sich bereits über uns gelegt und hielt uns fest im Griff. Umklammerte unsere Hälse, sodass keiner es wagte, auch nur einen Ton von sich zu geben. Was, wenn es nur verschwendete Zeit war, eine sinnlose Frage zu stellen? Was, wenn sich Grandma in ihren letzten Minuten zu viele Gedanken machte und nicht friedlich von uns gehen konnte?

   Ich blickte hinüber zu Skye. Sie verstand noch nicht, was es heißt zu sterben. Sie dachte, Grandma sei schlichtweg krank und würde schon bald wieder in ihrem eigenen Bett schlafen.

   Skyes und meine Blicke kreuzten sich. Ihre dunklen Knopfaugen durchbrachen die Barriere, die ich sorgsam um mich herum aufgezogen hatte. Ich brach den Blickkontakt ab und trat näher an das Bett heran.

   »Grandma«, fing ich an und umklammerte ihre Hand. Sie war eiskalt.

   Und noch bevor ich irgendetwas antworten konnte, zerrte sie mit ihrer anderen, freien Hand an einer der Schubladen neben dem Bett und holte eine silberne Kette hervor, deren Anhänger ein glänzender, silberner Blütenkopf mit weinroter Mitte war.

   Ich war nie sonderlich gut in Pflanzenkunde gewesen, aber diese dazugehörige Blume hatte ich noch nie gesehen.

   »Das ist eine Blume aus der Zeit vor uns. Ich will, dass du sie bekommst, Emilian.« Ihre Stimme brach bei jedem Wort, das ihr zitternd über die Lippen kroch.

   Ein Kloß in meinem Hals hinderte mich letztlich schon wieder daran, irgendetwas von mir zu geben. Ein »Danke« wäre mehr als angebracht gewesen. Stattdessen zog ich scharf Luft ein und ließ die Kette in meine Hand taumeln. Sie war schwerer, als sie aussah.

   »Sie gehörte deinem Grandpa«, flüsterte sie. Ein unsagbar zartes Lächeln umschmeichelte ihren Mund. Ein Lächeln, das sie für einen Moment wieder die vergangenen Tage durchleben ließ. Bittersüß und hoffnungsvoll.

   Ein »Danke« durchbrach den Kloß in meinem Hals. »Danke Grandma.«

   Wenige Minuten später starb sie im Alter von 75 Jahren.

   Alles, was von ihr übrigbleiben würde, wäre die Todesakte, die fünf Jahre in den Basen des Militärs aufbewahrt wird, um eventuelle Schlüsse der Outlaws daraus hervorzuziehen.

   Mom weinte bitterlich.

   Dad versuchte, sie zu trösten und hielt sie fest im Arm.

   Ich betrachtete die Kette den gesamten verbleibenden Tag über. Den gesamten Abend. Und trug sie die Nacht über um meinen Hals.

   Für Außenstehende war es vielleicht nur eine silberne Kette. Aber für mich war es viel mehr als das.

   Sie würde mich immer daran erinnern, dass Grandma das Leben geliebt hat.

   Dass das Leben wie eine Blume ist:

   Ist sie verwelkt, geht die Blume ein.

3

Morgen vor 17 Jahren musste Mom die schlimmsten Schmerzen erfahren, die eine Frau vermutlich jemals erleben wird.

   Morgen vor siebzehn Jahren wurde ich geboren.

   Geburtstag.

   Wünsch dir etwas.

   Blas die Kerzen aus. Schließe dabei die Augen und verrate niemandem, was du dir gewünscht hast. Sonst wird es nicht in Erfüllung gehen.

   Als Kind durfte ich fünf bis maximal acht Kinder zu mir nach Hause einladen, um meine Geburtstage zu feiern. Dumm nur, dass es immer nur mich und Cassie gab. Cassie und mich. Natürlich war da noch Amar aus dem Geschichtskurs – aber Amar war immer mehr eine Notlösung, falls Cassie krank war und nicht in die Schule kommen konnte. Aber solche Freunde haben wir doch alle, oder?

   Aber hätte ich nun einen Kuchen vor mir – sagen wir einen Vorgeburtstags-Kuchen, extra für mich ... dann würde ich diesen vor mich auf den Boden stellen, mich davor in den Schneidersitz begeben und meine Augen schließen.

   Was ich mir wünschen würde?

   Ich würde mir wünschen, dass der morgige Tag niemals auch nur daran denken würde, Wirklichkeit zu werden. Ich würde mir wünschen, dass das nächste Jahr aus dem Buch meines Lebens und meiner Familie ausradiert werden würde, als hätte dieses Jahr nie existiert. Ich würde mir wünschen, niemals siebzehn zu werden.

   Andererseits.

   Dad ist Lehrer geworden. Mom ist Zählerin. Beides Berufe, die weit über dem Durchschnitt liegen.

   Ein kleiner, kaum spürbarer Funke keimt in mir auf. Ein minimalistischer Funke der Hoffnung.

   Und doch erlischt er, als ich daran denke, was morgen auf mich zukommt.

   Die Schule umfasst zehn Jahre brav auf einem Stuhl sitzen und dem motivierten Lehrer vorne am SmartBoard zuhören und das Gehörte brav digital auf einem Tablet aufschreiben. Macht man, was die Lehrer sagen, und unternimmt nichts, was den Frieden innerhalb des Schulgebäudes stört, bekommt man einen Abschluss ... der einem im Endeffekt vielleicht sowieso nichts nützt.

   Alle Schüler – wie ich – schließen die Schule im Alter von sechzehn Jahren ab. Danach durchleben wir eine Phase, die die Regierung Grey Zone getauft hat. Wir warten, bis wir siebzehn werden. Bei dem einen geht es schneller, bei dem anderen dauert es länger. In meinem Fall waren es drei Monate.

  Und dann das große Grauen (der Name stammt von mir).

   Mit siebzehn Jahren passiert das, was man den Anfang vom Ende nennen kann. Für den einen ist es vielleicht eine Erlösung, für den anderen kann es den reinsten Horror bedeuten. Am Tag des siebzehnten Geburtstags wird deine Zukunft bestimmt. All das, was du in zehn Jahren Schule gelernt hast, kannst du endlich in Geld umwandeln und den Beruf ausüben, der deinen Träumen entspricht. Zumindest habe ich gelesen, dass das früher einmal so war.

   Abgeordnete der Regierung statten dir zuhause einen Besuch ab. Was dann passiert, ist streng vertraulich und darf unter keinen Umständen an die Öffentlichkeit geraten. Deshalb bin ich so enorm nervös. Deshalb und weil morgen der Tag ist, an dem die Regierung den angeblich geeigneten Beruf für mich bestimmt – egal ob er mir zusagt oder nicht. Ich muss ihn ausüben. Bis ich grau und alt bin.

   Uns wurde gesagt, dass das der Sicherheit und der Ordnung dieser Sache dient. Dieses Systems. Dass die Regierung nur das Beste für uns wolle und uns dort einsetze, wo unsere Stärken liegen.

   Und da kommt das große Fragezeichen: Habe ich überhaupt irgendwelche Stärken vorzuweisen?

   Ab morgen könnte ich alles sein. Zugegeben, ein netter Gedanke. Aber nicht, wenn es nicht dein eigener ist. Ab morgen könnte ich Zähler oder Lehrer sein; in der Lebensmittelherstellung arbeiten; der Regierung selbst dienen; als Grenzer die Grenzen bewachen und dem Militär dienen; als Forschungsobjekt in der Medizin eingesetzt werden und mich dann hocharbeiten, oder einen von weiteren, unzählig vielen Berufen ausüben.

   Ich weiß nicht, ob ich es schon erwähnt habe, aber ich weiß nicht, wohin mit meiner Angst. Ich versuche, mir einzureden, dass es nicht so schlimm werden wird. Dass ich einen ebenso tollen Beruf wie Dad zugeteilt bekomme. Aber dieser schwarze Schatten namens Angst wird immer und immer mehr von der Ungewissheit und der Planlosigkeit des morgigen Tages genährt.

   Meine Hände zittern, seitdem ich das Buch aus meiner Hand gelegt und zurück in das Regal gestellt habe. Ich kann keinen klaren Gedanken mehr fassen und keinen Plan mehr aufstellen, ohne mir zu denken: »Ab morgen wird das Denken für mich ohnehin übernommen, weshalb also einen Plan machen?« Manchmal bilde ich mir ein, an meiner Angst vor dem Unbekannten zu ersticken. Dann denke ich daran, dass wir – das System – zusammenhalten müssen, da wird mir doch keine Arbeit zugeteilt, die total abwegig zu sein scheint ... oder?

   Schlafen.

   Schlafen und niemals wieder aufwachen.

   Wäre mein Boden so nachgiebig wie Sand, wären die Wege, die ich in meinem Zimmer zurücklege, eine Art in den Boden eingelassenes, dreidimensionales O. Langsam wird mir schwindelig von der sich immer wieder wiederholenden Bahn, also ändere ich die Richtung. Ich kann nicht klar denken, das Laufen lenkt mich ab.

   Das hat es schon immer.

   Schon in der Schule bin ich um mein Leben gelaufen, wenn die Welt über mir wie ein Kartenhaus zusammengefallen ist. Als ich dann die lange Bahn vor mir gesehen und den rauen Belag unter mir gespürt habe, wusste ich, dass ich frei bin. Zumindest für ein paar Sekunden und im übertragenen Sinne.

   Frei – wirklich frei – war ich seit dem Zeitpunkt schon nicht mehr, als ich erfahren habe, dass meine Zukunft in der Hand des Systems liegt.

Der Mann vor mir. Fast eineinhalb Mal so groß wie ich. In der einen Hand hält er ein Skalpell, in der anderen eines der Sol-Tablets.

   Er kommt immer näher und näher. Bis ich beinahe dieselbe Luft wie er einatme.

   »Es wird überhaupt nicht wehtun.« Seine Stimme ist so unangenehm wie das grelle Quietschen verrosteter Bremsen. Ich schaue weg. Will nicht sehen, wie das scharfe Metall mein Fleisch durchbohrt und mein Leben für immer verändert.

   Und dann schreie ich. Zumindest glaube ich, dass ich schreie. Mein Mund – so weit aufgerissen, dass man darin einen Schneeball hätte versenken können. Und dennoch höre ich mich nicht. Ich höre gar nichts. Nur die Stimme des Mannes.

   »Es tut mir leid, aber ... Sie sind nicht brauchbar für das System.«

   Die Waffe in seiner Hand. So grau und glänzend wie seine Augen.

   »Es geht ganz schnell. Versprochen.«

   Glänzendes Metall.

   Ein erstickender Schrei aus meinem Hals.

   Ich reiße die Augen auf.

   Atmen.

      Atmen.

         Atmen!

   Ich fasse mir an die Stirn und verweile auf der triefenden Schweißschicht, die sich auf meinem Gesicht gebildet hat. »Nur ein Traum«, stottere ich, um mich selbst zu beruhigen.

   Aber es klappt nicht.

   Mein Körper zittert. Plötzlich ist mir kalt.

   Und dann warm.

   Mein Herz schlägt so schnell, dass ich das stetige Pochen in meinem Hals spüren kann.

   Als ich aufstehen will, dreht sich alles. Ich brauche ein paar Sekunden – Minuten –, um meinen Orientierungssinn zurückzugewinnen.

   Mein Fenster ist schneller geöffnet, als ich blinzeln kann. Die kalte Luft des Morgens schlägt mir ins Gesicht. Und obwohl ich jeden Tag, wenn ich aus dem Fenster starre, dieselbe graue Wand des nächsten Gebäudes sehe und mir jeden Morgen dieselbe Frage stelle, weshalb wir nicht schon längst in einem Privathaus am Rande der Zone wohnen, fühle ich mich einen Moment lang frei.

   Freier als draußen auf den Straßen.

   Freier als auf der Laufbahn.

   Freier als in einem der jährlichen Urlaube, die uns zustehen. Jeder Familie in New Ainé.

   Das System gestattet, einmal im Jahr für zehn Tage den Sektor zu verlassen und andere Orte und Länder der Welt zu entdecken.

   Super, nicht wahr?

   Wäre da nicht die unerbittliche Einschränkung durch die Auswahl des Orts, die das System höchstpersönlich trifft.

   Man reicht einen Antrag auf Urlaub ein.

   Den Rest der Planung übernimmt das System für die Familie. Damit man sich nicht in die Quere kommt. Damit die Strände der Meere nicht überfüllt werden. Damit alles so bleibt, wie es ist. Damit das System jeden einzelnen Einwohner New Ainés im Auge behalten kann.

   Ich selbst war noch nie am Meer.

   Bisher hatte ich nur die Gelegenheit zwei Städte zu besichtigen, deren Namen ich allerdings schon wieder vergessen habe. Das andere Mal sind wir samt Schulklasse in einem Smart Set zu einer der Ruinen der Generation Z geflogen. Seattle hieß die Stadt, soweit ich weiß.

   Eine sanfte Brise.

   So muss sich Freiheit anfühlen. Aber was weiß ich schon? Vermutlich aufgrund der kalten Luft, die den Schweißfluss stoppt und mich für einen Moment entspannen lässt. Und als es mir zu kalt wird, schließe ich das Fenster.

   Beim Umdrehen fällt mein Blick auf die digitale Uhrzeit auf meinem Sol-Wecker. Es ist 06:27 Uhr.

   Und dann trifft es mich wie ein Faustschlag in die Magengrube. Es ist der nächste Tag. Der Tag der Tage.

   »Happy Birthday, Skye!«, höre ich mich selbst sagen.

»Was ist, wenn sie keinen Beruf für mich finden?«, frage ich, als ich den Löffel zitternd meinem Mund entgegenführe.

   »Spätzchen, es gab noch keine einzige Person in New Ainé, die keinen Platz im System gefunden hat.«

   Dads Lippen bewegen sich, während sein Blick auf das Sol-Tablet in seinen Händen gerichtet ist. Für Dad ist der heutige Tag kein großes Ding. Geschenke und Geburtstage passen nicht zusammen. Damals vielleicht – heute nicht mehr. Heute werden diejenigen beschenkt, die Großes verrichtet haben. Ein neues Gesetz eingeführt haben; etwas beigetragen haben, was dem System guttut; eine tolle Leistung in den jeweiligen Bereichen vollbracht haben.

Ich hingegen bin lediglich gealtert. Anders als die Senioren in Sektor Nine, die Prämien dafür erhalten, so lange durchgehalten und nicht schon zuvor den Löffel abgegeben zu haben.

   Zusammengefasst: Für Dad bedeutet der heutige Tag, dass sein Spätzchen endlich alt genug ist, um einigermaßen auf eigenen Beinen zu stehen.

   Ich öffne und schließe meinen Mund, weil ich nicht weiß, was ich sagen soll. Ich will ihm so vieles sagen. So vieles, was in genau diesem Moment in mir vorgeht. Dinge, vor denen ich Angst habe. Dinge oder besser gesagt Wege, die ich nicht für mich selbst bestimmen kann, aber gerne würde. Und plötzlich frage ich mich, ob jedes Mädchen und jeder Junge an seinem siebzehnten Geburtstag von denselben Gedanken und damit verbundenen Ängsten verfolgt wird.

   Und als Dad auf einmal aufschaut, erkenne ich letztlich doch so etwas Ähnliches wie Aufregung – oder vielleicht Angst? – in seinen blauen, beinahe grauen, Augen. Allgemein sieht Dad in letzter Zeit mehr schlecht als recht aus. Seine Augen liegen in tiefen Höhlen und der Dreitagebart, der sich um sein Kinn und seine Wangen spinnt, lässt ihn viel älter wirken. Dann denke ich daran zurück, wann Dad und ich das letzte Mal miteinander geredet haben. Richtig geredet haben. Kein »Morgen Dad« – »Morgen Spätzchen« oder »Wie war dein Tag?« – »Ganz gut, und deiner?«

   Und als ich länger darüber nachdenke, fällt mir auf einmal auf, dass das letzte Gespräch zwischen Vater und Tochter schon eine Ewigkeit her zu sein scheint.

   Seine Mundwinkel richten sich zu einer fürsorglichen Geste auf. Und dann sehe ich ihn – diesen mitfühlenden Eltern-Blick, der sagt: »Egal wie beschissen das eigene Leben vielleicht in diesem Moment ist, du bist mir wichtiger als alles andere auf diesem Planeten«

   »Spätzchen, es geht ganz schnell. Vertrau mir!«

Es geht ganz schnell. Ein zaghafter Stich in meiner Brust und dann das Bild des vergangenen Traums vor meinem inneren Auge.

   Ich will etwas erwidern, zumindest etwas von mir geben. Aber ich bin so damit beschäftigt, ruhig zu bleiben und alles daran zu setzen, die letzte Nacht zu verdrängen, dass ich mehr als ein Nicken nicht aufbringen kann.

   Dads Lächeln holt mich zaghaft in das Hier und Jetzt zurück. »Iss dein Frühstück, Skye.« Dann steht er auf und fährt im Vorbeigehen über meinen Kopf. »Wir wollen ja nicht, dass du später vom Stuhl kippst.«

4

Ich starre in den Spiegel, als es an der Tür klopft.

   Mein Herz.

   Ich weiß nicht, was schlimmer ist: das Gefühl, ab sofort auf eine Schiene gesetzt zu werden, die man möglicherweise gar nicht fahren möchte. Oder aber das Gefühl, das genau in diesem Moment meine Brust zusammenschnürt und mir die Luft zum Atmen verwehrt.

   Ich denke an den Funken. An den Funken Hoffnung in mir, der wie ein einzelner Sonnenstrahl, der die dunkle Wolkendecke zerreißt, versucht in mir aufzukeimen.

   Es gibt Hoffnung. Die gab es schon immer. Aber was bringt Hoffnung, wenn der Verstand siegt?

   Ich mustere mich im Spiegel meines Zimmers und nicke meinem Spiegelbild zu. Ein Nicken, das sagt: »Du schaffst das! Du schaffst alles, was du dir vorstellst!«

   Wenn ich schon nicht daran glaube, dann soll wenigstens mein Spiegelbild davon überzeugt sein. Verwirrende Logik, ich weiß.

   Das tiefgehende und gleichzeitig oberflächliche Jucken, das mein rechtes Bein durchzuckt, lenkt meine gesamte Aufmerksamkeit auf sich. Die dünne Linie brennt unter meiner Haut.

   Und als ich darüberfahre, bilde ich mir ein, das Springen und Klirren von Glas wahrzunehmen.

   Ich schüttle den Kopf – dann eile ich in großen Schritten zur Haustür und lasse sie aufgleiten. Ich laufe über glühend heiße Kohlen, als ich den beiden Männern in Schwarz entgegenblicke. Gott, wie sehr ich zittere!

   »Guten Tag, Ms. Ignis«, ertönt es, passend zu den Lippenbewegungen des rechten Mannes. Seine markanten Gesichtszüge verstärken sich, als sich sein Kiefer bewegt. Zweifellos – das, was ich gerade empfinde, ist nichts anderes als konzentrierte und pure Angst.

   »Hallo.« Ich weiß nicht einmal, ob man den kratzigen und hohen Laut aus meinem Mund gehört oder lediglich gesehen hat, wie sich meine Lippen scheinbar lautlos bewegen.

   Und als mich – uns – die peinliche Stille zu überrollen droht, bitte ich die beiden am Tisch im Wohnzimmer Platz zu nehmen. Dad ist nicht da. Er meinte, er möchte mich das alleine machen lassen und ist sich in der Zwischenzeit die Beine vertreten gegangen. Das erste Mal in keine Ahnung wie vielen Jahren.

   »Keine Sorge, das geht ganz schnell«, gibt der Unbekannte von sich, der bisher lautlos neben dem anderen Mann hergegangen ist. »Wir haben nur ein paar Fragen.« Er stellt einen großen, pechschwarzen Koffer auf dem Mobiliar ab und drückt ein paar Knöpfe auf der länglichen Seite.

   Schnell ist gut. Fragen? Eher schlecht.

   Ich versuche, mir nicht das Wort Angst von meiner Stirn ablesen zu lassen und setze mich zu den breitgebauten Männern an den Tisch. Unbemerkt verschränke ich meine zittrigen Hände unter dem Tisch miteinander und klemme sie zwischen meinen Beinen ein.

   Einer der Männer kramt in der Zwischenzeit im Koffer herum und zieht ein Sol-Tablet hervor. Er tippt drei oder vier Mal darauf herum und reicht es mir dann.

   Gegen meinen Willen löse ich meine Hände voneinander und nehme das Tablet mit plötzlich schwitzenden Händen entgegen.

   Das letzte Wort hallt mit Nachdruck in meinem Kopf nach.

   »Das ist ein verbindlicher Vertrag, der bestätigt, dass alles, was zwischen uns am heutigen Tag passiert, nicht weitererzählt wird. Niemandem.«

   Ich schlucke. Deshalb durften mir Mom und Dad nicht erzählen, wie deren siebzehnter Geburtstag abgelaufen ist.  

   »In Ordnung«, presse ich hervor und schreibe ein zittriges und krakeliges S. Ignis in das vorgesehene Feld. Und noch ehe ich mich versehe, wird mir das Sol-Tablet wieder entrissen und im Koffer verstaut.

   Als hätte ich eine Wahl ...

   Wie machtvoll und bindend ein paar Buchstaben in Form deines Namens in einem grau schraffierten Feld sein können, wurde mir noch nie so sehr vor Augen geführt wie in diesem Augenblick.

   Der andere Mann zieht ein zylinderförmiges und röhrenartiges Objekt aus dem Koffer, an dem er eine metallene Spitze befestigt.

    »Gleich können wir beginnen.«

    Im selben Atemzug betätigt er leicht einen Knopf an der Unterseite des Zylinders, sodass ein grüner, fast schon schimmernder Tropfen aus der Spitze des Zylinders schießt.

   Eine Spritze.

   Alles verengt sich vor meinen Augen wie in einem Tunnel. Vor mir die stählerne, scharfe Spitze, die nach mir lechzt.

   Atmen.

   Atmen.

    »Es geht ganz schnell«, höre ich den Mann mit der Spritze sagen, als könnte er meine Gedanken lesen. Vielleicht kann er das ja sogar.

   Er kommt um den Tisch herum und bleibt vor mir stehen. Ich zucke zusammen, als ich seinen Umriss aus dem Augenwinkel erkenne. Ich will nicht hinsehen. Ich will nicht. Aber ich muss. Muss wissen, was passiert. Also schaue ich hin.

   Wie er meinen Arm zurechtrückt, auf der Lehne des Stuhls ablegt.

   Wie er meinen Pullover hochkrempelt und meinen Unterarm freilegt.

   Wie er ansetzt. Nur ein kleines Stück von meiner Hand entfernt.

   Dann dieser Schmerz.

   Ich beiße mir auf die Unterlippe. Starre meinem Arm entgegen.

   Das grüne Zeug vermengt sich mit dem lila Rot meines Blutes und verschwindet ungefähr auf Höhe der Armbeuge.

   Etwas pulsiert in meinen Adern.

   Dann das befreiende Gefühl, als die Nadel meinen Körper verlässt.

   »Na bitte«, sagt er. Ich muss nicht hinsehen, um das Lächeln zu sehen, das seine Lippen umschmeichelt. Das diabolische Lächeln des Schmerzes. »Hat doch überhaupt nicht wehgetan.«

   Ich antworte nicht. Ich ignoriere ihn.

Ihm hat das sicherlich nicht wehgetan.

   Stattdessen streife ich den Pullover über meinen Unterarm und reibe über die Stelle, in der er eingestochen hat. Sie scheint ein wenig dick zu werden. Pulsiert.

   Vermutlich muss das so sein.

   »Wir stellen Ihnen nur ein paar Fragen, Ms. Ignis«, fährt der andere Mann fort, als sich der Schrank mit der Spritze in der Hand neben ihm niedergelassen hat. »Wir bitten Sie, ehrlich zu antworten.«

   »Ist gut«, gebe ich von mir, darauf konzentriert, mich nicht in eine Vibrationsplatte zu verwandeln.

   Der Mann betätigt einen Knopf in seinem Koffer. Und dann dieser stechende Schmerz, der meinen Unterarm entlang schleicht. Ich greife danach, kaue auf meiner Unterlippe herum. Lasse mir nichts anmerken.

   Ein Schweißtropfen auf meiner Stirn. Mein Körper riecht nach Angst und Panik.

   »Lieblingsfarbe?«

   »Blau«, antworte ich, darauf bedacht, den Schmerz im Zaum zu halten.

   Die nächste Frage: »Was ist das Letzte, worüber Sie intensiv nachgedacht haben?« O Gott. Ich zögere. Der Schmerz überwältigt mich für einen Moment. Und als ich mich wieder gefangen habe, antworte ich: »Über Emilian.«

   »Über wen?«

   »Über meinen Bruder.«

   »Ach«, erwidert einer der beiden, verschränkt die Arme vor seinem muskulösen Oberkörper. »Was war der Anlass?«

   Ich zögere. Bin dazu geneigt, zu lügen. Aber dann denke ich darüber nach, was das bewirken würde. Vermutlich das komplette Gegenteil von dem, was gut für mich – meine Zukunft – ist.

   Emilian ist tot. Wegen der Outlaws. Nicht wegen des Systems.

   »Er wurde ermordet«, antworte ich so gleichgültig wie möglich. Vermutlich vergeblich.

   »Von wem?« Die nächste Frage. Wie aus der Pistole geschossen. Ein Kloß in meinem Hals, je länger ich darüber nachdenke. Ich atme ein, beim Ausatmen gebe ich heiser »Outlaws« von mir.

   Stille.

   Dann ein Räuspern.

   »Wie fühlen Sie sich gerade?«

   Um ehrlich zu sein: verängstigt, schmerzerfüllt, traurig, wütend, unsicher. Und das alles in einer hochexplosiven Mischung.

    »Ich weiß es nicht.«

   »Wirklich nicht?« Ist das eine Fangfrage? »Das ist aber schade.«

   Was, wenn ich es versaut habe? War’s das? Gehen sie jetzt? Lebe ich von jetzt an auf der Straße? Nein.

   »Wütend, eingeschüchtert, ängstlich ... aber auch – hoffnungsvoll.«

   »Hoffnungsvoll? Weswegen?«

   Ich denke an Dads Worte von heute Morgen. »Vielleicht wird meine Zukunft gar nicht so übel, wie ich denke.«

   Der Mann hinter dem Koffer grinst. Aber ich kann das Grinsen nicht deuten – jedenfalls ist es kein nettes Grinsen. Eher ein Du-hast-ja-keine-Ahnung-was-auf-dich-zukommt-Grinsen.

   »Wie würden Sie sich selbst beschreiben?«, fährt einer der beiden unbeirrt fort.

   Eine Frage, auf die ich noch nie eine Antwort hatte. Also, Skye ... wer bist du? Wer bin ich?

    »Ich ... ich weiß es nicht. Vielleicht bin ich präzise?« Und plötzlich fühle ich mich dumm. Und verwundbar. Erstaunlich, wie nah diese zwei Eigenschaften beieinanderliegen.

   »Präzise?«, fragt einer der Männer. »Was meinen Sie damit?«

   Ich atme ein. Massiere die pulsierende Stelle und rede mir ein, dass das taube und pulsierende Gefühl nachlässt. »Ich weiß, was ich will.«

   »Und was wäre das?«

Dass ihr endlich geht!

   Und dass ich selbst bestimmen kann, was ich will und wann ich es will!

    »Gerechtigkeit und Frieden«, antworte ich. »Dass ich wieder wann und so oft ich will auf die Straße gehen und Freunde besuchen kann.«

   »So?«, fragt der Mann neben dem Koffer.

   »Ja, ich möchte selbst bestimmen, wann es zu gefährlich ist, um nachts draußen zu sein. Ich möchte mein Leben selbst in der Hand haben.«

   Vielleicht bin ich zu weit gegangen. Schwer zu sagen, bei diesem Pokerface, das beide aufgesetzt haben. Ein Räuspern ist alles, was ich bekomme.

   Und dann: »Eine letzte Frage, Ms. Ignis.«

   Ich zittere. Nicke aufgeregt. Dieses Gefühl, die Ziellinie hell erleuchtet und blinkend in naher Entfernung zu sehen und zu wissen, dass man es gleich geschafft hat ... dass es jede Sekunde so weit sein kann, durchflutet mich wie ein Lauffeuer und befeuert meinen Körper.

   »Ich stelle Ihnen nun eine Frage und das Erste, was Ihnen in den Sinn kommt, müssen Sie laut aussprechen, einverstanden?«

   Zuerst zögere ich. Dann denke ich daran, dass ich danach meine Ruhe haben werde.

   Also nicke ich. Stille.

5

Als ich mit der Bürste durch mein Haar gehe, zittert meine Hand. Ich blicke meinem Spiegelbild in die Augen und erkenne nichts als dumpfe Leere, gefangen im Braun meiner Iris.

   Einzelne, braune Haarsträhnen fallen in das Waschbecken vor mir, während ich meine Haare zitternd und unsicher nach und nach kämme. Immer wieder. Mit einem leeren Blick ins Nichts gerichtet.

   Ich würde gerne behaupten, zu wissen, was als nächstes passiert. Wie auch sonst immer. Ich habe immer einen Plan – zumindest bin ich nie planlos.

   Aber heute ist alles anders: Ich kann nicht klar denken. Meine Gedanken schweifen immer wieder zurück zum heutigen Vormittag. Mein Körper bewegt sich so zaghaft und stotternd wie eine Maschine.

»Wie fühlen Sie sich gerade?«

   Die tiefe Stimme des breiten Schrankes ebbt noch immer in mir ab und durchzuckt mich wie ein Stromstoß.

   Ich lege die Bürste beiseite und stütze mich links und rechts am Beckenrand ab. Meine Finger krallen sich so fest in das Porzellan des Waschbeckens, dass die Fingerknöchel weiß hervortreten.

»Was halten Sie von den Outlaws?«

   Ich habe mir noch nie so sehr wie in diesem Moment gewünscht, die Gedanken anderer Menschen lesen zu können. Hätte ich gewusst, was in den Köpfen der beiden System-Abgeordneten vor sich geht ... vielleicht hätte ich ganz anders geantwortet. Andererseits basiert mein Beruf auf den ehrlichen Aussagen, die ich während der Befragung von mir gebe.

   Vielleicht habe ich also alles richtig gemacht. Vielleicht auch nicht. Wer weiß das schon? Vielleicht werde ich doch noch Lehrer wie Dad oder Zählerin wie Mom.

»Das wäre dann alles, Ms. Ignis.«

   Habe ich schon erwähnt, wie sehr ich mich vor morgen fürchte? Ab morgen wird alles anders sein. Vielleicht muss ich von zuhause ausziehen. Vielleicht werde ich ans andere Ende von New Ainé geschickt. Oder aber morgen wird der tollste Tag meines Lebens und mir wird ein Arbeitsplatz zugewiesen, der sich gleich um die Ecke befindet.

   Diese Ungewissheit ... nicht zu wissen, was auf mich zukommt, brennt sich in meinen Körper und lässt mein Herz schneller schlagen.

»Vielen Dank für Ihre Zeit.«

   Das Klingeln und Vibrieren meines Sol-Tablets reißt mich aus meinen Gedanken.

   Ich bilde mir ein, mein Herz schlagen zu hören. Erstarre.

   Meine Augen brennen vor Trockenheit und ich schließe und öffne sie, bis ich wieder normal sehen kann. Dann löse ich mich vom Waschbecken und drehe meinen Kopf wie eingerostet in die Richtung der Kommode, auf der das Tablet liegt.

   Ganz

   Langsam.

   Mein Herz setzt einen Schlag lang aus.

   Für einen Moment scheint es so, als würde ich den Boden unter meinen Füßen verlieren und in ein schwarzes Loch fallen. Tiefer und tiefer.

   In ein schwarzes Loch voller Ungewissheit.

   Sie sagten doch, ich würde morgen alles Weitere erfahren. Ich – ich bin noch nicht bereit. Ich habe noch einen Tag Zeit. Zeit, um meine Gedanken zu sortieren und um mich auf morgen vorzubereiten.

   Aber wenn ich ehrlich bin, werde ich morgen mindestens genauso aufgeregt und unausstehlich sein wie heute. Vermutlich wird morgen sogar noch schlimmer sein als heute. Vermutlich sogar viel schlimmer

   Ich warte einen Moment ab.

   Und noch einen.

   Höre auf meinen rasenden Herzschlag. War gefühlt noch nie so unsicher wie in diesem Augenblick.

   Und plötzlich treibt mich etwas in meinem Inneren voran. Lässt mich einen Fuß vor den anderen setzen.

   Schritt für Schritt.

   Herzschlag für Herzschlag.

   Bis ich unmittelbar vor der Kommode stehe und mir nichts anderes übrigbleibt, als meine Hand auszustrecken, das Sol-Tablet entgegenzunehmen und die Nachricht zu lesen.

   Aber ich kann nicht.

   Noch nicht.

   Vermutlich niemals.

   Besser gesagt: Ich will nicht.

   Morgen, haben sie gesagt.

   Keine einzige Sekunde früher.

   Ich presse meine Zunge der Munddecke entgegen und spüre ein zaghaftes Jucken in meinen Handflächen.

   Trotz all der Angst, die mich allgegenwärtig umgibt, siegt für einen kurzen Moment die Neugier über die Vernunft. Und dann passiert es:

   Langsam – ganz langsam – bewegen sich meine Finger dem Sol-Tablet entgegen. Kurz davor erinnere ich mich daran, was die Nachricht bedeuten könnte und halte inne.

   Meine Zukunft.

   Egal ob gut oder schlecht.

   Will ich wirklich jetzt schon wissen, was ich für den Rest meines Lebens sein werde? Ich stocke.

   Fragen über Fragen. Keine Antworten.

   Dann atme ich tief ein und wieder aus. Beim Ausatmen greife ich nach vorne und halte das Sol-Tablet in meinen Händen. Ich zittere so sehr, dass ich Angst habe, das Tablet fallen zu lassen.

   Ich schließe einen kurzen Augenblick die Augen und entsperre blind das Gerät in meinen Händen.

»Es geht ganz schnell.«

   Zu schnell!

   Ich öffne die Augen und beginne zu lesen:

// Hey Süße, wie geht es dir?

Heute wurden die Kerzen ausgeblasen, was? Morgen bei mir?

Hab dich lieb!

C. //

Es war nur Cassie. Nur Cassie. Keine Nachricht des Systems. Keine Entscheidung! Ein verzweifeltes Lachen entfährt mir.

   Das Adrenalin, das durch meinen Körper gezogen ist, verwandelt sich in etwas Undefinierbares. Etwas Undefinierbares, Wundervolles, das mich für einen Moment vergessen lässt, was eine Nachricht von einem anderen Absender für mich bedeutet hätte.

   Sanfte Gänsehaut wandert meine Wirbelsäule entlang, als ich daran denke.

   Ein Laut dringt aus meinem Mund, der definitiv nicht menschlich sein kann. Eine Mischung aus Erleichterung, Freude und Glück.

   Der Schock sitzt noch immer tief in meinen Knochen. Ich zittere. So stark, dass es mir schwerfällt, das offene Fenster der Nachricht zu schließen. Ich nehme mir vor, Cassie später zu antworten.

   Cassie und ich haben uns angewöhnt, nie direkt zu schreiben, was wir denken. Statt von »Heute wurden die Kerzen ausgeblasen, was?« hätte sie auch ganz einfach »Heute war der Tag der Berufung, oder? Wie ist es gelaufen?« schreiben können. Wäre da nicht das System.

   Das System überwacht jedes einzelne Sol-Tablet in New Ainé, um auffällige Nachrichten aus dem Weg zu räumen. Um zu verhindern, dass sich Lücken in seinem durchdachten Ordnungs-Netz einschleichen. Und um zu verhindern, dass die Outlaws Kontakt zu den Bürgern in den einzelnen Sektoren herstellen.

   Woher ich das weiß? Das war die erste Lektion, die uns in der Schule übermittelt wurde, als die Sol-Tablets ausgeteilt worden sind.

   Also schreiben wir so, dass es vielleicht harmlos klingt, wir beide jedoch genau wissen, was gemeint ist.

   Heute wurden die Kerzen meines imaginären Geburtstagskuchens ausgeblasen.

   Morgen ist mein letzter freier Tag.

   Dann wird alles anders sein.

   Wenn ich schon untergehe, möchte ich wenigstens Cassie an meiner Seite wissen.

Mom arbeitet in Schichten. Manchmal auch samstags. So wie heute. Sie ist Zählerin. Das ist so spannend und abwechslungsreich, wie der Beruf klingt. So spannend wie Löcher in den Himmel starren.

   Mom zählt.

   Menschen, Lagerbestände, Nahrungsmittel, Rohstoffe, Materialien und noch vieles mehr. Und von diesem und noch vieles mehr gibt es noch weitere Unterkategorien, die wöchentlich gezählt und verglichen werden. Allen voran deshalb, um ungewöhnliche Kurven in Diagrammen zu vermeiden. Ungewöhnliche Kurven könnten darauf hindeuten, dass Waren unbeachtet über die Grenzen geschmuggelt werden. Und wer ist daran beteiligt? Richtig: die Outlaws.

   Mom kontrolliert also, ob eine Verbindung zwischen den Menschen innerhalb von New Ainé und den Outlaws besteht.

   Samstags findet immer das große Zählen der Lagerbestände statt. Am Wochenende sind alle Geschäfte geschlossen. Alle beruflichen Tätigkeiten werden eingestellt. Nicht weil Menschen in New Ainé so unglaublich faul und träge wären, sondern weil der siebzehnte Geburtstag vielleicht bedeutet, dass man in einen anderen Sektor verwiesen wird – vielleicht sogar ans andere Ende der Stadt. Am Wochenende haben dann die Familien die Gelegenheit, zusammenzufinden und die Zeit gemeinsam zu verbringen. Vorausgesetzt, man verfügt über die finanziellen Mittel, um sich diesen Luxus leisten zu können.

   Dad tritt gegen Nachmittag durch die Wohnungstür. Er fragt mich, wie es mir gehe. Er fragt mich, ob ich darüber reden wolle – wobei wir beide ganz genau wissen, dass das unmöglich ist. Niemand darf den Ablauf des siebzehnten Geburtstags erfahren. Niemand.

   Mom steht in der Küche und bereitet mein Lieblingsessen zu, als ich den Raum betrete. Makkaroni mit Käse. Ziemlich simpel, ich weiß. Aber nur, weil etwas leicht oder simpel ist, heißt das ja nicht, dass es nicht mindestens genauso umwerfend ist wie die weniger einfachen Dinge, oder?

   Wir sitzen am Tisch, als das Essen zubereitet ist. Nur wir drei. Heute Abend gibt es keine Neuigkeiten aus dem Senat, keine Ergebnisse aus Moms Arbeit und niemand redet über morgen.

   Es gibt nur uns. Mom, Dad und mich.

   Man könnte die Sätze an einer Hand abzählen, die gewechselt werden und manche würden die vorliegende Szene vielleicht als traurig und armselig beschreiben. Als eine Familie, die sich nichts zu sagen hat.

   Aber insgeheim genießen wir den Moment. Still und heimlich. Wir lächeln hier und da, halten den Blickkontakt aufrecht. Manchmal spüre ich den Fuß von Mom oder Dad zärtlich gegen mein Schienbein drücken. Und ab und zu fallen Sätze wie »Ich bin so froh, dass ihr da seid« oder »Ich hab euch so lieb.«

   Doch auch, wenn ich den Moment so unglaublich genieße und er den perfekten Kontrast zum heutigen Tag darstellt, kann ich nicht aufhören, auf den leeren Platz mir gegenüber zu starren.

   Auf den Stuhl, auf dem eigentlich Emilian sitzen sollte.

Als ich in mein Zimmer zurückgekehrt bin, schaue ich aus dem Fenster. Ich lehne mich hinaus und strecke eine meiner Handflächen dem sanften Wind entgegen, der durch die Gassen des Sektors fegt.

   Der Wind kitzelt an meinen Fingerspitzen und vertreibt die Hitze ein wenig, die durch meinen Körper zieht.

   Ich habe Glück. Glück, dass Dad als Lehrer arbeitet und ihm somit ein komfortableres Haus zugeteilt wurde als manch anderen. Zwar nicht unnötig anmaßend, aber dennoch schön.

   Ich habe Glück, dass ich über die anderen Häuser hinweg den Sonnenuntergang beobachten kann. Einzelne letzte Sonnenstrahlen zeichnen die Silhouetten und Umrandungen der Häuser auf den Boden. So sanft und unscheinbar und dennoch kantig, schwarz und grau.

   Das rote, wärmende Licht rieselt auf meine Haut. Ein sanftes Lächeln umschmeichelt meine Lippen und für einen Moment vergesse ich all die Sorgen, die mich umgeben wie Monde einen Planeten.

   Ich erinnere mich an History of New Ainé und die Vorgeschichte, die wir in der Schule besprochen haben. Ich erinnere mich daran, wie die Menschen damals mit ihren Kameras Sonnenuntergänge im Zeitraffer abgefilmt und sich eines Tages an dieser Erinnerung erfreut haben. Teilweise die Materialien ins sogenannte Netz gestellt haben, um ihre Freude mit anderen Menschen in vielleicht fernen Ländern zu teilen.

   Heutzutage gibt es 3D-Hologramme, die die Sonne eins zu eins in kleinerer Ausgabe widerspiegeln. Nicht für den privaten Gebrauch, sondern für die Forschung und die Wissenschaft.

   Die letzten Strahlen. Vielleicht noch zwanzig Sekunden, bis die Nacht vollends die Überhand gewinnt. Ein Seufzen entfährt mir. Leise und dennoch aufbrausend. Wie ein erstickender Laut im Mund eines Löwen.

»Skye.« Wispernd und leise. Vom Wind davongetragen.

   Ich fahre herum. Lasse meinen Blick durch das Zimmer schweifen. Habe ich mir das nur eingebildet? Meinen Namen? Verwirrt und zugegebenermaßen ein wenig ängstlich kehre ich meinem Zimmer den Rücken zu und lehne mich erneut aus dem Fenster.

»Skye, bitte.«

   Ich drehe mich ein zweites Mal um. Mustere mein Zimmer. Niemand ist zu sehen. Ich schüttle den Kopf, schließe einen Moment lang die Augen und wende mich wieder dem Fenster zu.

   Vielleicht noch sieben Sekunden bis zum Sonnenuntergang. Ich sauge förmlich die letzten Sonnenstrahlen auf, fühle jedes einzelne Härchen auf meiner Haut, das sich dem Wind entgegenneigt.

   Stille.

   Und plötzlich höre ich Schritte im unteren Stockwerk. Viele Schritte. Vielleicht drei Personen oder mehr.

   Noch fünf Sekunden.

   Sie nähern sich. Mein Herz setzt einen Schlag lang aus.

   Noch vier Sekunden.

   Immer und immer lauter. Ich höre meine Ohren rauschen.

   Noch drei Sekunden.

   Es müssen Patrouillen des Systems sein.

   Noch zwei Sekunden.

   Ich kralle mich in das Fensterbrett, weigere mich, mich umzudrehen.

   Noch eine Sekunde.

   Atmen, Skye! Atmen!

   Und plötzlich ist der Himmel dunkelblau, die Sonne macht dem Mond Platz.

   Ein lautes Geräusch, meine Tür springt auf.

   Ich fahre herum. Tausend Fragen verfangen sich in meinem Kopf.

   Warum?

   Wieso?

   Habe ich zu viel gesagt?

   Ist mir zu viel beim Essen herausgerutscht?

   Habe ich irgendwelche Details verraten?

   »Nicht bewegen!«

   Die Gewehre in ihren Händen brüllen mir entgegen. Wie kläffende Hunde.

   Sie kommen immer näher.

   Ich presse mich gegen die Fensterbank. Bis es schmerzt.

   Ich öffne meinen Mund, schier unfähig auch nur einen Ton aus mir herauszukitzeln. Und dann ...

   »Ich ... was –«

   Ein lauter Knall. Ein Schuss.

   Auf einmal spüre ich nichts mehr.

6

Emilian, damals

Ich spüre das durchdringende Sonnenlicht auf meiner Haut. So warm und sanft. Eindringlich und zurückhaltend. Statt der eigentlichen Schwärze, die mich umgibt, wenn ich meine Augen schließe, schillert alles in roten und gelben Farben.

   Ich lege meinen Kopf in den Nacken und lausche dem Wind. Er rüttelt an meinen Klamotten und zerzaust mein Haar.

    »Warum weint Mommy?«

   Ich öffne die Augen und kneife sie inständig wieder zusammen, als das grelle Licht mein Blickfeld in Beschlag nimmt und alles in ein sattes Gelb und Weiß taucht.

   Skye sitzt neben mir auf einer Schaukel. Hinter uns ein großer, grüner Baum in unserem Garten.

   Ich folge ihrem Blick durch die großen Glasfenster hindurch in unser Wohnzimmer. Mom sitzt auf der Couch, hält sich die Hand vor ihren Mund. Ihre Schultern beben ungleichmäßig und schier unkontrollierbar. Die sanften, nassen Bahnen auf ihren Wangen glänzen im Sonnenlicht. Hinter ihr steht Dad und reibt über ihren Rücken. Versucht sie zu beruhigen.

   Ich schlucke. Spüre, wie sich meine Hände ganz automatisch zur Faust ballen und die Stränge der Schaukel, auf der ich sitze, stärker umfassen.

   »Ich weiß es nicht, Skye«, antworte ich.

   »Vielleicht weint sie wegen Grandma.«

   Mein Blick wandert über Skyes Gesicht. Über die zarten Sommersprossen auf ihrer Nase, das traurige Lächeln, die großen, satten, braunen Augen. Eine Haarsträhne wird vom Wind in ihr sanftes Gesicht geweht und verdeckt einen Teil ihrer rosigen Wangen.

   Gott, Skye.

   »Wegen Grandma?«, frage ich.

   Sie nickt. Schließt die Augen und öffnet sie wieder. »Heute ist doch ihr Geburtstag. Der erste, den sie...«

   »Den sie nicht mehr feiern kann, ich weiß«, vervollständige ich den Satz. Ich greife mir an den Hals, taste nach der Kette. Spüre das von der Sonne aufgewärmte Silber, das sich in die Grube zwischen meinen Schlüsselbeinen schmiegt und mir Kraft gibt. Jeden Tag überprüfe ich, ob die Kette noch dort ist, wo sie hingehört. Es gibt Tage, da spüre ich sie gar nicht mehr. Denke, ich habe sie verloren. Und dann nehme ich jedes Mal das glänzende Silber wahr, das einst Grandma gehört hat und fühle mich sicher. Zumindest sicherer.

   Seltsam, ich weiß.

   Seltsam, wie sehr einem eine einfache Kette das Gefühl von Geborgenheit vermitteln kann.

   »Ja, das wird es wohl sein«, antworte ich.

   Skye nickt. Blickt zu Boden.

   Ich folge ihrem Blick und sehe ihr dabei zu, wie sie mit ihren Füßen in der trockenen Erde herumschert.

   »Arme Mommy«, erwidert sie leise. Es ist mehr ein Flüstern. Vom Wind davongetragen.

   »Arme Mom«, antworte ich zustimmend und leise.

   Dann halte ich inne. Mein Herz schlägt schneller, als ich zum Wohnzimmer blicke und Mom mir durch das große Fenster hindurch in die Augen sieht. Selbst aus so geraumer Entfernung erkenne ich die Angst und die Leere in ihren Augen.

   Grandma hat heute Geburtstag.

   Aber das ist nicht der Grund, weshalb Mom so aufgelöst ist. Ich weiß es besser: Seit Wochen erscheinen immer wieder ihre Gesichter in den Nachrichten.

7

Schon als kleines Kind fiel es mir schwer, Träume von der Realität zu unterscheiden.

   Zu wissen, wann es der Wirklichkeit entsprach, mit einem überdimensional großen Teddy-Bären zu reden, und wann nicht. Ich wusste nicht, ob ich damals wirklich über die Hochhäuser geflogen war, nachdem ich in der Schule über Peter Pan, den Kinderhelden der Z-Generation, gelesen hatte. Ich wusste nicht, ob Emilian und ich wirklich in einem schwebenden Baumhaus in unserem Garten übernachtet und die leuchtenden Sterne beobachtet hatten, nachdem ich am nächsten Tag in meinem Bett aufwachte und fest davon überzeugt war, dass mich Emilian noch spät in der Nacht ins Bett gebracht hatte.

   Erst als ich allmählich erwachsen wurde und die Träume immer realer zu werden schienen, wurde mir klar, dass ich lediglich träumte.

   Mir wurde klar, dass die schöneren Erlebnisse und Momente der Traumwelt angehörten. Dass es niemals mehr Flüge über die nächtliche Skyline oder Übernachtungen in einem fliegenden Baumhaus mit Emilian geben würde.

   Und mir wurde klar, dass ich der Realität nicht durch einen guten Traum entfliehen konnte.

   Die Traumwelt ist der einzige Ort, zu dem das System keinen Zugang hat.

   Die Realität hingegen ist das, was dich am Ende des Tages auf den Boden der Tatsachen fallen lässt und dir noch einmal in den Magen tritt, wenn du gekrümmt in einer Ecke liegst und dir wünschst, endlich einschlafen zu können.

   Manchen Dingen kann man einfach nicht entfliehen. Vielleicht konnte man das als Kind. Aber jetzt nicht mehr.

   Wobei ich alles – wirklich alles – dafür geben würde, jeden Augenblick aufzuwachen und zu realisieren, dass alles, was sich in den vergangenen Tagen abgespielt hat, nichts weiter als ein Traum war.

   Einer der aufregendsten und nervenaufreibendsten Träume, den ich je hatte, aber lediglich ein Traum. Nicht mehr und nicht weniger.

   Ein Hirngespinst meiner Fantasie.

   Aber es war kein Traum. Es wird nie einer gewesen sein. Und genau das wird mir in dem Moment klar, als ich bemerke, dass heute der Tag ist, an dem mein Leben aufhört, sich seinen eigenen Weg zu bahnen.

   Ich will endlich wieder einschlafen.

Ich bürste meine Haare. Putze meine Zähne. Spritze mir etwas Wasser ins Gesicht. Reibe meine Augen. Einen Teufel werde ich tun, die dunklen Augenringe abzudecken. Hieve mich zurück in mein Zimmer. Höre Mom unten in der Küche. Öffne per Knopfdruck die aufgleitende Tür in mein Zimmer. Kälte empfängt mich. Der Grund dafür ist das offene Fenster. Es regnet. Was für ein Zufall. Mein Sol-Tablet blinkt. Eine neue Nachricht. Von wem nur? Mein linker Arm juckt. Pulsiert. Besser gesagt die Stelle der Injektion. Ich versuche, nicht zu kratzen. Als ich hinschaue, leuchtet die grüne Flüssigkeit in meinem Unterarm kurz auf. Seltsam. Ich denke mir nichts dabei. Ich blicke zum Sol-Tablet hinüber. Ich will nicht. Ich will nicht. Ich will nicht. Wende meinen Blick ab. Werfe mich aufs Bett, anstatt die Nachricht zu öffnen. Ich will es nicht wissen. Ich will nicht. Ich atme ein. Und wieder aus. Ein und wieder aus. Ich lasse das Sol-Tablet nicht aus den Augen. Es blinkt. Vibriert plötzlich. Und dann ...

   Ein Schrei dringt aus meinem Hals. Ich halte mir die Hand vor den Mund, um ihn zu unterdrücken. Mein Arm verkrampft. Ich balle die Hand zur Faust. Die grüne Flüssigkeit leuchtet heller als sonst. Wie eine Schlange schlängelt sie sich durch meinen Unterarm. Taucht auf, geht unter. Mein Blick schweift durch das Zimmer. Das blinkende Licht des Sol-Tablets leuchtet im selben Grün-Ton.

   Es pulsiert erneut.

   Schmerz.

   Ich kann nicht anders.

   Ich stehe auf. Halte mir den Unterarm. Entsperre das Tablet und klicke ohne mit der Wimper zu zucken auf das Symbol von New Ainé.

   Das Tablet leuchtet blau auf. Doch anstelle einer Nachricht schießt aus der Frontkamera ein heller Lichtstrahl empor, der das gesamte Sol-Tablet in Beschlag nimmt. Eine dreidimensionale Kugel, bestehend aus Linien und Gittern, schwebt über dem Tablet und dreht sich um ihre eigene Achse.

   Für einen Moment vergesse ich zu atmen. Trotz der aufwühlenden Schmerzen in meinem Unterarm verliere ich kurzzeitig die Fassung.

   So etwas habe ich noch nie gesehen!

   Inmitten der Kugel flackert die Silhouette einer Figur auf, die sich im Dunklen verborgen wie ein Phantombild abhebt. Eine sanfte weibliche Stimme ertönt. Währenddessen zeichnen sich am unteren Rand der Kugel Audiowellen ab und geben das Gesagte der virtuellen Person in Wellenform wieder.

// Sehr geehrte Ms. Ignis,

Sie werden heute von jeglicher Betriebsamkeit befreit, die durch die Regierung verordnet wurde. Im Laufe des Tages erhalten Sie genauere Informationen, die Ihren morgigen Tag betreffen.

- N.A. //

Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich fühlen, denken oder machen soll. Ich starre lediglich auf die Hologramm-Aufzeichnung und weiß nicht, ob ich fasziniert, aufgewühlt oder verängstigt bin.

   Mein Körper fährt Achterbahn. Hoch und wieder runter. Hoch und runter.

   Sämtliche Gefühle vermengen sich zu einem gigantischen Feuerwerk in hochexplosiver Mischung.

   Das Tablet schaltet sich von alleine aus.

Im Laufe des Tages erhalten Sie genauere Informationen.

   Super! Noch mehr Nachrichten. Ich weiß nicht, was schlimmer ist: die Tatsache, dass ich morgen in einem vollkommen anderen Leben aufwachen werde; oder aber, dass ich nichts – absolut und rein gar nichts – dagegen unternehmen kann. Vielleicht habe ich ja Glück …

   Aber je länger sich die finale Entscheidung in die Länge zieht, desto schwächer wird der Funke in mir. Die Sonnenstrahlen, die die Gewitterwolken vertreiben.

Es ist bereits 14:00 Uhr. Das heißt, dass ich nun die Erlaubnis habe, vier Stunden lang das Haus zu verlassen. Ich schreibe Cassie, dass ich auf dem Weg zu ihr bin, verstaue das Tablet in meiner genormten Umhängetasche und lege meinen Finger an der Haustür in die dafür vorgesehene Einkerbung. Ein grünes Licht umrundet meinen Finger, fährt auf und ab, bis das klickende Geräusch ertönt und die Tür von selbst zur Seite geschoben wird.

   Ich will einen Fuß vor den anderen setzen.

   »Hast du alles?«, höre ich Moms Stimme durch den Gang schallen.

   Ich weiß, dass sie am Ende des Ganges in einem der Türrahmen lehnt und mich von oben bis unten neugierig und gleichermaßen skeptisch mit ihren Blicken durchlöchert.

   Mit »Hast du alles?« meint sie lediglich »Hast du dein Sol-Tablet?«. Sie kennt die Konsequenzen. Weiß, was passiert, wenn ich ohne Tablet aus dem Haus gehe.