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Eine tote Weinkönigin. Ein verschwundenes Kind. Und Reas erster Fall. Gerade erst zurück in der Heimat, stolpert Lokaljournalistin Rea Maiwald über die Leiche der amtierenden Weinkönigin und steht plötzlich mitten in einem Kriminalfall. Die kleine Tochter der Toten ist verschwunden, die Polizei tappt im Dunkeln. Rea beginnt zu recherchieren, trifft auf alte Freunde, neue Widerstände. Und auf ihre Jugendliebe Mik Bieling, jetzt Kommissar. Zwischen Winzerfest und Wahrheitssuche fragt sie sich bald: Gehört sie hier noch hin?
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Seitenzahl: 264
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Für Papa
»Der Moment ist etwas Seltenes, denn nur manchmal betrete ich mit beiden Füßen das Land der Gegenwart; meist gleitet ein Fuß in die Vergangenheit, der andere in die Zukunft.
Und am Ende stehe ich mit leeren Händen da.«
— Clarice Lispector, Ein Hauch von Leben
EINS
ZWEI
DREI
VIER
FÜNF
SECHS
SIEBEN
ACHT
NEUN
ZEHN
ELF
ZWÖLF
DREIZEHN
VIERZEHN
FÜNFZEHN
SECHZEHN
SIEBZEHN
NACHRUF
Die Fahrt am frühen Morgen bis zum Bahnhof in Freyburg hatte keine dreißig Minuten gedauert. Vorbei an noch grünen Flussufern, goldenen Feldern und reifen Weinreben, die sich schwer unter den letzten Trauben des Jahres bogen. Die Landschaft war typisch für diese Ecke der Saale-UnstrutRegion: sonnenverwöhnte Hänge, durchzogen von Trockenmauern aus hellem Kalkstein, darüber das weite Blau eines Sommerhimmels, der sich noch nicht geschlagen geben wollte. Der Spätsommer legte noch einmal alles in die Waagschale, und Rea hatte die ganze Zeit am verkratzten Zugfenster gelehnt, die Sonnenbrille tief im Gesicht. Dabei blinzelte sie dem Licht ihrer neuen alten Heimat entgegen. Sie hatte ganz vergessen, wie groß die Gärten hier auf dem Land waren. Schaukeln, Pools, Platz für Trampoline – fast schon verschwenderisch. In München war ein Garten so groß wie ein Handtuch, wenn man überhaupt einen besaß. Hier war Platz. Luft. Obwohl hier jedem mehr Raum und Privatsphäre zur Verfügung stand, war sich niemand fremd. Oder doch? In der Stadt, in der Rea die letzten zwanzig Jahre gelebt hatte, war jeder für sich. Eingemietet in Anonymität, mit Nachbarn, deren Namen man nie erfuhr. Die Landluft, dachte Rea, roch nicht nur anders, sie verlangte auch nach einem anderen Tempo.
Die Regionalbahn spuckte Rea gegen halb neun in der Früh in Freyburg aus. Ihr Kopf schmerzte. Die Wirkung der Aspirin ließ auf sich warten und die Vorstellung, mit dröhnendem Schädel bis zum Auto zu laufen, das sie zwischen dem Burghotel und dem Weinberg geparkt hatte, nervte sie. Also beschloss sie, den steilen Weg mit dem Taxi hochzufahren. Schon bei der Einfahrt in den beschaulichen Bahnhof sah Rea, dass es hier weit und breit keine Taxis gab. An einem Aushang fand sie schließlich ein gelbes DIN-A4-Blatt mit der Nummer eines örtlichen Fahrdienstes. In der Schriftart Comic Sans ausgedruckt: Krankenfahrten, mit und ohne Transportschein, Zubringerfahrten, Gepäcktransfer, Kurier- und Einkaufsdienste und medizinische Transporte.
Ja, da schau her. Zum Glück hatte sie Empfang, als sie die Nummer wählte. Keine fünf Minuten später bog ihr persönlicher Chauffeur in die Bahnhofstraße ein und sie hob ihren Arm, um das Taxi heranzuwinken. Lächerlich schalt sie sich, als ihr einfiel, dass sie die Einzige war, die dort stand, wie bestellt und nicht abgeholt.
Schon auf den ersten Metern der Fahrt merkte sie, dass der gestrige Riesling eine Nummer zu viel gewesen war. Ihr Magen schwappte mit jeder Kurve. »Das macht 7,50 Euro, junges Fräulein.« Reas Augenlid zuckte nervös. Junges Fräulein – das war entweder ironisch gemeint oder Ausdruck eines Zeitgefühls, das vor ihrer Geburt stehengeblieben war. Na, vielen Dank auch.
»Zehn Euro bitte und ich zahle mit Karte.« So kleine Beträge war sie nicht mehr gewohnt. Von vorn ertönte ein lautes Gelächter. »Na sachen’Se mal, haben’Se keen Jeld dabei?« Ihre Blicke trafen sich im Rückspiegel. Er schaute in Hilflosigkeit und sie in Unverständnis. Der Fahrer schüttelte mit dem Kopf, kramte aber nebenbei, leise vor sich hin schimpfend im Handschuhfach und holte widerwillig das Kartenlesegerät raus. »Na hoffentlich ham’Se Glück und das Ding hat hier jenuch Empfang.«
Während der Taxifahrer den Rückwärtsgang einlegte und Rea nach dem Autoschlüssel suchte, klingelte ihr Handy. Ihr Chef. Natürlich.
»Rea, wo ist das angekündigte Interview?« Oskar Rabe war spürbar verärgert über den dürftigen Artikel, den sie letzte Nacht an die Redaktion geschickt hatte. Aus ihrer Not heraus hatte sie sich auf den Ablauf der Weinrebensetzung konzentriert und die wenigen Textpassagen über Wetter und Tradition mit vielen Fotos garniert. Oskar arbeitete seit der Wende beim Tagesboten und kam damals aus dem thüringischen Erfurt in die Domstadt Naumburg. Er hatte es leichter als Rea. Sie kam aus dem Westen. Auch wenn sie keine 30 Kilometer von Naumburg geboren wurde. Einmal rübergemacht, das war wie Fahnenflucht.
»Das ist der gleiche Einheitsbrei wie die letzten Jahre. Bei deinem Artikel hätten wir nur die Jahreszahlen austauschen müssen. Hast nicht gerade du die Nase hochgehalten, dass du exklusive Kontakte zur Sektkellerei und der Weinhoheit hast?« Verdammt. Keiner wusste bis jetzt, dass die frisch gekrönte Weinhoheit nicht zum versprochenen Interview aufgetaucht war. Über drei Stunden hatte Rea am Vorabend auf Nancy Schäfer gewartet und sich ihre Wartezeit mit perfekt temperiertem Riesling im Burghotel vertrieben. Das Auto hatte Rea zuvor zwischen den Weinbergen abgestellt, um Fotos von der Rebensetzung der Hoheiten und dem Komitee zu machen, und war dann den Rest zum Hotel und vereinbarten Treffpunkt gelaufen.
»Sie war nicht da.«
»Wie? Sie war nicht da? Auf den Fotos ist sie doch überall!«
»Ich kann es mir doch auch nicht erklären. Ich habe ein paar Stunden auf sie gewartet und nebenbei die Fotos bearbeitet, aber sie ist einfach nicht aufgetaucht.«
»Na, schöne Kontakte hast du«, wetterte er. »Und jetzt?«
»Ich versuche seit gestern Nacht, den Personalchef zu erreichen, der, der mir das Interview versprochen hatte. Ich erreiche ihn leider nicht.« Jede Silbe schrie: Niederlage.
»Du weißt, dass einige deiner Kollegen nur darauf warten, dass du einen Fehler machst.«
Sie verdrehte die Augen. Natürlich wusste sie das. Und genau deshalb hatte sie sich am Abend davor den Riesling gegönnt. Vielleicht ein bisschen zu großzügig.
Rea bahnte sich währenddessen einen Weg durchs knöchelhohe Gras zum Auto. Der kleine Fiat 500 war vollkommen eingestaubt, das glänzende Schwarz überzogen mit einer Schicht aus Erde, Pollen und dem, was der Wind aus den Weinbergen mitgebracht hatte. In der Lesezeit sahen viele Autos hier so aus – als hätte die Landschaft selbst einen Fingerabdruck auf dem Lack hinterlassen.
Sie kramte in ihrer Tasche nach dem Schlüssel. Zwei Wespen näherten sich zielsicher, angelockt vom süßen Parfum, das sie heute Morgen gedankenlos aufgelegt hatte. Nach längerem Wühlen endlich: der Schlüssel. In dem Moment surrte eine der Wespen haarscharf an ihrem Gesicht vorbei. Rea zuckte zurück, fuchtelte instinktiv mit der Hand und sah, wie der Schlüssel in hohem Bogen in die Luft flog und im nächsten Augenblick zwischen Gras, Steinen und Gestrüpp verschwand.
»Mist!«, fluchte sie und versuchte, den Punkt zu fixieren, an dem er gelandet sein musste.
»Ja, das ist wirklich Mist«, kam es trocken aus dem Telefon.
Sie schmiss ihre Tasche auf die Motorhaube, wo nun auch die Wespen kreisten, und stapfte los. Dieser Tag konnte nicht schlimmer werden.
Kopfweh. Schlüssel weg. Chef sauer.
»Oskar, du bekommst deine Story. Ich bin guter Dinge: Es ist noch früh am Morgen. Die halbe Stadt hier liegt verkatert in den Betten und schläft ihren Rausch aus. Und wenn alle wieder wach sind, werden sich der Personaltyp und die Weinkönigin bei mir melden.«
Oskar knurrte unzufrieden, während Rea den Blick über das Gelände schweifen ließ. Auf dem freien Stückchen Wiese lag kein Schlüssel, also arbeitete sie sich weiter Richtung Reben vor. Die schmale Trockenmauer vor ihr markierte die Grenze, dahinter wurde es wilder: stachelige Disteln, Brombeerranken, Geröll, altes Laub. Und zwischen all dem ein schmaler Streifen Wald, der wie ein vergessener Schatten an den Hang geschmiegt lag.
Diese eigenwillige Mischung aus Weinbau, Wiese und Wald prägte die ganze Region und machte sie so besonders. Für die einen ein Postkartenidyll, für Rea gerade ein Minenfeld aus Dornen und Brennnesseln.
Der Schlüsselbund muss hier doch irgendwo sein.
»Ich hoffe für dich, dass die Weinhoheit bald auftaucht. So eine gute Story wie dieses Jahr haben wir selten. Ich will unbedingt wissen, wieso gerade sie das Komitee überzeugen konnte. Es ist mir bis heute ein Rätsel, warum eine alleinerziehende Mutter Mitte zwanzig diese Wahl gewonnen hat.«
»Chef, das weiß ich. An der Story bin ich dran.«
Wie ein Kranich auf einem Bein zwischen den Disteln und das andere in der Höhe zum Ausbalancieren konzentrierte sie sich auf den kleinen Streifen Gras und Gestrüpp vor sich. Da blitzte der Anhänger mit dem Schlüssel auf. »Hab ich dich!«
»Rea? Was machst du denn da? Hörst du mir überhaupt zu?«
Mit geschützter Hand ergriff sie ihren Schlüssel. Plötzlich schrie sie auf: »Ach du Scheiße!«, und taumelte vor Schreck zurück.
»Chef? Das glaubst du nicht.«
Sie hatte nicht nur ihren Schlüssel, sondern auch die Weinkönigin gefunden.
Rea stolperte kreidebleich zurück, setzte sich auf die warme Steinmauer und ignorierte die irritierte Stimme ihres Chefs am anderen Ende der Leitung sowie die Blutflecken auf dem Sandstein. Ohne ein Wort der Erklärung drückte sie die rote Taste auf dem Telefon und wählte die 112 für den Rettungsdienst.
Während sie dem Mann schilderte, was sie gefunden hatte, beugte sie sich zu der offenbar leblosen Frau vor. Die Augen von Nancy waren barmherziger Weise geschlossen, und der Mann am anderen Ende der Leitung bat Rea, den Puls zu fühlen. Als Reas Finger zitternd die Haut berührten, war diese kalt und an der Halsschlagader war kein Puls tastbar. Noch nie hatte Rea einen toten Menschen berührt. Übelkeit stieg in ihr auf und sie unterdrückte ein Würgen.
Der Mann von der Notfallnummer befahl ihr, nichts weiter anzufassen und in der Nähe zu bleiben. Ein Krankenwagen und die Polizei seien schon auf dem Weg. Den Krankenwagen könnt ihr euch schenken. Kurz nachdem sie aufgelegt hatte, übergab sie sich.
Trotz der furchtbaren Entdeckung in den frühen Morgenstunden wurde dieser Tag ein schöner. Die Sonne strahlte erbarmungslos vom Himmel, die Temperaturen kletterten auf knapp 30 Grad. Sehr warm für Anfang September.
Das Wetter störte sich eben nicht an menschlichen Grausamkeiten.
Die ersten Reaktionen der Polizisten ließen vermuten, dass Nancy einem Verbrechen zum Opfer gefallen war. Für Rea war dies mehr als nur eine Vermutung. Sie hatte versucht, sich einzureden, es könnte ein Unfall gewesen sein. Oder ein plötzlicher, natürlicher Tod. Aber das, was sie gesehen hatte – die Haltung, die Spuren, die Kälte – ließ sich nicht schönreden.
Jetzt saß sie, mit dröhnendem Schädel und einem Glas Bourbon ohne Cola und ohne Eis auf dem kleinen Küchenbalkon. Vor ihr das neu angelegte Atrium, ein kleiner, feiner Innenhof als Rückzugsort, den sie sich nach dem Umzug gegönnt hatte. Der Schock saß ihr noch in den Knochen.
Sie hatte dafür gesorgt, dass ihre Tochter Matilda nach der Schule mit ihren Freundinnen mitgegangen war. Die Zwillinge Milla und Juna waren Matilda in den letzten Monaten nach dem Umzug sehr ans Herz gewachsen. Der Fotoladen unten blieb heute Nachmittag geschlossen. Das machte Rea sonst selten, und dann auch nur, wenn sie im Auftrag für Kunden unterwegs war. Den Job als freie Journalistin in der Naumburger Redaktion konnte sie nur vormittags ausüben, da Matilda ab 14 Uhr nach Hause kam.
Seit der Rückkehr aus München und der Übernahme des Fotostudios von ihrem Onkel liefen die Aufträge nur schleppend an. Kein Wunder – in einer Kleinstadt auf dem Land war Vertrauen ein ganz anderes Thema, es zu gewinnen, noch mal ein eigenes. Ihr Onkel hatte hier über dreißig Jahre gearbeitet. Für viele war er der Mann gewesen, der Hochzeiten, Konfirmationen, Jugendweihen und Kleinkind-Shootings festhielt. Und jetzt stand Rea hinter dem Tresen, mit einem anderen Blick, einer anderen Art. Und mit einer Technik, die manch einer skeptisch beäugte.
In den letzten Jahren hatten Drogerieketten die Entwicklung billig gemacht, und das Selfie-Zeitalter hatte das professionelle Porträt fast überflüssig werden lassen. Von der geheimnisvollen Arbeit in der Dunkelkammer ganz zu schweigen. Rea wusste das. Und trotzdem hatte sie das Studio übernommen.
Am späten Nachmittag sah sie sich die Unterlagen und die frisch entwickelten Fotos vom Winzerfest auf dem alten Küchentisch noch mal genauer im Großformat und Lupe an. Vielleicht konnte sie irgendetwas auf den Fotos entdecken, was ein Hinweis auf den Mord an Nancy Schäfer sein konnte. Etwas, das sie nicht gesehen hatte. Etwas, das sie nicht sehen wollte. An ihr nagte der Zweifel, ob sie nicht doch in der Redaktion Bescheid geben sollte, was passiert war. Aber die Polizeibeamtin, die mit ihrem Kollegen vor Ort war, bat sie um Diskretion, bis sie vom neuen Kommissar befragt wurde, und das offizielle Okay kam.
Als Matilda von ihren Freundinnen nach Hause kam, war der Kater verflogen und Rea war nicht mehr so verwirrt und geschockt wie noch Stunden zuvor. Zumindest riss sie sich zusammen, damit ihre Tochter ihr nichts anmerkte. Sie wollte heute nichts mehr erzählen oder erklären, und schon gar nicht sollte Matilda erfahren, dass sie die Leiche gefunden hatte. Diese Fragenlöcherei würde Rea jetzt nicht durchstehen. Außerdem brauchte sie einen ruhigen Abend und Matilda einen schnellen Schlaf. Und beides konnte sie vergessen, wenn sie ihre Tochter mit diesen Neuigkeiten aufwühlte.
»Mama, hast du meine Lieblingsjeans gewaschen?«, fragte Matilda, die ihre Sachen für den nächsten Schultag rauslegen wollte.
»Die ist noch im Trockner, Schatz. Ich leg sie dir später auf den Stuhl.«
Matilda war fast zwölf – selbstständig, stolz, aufmerksam. Die Trennung ihrer Eltern hatte sie reifen lassen. Seit über einem Jahr fuhr sie einmal im Monat allein mit dem ICE nach München. Ohne die Begleitung und Betreuung der Bahnhofsmission und den Kinderbetreuungsservice wäre das nicht gegangen. Rea war der Meinung, Kinder sollten lernen, sich was zuzutrauen. Am liebsten mochte Matilda die Fahrten, bei denen noch jemand in ihrem Alter dabei war – vor allem, wenn es andere Scheidungskinder waren. Manchmal tauschte man ein paar Geschichten aus, manchmal eine Handynummer.
Rea deckte den Küchentisch für das Abendessen und Matilda stopfte sich nebenbei schon erste Paprikastreifen in den Mund. »Mama, am Sonntag ist die Geburtstagsparty von Jolie aus unserer Klasse. Die wollen auf dem Reiterhof feiern. Darf ich hingehen, Mami?«, fragte Matilda kauend.
»Ich dachte, du magst Jolie nicht?«
»Na ja, wenn wir bei den Pferden sind, gehts schon.« Rea grinste, aber erinnerte Matilda: »Außerdem sind Ferien und wir fahren am Sonntag nach München.«
»Och menno, Mama. Nie bin ich bei irgendwas dabei. Juna und Milla gehen auch hin. Können wir Papa nicht anrufen, dass wir ein paar Tage später losfahren?«
»Nein Matilda, das geht leider nicht. Papa und ich haben einen wichtigen Termin. Montagfrüh.«
Rea stellte die Fischstäbchen und die Ofenkartoffeln auf den Tisch. Ihre Tochter schaufelte sich fünf Fischstäbchen auf ihren Teller und badete sie in einem Meer aus Ketchup. Was Matildas Lieblingsessen betraf, hatte sich nach vielen Jahren nichts geändert.
»Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass du deinen Vater nicht gerne sofort besuchen willst. Jetzt, wo das Baby endlich da ist.«
»Doch, ich will ja. Aber gerade dieses Wochenende …«, Matilda schmollte. Rea konnte sie ja verstehen. Es war anstrengend für sie, jedes zweite Wochenende von einer Welt in die nächste zu schlüpfen. Denn einmal im Monat kam ihr Vater mit seiner Freundin hier in die Nähe, und Matilda schlief mit der »neuen Familie« in einem Appartement im nahegelegenen Schloss Zingst. Sie liebte zu Recht diese Wochenenden, in denen sich alles nur um sie drehte. Sie zeigte ihrem Besuch – so wie sie es stolz nannte – die Gegend. Eine, die sie selbst noch erkundete. Doch jetzt, wo das Baby da war, würde sich vielleicht einiges ändern.
Matilda hatte sich, seit den letzten zwölf Monaten, in denen sie nun schon hier in der Pampa lebten, sehr gut eingelebt. Natürlich vermisste sie München und vor allem ihren Vater. Aber sie fühlte sich hier sehr wohl und hatte schnell Anschluss gefunden. Vor allem die Zwillingsmädchen waren fast jeden Tag nach der Schule zu Besuch. Diese Freundschaft beruhigte Reas schlechtes Gewissen, nur ein Kind auf die Welt gebracht zu haben. Aber das Leben läuft nun mal nicht nach Plan.
»Tilli, Schatz«, versuchte sie es versöhnlicher und umarmte sie am Tisch. »Partys und Pferde laufen ja nicht weg. Der Geburtstag ist nächstes Jahr auch wieder. Da passen wir mit der Planung besser auf, okay?«
»Versprochen?«
»Du musst mich nur daran erinnern, und Papa und ich kriegen das schon hin.« Rea nahm Matildas lange, braune Haare, die einen leichten Rotstich hatten, in die Hand, drehte sie zu einem Pferdeschwanz zusammen und gab ihr einen schmatzenden Kuss auf die Wange. Für Rea war diese Diskussion damit beendet.
Es war kurz nach zwanzig Uhr und Rea schaute gerade die Nachrichten, als das Telefon klingelte. Unbekannt – das war ihre Mutter. Die Einzige, die unterdrückt anrief, als ginge es um Staatsgeheimnisse.
»Rea, Schatz, hast du schon mit deiner Anwältin gesprochen?«
»Hallo Mama, ich habe es noch nicht geschafft. Zurzeit ist es wirklich stressig in der Redaktion.« Wahrheitsgemäß hatte sie keine Lust, ihre Anwältin wegen solcher Lappalien zu kontaktieren.
»Werde da ja nicht zu nachlässig, Rea. Du musst auch zusehen, wie du über die Runden kommst. Da darfst du auf Philipp keine Rücksicht nehmen.« Rea verabschiedete sich innerlich von einem ruhigen Abend und stellte den Fernseher auf stumm.
»Ich werde morgen eine E-Mail schreiben, damit sie Philipp eine Zahlungsaufforderung schickt. Im Moment kann ich die Raten noch zahlen. Die Jobs laufen wieder gut an. Deswegen bin ich ja so gestresst«, flunkerte sie. Die Redaktion war damit nicht gemeint. Der freie Job reichte hinten und vorne nicht.
Reas Mutter war anfangs überhaupt nicht begeistert, dass sie das Studio von ihrem Bruder übernommen hatte. »Du sollst dir nicht so viel Stress aufhalsen, Rea. Du weißt, wohin das deinen Onkel getrieben hat. Wie er dir nur das Geschäft vererben konnte! Er musste doch wissen, dass das für eine alleinerziehende Frau nichts ist. Aber du musstest es natürlich annehmen«, schimpfte Reas Mutter, sichtlich wütend auf ihren toten Bruder.
»Jetzt ist aber gut, Mama. Onkel Dieter hat das Testament geschrieben, als ich noch mit Phil verheiratet war. Und außerdem haben wir schon oft darüber diskutiert. Ich hätte das Erbe ja auch ausschlagen können, oder das Studio schließen«, sagte sie bestimmt.
»Aber, wenn du das Studio schließt, kannst du die Kosten vom Haus nicht mehr decken. Hast du noch mal über die Idee mit der Verpachtung vom Geschäft nachgedacht?«, fragte ihre Mutter etwas versöhnlicher.
Sie machte sich nur Sorgen. Und sie wollte nicht, dass Rea an der Doppelbelastung als Alleinerziehende und Selbständige, deren Geschäfte schlecht liefen, in die Armutsfalle tappte.
»Kannst du nicht in Naumburg in der Redaktion eine Vollzeitstelle antreten, bis das Redaktionsbüro in Nebra fertig ist? Ich rede mit deinem Vater, vielleicht kann ich nachmittags die Betreuung von Matilda übernehmen, bis du aus Naumburg zurück bist.« Sie klang sehr bemüht, tausend Lösungen für eine Misere zu finden, die allerdings nur sie selbst so empfand. Rea wollte das Geschäft gar nicht aufgeben. Sie liebte diesen Job, der zwar noch kein Einkommen brachte, aber das sollte sich hoffentlich bald ändern.
»Mama, du hast in der Bäckerei genug zu tun. Und eine volle Stelle gibt es aktuell in der Redaktion nicht. Ich gebe mir noch ein paar Monate, um zu sehen, wie das Geschäft und Studio weiterlaufen, und dann können wir immer noch sehen.«
»Ach, wären wir doch nie nach der Wende mit der Bäckerei von Nebra nach Roßleben gezogen, dann hätte Tilli jeden Nachmittag bei uns vorbeikommen können. Und sie wäre genauso in der Bäckerei aufgewachsen, wie du.«
»Mutter, wenn wir alle Wenns und Danns durchspielen, sind wir morgen noch nicht fertig.«
Das Gespräch zog sich. Immer derselbe Tenor. Sorge, Rat, Vorschlag, Wiederholung. Rea überlegte, ob sie von Nancy erzählen sollte. Wenn sie es nicht tat, wäre ihre Mutter todbeleidigt. Doch wenn sie es tat, telefonierten sie noch mindestens eine Stunde. Auf der anderen Seite musste sie es jemandem erzählen, sonst würde sie heute Nacht keinen Schlaf finden. Sie atmete tief durch und schaltete die Nachrichten ganz aus. Und fing an, zu erzählen.
Rea schielte verschlafen auf die Uhranzeige auf dem Display. Es war zu früh. Sie nahm die dort vor Stunden eingegangene Nachricht wahr und wurde schlagartig wach.
Montag, 23:51 Uhr
Hey Süße, war schön, dich vorgestern nach so langer Zeit wiederzusehen. Du bist noch heißer als damals in der Schule. Ich hoffe, dass Interview mit Nancy lief gut. Kostet ein Date mit mir. Küsschen, Steve
Ein Date? Küsschen? Rea stöhnte genervt auf und drückte sich das Handy gegen die Stirn. Dass dieser Gefallen einen Preis hatte, war ihr neu.
Kostet ein Date mit mir. Na, klar.
Steve Hüges war Reas Kontakt zur Sektkellerei. Bei ihren Recherchen zum Winzerfest war sie darauf gestoßen, dass ausgerechnet der Schnösel und ehemaliger Mitschüler der Personalchef bei Rubinauen war. Sie hatte ihn für Samstagabend kontaktiert, als im offiziellen Festprogramm unter dem Titel gehobenes Entertainment ein Abend in der Sektkellerei angekündigt wurde. Ein kurzes Interview – ein paar Hintergründe zur Kellerei hier und Informationen über den Ablauf des Festes da – mehr wollte sie nicht. Steve hatte sie darüber hinaus mit dem Eventmanager bekannt gemacht, der wiederum einige organisatorische Details zur diesjährigen Weingebietskönigin beisteuern konnte. Danach haben Steve und sie noch knapp zwei Stunden an der Bar gesessen und zwei, drei Gläser Sekt getrunken. Es war ein nettes Gespräch mit vielen Kennst du noch den? oder Was macht eigentlich die? Nachdem Rea sich mit viel Wasser wieder nüchtern getrunken hatte, war sie, zufrieden über den Abend, durch die sternenklare Septembernacht zwanzig Kilometer nach Hause gefahren. Steve versprach ihr an dem Abend ein exklusives Interview mit der Weinkönigin am Sonntag, nach dem traditionellen Setzen der Weinrebe. Inklusive Fototermin, hatte er gesagt. Großspurig.
Rea hatte Steve damals in der Abschlussklasse nie wirklich leiden können. Seine selbstgefällige Art, seine strategisch verteilte Beliebtheit – er war der Typ, mit dem man sich lieber gut stellte, um nicht in seine Schusslinie zu geraten. Wer sich gegen ihn stellte, wurde zum Außenseiter. Und Steve genoss es.
Als Mädchen hatte man es einfacher. Ein Lächeln, ein paar Lacher über seine peinlichen Machowitze – und man war sicher. Rea hatte dieses Spiel nie gemocht, aber mitgespielt. Damals. Und auch an diesem Samstagabend.
Sie stellte neugierig ihre Fragen, nickte bei seinen ewig langen Ausschweifungen und lachte über die Anekdoten seines ach so tollen Lebens als Personalchef einer weltbekannten Sektkellerei. Der Einzige aus unserer Abschlussklasse, der’s zu was gebracht hat, hatte er gesagt. Als wäre das ein Orden. Verliehen von ihm selbst.
Er sprach über seinen frisch fertiggestellten Neubau in Freyburg, mit Blick auf Fluss und Weinberge, über seine Frau, die zwei kleinen Söhne, das harmonische Leben. Es klang wie aus einem Werbespot für ein Fertighaus in Hanglage.
Und irgendwo dazwischen ließ er fallen, dass er’s mit der Treue nicht so genau nahm.
Fast beiläufig. Fast charmant.
Fast so, als müsste man dafür Verständnis haben.
Steve strich ihr dabei ganz zufällig am Knie entlang, als ihm eine der Erdnüsse, welche zum Sekt serviert wurden, aus der Hand fiel und er sie wieder aufheben wollte. Gott sei Dank hatte Rea sich gegen einen Rock entschieden. Stattdessen für ihre Wohlfühlklamotten, bestehend aus grauer Jeans und schwarzem T-Shirt. Da es allerdings »gehobenes Entertainment« war, zog sie einen schwarzen, glänzenden Blazer drüber und tauschte ihre Chucks gegen teure, rote Pumps.
Ein erneuter Blick aufs Display verriet ihr, dass gerade mal zehn Minuten vergangen waren, und sie war hellwach. Also stand sie schon vor dem Weckerklingeln auf und marschierte Richtung Kaffeemaschine in die große Wohnküche. Sie öffnete die Balkontür zum Innenhof. Die Morgenluft war für September schon recht kühl und man spürte, dass des Sommers letzten Tage angebrochen waren. Ihre Füße wurden gnadenlos kalt auf den petrol-sandfarbenen Ornamentfliesen. Ihr Onkel hatte kurz vor seinem Tod die Wohnung im Obergeschoss komplett renoviert. Vom alten Sechzigerjahre-Charme, so wie Rea es lange in Erinnerung hatte, war nicht mehr viel zu sehen. Die Fliesen hatte er sich extra aus Italien liefern lassen, doch ohne Fußbodenheizung konnte sie hier nicht mit nackten Füßen stehen. Hausschuhe besaßen weder Matilda noch sie. Diese Konventionen hatte Rea in München gelassen.
Auf dem alten abgenutzten Küchentisch lagen neben den Fotos die Notizen und das Diktiergerät von Samstagabend. Zum Aufnehmen war sie leider nicht gekommen, weil die Band den Lichthof mit erstklassiger Musik komplett beschallt hatte.
Der Kaffee dampfte in Reas angesprungener Lieblingstasse, und sie setzte sich, im Schneidersitz die Füße wärmend, vor die Aufzeichnungen. Es war noch immer nicht sechs Uhr und Matilda schlief noch mindestens eine halbe Stunde, bis ihr Wecker klingelte. Auch wenn sie heute nicht in die Redaktion fahren würde, ging sie die Unterlagen wieder und wieder durch. Das Gespräch mit dem Eventmanager? Unspektakulär. Bestätigung dessen, was sie vorher recherchiert hatte. Rea angelte sich ihren Laptop und fasste die Gespräche mit Steve und dem Manager zusammen, betitelte den Artikel neutral als Resümee des hiesigen Winzerfestes und schickte ihn kurz nach sechs an Oskar. Irgendwas musste sie ja liefern, wenn der versprochene Artikel ausblieb.
Die Sache mit Nancy? Schwierig.
Sie würde nachher auf dem Revier nachfragen, ob die Nachrichtensperre immer noch gelte. Spätestens wenn sie morgen wieder nicht in der Redaktion erscheinen würde, musste sie ihrem Chef eine Erklärung abliefern. Ihm kam das sicherlich schon seltsam vor. Erst kein Interview mit der diesjährigen Weinkönigin, das verpasste Treffen und dann war Rea den zweiten Tag in Folge nicht am Arbeitsplatz erschienen.
Am Samstagabend zeigte sich Steve begeistert, dass sie sich für ein Porträt über Nancy interessierte. Als Rückkehrerin war sie für Rea doppelt spannend. Wie Rea war Nancy nach Jahren zurück in die Heimat gekommen. Beide mit Kind, beide mit Vergangenheit.
Steve hatte erzählt, dass Nancy vor einigen Jahren eine Ausbildung in der Marketingabteilung der Kellerei gemacht hatte.
Und dass er sie gut kannte. Sehr gut.
Als die Entscheidung im August gefallen war, wer die neue Weinkönigin Saale-Unstrut sein würde, hatte Rea einige Recherchen zu ihr angestellt und alte Kontakte spielen lassen, doch viel hatte sie über Nancy nicht herausbekommen. Es war vielen ein Rätsel, weshalb Nancy die diesjährige Weingebietskönigin geworden ist. Einige Voraussetzungen für diesen repräsentativen Job erfüllte sie nicht, oder zumindest nur mit sehr viel Interpretationsspielraum. Im Netz, vor allem über Facebook, konnte Rea herausfinden, dass Nancy mit ihren fünfundzwanzig Jahren bereits ein Kind hatte und aus Hamburg zurück in ihre alte Heimat gezogen war. Sie hatten tatsächlich einiges gemeinsam, außer dass Nancy knapp fünfzehn Jahre jünger und eine bildschöne Blondine war. Gewesen war.
Vieles an dieser Wahl passte nicht zur offiziellen Ausschreibung: ledig, flexibel verfügbar, uneingeschränkt repräsentativ. Für Rea als alleinerziehende Mutter undenkbar. Nancy war nicht die Idealbesetzung, und doch hatte sie gewonnen. Mit 25 – als älteste Weinkönigin der letzten Jahrzehnte.
Rea hatte Respekt. Und viele Fragen.
Wie hatte Nancy das Komitee überzeugt?
Wie wollte sie Kind, Termine, Pflichten organisieren?
Vielleicht hatte sie deshalb das Interview wirklich gewollt. Nicht wegen der Story. Sondern, weil sie sich in Nancy wiedererkannte.
Details aus dem privaten Interview wollte Rea separat in der Woche nach dem Winzerfest in einem gesonderten Artikel liefern. Am liebsten hätte sie sogar eine kleine Fotostrecke mit Nancy und ihrer Tochter gemacht. Ihr war es wichtig, den Einwohnern hier zu zeigen, dass man keine Versagerin war, wenn man in die Heimat zurückkehrte. Der Grund der Rückkehr war meistens Heimatverbundenheit und Sehnsucht nach Vertrautheit. Sicher gab es viele junge Menschen, die in neuen Wohnorten Fuß fassten und sich dort wohlfühlten. Doch dann gab es solche wie Rea, die immer diese tiefe Sehnsucht nach ihrem Zuhause spürten. Vielleicht weil ihr Ex während der Ehe es nicht geschafft hatte, ihr ein Gefühl von Geborgenheit zu vermitteln.
Sie drückte auf E-Mail senden und war jetzt schon ganz nervös, wie der Chef reagieren würde, weil sie sich heute erneut … freinahm … so nannten es die Kollegen, wenn Rea aus dem HomeOffice heraus arbeitete. Sie machte sich Kaffee Nummer zwei und überlegte, wie sie am geschicktesten auf Steves WhatsApp-Nachricht reagieren sollte. Sie durfte ja laut Polizei noch nichts erzählen. Rea starrte auf sein Küsschen. Ihre Fantasie galoppierte los. Was, wenn Steve da mit drinsteckt?
Langsam, ermahnte sie sich. Taktisch vorgehen.
Dienstag, 6:15 Uhr
Hey Stevie, danke dir! Leider ist die Hoheit nicht zum Treffen erschienen. Sie ist wie vom Erdboden verschluckt. Weißt du, wo sie steckt? LG Rea
Nachdem Matilda sich auf den Schulweg gemacht hatte, rief Rea erneut im Revier an, um zu fragen, wann genau sie zur Zeugenbefragung kommen sollte. Sie hatte Frau Riedel am Telefon, die sie schon seit einiger Zeit durch ihre Journalistentätigkeit kannte. Sonja dagegen kannte Rea schon als kleines Kind, da ihr Mann und Reas Vater alte Bekannte aus dem Kleintierzuchtverein waren. Vor 14 Uhr wäre der neue Kriminaloberkommissar nicht auf der Dienstelle und daher ergab es keinen Sinn, vorher vorbeizukommen. Rea seufzte. Wieder ein Tag, den sie zerschneiden musste. Wieder ein Schulweg, bei dem sie auf Hilfe angewiesen war. Wieder ein Nachmittag, an dem sie den Laden nicht öffnen konnte. Und all das wegen einer Begegnung, die nie stattgefunden hatte, weil Nancy nie aufgetaucht war.
Sie legte auf, starrte einen Moment ins Leere und spürte, wie eine Mischung aus Pflichtgefühl und diffusem Unbehagen sie innerlich anschob. Dieses Mädchen. Nancys Tochter. Wie ging es ihr jetzt? Wer kümmerte sich um sie?
Ein Teil von Rea wollte sich einfach nur ablenken, ein anderer suchte einen Sinn – in all dem.
Sie konnte nichts tun, bevor der neue Kommissar Zeit für sie hatte. Aber sie konnte etwas Menschliches tun.
Sie schnappte sich Handy, Autoschlüssel und Handtasche und setzte sich ins Auto.
Rea fuhr die knapp 20 Kilometer bis nach Freyburg und klingelte an der Tür von Nancys Mutter. Die Adresse kannte sie aus ihren Recherchen und sie wollte einerseits ihr Beileid ausdrücken und außerdem wollte sie nach der kleinen Tochter sehen und notfalls ihre Hilfe anbieten.
Wenn jemand eines natürlichen Todes starb, war das schwer. Wenn allerdings jemand gewaltsam aus dem Leben gerissen wurde, wie durch einen Unfall oder durch ein Verbrechen, dann wog das noch mal so viel mehr. Dann war es eben nicht der Lauf der Dinge. Schon gar nicht, wenn ein Mensch so jung starb und Mutter und Tochter gemeinsam trauerten.
Das Haus wirkte heruntergekommen, inmitten der anderen, heruntergekommenen Häusern. Die Häuserzeile in dieser Straße war anscheinend seit Jahren nicht mehr renoviert worden. Alte, graue Gardinen hingen teilweise schief vor noch schieferen Fenstern. Die Fassaden, ebenfalls grau und vergilbt, der Putz bröckelte hier und da deutlich ab. An manchen Stellen sah man das zuvor versteckte Fachwerk. Eine Schande, dass so kleine Schmuckstückchen dem Zerfall zum Opfer fielen. Rea stand vor der Hausnummer 12. Es gab zwei Klingelknöpfe mit dem Namen Schäfer. Intuitiv nahm sie den unteren. Das Klingelzeichen ertönte kurz und erstarb in einem absaufenden Ton. Von innen vernahm sie eine Kinderstimme und danach schwere Schritte. Die Tür ging auf und eine dicke, ungepflegte ältere Frau in schwarzer Kleidung stand im abgebröckelten Türrahmen. Ihre Haare waren leicht fettig und sie hatte tiefe Schatten unter den Augen.
»Ja?«
»Guten Tag. Ich bin Rea Maiwald. Ich war es die … mein herzliches Beileid.« Reas Blick senkte sich und sie fragte sich in diesem Moment, was sie hier eigentlich wollte. Plötzlich kam ihr diese Idee, hierherzufahren, sehr dämlich vor.
»Hallo«, ertönte die kleine Mädchenstimme, welche sie schon von draußen gehört hatte. »Komm rein«, sagte das kleine Abbild ihrer Mutter wie selbstverständlich. Fragend blickte Rea zu Nancys Mutter und diese trat still zur Seite, um sie reinzulassen.
Im Haus roch es – trotz der Umstände – bereits nach Mittagessen, doch sie konnte nicht genau bestimmen, nach was. Scheinbar musste es lange köcheln, denn es konnte noch nicht mal 10 Uhr sein. Wie grotesk das war, dass der Alltag einfach so weiterging. Aber es musste schließlich ein Kind versorgt werden. Rea zog Schuhe und Jacke aus und trat weiter in den Flur. Nancys Mutter reichte ihr die Hand:
»Ruth. Mein Name is Ruth Schäfer. Und die Kleene hier heeßt Emma.« Rea verriet nicht, dass sie den Namen der Enkelin schon von Facebook kannte und das sie im Vorfeld recherchiert hatte. Sie wollte nicht den Eindruck erwecken, dass sie hier war, um die Sensationslust für Leser eines Zeitungsverlages zu befriedigen. Sie war persönlich und aus echter Anteilnahme gekommen. Frau Schäfer führte sie ins Wohnzimmer. Auf einer orangefarbenen Polstergarnitur saß ein noch dickerer Mann mit schütterem, grauem Haar und roten, verquollenen Augen. »Das ist mein Lebensgefährte Heinz.«
