Spica - Bettina Hermann - E-Book

Spica E-Book

Bettina Hermann

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Beschreibung

Nah und näher, Haus an Haus stehen sie beisammen. Friedlich und scheu liegt das kleine Tal inmitten gewaltiger Berge, wie eine Nuss in ihrer Schale. An jenem friedlichen Ort wuchs Spica auf, bis sie erwachsen war. In einem Gasthaus verdient sie sich ihren Lebensunterhalt. Der Tod ihrer Mutter und das Verschwinden ihres Vaters und ihres Bruders lasten sehr auf ihren Schultern, doch sie lässt sich nicht davon abhalten, ihr Leben dennoch so schön zu gestalten wie möglich. In einer stürmischen Nacht tauchen drei in dicke Kapuzenmäntel gehüllte, unbekannte Männer im Gasthaus auf. In Spicas Leben verändert sich schlagartig alles. Legenden werden zu Wahrheiten und Feinde zu Freunden...

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Seitenzahl: 615

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Impressum:

© 2021 Bettina Hermann

Lektorat: Angelika Fleckenstein; Spotsrock

Verlag und Druck:

tredition GmbH

Halenreie 40–44

22359 Hamburg

ISBN

978-3-347-30093-4 (Paperback)

978-3-347-30094-1 (Hardcover)

978-3-347-30095-8 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

BETTINA HERMANN

SPICA

Stille Wasser sind tief …

Ein Kleid aus Erinnerung, sanft und sensibel, zerbrechlich und leicht, wie Engels Flügel. Wo Federn sich auf stille Wasser legen und das Mondlicht in die Tiefe des Unwissenden taucht, die Sterne ihre Geheimnisse tragen und die Nebel Rückzug in Wälder finden, kriecht die Magie auf eigenen Füßen.

1

Es war die Zeit des Winters. Der puderweiße Schnee lag hoch bis zu den Knien. Er schimmerte ganz leicht im Licht des Mondes. Es sah so aus, als lägen Millionen kleiner Diamanten auf der Oberfläche. Der Nebel legte sich schmeichelnd über die Bergspitze und verdeckte jede Lücke des Horizonts. Er bewegte sich in voller Pracht behutsam an den Bergen entlang. So unglaublich dicht, dass man nicht auf die andere Seite schauen konnte, nur zu erahnen war, was dort passiert, und gerade das Unwissende macht den Denkenden Angst.

Inmitten der mächtigen Berge befand sich ein kleines Tal. Es war das Tal der Menschen, klein und unversehrt, ein friedlicher Anschein. Dieses kleine Tal lag, wie eine Haselnuss in der Hand, zwischen den Bergen, gut geschützt und in Sicherheit. Es sah so aus als wäre es ein kleiner Funke in einem großen Feuer, tief unten versteckt, kaum zu erkennen. Die einzige Lücke in den Bergen war der tiefe Wald. Er öffnete einen Weg in die Außenwelt. Man musste sich nur hindurch wagen. Doch keine Menschenseele würde auch nur einen Schritt hinein riskieren. Es war die Angst vor dem Unbekannten, welche sie in ihrem kleinen Tal festhielt.

Seit geraumer Zeit sprach man auch nicht mehr über die weite große Welt, nur vereinzelt in Gasthäusern wurden zur späten Stunde Geschichten, Legenden und Sagen an die Jüngeren weitergegeben …

„RIESIGE, MONSTRÖSE Monster treiben da draußen ihr Unwesen!“, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, fuchtelte der alte Baratas mit seinen Armen in alle Himmelsrichtungen. „Ich als Jüngling war töricht und wurde von der Neugier getrieben. Ich wagte mich hinaus in die Wälder. Weit, weit weg vom Tal, allein und ohne Schwert. Ich war also unbewaffnet und ohne Gefährten. Und plötzlich hörte ich ein Rascheln. Ich versteckte mich im Gebüsch, als ich es hörte. Es war riesig und endlos lang, dazu hatte es scharfe Sinne. Es konnte meinen Atem hören. Ich packte all mein Mut zusammen, trat aus meinem Versteck und nahm es mit dem Monster auf. Ohne Schwert, mit bloßen Fäusten, vertrieb ich es aus dem Wald. Dabei verlor ich mein rechtes Bein. Doch ich kam siegreich zurück ins Tal …“

„Hörst du das, Spica? Der alte Baratas erzählt den Sprösslingen wieder von seinen Abenteuern. Pah! Dass ich nicht lache. Letzte Woche meinte er noch, er hätte seinen Zahn durch den Kampf verloren, und am Tag zuvor berichtete er, er hätte das Wesen mit einem Dolch in Einzelteile geschnitten. Jedes Mal kommt er mit einer neuen Geschichte.“ Jayren schaute Spica von der Seite an, als er keine Reaktion wahrnahm. „Hallo? Lebst du noch?“, fragte er ungeduldig.

„Ähm ja, ja natürlich alles bestens … erzähl mir was, das ich noch nicht weiß, und außerdem haben wir soeben neue Gäste bekommen. Da, sieh doch“, sie deutete mit einer Handbewegung auf die Eingangstür, in der bereits drei Männer standen. „Nimm du die Bestellungen auf, während ich noch etwas Suppe in der Küche vorbereite“, sagte sie dann voller Anmut.

„Du lenkst immer dann ab, wenn dir etwas nicht passt!“, äußerte sich Jayren ärgerlich.

„Ach, hör bloß auf damit! Was weißt du schon? Und kümmere dich um unsere Besucher. Sie scheinen neu im Tal zu sein“, entgegnete Spica, während sie schon in die Küche ging und sich über den Besuch der unbekannten Männer wunderte.

Beleidigt streckte er ihr die Zunge raus und ging auf die Gruppe zu. Es waren, um genau zu sein, drei große Männer. Viel größer als die anderen Männer aus dem Tal. Sie trugen jeweils einen Bogen über ihren Rücken, und man sah große Schwerter um ihre Hüften hängen. Ihre Gesichter verdeckten sie unter schwarzen Kapuzen, die einen unheimlichen Eindruck vermittelten.

„Guten Tag meine verehrten Herren, darf ich Sie zu einem Tisch führen?“, fragte Jayren, als er ins Gesicht eines Mannes blickte.

Dieser hatte langes zerzaustes Haar und einen dunklen Bart. Seine Augen waren tiefbraun, fast schon schwarz und ihr Ausdruck war eiskalt und bohrend.

Jayren erstarrte, als ihm eine düstere durchdringende Stimme antwortete: „Wir suchen ein Zimmer für die Nacht mit drei Betten und eine gute warme Mahlzeit für jeden von uns.“

Jayren hielt einen Moment inne, bevor er sich äußern konnte.

„Mit Vergnügen mein Herr“, er neigte leicht den Kopf und drehte sich mit einer Handbewegung nach hinten. „Hinten links ist eine Tür. Sie führt direkt zu dem Zimmer. Wenn Sie mir folgen wollen.“

Jayren wartete nicht auf eine Antwort, sondern ging direkt auf die Tür zu; hinter ihm die drei großen Männer. Er spürte, wie sie ihm folgten und wie die Blicke der anderen Gäste ihm und den drei Männern folgten. Doch er versuchte sich ruhig zu verhalten und öffnete die Tür, auf der in Großbuchstaben ZIMMER stand. Zum Vorschein kam eine kleine recht schmale Treppe, die nach oben führte. Er ging langsam nach oben, dabei knackten die Stufen bei jedem seiner Schritte. Erst am Ende des Flures blieb er stehen und wies auf das letzte Zimmer.

„Es ist das einzige mit drei Betten, mein Herr. Ihr werdet ungestört sein, denn niemand mietet sonst ein Zimmer“, seine Stimme zitterte bei seinen Worten, und er hoffte, sie würden es nicht bemerken. Eine Antwort bekam er nicht, nur ein langsames Nicken nahm er von der Seite wahr, als die Männer durch die Tür verschwanden. Er beobachtete jeden Einzelnen ganz genau, dabei fiel ihm auf, dass der Letzte ein blutbeschmiertes Schwert in der Hand hielt.

Jayren konnte nicht anders und musste es anstarren, doch er erschrak, als er merkte, dass ihn der Mann, dem das Schwert gehörte, ansah. Schnell überreichte er den Zimmerschlüssel und verschwand wieder nach unten. Er lief förmlich die Treppe hinunter und musste aufpassen, nicht hinzufallen. Als er die Tür zur Treppe schloss, spürte er die angespannte Stimmung im Gasthaus. Er drehte sich um und sah, dass ihn jeder mit fragendem Blick ansah.

Puh! Es ist alles normal, sagte er innerlich zu sich selbst, doch bei seinen Worten war er sich selbst nicht sicher, denn er hatte noch das Bild des blutverschmierten Schwertes im Kopf. Er gab den Gästen ein Handzeichen, um ihnen deutlich zu machen, dass alles in Ordnung sei. So langsam nahmen die Gäste ihre Gespräche wieder auf, und Jayren konnte unauffällig in die Küche gehen. Endlich hatte er die Möglichkeit auszuatmen und dies tat er bewusst etwas lauter, um Spicas Aufmerksamkeit zu erregen, die ihm keinen Blick schenkte.

„Wenn du wüsstest, was ich gerade gesehen hab!“, platzte er heraus.

Spica schnitt weiteres Gemüse klein, während sie ihre Augen verdrehte.

„Nein wirklich, hör mir doch einmal zu, bitte. Du hast so furchtbar schlechte Laune. Was ist nur los mit dir? Wir kennen uns schon, seit wir kleine Hosenscheißer waren. Ich merke doch, wenn etwas nicht stimmt.“

Spica drehte sich mit dem Lappen in der Hand zu ihm.

„Also schön, erzähl mir das, was du gesehen hast und lass mich dann in Ruhe“, antwortete sie leicht genervt.

Jayren erzählte ihr alles von den drei Besuchern, bis ins kleinste Detail. Von der Begrüßung bis zur Abgabe des Schlüssels. Er übertrieb auch ein klein wenig, aber das merkte Spica sofort. Sie nahm es ihm nicht übel, denn er hatte endlich etwas Spannendes zu erzählen, das fand auch Spica.

„Kennt man diese Männer? Und du bist dir sicher, dass es Blut war?“, fragte sie nach einigen Minuten skeptisch und neugierig zugleich.

„Möge mich Helios höchstpersönlich danach fragen, und ich würde dasselbe sagen. Ich erkenne Blut, wenn ich es sehe. Blöd bin ich nicht und was die Männer angeht, ich habe sie noch nie zuvor in unserem Tal gesehen – und ich kenne jeden hier in der Gegend. Sie müssen von weit her sein“, erwiderte Jayren erfreut, da er merkte, wie interessiert seine Freundin nun wirkte.

„Wir arbeiten schon seit fünfzehn Jahren in unserem Gasthaus und noch nie ist ein anderer Gast durch die Tür getreten, geschweige denn in unserem Tal erschienen“, stellte sie nachdenklich fest. „Nun denn, wir sollten sie wie alle anderen Gäste behandeln und höflich zu ihnen sein, wer weiß, was sie alles erlebt haben und wie empfindlich sie reagieren, werden.“ Sie drehte sich zu Jayren um und sah, dass er sie verwirrt musterte, als hätte sie in einer anderen Sprache gesprochen. Sie musste kichern erwiderte doch: „Wir sollten langsam wieder an die Arbeit. In einer Stunde schließen wir, bis dahin müssen wir die Tische und Stühle, die nicht mehr benutzt werden, sauber machen und schon mal spülen. Die meisten werden jetzt auch gleich gehen. Dann bring ich unseren drei seltsamen Gästen die Suppe hoch.“

Sie machte eine kurze Pause und wartete auf eine Reaktion von ihm, doch als nichts dergleichen passierte fügte sie hinzu: „Du kannst ja schon mal anfangen. Ich mach‘ solange die Suppe fertig und beginne mit dem Abwasch“, dabei stupste sie ihn auf die Nase und ließ heißes Wasser ins Becken laufen.

Jayren war noch immer wie erstarrt. Wie konnte Spica bei der ganzen Sache so ruhig bleiben? Sie war doch sonst diejenige, die über alles Neue Bescheid wissen wollte. Zögernd nahm er den Eimer mit den Lappen und ging zu den leeren Tischen, um sie zu putzen. Sein Kopf brummte voller Gedanken und Spekulationen. Was war mit Spica los? Weiß sie was, was ich noch nicht weiß? Wer sind die mysteriösen Männer? Was führt sie hierher? Wie haben sie unser Tal gefunden? Wessen Blut ist auf dem Schwert? Und warum das Ganze?

Er war so vertieft in seine Gedanken, dass er gar nicht bemerkte, dass alle Gäste bereits gegangen waren und er nun allein in der Empfangshalle stand. Als er sich umschaute, sah es so aus, als seien alle vom Erdboden verschluckt worden. Nur die Tür zum Gasthaus stand offen, und man sah die Fußspuren derjenigen im Schnee, die gegangen waren.

Draußen wehte der Wind den Schnee hin und her. Es fing an zu stürmen. Der Nebel schlich gespenstisch durch das Tal und wurde mit der Zeit immer dichter. Das gegenüberliegende Haus auf der anderen Straßenseite konnte man nur noch undeutlich erkennen. Das ganze Tal lag nun im Nebel. Die Laterne, die über der Eingangstür des Gasthauses hing, schaukelte ungemütlich in der Nacht. Sie quietschte bei jeder Bewegung, während ihr schwaches Licht nur ein Stück des Eingangs erleuchtete und man nur die wabernden Nebelschwaben im Dunkel herumschleichen sah. Der Wind heulte auf, das Licht der Laterne flackerte heftig und erlosch dann komplett.

„Merkwürdiger Tag“, sagte Jayren misstrauisch.

Er schloss die Eingangstür, putzte die letzten Stühle ab, wischte den Boden und ging wieder in die Küche zurück, wo der wunderbare Duft, der frisch gekochten Suppe in seine Nase kroch. Er blieb angelehnt im Türrahmen stehen und beobachtete seine Freundin nachdenklich.

„Brauchst gar nicht so zu gucken“, äußerte sich Spica belustigt. „Hast du alles erledigt?“ Sie zog die Augenbraue hoch.

„Der Eingang ist sauber, ebenso wie der Empfangsraum, und morgen wird getauscht“, antwortete er stolz. „So wie immer, eine Woche du und die nächste ich.“

„So wie immer. Ich weiß. Sind schon alle gegangen, oder sitzt der alte Baratas noch an der Bar und will wieder nicht gehen?“, fragte Spica, während sie die drei Schüsseln mit Suppe vorbereitete und auf ein Tablett stellte.

„Alle sind gegangen, selbst der alte Knacker. Es sieht aus, wie leergefegt, was mich verwundert“, meinte Jayren zu Spica gewandt.

„Nanu, das ist wirklich nicht normal“, sie legte eine Pause ein, um kurz nachzudenken „Was soll‘s, ich bring eben die Suppe hoch, und dann können wir abschließen und für heute Schluss machen“, stellte sie lässig fest.

Die Ruhe seiner Freundin nervte Jayren, und man konnte es ihm ansehen. Er gab sich keine Mühe seine gereizte Haltung zu verbergen: „Sag mal, was ist denn los mit dir? Du bist doch sonst so begierig, alles zu wissen. Jetzt passiert mal etwas Interessantes im Tal, und dich scheint es gar nicht zu kümmern. Du benimmst dich schon, wie die alte Schabracke Mathilde.“ Er beruhigte seine Stimme und sagte dann mehr zu sich selbst: „Ordnung, Höflich, Sauberkeit und Ruhe meine Kinder, das ist der Schlüssel zum Erfolg“, er ahmte dabei seine alte Lehrerin nach. „Widerlich! Sag schon, was ist los mit dir?“, verlangte er nun zu wissen.

Spica hingegen zuckte mit den Schultern: „Ich weiß gar nicht, was du meinst“, antwortete sie gelassen. „Außerdem habe ich heute echt keine Lust, mit dir zu diskutieren, denn ich habe Besseres zu tun.“

Er nickte nur ungläubig und ließ sie dann in Frieden. Vielleicht war sie einfach nur viel zu müde, um neugierig zu sein.

Ohne ein weiteres Wort schlich sich Spica mit dem Tablett an ihm vorbei und ging hoch zu den Zimmern. Sie dachte an alte Geschichten, die sie in diesem Gasthaus gehört hatte, in denen auch ähnliche Männer vorkamen, wie sie hier als Gäste übernachten würden. Als kleines Mädchen glaubte sie den Erzählungen, aber heute zweifelte sie. Bisher ging sie davon aus, das Dorf sei die ganz Welt. Doch ausgerechnet heute waren drei mysteriöse Männer ins Gasthaus gekommen; und die stammten nicht aus dem Dorf! Das gab ihren Zweifeln Nahrung. Vielleicht war ja an den alten Geschichten mehr dran als sie sich bisher vorgestellt hatte?

Ihr Herz klopfte immer stärker bei jedem Schritt, den sie machte und näher an das hinterste Zimmer kam. Sie lauschte an der Tür. Totenstille. Schliefen sie schon? War sie zu spät? Nein, das konnte nicht sein. Sie klopfte vorsichtig an der Tür. Wieder nur Schweigen.

War sie zu leise? Ein zweites Mal klopfte sie dies Mal lauter. Keine Antwort.

Sollte sie vielleicht gehen und die Männer ungestört lassen?

Aber sie hatten um eine warme Mahlzeit gebeten. Sie überlegte kurz, dann riss ihr der Geduldsfaden, und sie öffnete vorsichtig die Holztür.

Die Tür knackste laut, als sie diese in Bewegung setzte. Leise trat sie ins Zimmer ein, und eine kühle Brise kam ihr entgegen, als sie zu einer Entschuldigung ansetzte.

„Verzeiht, doch nie …“, sie hörte mitten im Satz auf, als sie merkte, dass sie allein im Zimmer war.

2

„Da war niemand mehr. Das Fenster stand offen und der Wind wehte die kalte Luft herein. Nicht eine einzige Spur von den drei Männern“, versuchte Spica ihrem Freund verzweifelt zu erklären. Dabei wusste sie, dass sie sich nicht die Mühe gemacht hatte genauer zu gucken. Es war wie ein schlechter Traum, man kannte die Realität, wurde dann von der Fantasie verzaubert und schließlich wachte man auf, als wäre nichts passiert.

Sie stellte das Tablett viel zu laut neben den Küchenherd ab und drehte sich zu Jayren, der sie verwundert ansah und dann skeptisch sagte: „Wir gehen gleich wieder hoch, zusammen und wehe, du treibst wieder irgendwelche Späße mit mir!“ In seiner ernsten Stimme lag ein Hauch Besorgnis. Er sah in die erschöpften Augen seiner Freundin und wartete geduldig auf eine Antwort.

„Okay…“, sagte Spica nach einer Weile langsam, obwohl sie wusste, dass er ihr nur zu gerne einen Streich spielte, aber das wollte sie nicht erwähnen. Sie faltete Ihre Schürze und legte sie zur Seite. Dann gingen sie gemeinsam hoch in Richtung des Zimmers.

Noch bevor sie das Zimmer erreichten, erkannten sie, dass die Eingangstür offenstand. Der Schnee fiel bis in den Flur hinein.

„Hast du das Fenster denn gar nicht geschlossen?“, fragte Jayren, während er eilig zum Zimmer marschierte.

Mit verwirrter Miene antwortete sie: „Also eigentlich schon …“, jedoch war sie sich selbst nicht mehr sicher, ob sie es wirklich getan hatte.

Jayren hatte recht. Irgendwas stimmte nicht mit ihr. Sie war ganz durcheinander und völlig irritiert.

Das Zimmer stand genauso da, wie sie es vor fünf Minuten verlassen hatte. Niemand war im Zimmer. Drei Betten standen an den Wänden, zwei links und eins rechts, alle unberührt. Das Zimmer war recht klein. Die einzigen Möbelstücke waren die drei Betten und ein kleiner Nachttisch. Und natürlich war da das Fenster. Es stand offen und der eisige Schnee wehte herein. Jayren ging direkt auf das Fenster zu und schloss es, bevor weiterer Schnee ins Zimmer fallen konnte. Danach erkundete er mit seiner kleinen Kerze den Raum und suchte nach Auffälligkeiten, doch er fand nichts.

Spica stand noch immer im Türrahmen und starrte in das Dunkel hinein. Sie wusste nicht, ob sie sich, wie Jayren, auf die Suche nach irgendetwas machen sollte. Aber was würden sie schon finden? Ein Schwert, ein Messer, vielleicht sogar Kleidung oder eine andere Kleinigkeit? Es wäre unlogisch, wenn die Herrschaften ihre Waffen oder ihr Gepäck zurückgelassen hätten. Außer Bögen und Schwerter trugen sie ja nichts bei sich.

Aber wieso waren sie dann in das Gasthaus hineingetreten? Wollten sie sich vor irgendwas oder irgendwem verstecken? Wurden sie vielleicht verfolgt? Schließlich hatten sie ja einen Kampf hinter sich. Aber das erklärte noch immer nicht, warum sie ein Zimmer für die Nacht wollten und sich Suppe bestellten. Wer waren diese unbekannten Männer?

Ihr Blick glitt nachdenklich durch das Zimmer, und sie betrachtete aufmerksam jede Ecke, doch ihr fiel nichts Ungewöhnliches auf, das anderes als sonst war – mal abgesehen vom vielen Schnee, der nun auf dem Boden lag.

„Vielleicht sollte ich einen Eimer holen, bevor der Schnee anfängt zu schmelzen“, sagte sie in den Raum hinein zu Jayren, doch von ihm hörte man nur ein“Mhm …“ als Bestätigung. Sie ging zur kleinen Abstellkammer, die sich gegenüber der Zimmerreihe befand, und griff nach dem Metalleimer, der in der Ecke stand. Als sie zurückkehrte, begann sie den Schnee mit den Händen einzusammeln. Sie spürte die durchdringende Kälte am ganzen Leib, welche erschreckend schnell über ihren Körper glitt. Doch der Schnee war so weich, wie reine Wolle. Sie legte ihn behutsam in den Eimer, als sie Jayren fluchen hörte.

„Diese Barbaren haben wohl nichts Besseres zu tun, als Unordnung zu stiften!“, er drehte sich zum Fenster und schaute hinaus, als hoffte er, sie sehen zu können.

„Was erwartest du?“, fragte Spica.

Sie nahm die ganze Situation anderes wahr als ihr bester Freund, was normalerweise andersrum war.

„Ein Abschiedswort hätte genügt. Dann hätten wir wenigstens unseren Schlüssel zurückfordern können“, antwortete er erstaunlich ruhig. Entschieden stellte er seine Kerze auf dem Nachttisch ab und schlenderte aus dem Zimmer nach unten, um einen Lappen zu holen.

Spica hatte den Zimmerschlüssel ganz vergessen, aber daran wollte sie erstmals nicht denken. Sie hatte andere Probleme. Der Schnee fing an zu schmelzen, und sie sollten ihn schleunigst aufsammeln, zumindest das, was sie bis dahin schaffte, bevor eine riesige Pfütze entstand, die durch die Holzdielen tropfen und einen Wasserschaden anrichten würde.

Wie lange das Fenster wohl schon offen stand bei dieser Menge Schnee?, fragte sie sich in Gedanken.

Bei der nächsten vollen Hand Schnee hörte sie ein leises Knirschen, und der Schnee fühlte sich ganz anders an. Oder war das gar nicht der Schnee? Es fühlte sich jedenfalls nach einem anderen Material an. Noch bevor der Schnee in ihrer Hand anfing zu schmelzen, wischte sie ihn vorsichtig von ihrer Hand weg.

Zum Vorschein kam ein kleiner Umschlag. Er war schon leicht gewellt vom Schnee. Es stand kein Absender oder Name drauf, nur ein kleines Siegel war zu erkennen. Jemand hatte es mit schwarzem Kerzenwachs ins Papier gedrückt. Sie wollte es sich genauer anschauen, als sie eine Stimme vom Treppenhaus her vernahm.

„Habe ich schon erwähnt, dass ich zusätzliche Arbeit verabscheue?“

Spica wandte ihren Kopf bei seinen Worten hastig zur Tür. Sie brauchte einige Sekunden, um zu realisieren, dass es ihr alter Freund Jayren war, so sehr war sie versunken in Gedanken um den Briefumschlag. Sie spürte den Drang, ihm den Umschlag zu zeigen. Vielleicht machte sie ihm eine Freude damit, lenkte ihn von seinem Ärger über das Verschwinden der Gäste ab? Sie hätte sich auch etwas Lustiges einfallen lassen können, doch eine Stimme tief in ihrem Innern riet ihr, dies nicht zu tun.

Sie warf noch einen letzten Blick auf den Umschlag und schob ihn, ohne einen weiteren Gedanken über ihr Handeln zu verschwenden, rasch in ihre rechte Hosentasche.

„Ich habe direkt einen zweiten Eimer mitgebracht und für dich ein warmes Handtuch, damit du dir die Hände erstmal wärmen kannst. Danach brauch ich es, um den Boden abzutrocknen“, sagte er liebevoll und überreichte ihr das warme Handtuch.

Wieso konnte sie ihm nicht von dem Umschlag erzählen? Ihr Mund war wie zugeschnürt. Es fühlte sich falsch an, zu schweigen. Jayren war ihr sehr guter Freund. Sie sah ihn schon immer als den Bruder, der ihr fehlte. Seit ihrer Geburt, war er ihr Freund. Ihre Mütter waren sehr gut miteinander befreundet und teilten alles miteinander. Als sie mit 9 Jahren ihre Mutter verlor, nahm seine Familie sie auf, weil sie auch sonst niemanden hatte.

Seitdem stand die Holzhütte ihrer eigenen Familie, welche abseits des Tals lag, leer und verlassen. Ab und zu ging sie noch hinein, aber sie versuchte es möglichst zu vermeiden. Sie wollte mit der Vergangenheit endgültig abschließen, aber es gelang ihr eher schlecht. Sie versuchte immer nach den Gründen und Ursachen zu suchen, meistens auch unbewusst. Man hatte ihr erzählt, dass sie ihre Neugier von ihrem Vater geerbt hätte. Auch das Bogenschießen erlernte sie von ihrem Vater, zusammen mit ihrem Bruder übten sie, kaum dass sie anfingen zu laufen. Das geschah alles, bevor beide eines Tages spurlos verschwanden. Sie war gerade mal fünf Jahre alt gewesen.

Die meisten Leute aus dem Dorf erzählten, sie seien aus dem Tal geflüchtet, weil sie es hier nicht mehr aushielten. Wenn es tatsächlich so gewesen wäre, würde Spica es ihnen nicht verübeln. Sie wollte als junges Mädchen auch schon hinaus in die Wälder und die Welt da draußen, alles entdecken und zu prüfen, ob die Geschichten der alten weisen Großväter des Tales tatsächlich der Wahrheit entsprachen. Und sie wollte den Menschen beweisen, dass da draußen keine Gefahr bestand.

Nun war sie bereits einundzwanzig Jahre alt und glaubte nicht mehr an die Geschichten, die immer noch erzählt wurden. Es gab ungezählte davon, und die meisten hatten irgendeinen Haken, der sie dann wieder unglaubwürdig erscheinen ließ.

Somit gab sie ihren Plan auf und blieb bis zu dem heutigen Tag im Tal. Ihr war jedoch bewusst, dass sie beim Anblick der drei Fremden wieder an die Geschichten gedacht hatte. Sie überlegte: Gab es doch einen Funken Wahrheit? Vergeblich werde ich danach suchen, dachte sie, und kehrte aus ihrer Erinnerung zurück.

Sie blieb noch eine Weile im Raum stehen und beobachte Jayren beim Aufwischen. Ihr bester Freund, so stur er auch sein mochte, wischte gerade eifrig den Boden trocken. Bei diesem Anblick musste sie schmunzeln.

Sie bemerkte, wie etwas Warmes, Nasses still und leise über ihr Gesicht floss. Es rutschte immer tiefer bis zu ihrem Mund. Etwas Salziges berührte ihre Lippen und drang in ihren Mund. Unbewusst wischte sie mit der warmen Hand über ihre Wange. Sie merkte, wie sich die kleine Wasserspur beim Wischen verteilte, und als sie ihre Hand betrachtete erkannte sie, dass sie weinte. Ein Schluchzen kam aus ihr empor.

Nein, nicht doch! Im Innern schimpfte sie mit sich selbst. Sie wollte jetzt nicht weinen und schon gar nicht vor Jayren. Er hatte sie zum letzten Mal weinen gesehen, als ihre Mutter starb. Nicht noch einmal wollte sie, dass er Zeuge davon wurde. Weinen ist schrecklich und zeigt nur Schwäche, rief sie sich selbst zur Ordnung, damit sie aufhören konnte; dabei wusste sie, dass es nicht stimmte.

Jayren schaute sie mit seinen dunkelblauen Augen vom Boden her an: „Ist alles in Ordnung mit dir?“, fragte er besorgt.

Sie musste sich jetzt zusammenreißen, um sich bloß nichts anmerken zu lassen.

„Ja, alles bestens. Ich glaub‘, ich bekomme Schnupfen, oder ich habe einfach nur Staub in die Nase bekommen“, ihre Stimme bebte leicht bei ihren Worten und sie hoffte inständig, dass er nichts bemerkte. Um ihren Worte Glaubwürdigkeit zu verleihen, holte sie ein Taschentuch aus ihrer Jackentasche heraus und putzte sich die Nase. Er schaute noch eine Weile zu ihr hinauf und griff nach dem Handtuch, welches jetzt schon kalt geworden war, und trocknete den Rest des Bodens damit ab.

„Wollen wir gehen?“, fragte er sie.

Spica antwortete ihm mit einem hastigen Nicken, als sie bemerkte, wie er sie ansah. Sie drehte sich weg und machte Anstalten zu gehen.

„Ist wirklich alles gut mit dir?“, fragte er sie ein letztes Mal.

Diesmal drehte sie sich um und sah direkt in seine tiefblauen Augen, die so schön waren wie der Nachthimmel. Sollte sie ihm sagen, wie sehr ihre Vergangenheit auf ihren Schultern lastete? Konnte sie ihn überhaupt anlügen? Würde er es bemerken? Sie hatte ihn noch nie angelogen, und sie würde heute ganz bestimmt nicht damit anfangen. Sie schnalzte mit der Zunge und entgegnete lässig: „Mir geht es hervorragend in deiner Nähe. Ich bin froh, dich als Bruder ansehen zu können.“

Jedes ihrer Worte meinte sie vollkommen ernst.

Jayren neigte leicht den Kopf und schenkte ihr ein süßes Lächeln. Spica erkannte darin eine versteckte Sorge, gefolgt von purer Erleichterung. Sie gingen gemeinsam hinunter, betrachteten noch einmal jeden Raum und machten sich bereit, das Gasthaus zu verlassen.

„Es stürmt draußen. Wir sollten vorsichtig sein“, warnte Jayren Spica. „Ich nehme die Schlüssel und schließe dann ab. Warte vor der Tür auf mich. Wir gehen gemeinsam nach Hause.“

Spica schaute ihm nach, als er nach hinten verschwand. „Ich hatte nicht vor, ohne dich zu gehen“, rief sie ihm hinterher.

Als Jayren den Hintereingang überprüft hatte und auch die restlichen Türen, nahm er seinen gefütterten Mantel in die Hand und wollte ihn gerade anziehen, als er sah, dass Spica nur ihre Jacke trug. Er hielt mitten in seiner Bewegung inne. Spica zog fragend eine Augenbraue hoch und schaute ihn verdutzt von der Seite an. Im nächsten Augenblick schwang er seinen Mantel über den Kopf und schob Spica eng neben sich unter den Mantel.

„Bereit?“, fragte er sie, doch auf eine Antwort wartete er nicht, sondern ging bereits mit ihr hinaus.

Gemeinsamen setzten sie einen Schritt nach dem anderen und bewegten sich im Gleichschritt durch die Nacht, durch den Sturm und den Nebel. Jayren kannte den Weg, und es dauerte auch nicht lange, da erreichten sie ihr bescheidenes Häuschen.

Es stand zwischen zwei anderen größeren Häusern und sah ziemlich, klein aus. Fast schien es zu verschwinden in der ganzen Reihe deutlich größerer Häuser. Doch im dichten Nebel fiel das nicht auf. Jayren führte sie beide hinter das Haus, wo sich der Stall befand. Er öffnete die Tür am Hintereingang und trat mit ihr hinein. Sie verhielten sich beide ganz ruhig, damit sie auch niemanden weckten.

Er grinste sie an, als sie ihre Zimmer erreichten. Sie liebte dieses Lächeln. Es war voller Güte und Liebe, fast schon magisch.

„Gute Nacht und schlaf gut.“ Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn und ging auf die andere Tür zu, hinter der sich sein Zimmer befand.

Spica trat in ihr Zimmer, zündete mit den wenigen Streichhölzern, die sich noch in ihrer Schublade befanden, die Kerze auf dem Nachttisch an und atmete die Luft ihres kühlen Zimmers ein. Das Licht spiegelte sich im Wasser der Waschschüssel wider und fing an zu tanzen, als sie mit dem Finger sanft das Wasser berührte. Dann beugte sie sich mit zurückgesteckten Haaren vor und tauchte ihr Gesicht ins kalte Wasser. Froh über die kühle Erfrischung, sackte sie erschöpft auf ihr Bett.

Sie konnte nicht glauben, was heute passiert war. Der heutige Tag war seltsam und sie konnte die Information noch nicht verarbeiten, aber morgen würde ein freier Tag für sie sein.

Die Vorbereitungen für das Fest der Leoniden würden beginnen, welches in wenigen Tagen stattfinden sollte. Das Fest an dem alle gemeinsam die Schauer der herabfallenden Leoniden betrachten würden, die wie glitzernde Schwerter zu Boden stürzten, wie Sterne, die sich am Himmel nicht mehr halten konnten. Sie wollte aushelfen, allerdings war ihre Stiefmutter dagegen. Sie meinte, dass sie schon zu viel im Gasthaus arbeiteten würde. Jedes weitere Argument würde ihre Stiefmutter vom Tisch wischen, also ließ sie jeden Widerspruch bleiben.

Eigentlich war es ihr ganz recht, denn so konnte sie sich in Ruhe mit dem Umschlag befassen. Vielleicht würde sie der Bibliothek einen Besuch abstatten. Sie hatte sowieso noch einige Bücher, die sie ausgeliehen hatte und nun zurückgeben sollte, ansonsten sie wieder eine Strafgebühr dafür zahlen müsste, und das wollte sie unter allen Umständen vermeiden.

Sie sollte den Umschlag gut verstecken. Vorsichtig glitt sie mit der Hand in ihre rechte Hosentasche und zog das noch feuchte Papier heraus. Der Umschlag zeigte leichte Wellen. Immerhin gab es keine Risse im Papier. Sie überlegte kurz, wo sie ihn bis morgen verwahren konnte. Ein besserer Platz als zwischen den Seiten eines ihrer Bücher fiel ihr nicht ein. Also stand sie auf, ging zum Schreibtisch, öffnete eine der Schubladen und holte ein Buch heraus. Behutsam klappte sie es auf und legte den Umschlag so hinein, dass keine Ecke herauslugte. Dann schloss sie die Schublade sorgfältig und legte sich wieder auf ihr Bett.

Sie wollte den heutigen Tag noch ein wenig genauer betrachten, doch im gleichen Augenblick überkam sie eine große Müdigkeit, und sie schlief bereits nach wenigen Minuten ein.

Der Sturm legte sich. Es wurde ruhig im Tal. Die Bewohner fanden alle ihren Schlaf. Man hörte kein Geräusch auf den Straßen. Eine beinahe bedrohliche Stille legte sich in der Nacht über alles. Geräuschlos waberte der Nebel durch das Tal und zog über die Berge weiter hinaus in die Welt, bis er vollkommen verschwunden war. Nun sah man nur noch die Sterne am Nachhimmel, die unfassbar hell funkelten und der Nacht ihre einzigartige Schönheit verliehen.

3

Es wurde still. Zu still. Mein Blick glitt über die Waldlichtung. Nichts war zu sehen außer Schnee und Eis. Der Abend zog langsam herauf, aber das Sonnenlicht spendete noch genügend Licht. Ich hielt mich fester an meinen Ast fest, um weiter in die Ferne zu sehen. Doch einige Bäume standen so dicht beieinander, dass ich nicht weiter sehen konnte als bis zu dem Teil des Waldes, an dem sich die Lichtung zeigte.

Der Schnee bedeckte den Waldboden vollkommen. Er war so weiß, wie das kostbarste und edelste Papier. Nicht ein Fleck war beschmutzt. Wie eine Decke lag er da und ließ die Umgebung friedlich wirken.

Eine große Lüge, reine Täuschung, eine Verhüllung dessen, was passieren wird, passieren würde.

Stille. Unglaubliche Stille.

Ich war auf der Hut, mein Bogen griffbereit hinter mir und mein Köcher befüllt mit den besten Pfeilen. Ich drehte mich um, sodass ich noch einen Blick über die Lichtung erhaschen konnte. Tief im Innern hoffte ich mit jeder Zelle meines Köpers, dass mich der Ast halten würde. Ich saß weit oben in einer Tanne, nicht zu hoch und nicht zu tief, um jeder Gefahr aus dem Weg zu gehen und dennoch die beste Sicht zu haben.

Dann ertönte ein Geräusch. Weit hinter mir aus Richtung Norden. Es klang, wie das Rascheln der Blätter im Herbst, völlig unpassend für diese Jahreszeit. Intuitiv drehte ich meinen Kopf nach hinten. Ein Fehler. Mein Gegner war nicht mehr zu sehen, falls es einer war. Von der anderen Seite hörte ich jetzt Schritte. Ich hielt inne und konzentrierte mich.

Haben sie mich gesehen? War das ein Versuch mich zu irritieren?

Ich legte meinen Fokus nach vorne auf die Schritte. Sie klangenruhig und vorsichtig, als versuche derjenige, sich so leise wie nur möglich fortzubewegen, was ihm allerdings nicht wirklich gut gelang. Langsam bewegte ich meinen Kopf nach vorne, um mir einen Überblick zu verschaffen, doch da war nichts. Wieder verschwand das Wesen und zurück blieben die Geräusche, die immer und immer wieder in meinem Kopf hallten. Mein Herz raste wie verrückt. Es fühlte sich an, als ob der wahrhafte Tod mich holen wollte. Konzentrier dich, verdammt! Das machst du nicht zum ersten Mal.

Ich schloss meine Augen, atmete tief durch und ging in mich. Meine Sinne waren jetzt scharf, wie ein Messer, und ich sah förmlich jede Bewegung, die die Wesen auf beiden Seiten vollführten, sah ihre Gestalten umhüllt von Rauchschwaden, hörte ihren schweren Atem und konnte sie riechen. Sie stanken nach Schweiß und Blut. Lechzten nach Rache und Kampf. Beide Wesen waren nicht allein gekommen. Zum ersten Mal konnte ich alles genau definieren. Es kostete mich Unmengen an Kraft, aber es genügte und mir war es gleichgültig.

Ich öffnete meine Augen wieder. Und ich erblickte pechschwarze Augäpfel, ohne einen Funken Menschlichkeit. Sie glitten über die Lichtung und saugten jeden Fleck genau auf. Ich zuckte zusammen, als ein Horn ertönte. Schreie, Rufe und mehrere Schritte setzten sich in Bewegung. Der Kampf begann. Von beiden Richtungen, von Norden als auch von Süden kamen Truppen auf die Lichtung zu. Es waren viele.

In meinen Ohren ertönte ein hoher Ton, wie ein scharfes Pfeifen drang er durch meinen Kopf. Ich hielt meine Hände gegen meine Ohren und beruhigte meine scharfen Sinne etwas. Ich musste auf die Zähne beißen, um nicht lauf aufzuschreien. Der Schmerz ließ nach. Doch ich musste meine Wut fesseln, damit ich nicht vom Baum sprang und diejenigen verfluchte, die mir das antaten.

Gespannt schaute ich nach unten. Es fehlte nicht mehr viel, bis beide Seiten aufeinandertreffen würden. Sie sahen mich nicht, hatten es nicht auf mich abgesehen. Ich wartete noch einen Augenblick ab, bis ich einen Pfeil herauszog, meinen Bogen spannte und zielte. Einen Pfeil nach dem andern schoss ich auf die Lichtung zu.

Der erste traf ein Wesen von der Nordseite, der nächste einen vomSüden. In Sekundenschnelle hatte ich bereits die vordere Truppe beider Seiten töten können, noch bevor einige von ihnen ihren eigentlichen Gegner erreichen konnten. Blutspuckend und keuchend gerieten sie in den Kampf. Brutal zogen sie Schwerter und Äxte in die Luft. Es war weder ein Bogen noch eine Armbrust zu sehen. Es war ein geplanter Nahkampf. Dennoch waren ihre Waffen kaltblütig, ihre Stimmung bestialisch, und ohne jene Hemmung rammten sie einander ihre Waffen in das fremde Fleisch des Gegners. Das Blut spritzte auf dem Schnee und färbte ihn in tiefem Weinrot. Es passte nicht zu der friedlichen Umgebung, war fehl am Platz, jedoch ließ ich mich davon nicht aufhalten. Allmählich wunderten sich einzelne Wesen über den zu frühen Tod ihrer Gefährten. Manche blieben stehen und schauten sich um, suchten nach der Quelle, doch noch bevor sie in meine Richtung blicken konnten, traf sie einer meiner Pfeile. Die meisten waren schon gefallen, als man Rufe von nördlicher wie auch südlicher Richtung hörte.

Ich konnte kaum ein Wort verstehen, zu sehr war ich auf das Spannen meines Bogens und das Zielen der Pfeile fokussiert. Unerwartet ließ ich ihn sinken, als ich sah, dass sich beide Truppen zurückzogen. Ihre gefallenen Kameraden ließen sie zurück, ohne auch nur einen einzigen Blick auf sie zu werfen. Ihr Verhalten war kalt und gefühlslos. Noch wusste ich nicht genau, wer sie waren. Mein Plan ging auf, und meine Aufgabe war erfüllt.

Ich entspannte meine scharfen Sinne, um mich ein wenig auszuruhen und Kraft zu sammeln. Dann wartete ich einige Zeit ab. Vielleicht nur Minuten oder doch Stunden. Ich wusste es nicht. Ein letztes Mal schaute ich genau über die Lichtung. Nichts außer Leichen war dort zu sehen. Ein zurückgebliebenes Schlachtfeld. Gebückt und noch immer auf der Hut kletterte ich vom Ast und ging vorsichtig aus meinem Versteck. Fast geräuschlos tastete ich mich an die Lichtung heran. Ich blickte über die toten Wesen und wagte mich näher heran, um diese genauer zu begutachten. Sie sahen dem menschlichen Geschöpf ähnlich.

Tatsächlich waren es eine Art von Homunculi. Ihre bläuliche Haut wurde von keinerlei Kleidung verdeckt. Auch hatten sie keine Haaream Körper. Spitze lange Zähne ragten aus ihren Mündern hervor und hatten gewisse Ähnlichkeiten mit denen eines Wolfes. Überall waren sie mit dunklem Blut bespritzt.

Mich ließ der Anblick kalt. Doch zu meiner Überraschung trug eines der Wesen ein goldenes Amulett um den Hals. Es hatte Ähnlichkeiten mit meinem. Rasch ging ich zu der Leiche und glitt vorsichtig mit der Hand an seine Brust, so als könnte er jeden Moment erwachen und nach meiner Hand greifen. Ich nahm das Amulett in meine Hand, zog mein kleines Messer aus der Tasche und befreite es von dem dünnen Faden. Das Blut gefror mir in den Adern, als ich sah, welches Symbol sich auf dem Amulett befand.

Das Symbol der schwarzen Bruderschaft …

4

Die Sonne ging langsam auf. Licht und Wärme erfüllten das Tal und leuchteten für die Welt. Ein reiner Gelbton, wie frisch fließender Honig, zog über die Berge und tastete sich schüchtern an das Tal heran. So rein, wie der Tag, der nun begann, so rein wie das Sternenlicht. Der Schnee glänzte wunderschön, in den Strahlen der Sonne, die allmählich jede Dunkelheit vertrieb. Im Tal wurde es lebendig.

Einige Bewohner machten sich bereits am frühen Morgen auf den Weg zum Marktplatz, um dort bei den Vorbereitungen zu helfen. Andere besorgten alle Zutaten für das Festmahl. Es gab die kostbarsten Speisen, und jeder durfte sich bedienen. Bei Festtagen wie dem Leoniden-Fest, war es Tradition, etwas zu geben, was der andere nicht hatte, ohne eine Gegenleistung. Freiwillig. Aus Dankbarkeit und Zuneigung zu dem jeweils anderen.

Spica lag noch in ihrem Bett. Die Sonnenstrahlen drangen durch ihr Fenster und leuchteten elegant in jede Ecke hinein. Sogar das Holz fing an zu leuchten. Zärtliche Wärme strich über ihr Gesicht, wie ein kleines Kaminfeuer am Abend. Die Sonne kitzelte ihre geschlossenen Augenlider und erhellte das Innere. Langsam öffnete sie ihre Augen. Erschrocken von der Helligkeit fuhr sie hoch. Sie war schweißgebadet, und ihr Herz raste wie verrückt.

„Es war doch gerade noch Abenddämmerung“, wunderte sie sich.

Sie schaute sich um und realisierte erst nach und nach, dass sie sich in ihrem Zimmer befand. Sie hatte einen sehr intensiven Traum. Er fühlte sich so real an. Erleichtert sank sie mit ihrem Oberkörper wieder auf ihr Bett und versuchte sich zu beruhigen. Dabei bemerkte sie, dass sie am Vorabend vergessen hatte, ihre Kleidung auszuziehen und mit ihren schmutzigen Klamotten im Bett lag, statt mit ihrem sauberen Nachthemd. Sie war gestern zu erschöpft, sich noch umzuziehen.

Nachdenklich stand sie auf und ging zur Waschschüssel, um sich am kühlen Wasser zu erfrischen. Als sie die Augen zum Schutz vor dem Wassers schloss, erschien wieder das Bild der schwarzen Augen. Sie schauten sie direkt an, dann wechselte das Bild und das Symbol der schwarzen Bruderschaft erschien. So schnell, dass sie es nicht zu verhindern vermochte.

Mit nassem Gesicht wich sie zurück und riss ihre Augen auf. Die Sonne blendete sie, als sie geradewegs zum Fenster blickte. Es ist alles ganz, normal nur mein Kopf spielt verrückt, dachte sie. Zögernd nahm sie das Handtuch und trocknete ihr Gesicht ab. Was ist nur los mit mir?

Eilig ging sie hinunter in die Küche, um sich etwas Essbares zu besorgen. Vielleicht brauchte ihr Körper Zucker, und deshalb spielte ihr Hirn mit ihren Gedanken. Sie war sich nicht sicher, und als sie den roten Apfel neben der leeren Schüssel am Ofen sah, knurrte ihr Magen erfreut. Sie hatte Hunger, soviel stand fest. Sie griff nach dem Apfel und biss gierig hinein. Beim nächsten Bissen verschluckte sie sich, als sie eine Stimme direkt hinter sich sagen hörte: „Du bist zu spät.“ So schnell wie der Blitz zog sie ihr Messer heraus, drehte sich elegant herum und hielt ihr Messer direkt auf die Person gerichtet.

Es war Jayren. Er blieb unbeeindruckt und zuckte nicht mit der Wimper. „So schreckhaft?“, fragte er auf seine arrogante Art.

Jayren liebte es, seine kleine Schwester mit Späßen zu verärgern, und obwohl sie schon viele Jahre zusammenlebten, fiel Spica immer wieder darauf herein. Erleichtert steckte sie ihr Messer wieder ein und knirschte mit den Zähnen, als sie ihm antwortete: „Dir auch einen guten Morgen.“ Dann drehte sie ihm den Rücken zu und schaute nachdenklich aus dem Fenster. Es sah so aus, als suchte sie in der Ferne nach etwas. Ihr Blick war konzentriert und nur auf einen Punkt fokussiert. Ihre Gedanken waren weit weg in einer anderen Welt. In der ihres Traumes.

Jayren zog erstaunt eine Augenbraue hoch und betrachtete Spica interessiert. Er ließ sich nicht von ihrer Haltung abschrecken und räusperte sich.

„Mutter ist schon auf dem Markt. Sie hat mich gebeten, dir auszurichten, dass du heute zum Gewürzmann gehen sollst, um die Kräuter abzuholen, die sie vor einer Woche bestellt hat.“

Spica biss in den Apfel, dass es laut knackte. Sie fragte mit vollem Mund schmatzend: „Kannst du das nicht machen?“

„Äh nein, wieso sollte ich? Es ist deine Aufgabe“, erwiderte er und mit einem breiten Grinsen im Gesicht fuhr er fort: „Ich werde mit Vater heute die Pferde von Mastirus abkaufen. Doch vorher bauen wir den Stall um. Es muss alles fertig sein bis zum Fest.“

„Du holst sonst immer die Gewürze ab!“, begehrte sie mit gespieltem Zorn auf.

Er zuckte bloß mit den Schultern und drehte sich zur Tür um.

Spica sah ihm hinterher, wie er in den Stall ging. Ihre Blicke durchbohrten ihn förmlich und sie wusste, dass er gerade nur noch breiter grinste. Aber sie interessierte sich wenig für seine Schadenfreude, denn alles lief letztlich nach ihrem Plan. Sie wusste ja genau, dass Jayren diese Aufgabe schon erledigen würde. Doch es bereitete ihm immer wieder großes Vergnügen, zu behaupten, dass sie es tun müsse, nur um ihre gespielte Abneigung zu erleben. Sie liebte ihren Bruder von ganzem Herzen, und sie verstanden einander sehr gut.

Tatsächlich würde die Bibliothek ihr erstes Ziel sein. Die meiste Zeit verbrachte sie dort, und heute wollte sie ungestört den Umschlag öffnen. In ihrem Zimmer war das Risiko zu hoch, dass Jayren hereinkam und sie dabei ertappte. Sie schaute noch einmal um die Ecke, damit sie sicher sein konnte, dass er auch wirklich gegangen war. Dann aß sie ihren Apfel rasch auf, wobei sie ihn runterwürgen musste, denn ihr Appetit war vergangen.

Jetzt wollte sie bloß keine Sekunde länger verschwenden. Rasch lief sie die Treppen hinauf und eilte den kleinen Gang entlang, bis zu ihrem Zimmer. Sie verschloss die Tür und sammelte alle Bücher zusammen, die sie ausgeliehen hatte, auch das mit dem versteckten Umschlag. Dann warf sie ein paar Münzen in ihren Geldbeutel, legte ihre Bücher sorgfältig aufeinander und eilte die Treppe hinunter. Sie lief weiter und geradewegs auf die Haustür zu. Noch ein paar Schritte, winzige Sprünge und sie hätte es geschafft …

„Warum so eilig?!“, rief ihr Jayren hinterher.

Sie blieb abrupt stehen und kniff die Augen zusammen.

Bloß nichts anmerken lassen. Du hast nichts zu verlieren. Du hast alles im Griff, versuchte sie sich innerlich zu beruhigen.

Spica drehte sich nicht einmal um, sondern äußerte nur: „Ich will schnell fertig sein, und du?“

„Ach, so ist das also, na dann geh“, er kratzte sich am Kopf und fügte noch schnell hinzu: „Pass auf dich auf. Es hat in der Nacht gefroren.“ Seine Äußerung klang eindeutig beschämt, jedoch verbarg sich eine Entschuldigung in seiner Stimme. Und da war sie wieder. Die fürsorgliche Seite ihres Bruders. Gerade noch hatte er sie geärgert, und nach wenigen Minuten verhielt er sich wie ein Engel. Spica schüttelte amüsiert den Kopf und mit einem „Mhm, mach ich“ ging sie hinaus.

Sie spürte den Blick seinen, der ihr mit einem Gefühl folgte, als käme sie nie wieder. Etwas geduckt und mit eindeutig schlechtem Gewissen ging sie in Richtung Bibliothek. Der breite Weg, in den fast jede Gasse der Stadt mündete, war mit einer dünnen Schneeschicht bedeckt und ließ nur vereinzelt die Pflastersteine im Sonnenlicht schimmern. Man konnte beim genaueren Hinsehen bereits einige Fußspuren im Schnee erkennen, die alle ins Herzinnere der Stadt führten. Zum Marktplatz.

Im Rhythmus des Windes ertönte immer wieder das leise Quietschen der Ladenschilder, welche außen an den Geschäften hingen und nun sanft hin und her schaukelten. Doch das Quietschen wurde von Spicas Schritten übertönt. Zielstrebig und ohne einen Blick auf ihre Umgebung zu werfen, stapfte sie in Richtung Marktplatz voran. Ihre Kapuze bedeckte sorgfältig und wärmend ihren Kopf. Derart vermummt hätte man sie von der Seite für einen Dieb halten können, der sich am Morgen vom Tatort davonschlich.

Am Marktplatz angekommen hörte sie bereits viel Stimmengewirr von denjenigen, die sich versammelt hatten, um bei den Vorbereitungen des Festes zu helfen. Sie zog ihre Kapuze behutsam zurück und betrachtete die Menschen aufmerksam. Sie waren damit beschäftigt, die Dächer der Häuser und des Brunnens zu schmücken. Einige bauten ihre Stände auf und schleppten irgendwelche Kisten von einem Stand zum nächsten. Die Studenten bereiteten das jährliche Feuerwerk vor und stellten es neben den Brunnen. Kinder rannten aufgeregt über den Platzt und verteilten lachend Winterblumen.

Dann verharrte Spicas Blick plötzlich, und sie zuckte leicht zusammen, als ihr eine weibliche Gestalt besonders ins Auge fiel. Sie steckte gerade einige Eisblumen zusammen und verknüpfte diese mit dem schönsten Moos des Tales. Ihre Finger vollführten jede Bewegung mit größter Zärtlichkeit. Die dunklen tintenblauen Blüten flossen in die hellsten himmelblauen über und verschmolzen mit dem wunderschönen Moos ineinander. Die Farben leuchteten so bezaubernd und vermittelten das Gefühl von Geborgenheit.

Spica lächelte bei dem Anblick, aber nicht der strahlenden Farben wegen, sondern wegen Estelle.

Estelle war jene Frau, die sie zu sich nahm als sie noch ein kleines Mädchen war. Von hinten sah sie aus wie ihre Mutter. Das Haar und die Figur waren beinahe identisch wie bei ihrer lieben Mutter. Spica konnte ihr stundenlang zusehen, wie sie dort die Blumen zusammensteckte, als seien sie das Wertvollste, was sie je besitzen würde. Ihre Mutter, Isalie, machte dies zu ihren Lebzeiten mit Estelle zusammen. Isalie liebte die Pflanzen und Waldbewohner. Sie besaß die seltensten Moossträucher, die schönsten Bäume und die fabelhaftesten Leuchtmingosen.

Spica sah ihr früher ständig vom Fenster aus zu, wie sie sich in den Dreck kniete und neue Pflanzen zum Leben erweckte. Mit bloßen Händen schaufelte sie die Erde aus und grub ein kleines Loch. Danach legte sie behutsam einen Samen hinein. Die Fensterscheiben beschlugen von ihrem Atem, und sie musste sie ständig freiwischen, um ihre Mutter zu beobachten. In allem war sie eine wohlaussehende Dame, stets sauber und gepflegt, außer wenn es um ihre Pflanzen ging.

Spica löste sich von der Erinnerung und merkte erst jetzt, dass ihre Augen feucht waren. Wärme stieg in ihren Kopf, ihre Ohren wurden heiß und rot. Hastig wandte sie sich ab und spürte, wie ein warmer Tropfen über ihre Wange glitt. Sie schluchzte fast unhörbar, wischte die Träne weg und zog ihre Kapuze wieder über. Hoffentlich hat mich niemand beobachtet, wie ich hier herumstehe und weine, dachte sie und ging hastig zur Universität, wo sich die Bibliothek befand.

Die große Eingangspforte schien sie erwartet zu haben, als wüsste sie, dass Spica sie heute besuchen käme. Die Pforte war riesig im Vergleich zu den übrigen Türen. Prächtig und anmutig eröffnete sie den Eingang zur Bibliothek. Eine durchgehende Eisenschicht bedeckte ihre Oberfläche und schütze sie vor Einschlägen. Efeu rankte sich über die Jahre an der Wand des Gebäudes empor und hing über der Tür hinunter. Spica schob die Tür mit einer Leichtigkeit zur Seite, so als wäre sie nicht da.

Kein Quietschen, kein Knirschen war zu hören. Alles war so still. Selbst ihre Schritte waren so gedämpft, dass sie niemand sie vernahm. Sie trat vorsichtig ein. Die Bücher hielt sie fest umklammert, und da stand sie nun im Eingang der Bibliothek.

Der Raum war mit einem dicken, samtig blauen Teppich ausgestattet, wie ein Saphir leuchtete er, und die Weichheit seiner Oberfläche die war sogar durch die dünnen Ledersohlen zu spüren. Es kam Spica vor, als wandere sie über einen sternenlosen Nachthimmel. Die Bibliothek war einzigartig. Wunderschöne, herrliche Bücher füllten die deckenhohen Regale. Bücher, die alle Geschichten erzählten, die Menschen ihr Leben lang oder auch nur wenige Jahre verfasst hatten. Bücher, gefüllt mit Weisheiten gefüllt auf Hunderten von Seiten.

Lesen lässt Menschen an Wunder und Zauber glauben, Hoffnung schöpfen und neue Inspirationen sammeln.

Überall standen Kerzen, an denen das Wachs heruntertropfte, verteilt im unendlich großen Raum und ließen ihre Flammen flackern. Es war keineswegs dunkel, doch allzu hell war es auch nicht. Im Schein der Kerzen war deutlich die schöne Deckenmalerei der Bibliothek zu erkennen. Darauf war zu sehen, wie sich die Menschen hier ausgebreitet und niedergelassen hatten – die Legenden der Mediocris – und wie sie mit den Menschen Frieden schlossen. Schon damals feierten die Menschen das Fest der Leoniden und beobachten die Mediocris, wie sie am Himmel ihre leuchtenden Flügel ausbreiteten.

Doch das waren nur Legenden, die man den kleinen Kindern zum Einschlafen als Gutenachtgeschichte erzählte. Mittlerweile wusste jeder Mensch wie gefährlich diese Geschöpfe waren. Die Bilder waren alt, und doch faszinierten sie Spica stets, wann immer sie sie betrachtete, und sie wirkten wie Sterne in der Nacht.

Spica zog ihre Kapuze vom Kopf und schlenderte geradewegs zum Empfangstisch hinüber. Ihre Schuhe hinterließen tiefe Abdrücke im Teppich. Walbur, der Besitzer der Bibliothek, schaute konzentriert auf ein Blatt Papier. Noch bemerkte er den Besuch nicht. Eilig fuhr er mit seiner Schreibfeder über das Papier. Seine Brille rutsche ihm bis zur Nasenspitze hinunter. Er sah aus wie ein alter mächtiger Zauberer, wie man ihn aus Büchern kannte. Früher glaubte Spica sogar, dass er einer sei, weil er stets so geheimnisvoll wirkte. Spica beobachtete ihn noch eine Weile.

„Guten Abend, mein liebes Kind. Was machst du denn zur frühen Morgenstunde schon hier?“, begrüßte er sie mit rauer Stimme, seinen Blick noch immer auf das Blatt gerichtet.

Spica blieb erschrocken auf halben Wege stehen. Sie öffnete gerade den Mund zu einer Antwort.

„Du willst die Bücher abgeben“, keine Frage, sondern eine Feststellung. Überrumpelt von seiner Äußerung, antwortete sie stotternd: „Äh ja …, ja natürlich.“

Spica schämte sich für sich selbst. Woher kam diese plötzliche Angst? Was beunruhigte sie so sehr, dass sie zurzeit so schreckhaft war? Es nervte sie, denn sie wurde sonst nie von Angst geplagt.

„Na na na, mein Kind nicht so ängstlich“, mitfühlend blickte Walbur sie von der Seite an. „Spica, sag, was liegt dir auf dem Herzen? Irgendwas betrübt dich doch, mein Kind, ich sehe es dir an.“

Walbur winkte sie mit einer Handbewegung zu sich.

Noch immer wie erstarrt, trat sie vorsichtig näher. Die Bücher presste sie noch fester an sich. Winzige Schweißperlen zeigten sich auf ihrer Stirn. Jeder Schritt schmerzte.

Walbur betrachtete liebevoll auf sie hinab. Spica reichte ihm gerade bis zur Brust. Klein war sie nicht. Nein. Walbur war nur sehr groß.

„Du siehst aus, als könntest du eine heiße Schokolade vertragen“, lächelte sie friedlich an. Ein so mitfühlendes Lächeln, wie kein anderer es hatte. Er war ein uralter weiser Mann, der genau wusste, was in einem Menschen vor sich ging. Manchmal hatte Spica das Gefühl, er könnte einige Menschen lesen, wie er Bücher las. Zeile für Zeile, Wort für Wort, als sei es ein leichtes Spiel.

Spicas Gedanken kreisten umher, ihr tat jeder Muskel weh, und sie wusste nicht, warum. Sie hätte sich am liebsten auf dem weichen Teppich niedergelassen, stattdessen stand sie stocksteif da und hoffte, sie könne sich bald setzen.

Walbur verschwand hinter dem Tresen. Ein leises Summen aus der hinteren Tür, hinter der er verschwand, war zu hören. Eine kleine Melodie. Sie klang unbesorgt und ruhig.

Spica legte aufgeregt die Bücher auf dem Tisch, nahm den Umschlag heraus und betrachtete ihn. Er fühlte sich trocken an und war nun etwas steif geworden, aber noch nicht brüchig. Die Buchseiten hatten die Feuchtigkeit aufgenommen und waren nun ebenso gewellt wieder Briefumschlag. Schwarz und relativ klein stach das Siegel hervor. Ein enormer Kontrast zu dem weißen Papier. Spica betrachtete es genauer. Sie blickte angestrengt auf das Siegel und meinte, ein Muster zu erkennen. Das Muster war nicht tief ins Kerzenwachs geprägt. Es erweckte den Anschein, als hätte man den Stempel mit diesem Siegel nicht fest eingedrückt, sondern nur aufgelegt. So, als wollte derjenige vermeiden, dass es erkannt wird. Behutsam befühlte sie das Siegel. Die Druckstelle des Musters war unter ihren Fingerspitzen kaum zu spüren. Zitternd schloss sie ihre Augen, damit sie ihrer Vorstellung nachhelfen konnte.

Wie aus dem Nichts tauchten die schwarzen Augen vor ihr auf und begutachteten sie mit stechendem Blick. Sie versuchte, diese Augen zu vertreiben, doch das Bild verschwand nicht. Sie hörte das Summen von Walbur noch in ihren Ohren. Es gab ihr ein Gefühl von Sicherheit und Kraft, doch wurde es immer schwächer, als sei sie unter Wasser.

„Verschwindet!“, rief sie in Gedanken. Ihr wurde warm und kalt. Ihre verkrampften Muskeln schmerzten.

So schnell, wie alles gekommen war, war es auch schon vorüber. Einem Wimpernschlag gleich, der die kurze Dunkelheit vor den Augen vertrieb, verschwanden auch die Schmerzen, die verwirrenden Gedanken und ihre Angst. Wie von Zauberhand. Vorbei.

Noch aufgewühlt und atemlos öffnete Spica die Augen und erkannte, dass sie nicht mehr in der Bibliothek war. Sie fiel, aber wohin? Es kam ihr vor, als würde sie viele Minuten in der Luft hängen. Sie spürte, wie ihr Haar in ihr Gesicht schlug und suchte Halt mit den Händen, die aber ins Leere griffen. Ihre Beine suchten nach dem Boden, wo keiner war.

Spica sah einen weißen Himmel. Sie erkannte ein paar Baumspitzen am Horizont. Wie in Zeitlupe bewegte sie sich in Richtung … In welche Richtung, überhaupt?

Spicas Gedanken setzten wieder ein. Ihr Versuch, klar zu denken, scheiterte, und als hätte jemand einen Schalter umgelegt, war sie in einer anderen Realität gelandet. Unsanft landete sie plötzlich zwischen irgendwelchen Ästen, rutsche dann weiter hinunter an einem Baum. Mit einem dumpfen Schlag fiel sie schließlich in den Schnee auf dem Boden.

„Grrr, spinnst du? Sieh zu, dass du von mir runterkommst“, ertönte eine tiefe grimmige Stimme.

Spica verschlug es die Sprache. Sie stand auf, hielt einen Moment inne und versuchte zu verstehen, was gerade passiert war und wie sie hierhin gekommen war. Um sie herum standen tatsächlich nur Bäume. Ein Wald. Und im nächsten Augenblick zog sie jemand hinter einem dicken Baum.

„Wie kommst du hierher? Hat dich jemand geschickt?“, die Stimme zischte bei jeder Frage.

Er war viel größer als sie. Spica musste ihren Kopf weit nach hinten strecken, um zu ihm hinaufzusehen. Die Sonne blendete ein wenig und nahm ihr die Sicht. Sie konnte nur seine langen grauen Haare erkennen, denn er lugte mit dem Kopf um den Baum herum, so als wollte er sichergehen, dass auch niemand sonst da war. Plötzlich schaute er wieder zu ihr. Sie musterten sich gegenseitig.

„Wer bist du eigentlich? Und was bist du?“, er sah sie eindringlich an und schaute etwas wütend drein, aber in seinen eisblauen Augen lag nicht nur Wut, sondern auch eine prachtvolle Stärke. Wieso wollte er wissen, was sie ist? Sie war ein Mensch genauso wie er.

Spica wollte etwas sagen, ihn anschreien dafür, dass er sie so grob gezerrt hatte, aber sie konnte ihre Lippen nicht bewegen. Es war, als hätte jemand einen Fluch über sie gebracht, damit sie nicht sprechen könne. Sie beobachtete den Fremden und folgte seinem Blick, der jetzt auf ihren Händen lag, dort, wo sich immer noch der Umschlag befand.

Sein Blick verharrte unbeweglich auf dem Umschlag. Sein Blick wandelte sich in Entsetzen und alle Brutalität verschwand aus seinen Augen. Wie ein fallender Umhang veränderte sich seine Körpersprache.

„Woher hast du das?“, er sah sie dabei eindringlich an, als wollte er in ihren Kopf eindringen und ihre Gedanken lesen. „Sag mir, woher hast du DAS?“ Seine Stimme war jetzt ungeduldig und scharf. Seine Augen wurden dunkler.

Spica stand völlig erschrocken da, denn sie sah diese Augen nicht zum ersten Mal. Hinter dem Baum ertönte ein lautes Knurren. Es hallte in ihren Ohren wider wie das Grollen eines heftigen Erdbebens. Sie nutzte die Ablenkung und schob den Umschlag intuitiv wieder in ihre Tasche.

„Scheiße! Er hat uns gewittert“, zischte der Kerl. Er drehte sich schwungvoll wieder zu der Stelle, wo sie gelandet waren und spannte einen Pfeil auf seinen Bogen.

Spica blieb wie versteinert hinter diesem Baum stehen. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen und wusste nicht recht, was sie tun sollte.

Steh da nicht so dumm rum“, zischte er sie von der Seite an „Lauf! Na los, mach schon!“

Spica blinzelte und hoffte inständig, dass sie aus diesem Traum aufwachen möge. Furcht kroch in ihr Herz und hielt sie fest an ihrem Platz.

„JETZT!“, ertönte seine Stimme ein weiteres Mal.

Wie auf Befehl setzten sich Spicas Beine endlich in Bewegung und trugen sie weiter in den Wald hinein. Sie wusste gar nicht, wohin, wusste nicht, wo es sicher war, und welches Wesen dieses Knurren hervorbrachte. Sie lief einfach drauflos. In ihren Ohren erklang ein weiteres Knurren, dabei war sie noch nicht weit gekommen. Das Biest ließ die Bäume erzitterten und den ganzen Wald verstummen, mit einem Schlag.

Spica schnappte nach Luft. Sie hörte, wie der aufgespannte Pfeil die Sehne des Bogens verließ und sich in das Geschöpf bohrte. Ein lautes Heulen durchfuhr den Wald. Dann erzitterte der Boden. Es war kurz, aber stark genug, um sie aus dem Gleichgewicht zu bringen. Es zog sie hinunter auf den Waldboden und ließ sie stürzen. Reflexartig schob sie beide Arme vor sich und schloss die Augen, um sich selbst zu schützen. Kälte drang in ihren Körper, und Schnee fiel ihr ins Gesicht. Sie war immer noch hier. Spica spürte, wie der Schnee auf ihrer Haut langsam zu schmelzen begann und ihre Kleidung durchdrang.

Allmählich beherrschte sie ihre Gedanken wieder und stand langsam auf. Ein Geräusch wie Fußstapfen erklang hinter ihr und neugierig drehte sie sich um.

„Du lebst ja noch, gut“, sein Blick wanderte an ihr herab, und dabei grinste er spöttisch.

„Ich würde dir am liebsten den Hals umdrehen! Du Blödmann“, brachte Spica war außer sich vor Wut hervor. Wie konnte er es wagen, ihr Leben derart in Gefahr zu bringen?

„Mir geht’s auch gut, danke der Nachfrage.“

„Gerne …“, sagte sie zornig und ‚ du Mistkerl‘ fügte sie in Gedanken noch hinzu. Wieso sollte sie ihn fragen, wie es ihm ging, wenn sie nicht einmal wusste, wer er war? Er drehte sich langsam weg und setzte zum Gehen an. Spica nahm den festen Schnee in die Hand, formte einen Ball daraus und warf ihn gegen seinen Kopf. Er wandte sich erschrocken zu ihr um und sah sie verärgert an.

„Womit habe ich das verdient? Ich habe dein Leben gerettet! Der Dämon hat es auf dich abgesehen!“

Von solchen Bestien hatte sie nur aus … ihr Gedanke brach ab, woher wusste sie von Dämonen?

„Bring mich nach Hause!“, forderte sie.

Spica gefror das Blut bei seinen Worten. Ein Dämon. Warum sollte ein Dämon es auf sie abgesehen haben?

Er blieb vor ihr stehen und blickte sie noch immer verärgert an.

Spica griff wieder in den Schnee und warf einen zweiten Ball. Dieses Mal zielte sie auf sein Gesicht, doch er war schneller und fing ihn mit seiner Hand, noch bevor er in seine Nähe kam. Ihre Augen verengten sich.

„Bring mich einfach wieder nach Hause!“

Er schaute sie verwirrt an.

„Nach Hause? Und wo soll das sein? Du lagst doch plötzlich auf mir“, er lachte kurz auf.

„Du hast mich hierhergeholt“, behauptete Spica energisch. „Also bring mich gefälligst wieder zurück!“

„Ich soll dich hierhergeholt haben? Pah!“, er drehte seinen Kopf zur Seite, ehe er wieder zu ihr blickte „Woher soll ich wissen, dass du vom Himmel fällst? Könnte ich, würde ich dich direkt dahin zurückschicken, wo du hergekommen bist!“

„Ach ja? Na, dann los! Wie du es gemacht hast, ist mir egal. Aber jetzt bringst du mich gefälligst zurück!“, zischte sie und gab sich keine Mühe, ihre Ungeduld zu verbergen. Obwohl sie nicht so recht wusste, wohin sie wollte oder woher sie kam, aber hierher gehörte sie keinesfalls.

Der Fremdling seufzte und antwortete ihr mit ruhiger Stimme: „Hör zu, ich weiß wirklich nicht, was dich hierhergebracht hat oder wer du bist, aber wir sollten beide von hier verschwinden, wenn wir am Leben bleiben wollen.“

Spica verzog das Gesicht. „Ich gehe keinen Schritt, wenn du mich nicht auf der Stelle nach Hause bringst!“ Sie dachte kurz nach. Sie musste hier weg. Wollte nach Hause, einfach nur nach Hause. Doch sie wusste nicht mehr, wo ihr Zuhause war. In ihrem Kopf schwirrten die Gedanken nur so.