Sperrbezirk - Martin Barkawitz - E-Book

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Martin Barkawitz

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Beschreibung

Killerjagd im Rotlichtmilieu! Die Hamburger Hauptkommissarin Heike Stein kennt nur noch ein Ziel: Den ausgebrochenen Serienkiller Plessner wieder hinter Gitter zu bringen. Ob die Tochter des Mörders sein Versteck kennt? Kati sitzt ebenfalls im Gefängnis. Sie ist hochintelligent, skrupellos und gerissen. Die junge Kriminelle verfolgt ihre eigenen Pläne. Als eine bildschöne Prostituierte grausam abgeschlachtet wird, führen Heike Steins Ermittlungen endlich in Plessners Richtung. Aber die Kriminalistin ist letztlich nur eine Schachfigur im perversen Spiel des Killers. Schließlich steht Heike Stein ihrem Erzfeind allein und ohne Rückendeckung gegenüber. Wird sie ihren härtesten Kampf gewinnen? Der Autor Martin Barkawitz schreibt seit 1997 unter verschiedenen Pseudonymen überwiegend in den Genres Krimi, Thriller, Romantik, Horror, Western und Steam Punk.  Er gehört u.a. zum Jerry Cotton Team. Von ihm sind mehrere hundert Heftromane, Taschenbücher und E-Books erschienen.   SoKo Hamburg - ein Fall für Heike Stein:   - Tote Unschuld - Musical Mord - Fleetenfahrt ins Jenseits - Reeperbahn Blues - Frauenmord im Freihafen - Blankeneser Mordkomplott - Hotel Pacific, Mord inklusive - Mord maritim - Das Geheimnis des Professors - Hamburger Rache - Eppendorf Mord - Satansmaske - Fleetenkiller - Sperrbezirk - Pik As Mord - Leichenkoje - Brechmann - Hafengesindel - Frauentöter - Killer Hotel - Alster Clown - Inkasso Geier - Mörder Mama - Hafensklavin - Teufelsbrück Tod  Ein Fall für Jack Reilly   - Das Tangoluder - Der gekreuzigte Russe - Der Hindenburg Passagier - Die Brooklyn Bleinacht - Die Blutstraße - Der Strumpfmörder - Die Blutmoneten Vom gleichen Autor: Der Schauermann - ein historischer Hamburg Thriller aus dem Jahre 1892. "Super geschriebener Roman" (Leser) Blutmühle - Dark Fantasy Roman. "Sehr spannend und gut zu lesen" (Leser) Höllentunnel - Mystery Thriller Todestaucher - Mystery Thriller

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Martin Barkawitz

Sperrbezirk

SoKo Hamburg 14 - Ein Heike Stein Krimi

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

1

 

Kommissarin Heike Steins rechte Hand krampfte sich um den Griff ihrer Dienstwaffe. Das leise wimmernde Geräusch aus dem Raum vor ihr war kaum noch zu ertragen. Heike und Ben Wilken hatten es erst seit ein paar Minuten mit anhören müssen. Doch es kam ihr so vor, als ob sie die klagenden Laute schon seit einer halben Ewigkeit ertragen würde. Ein Blick auf Bens Gesicht bewies ihr, dass es ihm genauso ging. Er hatte eine kleine Tochter.

Und die klagende Stimme hörte sich sehr, sehr jung an.

Heikes Bluse klebte an ihrem verschwitzten Rücken fest. Es war in dieser stickigen St.-Pauli-Bruchbude heiß wie in der Hölle. Die Luft hätte man schneiden können, es stank nach Zigarettenrauch und altem Müll.

Eigentlich hätten Heike und Ben auf Verstärkung warten müssen. Die Verhaftung eines gemeingefährlichen Psychopathen war ein Job für das Mobile Einsatzkommando. Aber so lange konnten sie nicht ausharren. Die Kommissarin wollte sich nicht vorstellen, was dort drin gerade geschah.

Sie machte noch einen Schritt vorwärts. Die Diele unter ihrem Schuh knarrte. Das Geräusch war allerdings nicht so laut, dass es den Täter vorgewarnt hätte. Oder?

Heike musste jetzt eine Entscheidung treffen. Sie wusste nicht, wie es ausgehen würde. Aber wenn sie und Ben noch länger zögerten, konnte ein weiteres Leben ausgelöscht werden. Und das durfte nicht geschehen.

„Du gibst mir Deckung!“

Bevor Ben etwas erwidern konnte, hatte Heike die Tür eingetreten. So etwas konnte sie richtig gut. Dank des regelmäßigen Kung-Fu-Trainings waren ihre Tritte gefährlicher und schmerzhafter als bei den meisten Frauen. Manchmal wünschte sie sich, alle Probleme mit einem Tritt lösen zu können. Das war natürlich Unsinn. Wer so etwas im Ernst dachte, landete früher oder später hinter schwedischen Gardinen. Oder in der Psychiatrie.

Das Schloss gab nach, die Tür krachte gegen die Wand dahinter.

Heike erfasste die Situation mit einem Blick. Vor ihr saß ein junges Mädchen gefesselt auf einem Stuhl. Es war nur mit einem blutverschmierten T-Shirt bekleidet. Die Wangen waren nass von Tränen, der Blick flehend.

Und der Mann vor der Geisel hatte ein Rasiermesser in der Hand, von dem Blut tropfte.

„Polizei! Weg mit der Waffe!“, blaffte Heike.

Der Verbrecher gehorchte nicht. Darauf hatte sie insgeheim gehofft. Die Augen des Kerls waren glasig, er stand offensichtlich unter Drogen. Ein Schuss kam nicht in Frage, Heike hätte das Mädchen verletzen können. Aber der Täter befand sich gerade eben noch in ihrer Reichweite.

Wieder schoss Heikes Fußspitze vor. Diesmal traf sie das Handgelenk des Mannes. Das Rasiermesser flog in weitem Bogen davon. Inzwischen war auch Ben Wilken hereingekommen. Er richtete seine Pistole ebenfalls auf den Verbrecher.

Der Kerl drehte durch, wollte sich mit bloßen Händen auf Heike stürzen. Ben trat ihm in die Kniekehlen. Daraufhin landete der Angreifer auf dem dreckigen Boden. Der Hauptkommissar drückte ihm sein Knie ins Kreuz. Mit vereinten Kräften gelang es den Beamten, dem Täter die Handschellen anzulegen.

„Den hätten wir außer Gefecht gesetzt“, stellte Ben schwer atmend fest.

Heike, die gerade die Fesseln des Mädchens löste, nickte.

„Ja, der Dreckskerl kann einstweilen keinen Schaden mehr anrichten. Er hat sogar eine gewisse vage Ähnlichkeit mit Plessner. Aber er ist es leider nicht.“

Ben nickte düster.

Der ausgebrochene Mörder war nach wie vor auf freiem Fuß.

 

 

2

„Ich bin mit dem Zugriff äußerst unzufrieden.“

Mit diesen Worten eröffnete Kriminalrätin Dr. Laura Brink die morgendliche Besprechung im Polizeipräsidium Hamburg. Ihr kalter sezierender Blick schweifte über die Gesichter von Heike Stein, Ben Wilken, Melanie Russ, Rüdiger Koslowski, Bernd Engel sowie den anderen Angehörigen der Sonderkommission Mord.

Heike öffnete den Mund, um sich zu verteidigen. Obwohl ihr bewusst war, dass die Chefin sich von ihrer Ansicht nicht abbringen lassen würde.

„Es ist uns immerhin gelungen, ein junges Mädchen aus der Gewalt ihres Peinigers zu befreien.“

„Ich beherrsche die Kunst des Lesens, Frau Stein.“ Frau Dr. Brinks Ironie war schneidend. „Das steht alles in ihrem Bericht. Dort fehlt allerdings eine Erklärung dafür, warum Sie nicht auf Verstärkung durch Spezialeinsatzkräfte gewartet haben.“

Weil ich das Wehklagen des Opfers nicht mehr ertragen konnte, dachte Heike. Aber sie hütete sich davor, diese Worte auszusprechen. Sie machte sich keine Illusionen darüber, dass ihre Chefin sie für eine gefühlsduselige Kuh hielt. Da musste Heike die Kriminalrätin in diesem Urteil nicht noch bestärken. Sie warf einen Seitenblick auf Ben. Ihr Dienstpartner saß wie ein Ölgötze neben ihr und tat keinen Mucks. Er redete ohnehin nur, wenn es unbedingt sein musste. Und ihr Verhältnis zueinander war momentan sowieso kompliziert.

Die Jagd nach dem Frauenmörder Plessner, der aus der Psychiatrie ausgebrochen war, zerrte an den Nerven aller Kollegen. Jeder entwickelte seine eigenen Strategien, um mit dem Druck fertigwerden zu können. Und Ben hielt es offenbar für das Beste, sich in sein inneres Schneckenhaus zurückzuziehen.

„Wir bekamen einen Tipp aus dem Milieu, dass Plessner über einen Strohmann ein leer stehendes Gewerbeobjekt angemietet haben sollte“, erklärte Heike mit erzwungener Ruhe.

„Und dort drangen Sie dann ohne Durchsuchungsbeschluss ein“, stellte die Chefin fest.

„Wenn Frau Stein und Herr Wilken sich offiziell angekündigt hätten, wäre Plessner durchgedreht!“

Dieser Satz kam von Melanie Russ. Wenigstens sie raffte sich zur Verteidigung ihrer Kollegen auf. Allerdings nutzte es überhaupt nichts.

„Plessner war aber gar nicht in dem Gebäude“, stellte Frau Dr. Brink überflüssigerweise fest.

„Das ist eben ein Nachteil der Öffentlichkeitsfahndung“, meinte Rüdiger Koslowski. „Es ist ja schön, dass die Familien von Plessners Opfern 10.000 Euro Belohnung für Hinweise aus der Bevölkerung ausgesetzt haben. Leider führt es dazu, dass jetzt jeder dickliche Hamburger mit Glubschaugen für Plessner gehalten und bei uns angeschwärzt wird.“

„Ich möchte jedenfalls eine so vorschriftswidrige Polizeiaktion nicht noch einmal erleben, haben wir uns verstanden?“

Frau Dr. Brinks Stimme war nun so scharf wie ein Messerschnitt.

Heike und Ben nickten.

Die Chefin blickte in ihre Unterlagen.

„Frau Stein und Herr Wilken, Sie fahren heute nach Hannöfersand. Plessners Tochter sitzt immer noch in Untersuchungshaft. Versuchen Sie herauszufinden, ob ihr Vater Kontakt zu ihr aufnehmen will.“

„Wie soll ich das anstellen?“, fragte Heike konsterniert. „Das kleine Biest lügt doch, wenn es den Mund aufmacht. Für Kati Lohmann muss es ein ungeheurer Triumph sein, dass ihr leiblicher Vater auf freiem Fuß ist.“

„Das interessiert mich nicht“, erwiderte die Kriminalrätin. „Bringen Sie mir zur Abwechslung mal Ergebnisse. - Frau Russ und Herr Koslowski, Sie werden bitte Frau Dr. Ellen Brand aufsuchen. Womöglich hat sie eine Idee, wo sich ihr ehemaliger Mandant Plessner aufhalten könnte.“

„Sie wird sich auf die anwaltliche Schweigepflicht berufen“, meinte Koslowski.

„Ja, wahrscheinlich. Dann wird das Gespräch nicht lange dauern und Sie können endlich wieder Kaffeepause machen. Das tun Sie doch sowieso am liebsten“, fauchte Frau Dr. Brink. „Ich habe jetzt genug von diesem Affentheater. - Frau Stein und Herr Wilken, ich möchte Sie noch kurz in meinem Büro sprechen.“

Heike unterdrückte einen langen Seufzer. Die neue Chefin machte ihrem Spitznamen Wikingerkönigin wirklich alle Ehre - nicht nur, weil sie sehr groß und sehr blond war. Ihre unnahbare Art hätte jedem Kühlschrank alle Ehre gemacht.

Doch das eigentliche Problem war natürlich Plessner.

Heike hatte den Gewaltverbrecher schon einmal verhaftet, bevor ihm aufgrund der Stümperhaftigkeit seines Therapeuten die Flucht gelungen war. Natürlich konnte Plessner längst über alle Berge sein. Heike ging trotzdem davon aus, dass er sich noch in Hamburg aufhielt. Diese Stadt war sein Jagdrevier, hier kannte er sich erstklassig aus. Mit der Öffentlichkeitsfahndung konnte man einem Mann wie Plessner keine Angst einjagen. Er würde seinen dunklen Trieben weiterhin folgen, daran hatte die Kommissarin keinen Zweifel. Und sie war überzeugt davon, dass sie ihn erneut verhaften konnte. Allerdings wusste Plessner diesmal, mit was für einer Gegnerin er es zu tun hatte. Der Verbrecher war nicht dumm. Er würde Heike ebensowenig unterschätzen wie sie ihn.

Während ihr diese Gedanken durch den Kopf schwirrten, war Heike gemeinsam mit Ben der Vorgesetzten in ihr Büro gefolgt. Frau Dr. Brink bat den Hauptkommissar darum, die Tür zu schließen. Dann sagte sie: „Herrn Wilkens Versetzungsgesuch liegt momentan auf Eis. Das Bundeskriminalamt hält die Füße still. Ich habe inoffiziell nachgehakt, aber leider ließ sich auch über diese Kanäle nichts erreichen. Im Sinn einer effizienten Verbrechensbekämpfung habe ich daher beschlossen, Sie beide weiterhin gemeinsam ermitteln zu lassen.“

„Sie sagten doch, dass Sie mir wegen unserer privaten ... Schwierigkeiten einen neuen Dienstpartner zukommen lassen wollten“, platzte Heike heraus. Eigentlich wünschte sie sich nichts sehnlicher, als Ben weiterhin an ihrer Seite zu haben. Andererseits war sie eine Freundin von klaren Verhältnissen.

„Ich weiß, was ich gesagt habe“, gab die Chefin zurück. „Und ich habe auch daran gedacht, innerhalb der Abteilung umzustrukturieren. Aber wen soll ich Herrn Wilken zur Seite stellen? Vielleicht Herrn Koslowski? Das wäre dann wie bei den legendären drei Affen, die nichts sagen, nichts hören und nichts sehen - nur, dass noch ein dritter Affe fehlt.“

Heike hielt Frau Dr. Brinks Bemerkung für eine ziemliche Unverschämtheit. Aber Bens Miene blieb unbewegt. Vielleicht war er in Gedanken schon beim Bundeskriminalamt, wo er sich beworben hatte. Die Kriminalrätin wandte sich nun Heike zu.

„Es ist auch nicht möglich, Sie gemeinsam mit Frau Russ einzusetzen, Frau Stein. Ich weiß, dass Sie miteinander befreundet sind. Und wohin die Vermischung von Dienst und Privatleben führt, das haben wir in dieser Abteilung ja schon erleben müssen.“

„Herr Wilken und ich schlafen nicht mehr miteinander“, sagte Heike und schaute ihre Chefin direkt an. „Wir haben einen Fehler gemacht, wollen Sie uns das bis zum Jüngsten Tag vorhalten?“

Tief in ihrem Inneren liebte Heike Ben immer noch, aber das wollte sie weder ihm noch Frau Dr. Brink unter die Nase reiben. Die Kriminalrätin zog die Augenbrauen zusammen, setzte offenbar zu einer scharfen Erwiderung an. Da wurde die Tür aufgestoßen. Melanie Russ steckte ihren Kopf in die Tür.

„Haben Sie schon mal was vom Anklopfen gehört?“

„Entschuldigen Sie, Frau Dr. Brink. Aber es gibt ein Problem mit der Anwältin.“

„Mit Frau Dr. Brand? Wieso?“

„Ich wollte sie anrufen, um zu checken, ob sie heute Gerichtstermine hat. Damit wir nicht vergeblich zu ihrer Kanzlei fahren.“

„Das ist verständlich.“ Die Chefin klang gereizt. „Und worin besteht nun das große Drama?“

„Die Anwältin ist heute nicht in ihrer Kanzlei erschienen. Über ihren privaten Festnetzanschluss und über ihr Handy ist sie ebenfalls nicht zu erreichen. Wir können nicht ausschließen, dass Plessner sie hat!“

3

Der junge Mann kam langsam zu sich.

Seine Augen waren so verklebt, als ob ihm jemand Honig darauf geschmiert hätte. Er fuhr sich langsam mit der Hand über das Gesicht. Schließlich schaffte er es, sich einen Überblick zu verschaffen.

Er lag in einem Wohnwagen. Und er war nackt. Sein rechtes Handgelenk war an dem festgeschraubten Tisch angekettet worden. Panik stieg in dem jungen Mann auf. Und das nicht nur, weil er dringend pinkeln musste. Er versuchte, von seiner schmalen Liege aufzustehen. Er kannte keine Wohnwagen, Camping war nicht sein Ding. Seine Mutter hatte ihn stets im Sommerurlaub mit nach Gran Canaria oder Korfu genommen. Dort waren sie in einem Hotel einquartiert gewesen - kein 5-Sterne-Haus, aber immer noch besser als ein heruntergekommenes Mobilheim.

Sein Gefängnis musste mindestens dreißig oder vierzig Jahre alt sein. Die Kunststoffflächen waren von dem vielen Nikotin gelblich, die Polster durchgesessen. Mit Zigaretten hatte man zahlreiche Löcher in den Stoff gebrannt.

Der Nackte stand nun auf seinen beiden Beinen. Ihm war leicht schwindlig. Weiter hinten schien es eine Nasszelle zu geben. Aber sie war unerreichbar für ihn, weil die Kette ihm nur wenig Bewegungsfreiheit ließ.

Wie war er in diese Lage geraten? Wo waren seine Klamotten geblieben? Wer hielt ihn hier gefangen?

Diese und weitere Fragen schwirrten ihm durch den Kopf. Vor allem musste er möglichst bald seine Blase entleeren. An etwas anderes konnte er momentan kaum denken. Wenigstens schienen die Wohnwagenwände sehr dünn zu sein. Wenn er auf einem Campingplatz war, würde ihn gewiss jemand hören. Es war zwar peinlich, in seinem unbekleideten Zustand von Fremden gesehen zu werden. Aber immer noch besser als hier mit einer Kette am Handgelenk auf den Boden pissen zu müssen!

„Hallo? Ist da jemand? Ich werde hier festgehalten!“

Von draußen konnte er keine Reaktion vernehmen. Der junge Mann war noch niemals zuvor auf einem Campingplatz gewesen. Aber er konnte sich vorstellen, dass es dort nicht leise zuging. Kinder spielten, Jugendliche machten Party, Erwachsene fanden sich zum Grillen zusammen ... all das ging nicht ohne Geräusche ab. Aber ringsum herrschte nur Totenstille. Er reckte sich und schaffte es, einen Vorhangzipfel zu erwischen. Er zog an dem Stoff. Daraufhin konnte er nach draußen schauen. Aber dort erblickte er keineswegs andere Wohnwagen oder Zelte.

Sein Gefängnis stand offenbar inmitten einer Lichtung. Weiter hinten war ein Waldrand zu erkennen. Der junge Mann versuchte, sich zu konzentrieren, was angesichts seines schlimmen Harndrangs gar nicht so leicht war. Wohin hatte man ihn verschleppt? Und wieviel Zeit war vergangen? Erinnerungsfetzen schwirrten durch sein Bewusstsein. Er war auf einer Party in Altona gewesen, hatte einige Drinks gekippt und auch gekifft. In der Bar hatte er längst nicht alle Leute gekannt. Ob ihm jemand K.O. Tropfen verabreicht hatte? Er war der Meinung gewesen, so etwas könnte nur Frauen passieren. Hatte man ihm deshalb seine Klamotten abgenommen? War er bereits vergewaltigt worden?

Der junge Mann horchte in seinen Körper hinein. Aber abgesehen von den Kopfschmerzen und dem Schwindelgefühl konnte er nichts Außergewöhnliches bemerken. Es müsste doch gewiss wehtun, wenn sich der Kidnapper seinen Hintern vorgenommen hätte. Oder stand ihm das noch bevor?

Er zuckte zusammen, denn plötzlich waren vor der Tür Geräusche zu hören. Sein Herzschlag beschleunigte sich noch weiter, als sie geöffnet wurde. Ein Mann trat ein, eine Zigarette im Mundwinkel. Der Nackte hatte ihn noch niemals zuvor gesehen. Oder? Auf den ersten Blick wirkte der Unbekannte harmlos. Schätzungsweise musste er zwischen 40 und 50 Jahren alt sein. Er hatte ein paar Kilo zu viel auf den Rippen, war aber nicht fett. Die hervorstehenden Augen in dem rundlichen Gesicht fielen besonders auf. Der Fremde trug eine Kapuzenjacke und zerschlissene Jeans.

Er sieht wie ein ärmlicher Loser aus, der bei der Hamburger Tafel für eine Lebensmittelspende anstehen muss, dachte der junge Mann arrogant. Und doch fürchtete er sich vor dem Kerl. Das machte ihn sauer.

„Machen Sie mich sofort los!“, rief er forsch.

„Oder - was?“ Der Andere inhalierte Zigarettenrauch und stieß ihn dann schräg nach oben wieder aus. „Rufst du sonst deine Mami?“

Die Anspielung auf seine Mutter erschreckte den Nackten. Kannte dieser Widerling seine Familienverhältnisse? War er gar kein Zufallsopfer?

„W-was wollen Sie von mir?“

Der junge Mann klang nun schon wesentlich kleinlauter, das bemerkte er selbst. Und warum siezte er einen Mann, der ihn vermutlich entführt und nackt ausgezogen hatte? Weil seine Angst ihn dazu trieb. Er versuchte, dagegen anzukämpfen.

„Ich habe große Pläne mit dir, Felix.“

Also kannte der Verbrecher auch seinen Namen. Das war zwar gruselig, aber auch logisch. Der Kerl war über Felix‘ Familie informiert, also kannte er natürlich auch seinen Namen.

„Wollen Sie Geld?“

Der Unbekannte rauchte weiter. Er stand Felix nun so nahe gegenüber, dass er ihn mit ausgestrecktem Arm hätte berühren können. Er lachte, als ob sein Gefangener einen Scherz gemacht hätte.

„Geld ist nicht alles, junger Freund. Frauen sind viel wichtiger.“

Felix runzelte die Stirn. Was sollte das bedeuten? Hielt der Kriminelle ihn für schwul und wollte ihn irgendwie zur Frau machen? Hatte er deshalb keinen einzigen Faden am Leib? Oder faselte der Kerl nur wirres Zeug, weil er ein Psycho war? Diese Variante hielt Felix für viel wahrscheinlicher.

„Wo bin ich hier?“

Der Fremde beantwortete Felix‘ Frage, indem er die Zigarette auf seiner nackten Brust ausdrückte. Die Bewegung erfolgte so schnell, dass der junge Mann nicht mehr ausweichen konnte. Und er hätte seinem rundlichen Gegenüber eine solche Fixigkeit auch nicht zugetraut.

Felix stieß einen Schmerzensschrei aus und ließ sich auf die Liege fallen, auf der er erwacht war.

„Du kreischst wie ein Mädchen“, stellte der Entführer verächtlich fest. „Naja, man kann sich seine Verwandten nun mal nicht aussuchen.“

Was sollte das nun wieder bedeuten? Felix hätte bestimmt gewusst, wenn dieses Ekel ein Onkel, Cousin seiner Mutter oder sonst jemand aus der Familie gewesen wäre. Nein, dieser Kerl war einfach verrückt. Und Felix befand sich in seiner Gewalt.

Trotzdem hatte er ein Anliegen, das keinen Aufschub duldete.

„Hören Sie, ich müsste mal dringend zur Toilette ...“

„Tja, dann wirst du wohl auf den Boden pissen müssen. Ich habe jetzt noch zu tun. Wir sehen uns später, Felix.“

Mit diesen Worten drehte sich der Mann um und ging. Es war zu hören, dass er den Wohnwagen von außen abschloss. Nun gab es kein Halten mehr. Felix‘ Wangen brannten vor Scham, während er der Natur freien Lauf ließ. Und während er seine Blase entleerte, wurde ihm plötzlich bewusst, woher er den Entführer kannte.

Felix hatte sein Foto auf einem News-Portal im Internet gesehen. Die Polizei fahndete nach diesem Mann.

4

Dr. Ellen Brands Kanzlei befand sich in einer hanseatischen Villa, mit Blick auf die Alster und die Mundsburg-Türme.

Melanie Russ und Rüdiger Koslowski parkten ihren Dienstwagen in einer Seitenstraße und betraten das Gebäude. Die Kommissare wollten direkt mit den Angestellten und mit Dr. Jens Wohlleben sprechen. Er war der Kanzleipartner der Verschwundenen.

Als die Ermittler eintraten, begrüßte sie die Dame am Empfangstresen mit einem geschäftsmäßigen Lächeln. Doch als Melanie ihren Dienstausweis zeigte, ließ sie die professionelle Maske fallen.

„Polizei? Es ist gut, dass Sie da sind. Frau Dr. Brand hatte heute Morgen bereits zwei Mandantentermine, die sie platzen ließ. Ich arbeite seit zehn Jahren hier, und das ist noch niemals vorgekommen.“

„Könnte Ihre Chefin nicht einfach plötzlich erkrankt sein?“, fragte Koslowski. Die ungefähr fünfzigjährige Anwaltsgehilfin schaute ihn so vernichtend an, als ob er eine Obszönität von sich gegeben hätte.

„In dem Fall hätte wohl zumindest Frau Dr. Brands Sohn angerufen und Bescheid gegeben.“

Melanie schlug ihr Notizbuch auf.

„Sie sprechen von dem Sohn? Gibt es keinen Ehemann oder Lebenspartner?“

„Frau Dr. Brand ist geschieden und alleinerziehend. Ob sie momentan eine Beziehung hat, kann ich nicht sagen. Darüber spricht sie nicht mit uns.“

„Könnte der Ex-Mann wissen, wo Ihre Chefin sich aufhält?“, wollte Melanie wissen.

„Das kann ich mir nicht vorstellen. Er lebt seit Jahren in den Staaten, in Arizona. Weshalb sollte Frau Dr. Brand dort anrufen, bevor sie plötzlich verschwindet?“

„Geben Sie uns bitte trotzdem die Telefonnummer dieses Mannes“, bat die Kommissarin.

„Ich habe sie nicht, ich ... oh!“

Die Empfangsdame unterbrach sich selbst, denn in diesem Moment öffnete sich die Eingangstür hinter den beiden Ermittlern, die vor dem Tresen standen. Eine Frau im dunkelgrauen Nadelstreifenkostüm trat ein. Sie hielt einen Aktenkoffer in der Hand, war perfekt geschminkt und frisiert. Durch ihre Hornbrille hindurch schaute sie die Kommissare prüfend an.

„Frau Dr. Brand!“, platzte die Angestellte heraus. „Wo sind Sie denn nur gewesen?“

„Ich hatte etwas zu erledigen.“ Die Anwältin verzog keine Miene, sondern wandte sich Melanie und Koslowski. „Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?“

„Polizei, Sonderkommission Mord“, sagte die Kommissarin. Sie nannten ihren Namen und den ihres Dienstpartners. „Wir müssen dringend mit Ihnen sprechen.“

„Lassen Sie sich einen Termin geben.“

„Kommissarin Russ meint, dass wir sofort mit Ihnen reden müssen“, stellte Koslowski klar. „Sie haben heute schon zwei Klienten versetzt, da werden Sie doch Zeit haben.“

Die Juristin warf ihm einen missbilligenden Blick zu, aber dann zuckte sie mit den Schultern.

„Meinetwegen, das wird hoffentlich nicht lange dauern. Folgen Sie mir. - Frau Schmölders, bringen Sie uns Kaffee.“

Melanie und Koslowski gingen mit Frau Dr. Brand in ihr holzgetäfeltes Büro, das modern eingerichtet war. Zahlreiche Gesetzesbücher standen in den Regalen, den einzigen Wandschmuck bildete ein abstraktes Gemälde. Die Anwältin deutete auf ihre Besucherstühle und ließ sich in ihren Bürosessel fallen, wobei sie die Beine übereinander schlug.

„Nehmen Sie bitte Platz. - Also, was kann ich für Sie tun?“

„Wir haben uns gefragt, weshalb Sie heute Morgen nicht zur Arbeit erschienen sind und nicht telefonisch zu erreichen waren“, sagte Melanie.

„Deshalb belästigen Sie mich?“ Die Juristin lachte hysterisch. „Die Polizei rückt an, weil ich ein paar Minuten zu spät in die Kanzlei komme? Jetzt weiß ich wenigstens, wofür meine Steuergelder verschwendet werden.“

„Von ein paar Minuten würde ich nicht sprechen“, sagte Koslowski. „Sie erscheinen normalerweise um acht Uhr bei der Arbeit, jetzt ist es kurz nach elf. Ist es für Sie nicht nachvollziehbar, dass man sich Sorgen um Sie macht?“

„Zumal Sie auch telefonisch nicht zu erreichen waren“, ergänzte Melanie.

„Ich verstehe die ganze Aufregung nicht.“

„Wirklich nicht, Frau Dr. Brand?“ Die Kommissarin schaute sie forschend an. „Sie werden doch wissen, dass Plessner immer noch auf der Flucht ist.“

„Selbstverständlich, die Boulevardpresse und die sozialen Medien haben doch kein anderes Thema mehr.“

„Und Sie waren seine Verteidigerin.“

„Pflichtverteidigerin, Frau Russ. Ich habe mich nicht darum gerissen, diesen Menschen vor Gericht vertreten zu müssen. Aber in einem solchen Fall kann man sich seine Mandanten nicht unbedingt aussuchen. Ich tat jedenfalls alles für ihn, was in meiner Macht stand.“

„Vielleicht war Plessner ja der Meinung, es sei nicht genug gewesen“, gab Koslowski zu bedenken. „Und nun will er sich an Ihnen rächen.“

Die Anwältin grinste, aber ihre Augen lachten nicht mit.

„Falls das so wäre, dann würde ich jetzt nicht mehr leben. Stimmen Sie darin mit mir überein?“

Bevor der Kommissar antworten konnte, stellte Melanie eine direkte Frage.

„Hat Plessner Kontakt mit Ihnen aufgenommen?“

Die Augenlider der Anwältin flatterten, dann schüttelte sie heftig den Kopf.

„Nein, das hat er nicht getan.“

„Frau Dr. Brand, die Polizei kann Sie schützen. Aber dafür ist es notwendig, dass Sie die Wahrheit sagen.“

Melanie hörte sich richtig beschwörend an, wie sie selbst fand. Die Juristin zog die Augenbrauen zusammen.

„Unterstellen Sie mir jetzt auch noch, dass ich lüge? Das ist ein starkes Stück, das muss ich schon sagen.“

„Verraten Sie uns doch einfach, warum Sie heute Morgen nicht erreichbar waren“, schlug Koslowski vor.

„Ich hatte privat etwas zu erledigen. Es ist jedenfalls nichts, wofür sich die Polizei interessieren müsste.“

„Hat es etwas mit Ihrem Sohn zu tun?“

„Das Gespräch ist beendet“, erklärte die Anwältin schroff. „Kommen Sie wieder, wenn Sie etwas Konkreteres vorweisen können als wüste Unterstellungen.“

„Wir wollen Ihnen doch nur helfen“, sagte Melanie.

„Die Polizei braucht dringend einen Fahndungserfolg, das habe ich verstanden. Daher klammern Sie sich an jeden Strohhalm. Es wäre sinnvoller gewesen, Plessner gar nicht erst entkommen zu lassen.“

Es blieb den Ermittlern nichts anderes übrig, als sich zu verabschieden. Im Auto begann Kosloswki zu wüten.

„Diese eingebildete Ziege tut ja so, als ob die Polizei den Psycho hätte entkommen lassen! Dabei lag es an diesem weltfremden und unerfahrenen Therapeuten!“

„Hör auf, der Nervenarzt ist gestraft genug. Darf ich dich daran erinnern, dass er durch Plessner ein Auge eingebüßt hat?“

„Das tut mir ja auch leid“, lenkte Koslowski ein. „Ich bin nur sauer, weil die Anwältin uns garantiert etwas verschweigt.“

„Ja, ich gebe dir recht, Rüdiger. Ich bin mir sogar sicher, dass sie Kontakt zu Plessner hat. Er muss über ein Druckmittel verfügen, mit dem er sie in der Hand hat. Wir müssen Frau Dr. Brand nur verfolgen, dann führt sie uns garantiert zu ihm.“

5

Das Hamburger Frauengefängnis befindet sich auf der Halbinsel Hannöfersand, die unmittelbar vor dem südlichen Elbufer liegt. Vom Polizeipräsidium im Hamburger Norden ist es ein ziemlich weiter Weg dorthin. Und Heike hätte es nicht ertragen, ihn schweigend zurückzulegen. Also versuchte sie, ein Gespräch mit Ben in Gang zu bringen.

„Die Wikingerkönigin hat also noch nichts vom Bundeskriminalamt gehört. Und was ist mit dir? Hat man dir etwas zu verstehen gegeben?“

„Nein.“

„Du hast doch einen Freund beim BKA, jedenfalls hast du mir das mal erzählt. Damals, als du noch mit mir geredet hast.“

„Ich spreche doch mit dir“, sagte Ben, ohne den Blick von der Fahrbahn vor ihm abzuwenden. Heike schlug auf dem Beifahrersitz die Beine übereinander und seufzte.

„Das nennst du Sprechen? Besonders redselig warst du ja noch nie. Aber in letzter Zeit bist du richtig mundfaul geworden.“

Der Hauptkommissar seufzte, bevor er zu einer Erwiderung ansetzte.

„Ich versuche einfach nur, mein Leben zu meistern. Maja macht mir wegen unserer Affäre immer noch die Hölle heiß. Es wäre wahrscheinlich einfacher, wenn wir nicht zusammenarbeiten müssten. Aber du hast ja gehört, was die Chefin gesagt hat. Ich würde lieber heute als morgen nach Wiesbaden abschwirren. Doch das liegt nicht in meiner Macht.“