Spaziergänger Zbinden - Christoph Simon - E-Book

Spaziergänger Zbinden E-Book

Christoph Simon

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Am Arm des Zivildienstleistenden Kâzim begibt sich der 87-jährige Lukas Zbinden auf einen Streifzug durchs Seniorenheim. Treppe um Treppe, Stockwerk um Stockwerk zieht es den leidenschaftlichen Spaziergänger Zbinden hinaus auf die Wege, auf denen er ein Leben lang an der Seite seiner Emilie dem Sinn des Lebens nachgespürt hat. Der sanftmütige und geistreiche Mann will seinem Begleiter die Antworten auf die wichtigen Fragen des Lebens anvertrauen. Er erzählt die stille, herzbewegende Geschichte der Liebe zu seiner verstorbenen Emilie. Eine hinreißende Liebesgeschichte.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 223

Veröffentlichungsjahr: 2019

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Cover for EPUB

Über dieses Buch

Am Arm des Zivildienstleistenden Kâzim begibt sich der 87-jährige Lukas Zbinden auf einen Streifzug durchs Seniorenheim. Treppe um Treppe, Stockwerk um Stockwerk erzählt der sanftmütige und geistreiche Mann die stille, herzbewegende Geschichte der Liebe zu seiner verstorbenen Emilie. Eine hinreißende Liebesgeschichte.

Zur Webseite mit allen Informationen zu diesem Buch.

Christoph Simon (*1972) ist Schriftsteller, Kabarettist und Slam-Poet. Seine Werke wurden mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Literaturpreis des Kantons Bern. Er ist zweifacher Schweizermeister im Poetry-Slam und Preisträger des renommierten Salzburger Stiers 2018. Er lebt in Bern.

Zur Webseite von Christoph Simon.

Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Christoph Simon

Spaziergänger Zbinden

Roman

E-Book-Ausgabe

Bilgerverlag @ Unionsverlag

HINWEIS: Ihr Lesegerät arbeitet einer veralteten Software (MOBI). Die Darstellung dieses E-Books ist vermutlich an gewissen Stellen unvollkommen. Der Text des Buches ist davon nicht betroffen.

Impressum

Dieses E-Book des Bilgerverlags erscheint in Zusammenarbeit mit dem Unionsverlag.

Die Erstausgabe erschien 2010 im Bilgerverlag, Zürich.

© by bilgerverlag GmbH, Zürich 2010

© by Bilgerverlag, Zürich 2024

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Julius Theodor Christian Ratzeburg, Die Waldverderbnis oder dauernder Schade, welcher durch Insektenfrass, Schälen, Schlagen und Verbeissen an lebenden Waldbäumen entsteht. Zweiter Band, 1866

Umschlaggestaltung: Sven Schrape auf Grundlage der von Dario Benassa gestalteten Originalausgabe

ISBN 978-3-293-31004-9

Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte

Produziert mit der Software transpect (le-tex, Leipzig)

Version vom 26.06.2024, 08:11h

Transpect-Version: ()

DRM Information: Der Unionsverlag liefert alle E-Books mit Wasserzeichen aus, also ohne harten Kopierschutz. Damit möchten wir Ihnen das Lesen erleichtern. Es kann sein, dass der Händler, von dem Sie dieses E-Book erworben haben, es nachträglich mit hartem Kopierschutz versehen hat.

Bitte beachten Sie die Urheberrechte. Dadurch ermöglichen Sie den Autoren, Bücher zu schreiben, und den Verlagen, Bücher zu verlegen.

https://www.bilgerverlag.ch

[email protected]

E-Book Service: [email protected]

www.unionsverlag.com

Unsere Angebote für Sie

Allzeit-Lese-Garantie

Falls Sie ein E-Book aus dem Unionsverlag gekauft haben und nicht mehr in der Lage sind, es zu lesen, ersetzen wir es Ihnen. Dies kann zum Beispiel geschehen, wenn Ihr E-Book-Shop schließt, wenn Sie von einem Anbieter zu einem anderen wechseln oder wenn Sie Ihr Lesegerät wechseln.

Bonus-Dokumente

Viele unserer E-Books enthalten zusätzliche informative Dokumente: Interviews mit den Autorinnen und Autoren, Artikel und Materialien. Dieses Bonus-Material wird laufend ergänzt und erweitert.

Regelmässig erneuert, verbessert, aktualisiert

Durch die datenbankgestütze Produktionweise werden unsere E-Books regelmäßig aktualisiert. Satzfehler (kommen leider vor) werden behoben, die Information zu Autor und Werk wird nachgeführt, Bonus-Dokumente werden erweitert, neue Lesegeräte werden unterstützt. Falls Ihr E-Book-Shop keine Möglichkeit anbietet, Ihr gekauftes E-Book zu aktualisieren, liefern wir es Ihnen direkt.

Wir machen das Beste aus Ihrem Lesegerät

Wir versuchen, das Bestmögliche aus Ihrem Lesegerät oder Ihrer Lese-App herauszuholen. Darum stellen wir jedes E-Book in drei optimierten Ausgaben her:

Standard EPUB: Für Reader von Sony, Tolino, Kobo etc.Kindle: Für Reader von Amazon (E-Ink-Geräte und Tablets)Apple: Für iPad, iPhone und Mac

Modernste Produktionstechnik kombiniert mit klassischer Sorgfalt

E-Books aus dem Unionsverlag werden mit Sorgfalt gestaltet und lebenslang weiter gepflegt. Wir geben uns Mühe, klassisches herstellerisches Handwerk mit modernsten Mitteln der digitalen Produktion zu verbinden.

Wir bitten um Ihre Mithilfe

Machen Sie Vorschläge, was wir verbessern können. Bitte melden Sie uns Satzfehler, Unschönheiten, Ärgernisse. Gerne bedanken wir uns mit einer kostenlosen e-Story Ihrer Wahl.

Informationen dazu auf der E-Book-Startseite des Unionsverlags

Inhaltsverzeichnis

Cover

Über dieses Buch

Titelseite

Impressum

Unsere Angebote für Sie

Inhaltsverzeichnis

SPAZIERGÄNGER ZBINDEN

Dank

Mehr über dieses Buch

Über Christoph Simon

Andere Bücher, die Sie interessieren könnten

Bücher von Christoph Simon

Zum Thema Schweiz

Zum Thema Liebe

Zum Mittagessen? Milchsuppe mit Geschlechtsorganen. Jedenfalls behauptete Herr Hügli, es seien welche. Tierischer Herkunft. Er fischte sie aus dem Teller und legte merkwürdige Muster auf den Tisch, bis er Ärger mit Frau Grundbacher und Frau Wyttenbach bekam. – Auf dem Nachttisch? Stimmt, diese Fotografie stand bisher nicht da, dein Scharfblick ist unvergleichlich. Auch Pflegerin Lydia fiel sie sofort auf, als sie gestern mit Regenjacke und Regenschirm in mein Zimmer platzte, parat für unseren Spaziergang, gewappnet gegen jede Form von Niederschlag. Ungefragt nahm sie die Fotografie in die Hand, um sie genauer zu betrachten.

»Ein so fröhliches Paar!«, rief sie mit glänzenden Apfelbäckchen. Ihre Augen leuchteten vor Aufregung über die gemachte Entdeckung. »Wo ist das? Ist das Ihre Frau? Wie das Bild zweier Filmstars!«

»In diesem Teich brachte sie mir das Schwimmen bei.« Ich nahm ihr den Schnappschuss aus der Hand. »Unser Sohn hat das Foto gemacht, er war damals zehn, vielleicht elf.«

»Ich wollte nicht schnüffeln«, entschuldigte sich Lydia. »Nur habe ich das Foto noch nie bei Ihnen gesehen, und als ich es da stehen sah, nun, Ihre Frau und Sie scheinen so …«

Sie beendete den Satz nicht, stattdessen rückte sie den Hocker heran, setzte sich zu mir ans Fenster und ergriff meine Hände. Und weißt du, was ich fühlte? Ich fühlte dich, deine Wärme, Lydias Hände ähneln deinen, und ich erzählte ihr von uns beiden, von unseren halsbrecherischen Ausflügen und verwegenen Schwimmabenteuern. Wie wir unter den Bäumen an diesem Teich entlanggingen, dem Ufersaum folgend, bis uns niemand mehr sehen konnte. Der Teich lag im Schatten der Bäume, die Sonne stand tief. Wir zogen uns bis auf die Unterwäsche aus und wateten ins Wasser. Du hattest das Haar auf dem Kopf mit Klammern zusammengesteckt, unser Sohn jagte Frösche am Ufer, um Pfeilgift zu gewinnen. Du schwammst durch den Teich und zeigtest mir, wie man sich bewegen musste. Dann hieltest du mich auf deinen Armen im Wasser, und ich übte das Ertrinken. Nach einer Weile hatte ich den Trick heraus und konnte einen halben Meter weit schwimmen, ehe ich unterging.

»Die Hauptsache ist, dass du keine Angst hast«, sagtest du.

Wir gaben uns die Hand und stiegen aus dem Wasser, weil es zu dämmern begann. In dem Moment schoss Markus das Foto.

Pflegerin Lydia hörte lächelnd zu, als ich ihr erzählte, dass wir uns vier Jahre lang jeden Tag geschrieben haben – »Wie geht es dir? Mir geht es gut«, und du schreibst zurück: »Verlobter, mir geht’s auch gut, und aus all deinen Briefen weiß ich, dass es dir gutgeht. Hättest du etwas dagegen, mir zur Abwechslung einen richtigen Brief zu schreiben?«

Lydia nickte teilnahmsvoll, als ich von deinem Verehrer aus dem Vogelbeobachtungskurs erzählte und dem Gewitter, das deswegen in mir tobte. Ich erzählte, wie schweigsam ich einen endlosen Tag lang war, nachdem du mich im Bonstettenpark auf den Mund geschlagen hattest. Ich berichtete, wie ich mich im fortgeschrittenen Mannesalter doch noch zu einer nützlichen Haushaltshilfe mauserte – und Lydia schien ebenso erstaunt zu sein wie du damals. Nur ein einziges Mal setzte ich die Staubsaugertüte falsch ein, sodass der ganze Staub herausgestäubt kam. Der abgebrochene Griff der Waschmaschine ließ sich mit Sekundenkleber reparieren. Ich stellte die Fotografie an ihren Platz zurück, Lydia bot mir an, in der Cafeteria einen Kaffee zu trinken und warf den Regenschirm in die Ecke.

Ich denke so gern an dich, es gibt so viel zu erinnern. Ich kann mich an keine Zeit erinnern, in der du nicht ein Teil von mir gewesen wärst. Und heute – ich suche dich nicht über den Wolken, ich suche dich nahe bei mir.

Selbstverständlich fühle ich mich unbehaglich in dem Hemd, was denkst du denn, ständig muss ich mit dem Finger den engen Kragen lockern. Es ist verrückt, sich bei der Hitze so anzuziehen, aber vor der Tür wartet der neue Zivildienstleistende auf mich, und ich möchte einen vertrauenswürdigen Eindruck machen: Lukas Zbinden, wissensvoll und aufrichtig, öffnet er sein Herz jedem, der einsam oder glücklos ist, unnachsichtig und furchtlos tritt er jenen entgegen, die Unrecht tun. Ich hoffe, der Zivildienstleistende mag mich ein Stück in die Stadt begleiten, das wäre mein größter Wunsch. Und wenn ich ehrlich sein soll, wäre ich wohl auch ein wenig gekränkt, wenn er es nicht abwarten könnte, mich wieder mir selbst zu überlassen. Es ist schöner, wenn anderen gefällt, woran man selbst Vergnügen hat. Drück mir die Daumen, Emilie.

Kâzim, den Namen habe ich doch richtig verstanden? Reichen Sie einem alternden Spaziergänger die Hand. Mit Treppen tue ich mich schrecklich schwer. Können Sie glauben, dass dieses Betagtenheim einmal ein Privatsitz gewesen ist? Dass hier eine nur vier- oder fünfköpfige Familie gelebt hat? Die Kinder haben sich hier ans Treppengeländer geschlichen und sich hingekauert, während ihre Eltern unten eine patrizische Abendgesellschaft empfingen. – Nehmen was? Sie müssen lauter sprechen. Ich habe zwei Hörgeräte. Mit dem einen höre ich und bekomme Kopfschmerzen, mit dem andern bekomme ich keine und höre aber nichts. – Den Lift? Nein, den Lift nehme ich nie. Im Lift stehen alle steif nebeneinander, blicken starr geradeaus oder halten den Blick gesenkt. Die Tür öffnet sich, einer kommt heraus, ein anderer geht hinein, dreht sich sofort um und blickt unbehaglich zur Tür. Wer hat ihnen befohlen, zur Tür zu blicken? Muss ich einen Lift benutzen, dann wende ich der Tür gern den Rücken zu, sehe den anderen ins Gesicht und sage: »Wäre es nicht wundervoll, wenn der Lift stecken bliebe und wir uns alle kennenlernen könnten?«

Wissen Sie, was dann geschieht? Die Tür öffnet sich auf der nächsten Etage, und alle verlassen den Aufzug.

Ich weiß. Ich stelle Leuten die unmöglichsten Fragen. Ich bitte meinen Sohn, mir die Funktionsweise des automatischen Getriebes zu erklären. Ich frage den Leiter des Betagtenheims, wer ihm die Socken strickt. Frau Grundbacher, halten Sie sich für sensibel und sind bloß beleidigt? Herr Imhof, können Sie eine Pflegefachfrau ansehen, ohne gleich den Wunsch nach tätiger Liebe zu verspüren? Herr Ziegler, unterschätzen Sie sich gern in Ihren Möglichkeiten, die Gefühle anderer zu verletzen? Herr Hügli, stehen Sie auf, um nachzuschauen, ob’s regnet, oder pfeifen Sie den Kater herein und fühlen, ob er nass ist?

Wenn ich die sanft abfallende Thunstrasse Richtung Helvetiaplatz hinabspaziere und den zahlreichen Leuten, die mir entgegenkommen, unverfänglich einen guten Tag wünsche, kommt es vor, dass man verunsichert fragt: »Kennen wir uns denn?«

»Nein, aber ich wüsste gern ein bisschen was über Sie. Was treibt Sie an? Was halten Sie für wichtig?«

Und manchmal erwidert jemand verstimmt: »Unverschämter Narr.«

Glauben Sie nicht, dass mich die Ablehnung kaltlässt. Aber ich dämpfe meinen Schmerz. Wie schade, denke ich nachsichtig, dass er mich nicht kennenlernen will. Wenn ich ihn morgen wiedersehe, werde ich ihm noch eine Chance geben.

Wem verdanken Sie Anregungen, Kâzim? Gespräche auf offener Straße höre ich neugierig mit. Zuneigungsbekundungen zaubern mir ein Lächeln auf die Mundwinkel. Ganz genau horche ich hin, schwingt in den Stimmen ein bekümmerter Ton mit. In zehn Minuten werde ich durch die Abgründe des Lebens gezogen, um dankbar für mein Glück weiterzugehen. Meine Frau, Friede ihrer Seele, mochte das nicht, sie behauptete immer, ich sollte es nicht nötig haben, mich an fremden Lebensausschnittsgeschichten zu stärken. Ich berichtete ihr brühwarm ein mitgehörtes Telefongespräch eines aufgeregten Welschen am Bahnhof, dessen läufige Bernhardinerhündin im Auto auf dem Parkplatz der Hundeschule in Lausanne eingesperrt sei, und als ich mich in der Wiedergabe der französischen Fetzen stotternd verfranste, sagte Emilie gelassen: »Lukas, du verlierst dich in Einzelheiten.«

Das ist die sechste Stufe, wenn ich mich nicht irre. Eine prächtige Stufe, nicht? Die nächste Stufe ist Nummer sieben beim Heruntergehen oder achtundachtzig beim Hinaufgehen. Ist sie nicht makellos? – Bitte, was denken Sie, weshalb lege ich die Hand hinters Ohr und zucke mit den Achseln? Sie müssen lauter sprechen, Kâzim. Langsam und deutlich. – Danke, nicht der Rede wert. Gemächlich, aber es geht. Nur wenn ich die falsche Hüfte belaste.

Letzten Mittwochmorgen spaziere ich durchs Viertel. So früh zeigt sich niemand bereit zu einer kleinen Unterhaltung, bis auf den Zeitungsverteiler Bobby am Burgernziel. Einmal sind mir im Schnee die Füße weggerutscht, ich bin rücklings hingestürzt, und Bobby hat mir aufgeholfen und gesagt: »Ein weniger beweglicher Greis hätte sich glatt das Genick gebrochen.«

Mit dieser schmeichelhaften Bemerkung hat eine von uns beiden geschätzte lockere Freundschaft angefangen.

Ich setze mich neben ihn. Der Stapel Pendlerzeitungen, den er verteilen sollte, ruht auf seinen Knien. Ich erkundige mich nach seinem Wohlergehen, der übernächtigte Bobby erkundigt sich nach meinem. Dann fragt er, ob ich eine Zeitung haben wolle »für im Tram«.

Bobby ist gekleidet, wie seiner Ansicht nach ein Zeitungsverteiler im Frühsommer gekleidet sein muss: Turnschuhe, Bluejeans, Schirmmütze, eine Windjacke, an die seine Legitimationskarte geklemmt ist.

»Die Leute reißen einem sitzenden Zeitungsverteiler die Zeitung nicht aus der Hand«, sage ich.

Bobby seufzt.

»Gib mir den Rest, ich verteile sie im Betagtenheim. Da kommt dein Tram.«

»Das ist nett, Herr Zbinden.« Bobby hebt die Schirmmütze und ruft mir über seinen Rücken ein »Danke!« nach.

Die Haltestelle leert sich, das Tram fährt ab. Dann füllt sich die Haltestelle wieder mit Leuten. Ein Mädchen setzt sich zu mir, ein Mädchen mit Zahnspange und Schulgepäck und schlenkernden Beinen. Ich frage, ob es eine Zeitung haben wolle »für im Tram«, das Mädchen lehnt höflich ab. Es lese keine Zeitung, und ich frage, was es denn gewöhnlich lese. Dann warte ich, weil das Mädchen mich mustert und sich mit der Antwort Zeit lässt. Ich bin so gekleidet, wie meiner Ansicht nach ein Spaziergänger gekleidet sein soll: Seglermütze, fransengeschmückte Provianttasche, schiefgetretene Halbschuhe.

»Am liebsten lese ich Märchen«, sagt das Mädchen schließlich, »Hänsel und Gretel, gerade.«

»Brotkrümel sollten ihnen den Weg nach Hause zeigen«, erinnere ich mich.

»Die Hexe wird verbrannt«, sagt das Mädchen.

»Gehst du gern zur Schule?«

»Ich kann gut rechnen und schreiben, wie eine Maschine. Und ich bin die Beste in NMM.«

»Was ist das?«

»Das weiß niemand genau, aber die Umweltverschmutzung gehört dazu.«

»Ich war früher Lehrer. Da gab’s kein Fach, das NMM hieß. Wie alt bist du?«

»Elf, und du?«

»Du musst nur die Runzeln in meinem Gesicht zusammenzählen. Wie die Ringe auf den Hörnern einer Antilope.«

»Weißt du, was ich machen will, nach der Schule? Ich will einen Schmuckladen in jedem Land der Welt.«

»In jedem Land der Welt! Das ist großartig!«

»Vielleicht ohne Neuseeland. Ich hab nichts gegen Neuseeland, wir sind letztes Jahr dort gewesen. Aber es ist zu weit weg für einen Schmuckladen. Was machst du mit all den Zeitungen?«

»Ich möchte sie loswerden.«

»Gib mir ein paar, ich verteile sie in der Pause. Da kommt mein Tram!«

»Sehr lieb von dir!« Ich hebe die Seglermütze und rufe dem Mädchen ein »Danke!« nach.

Neben mich setzt sich ein Geschäftsmann, und die nächsten zehn Minuten wehrt er meine Fragen ab: Ob er eine Gazette wolle »für im Tram« – ablehnende Handbewegung. Was sein Lieblingsfach gewesen sei in der Schule – argwöhnischer Blick. Weshalb seiner Meinung nach Neuseeland von Bijoutiers gemieden werde – er rückt etwas von mir ab, als hätte ich eine ansteckende Krankheit. Ob er beruflich angekommen sei, wo er sich als Junge hingeträumt habe – starrer Blick geradeaus. Vielen Leuten, denen ich begegne, fällt es schwer, aus sich herauszugehen.

Immerhin scheint heute ein ruhiger Tag zu sein. An anderen Tagen rauschen Aktivierungstherapeutinnen und weißbekittelte Pflegerinnen und Urenkel an Ihnen vorbei, dass Sie sich am Geländer festklammern müssen wie an einer Reling, wenn turmhohe Wellen über Bord schlagen.

Hören Sie, Kâzim, ich möchte Sie nicht von Ihren Pflichten abhalten, aber würden Sie mir einen Gefallen tun? Würden Sie mich auf einen Spaziergang nach draußen begleiten? Ich weiß, dass Sie viel zu tun haben, aber ich versichere Ihnen, Sie würden einen Spaziergang nicht bereuen! Gerade weil Sie viel zu tun haben. Spazieren ist die älteste Methode geistiger und körperlicher Entfaltung. Adam und Eva sind aus dem Paradies spaziert. Sokrates schlenderte auf einer frisch eingeweihten Straße auf der Suche nach kraushaarigen Jünglingen, denen er einen Tritt versetzen konnte. Jesus und der Teufel spazierten in der Wüste und fachsimpelten angeregt miteinander. Der siebenundachtzigjährige Lukas Zbinden ist vielleicht nicht mehr so kräftig, um vor einem Pflug zu gehen, vor jedem Treppentritt sondiert er das Terrain, um nicht ins Leere zu stürzen, aber unbeirrt schreitet er durch alle Gefahren der Straße wie Moses durchs Schilfmeer. Mein Beispiel widerlegt die im Betagtenheim weitverbreitete Ansicht, alte Menschen müssten unweigerlich einem Herzanfall erliegen, wenn sie die Strapazen eines Spaziergangs auf sich nähmen.

Was denken Sie, was Spaziergängern alles zuteilwird? Außerordentliche Lebensfreude! Auf fast schon lächerliche Weise glückliche Beziehungen! Erstaunliche Lösungen von physikalischen Problemen! Isländer spazieren nackt im Schnee, und es gelingt ihnen, ihre Körpertemperatur ohne zu rennen aufrechtzuerhalten. Und wissen Sie das Beste? Auf einem Spaziergang lernen Sie feine Lebenspartner kennen, die Sie nicht einzig wegen Steuer und Rente heiraten.

Als junger Mann, Seminarist, komme ich ins Haus eines Klassenkameraden. Da stehen vor dem Schuhgestell ein paar verdreckte hohe Stiefel. Als ich sie verstohlen in die Hand nehme, stelle ich fest, dass die Sohle ganz abgelaufen ist. Ich stelle die Stiefel hin und später frage ich – es ist eine große Familie: »Wem gehören denn die Stiefel dort?«

»Die gehören unserer Emilie.«

Wir sehen einander an – und bald mussten Verlobungsringe getauscht werden. Aber werden Sie mich nach draußen begleiten, an die frische Luft?

Sie müssen wissen, ich bin ein Gemeinschaftstier, kein Einzelgänger, ich habe gern Gesellschaft auf einem Spaziergang. Für viele mag das Alleinsein ja der entscheidende Grund sein, spazieren zu gehen. Sie wollen sich nicht unterordnen, spazieren lieber, wann und wo es ihnen passt. Sie lassen sich ungern Aussichten kommentieren, sind menschenscheu. Herausfordernd sagt etwa Herr Ziegler aus Zimmer 219: »Ein Spaziergänger ist ein Spaziergänger. Zwei Spaziergänger sind ein halber Spaziergänger. Drei Spaziergänger sind überhaupt kein Spaziergänger mehr.«

Sind Sie Herrn Ziegler schon begegnet? Er grüßt niemanden und dankt für keinen Gruß. Es liegt ihm überhaupt nichts an Begegnungen. Eine kleine, trockene Gestalt, die durchs Heim steuert, sodass sie von anderen Gestalten immer mindestens zwei Schritte entfernt ist. Das Haupt immer ein wenig vorgeneigt, als löse er die letzten Rätsel der Menschheit – die Herkunft der Inschriften von Nazca, die Bedeutung der steinernen Köpfe der Osterinsel und der Kornkreise von Wiltshire. An einem milden Tag setzt er sich mit einem archäologischen Sachbuch auf eine abseitige Bank im Innenhof, und setze ich mich zu ihm und beginne zu sprechen, klappt Herr Ziegler das Buch zu, steht auf und geht, ohne ein Wort geantwortet zu haben. Er macht mir ein bisschen Angst. Seine Frau lebt unweit von hier im Domicil Elfenau, die beiden wollten aus Gründen, nach denen man am besten nicht fragt, in zwei verschiedenen Heimen untergebracht sein. Aber eins können Sie mir glauben: Wenigstens zeitweise spazieren auch Alleingänger wie Herr Ziegler gern zu zweit oder in einer Gruppe von Gleichgesinnten. Sie wissen: Niemand ist so vollkommen, dass er nicht von jemand anderem auf ein entzückendes rotes Nelkenbeet in der Florastrasse, ein hübsches Windchen aus Süd-Südwest auf dem Gurten, eine schummrige Sägemühle in Bümpliz hingewiesen werden könnte.

Der dort hinten auf den Lift wartet, das ist Herr Furrer. Ehemaliger Ingenieur. Ein aufgeschlossener Mann und viel freundlicher zu Zivildienstleistenden als etwa Herr Ziegler. Er erklärt Ihnen mit Freuden, wie der Springbrunnen im Innenhof funktioniert.

Zu den Vorteilen des geselligen Spazierens gehört, dass man nicht so leicht von sich selbst behelligt wird. Das ist besonders wichtig für Spaziergänger, die sich rasch von eigenen Gedanken ablenken lassen. Die über erlittene Kränkungen auf dem Polizeikommando am Waisenhausplatz brüten und geradewegs mit dem unglückseligen Rentner zusammenstoßen, der in dem Moment zufällig um den Oppenheim-Brunnen schlurft.

Nehmen Sie zwei gesellige Landspaziergänger – meine selige Frau und mich: Wir erleben zusammen den Wechsel bunter Magerwiesen mit schattenspendenden Föhrenwäldern. Wir unterhalten uns über die Umwälzungen in der letzten Eiszeit, als die Gletscher weit über Kantonsgrenzen vorstießen, um markante Moränen zu errichten. Emilie schildert das Getöse der gewaltigen Bergstürze, die nach dem Rückzug der Gletscher die Täler mit Gesteinsschutt füllten, und auf einmal finden wir uns wieder in einem unübersehbar weiten Moorgebiet. Wir gehen über schmale, halbversunkene Planken, springen von einer festen Stelle zur nächsten. Manchmal gibt der Morast unter den Füßen glucksend nach. Holzkreuze markieren Stellen, an denen jemand eingebrochen und versunken ist, aber was tut denn Pflegerin Alessandra dort im Korridor? Warum kriecht sie auf allen vieren herum? Hier lang, Kâzim. Alessandra! Sehen Sie, jetzt liefe sie gern weg, aber sie kniet auf ihrem Kittel.

Fein, Sie anzutreffen, Alessandra. Was tun Sie auf den Knien? Fühlen Sie sich nicht wohl? – Wie? Nun, vielleicht, wenn Sie die Hand vorsichtig hineinzwängen, wer weiß? Kennen Sie den jungen Herrn schon? Unser neuer Zivildienstleistender, seine erste Woche. Sein Name ist Kâzim, Seite an Seite gehen wir einträchtig die Treppe hinunter. – Richtig, Sie sagen es. Ein gewichtiger Teil meines Lebens spielt sich auf dieser Treppe ab. Ich bin schon so oft an dieser Topfpflanze vorbeigegangen, dass ich sie als enge Freundin bezeichnen kann. – Gute Frage, Alessandra, ich weiß es nicht, gefällt es Ihnen so weit bei uns, Kâzim? – Sie sollen sich hier heimisch fühlen. Es ist nicht halb so schlimm, wie Sie es sich möglicherweise vorstellen. Man mag sich ein bisschen davor fürchten, das ging mir genauso. Als ich das erste Mal in die Eingangshalle kam und all die alten Leute sah, ich sage Ihnen, da war ich ganz verschreckt. Alessandra, wie wäre es, wenn Sie sich wieder auf Ihre zwei Füße begeben würden? Sie könnten uns begleiten. – Nein, nein, dann lassen Sie sich von uns nicht stören. Bis später! Zurück zur Treppe, Kâzim.

Sie werden bestimmt bald alle in Ihr Herz schließen: die ehrbaren Damen und exzentrischen Herren, die gesprächigen Witwen und die schweigsamen Junggesellen, die routinierten Gehbockbenützer, schlurfenden Stubenhocker mit dörrfleischigen Gesichtern. Die Verwirrten, deren Gedanken durcheinanderrollen wie Erbsen auf einem Teller. Die medizinisch Betreuten mit einem Cocktail in den Adern, bei dem Blut eine nebensächliche Zutat ist. Ausgediente Ingenieure, Gewerbetreibende, Büroangestellte, Hausfrauen, Beamte, Armeeangehörige, Feuerlöschgerätekontrolleure, Busfahrer, Übersollarbeiter, Service, Papeterie. Leute, die sich Urlaub erst gönnten, als Ferien gesetzlich vorgeschrieben wurden. Therapeuten und Küchenhilfen. Immer zwei oder drei Stufen überspringende Urenkel. Pflegerinnen, an jeder Hand einen Bewohner zum Lift führend, sich bemühend, nicht zu vergessen, dass wir schon vor dem Wechsel ins Betagtenheim ein Leben gehabt haben. Ängstliche Söhne und Töchter, die im Zuge eines Ausflugs in die Berge die Heimleitung anrufen und sie bitten, auf das Geld aufzupassen, das die alten Leute bei sich haben.

Gestern sitze ich in meinem Zimmer auf meinem Hocker mit geflochtenem Sitz und warte auf Pflegerin Lydia, die mir einen Spaziergang Richtung Tierpark versprochen hat. Sie kommt herein, trägt noch ihre Regenjacke, und sagt: »Herr Zbinden, der Spaziergang ist abgesagt. Wir gehen einen Kaffee trinken in der Cafeteria«, und hängt sich ein und zieht mich hoch.

»Mir macht Regen nichts aus«, sage ich, weil mich die Vorstellung schaudert, in der Cafeteria einen Kaffee zu bestellen und einen Nescafé zu bekommen. Für den wir übrigens jeden Monat zehn Franken einzahlen. Um zehn Uhr morgens ist der Raum immer brechend voll mit Leuten, die versuchen, sich einen entsprechenden Gegenwert für ihr Geld zurückzuholen, ohne dabei vor Sodbrennen umzukommen.

Also setze ich die Mütze auf und überlasse Lydia Frau Rossi, die in die Gebetsgruppe geschoben werden soll. – Müde? In Lydias Alter ist man nicht müde, Kâzim. – Die Luft? Sie meinen die Luft hier im Heim? Die macht Lydia müde? Wenn Lydia spazieren ginge und im Regen den aufgespannten Schirmen der Tierparkbesucher ausweichen müsste, hätte sie gar keine Zeit, sich müde zu fühlen.

Ich hatte dann einen ziemlich weiten Heimweg vor mir und obendrein eine mit einem ungebrauchten Regenschirm gefüllte Provianttasche zu tragen. Die Bänke des Tierparks waren längst außer Sicht, es fand sich kein fahnenbewehrter Marktplatz zum Ausruhen, und der einzige Mensch, der vorbeiging, war ein junger, vielleicht vierzigjähriger Mann. Als er in meine Nähe kam, fragte ich ihn, ob er seine gute Tat für heute tun und mir die Tasche tragen wolle. Wortlos nahm er sie, dann, nach ein paar Schritten, nahm er meinen Arm, und noch ein paar Schritte weiter befahl er: »Stehen bleiben und tief durchatmen!«

Folgsam tat ich wie geheißen, was ihm offensichtlich gefiel, denn er wiederholte seinen Befehl alle paar Schritte. Obwohl ich wieder bei Kräften war, bestand er darauf, mich bis zum Heim zu begleiten. Wo ich auch hinwollte. Auf seine Frage, was denn im hohen Alter am schwierigsten sei, antwortete ich: »Das Hinfallen.«

Sie stolpern, Kâzim, Sie verlieren das Gleichgewicht. Sie erheben sich aus dem Sessel, fühlen Ihre Knie wanken und stürzen bäuchlings zu Boden. In ein paar Jahrzehnten werden Sie auch hinfallen, da lässt sich nichts machen. Alte Leute stürzen leicht – mein Schwager Ignaz beim Hinausstellen des Kübels für die Grünabfuhr, mein Großvater beim Sprung von der Straßenbahn. Die Versuchung ist groß, einfach sitzen zu bleiben, wo immer man sich hinsetzt. Ich kann Ihnen sagen, wie gefährlich das ist. Ganz leicht kann dies das Ende für einen Spaziergänger bedeuten. Herr Feuz, Zimmer 302, hat sich angewöhnt, statt sich zu erheben, um einen Gast zu begrüßen, einfach zu sagen: »Ich darf doch sitzen bleiben?«

Natürlich ist niemand herzlos genug zu erwidern: »Nein – stehen Sie gefälligst auf«, und doch sollte man es tun, zu seinem Besten.

Abgesehen von diesem Kampf gegen allzu häufiges Hinfallen nehme ich meine Schwächen nicht allzu ernst. Dinge zu verlieren oder zu verlegen, etwas zu verschütten, vieles zu vergessen. Die Bewegungen, mit denen ich den Mantel anziehe, sind anders als noch vor einem Jahr, und mehr als einmal ließ ich die Tasche liegen. Man sollte sich aber als alte Person nicht für weniger wichtig halten als damals, als man jünger gewesen ist. Emilie hat immer gesagt, das einzig wirklich Wesentliche sei, dass man lebendig bleibe, tätig und interessiert und dem zugewandt, was in der Natur vorgehe und in einem selber. Darüber ließe sich auf einem gemeinsamen Spaziergang ausführlicher sprechen, Kâzim.

Meine Frau war begeisterte Landspaziergängerin, müssen Sie wissen. Emilie mochte schwindelerregende Höhen, alte Holzbrücken, malerische Weiden und Obstgärten an Flussufern. Ihre Intuition hieß sie, die Wege zu verlassen und steinige Felsen zu ersteigen, die ihr einen Blick auf gelbe Felder und Hügel rings um sie gewährten. Sie mochte Kiesbänke, deren weißgraues Muster als Tarnung für das Gelege von Flussregenpfeifer und Strandläufer dienen. Vor Emilies Scharfblick war jede Tarnung nutzlos. Ihre Sehkraft war erstaunlich. Bis zuletzt konnte sie in der Weissenau still sitzende Vögel in Gehölzen erkennen, die für meine Augen unsichtbar blieben. Emilie schmerzte es immer, wenn eine Mulde mit Bauschutt aufgefüllt, ein Weg geteert, ein Holzzaun durch ein Metallgitter ersetzt wurde. Wenn vergreiste Scheunen einem Parkplatz wichen, Waldränder und Bäche begradigt wurden. Berge – früher schroff, heute eingeebnet.

Emilie! Sie hatte ein schmales, sonnengerötetes Gesicht, waagrecht ruhende Augen, eine spitze Nase, und sie war mager wie ein Lamm. Die Tochter eines Baumschulgärtners aus Ostermundigen. Ich sage Ihnen: Alles an ihr war voller Schwung. Hätten wir nicht geheiratet, ich wäre mein Leben lang hinter ihr her gewesen. Vorsicht. Vor Ihrem Fuß liegt ein wunderbares Geschöpf. Wie kommt die Raupe hierher? Hat sie der Geruch angelockt, der Geruch von Fußbodenwachs mit Limonenduft? – Wie? Nuscheln Sie nicht so in sich hinein, Kâzim. Aber bitte, auf den Ficus. Gute Idee. Glauben Sie, das Betagtenheim hat für Fremde einen seltsamen Geruch?