SPIEGEL-Gespräche mit Helmut Schmidt -  - E-Book

SPIEGEL-Gespräche mit Helmut Schmidt E-Book

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Beschreibung

Kein deutscher Kanzler war auf das Amt so gut vorbereitet wie Helmut Schmidt. Schließlich hatte er zuvor mehrere Ministerposten eingenommen. Und doch fürchtete er sich vor der Aufgabe, als er sie 1974 übernahm - und meisterte sie mit Bravour. Ob Terrorismus, Weltwirtschaftskrise, Kalter Krieg: Aus Sicht vieler Deutscher war Schmidt der beste Regierungschef, den wir je hatten. Nach seinem Sturz 1982 folgte eine beinahe ebenso spektakuläre zweite Karriere als Altkanzler. Der Hamburger stieg zur unbestrittenen Autorität in fast allen politischen Fragen auf. Der SPIEGEL hat den Lebensweg Schmidts mit Sympathie, aber auch Kritik begleitet. Dieses E-Book versammelt die 24 besten Gespräche und Interviews mit ihm aus über vier Jahrzehnten.

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Inhaltsverzeichnis

Helmut Schmidt

Vorwort

DER AUFSTIEG

„Ich bin gegen Koalitionen“
Der SPD-Fraktionsvorsitzende Helmut Schmidt über seine Rolle in der ersten Großen Koalition
„Ein gewisses Bedauern hier und dort“
Die frühe Warnung von Verteidigungsminister Schmidt vor sowjetischen Mittelstreckenraketen
„Ohne Macht kann man nicht reformieren“
Das überraschende Plädoyer für eine radikale Umverteilung
„Mit Worten allein kann man nicht kämpfen“
Wirtschafts- und Finanzminister Schmidt über die Intrigen in der Regierung Willy Brandts und die Vorteile höherer Schulden
„Die Partei braucht keinen Kronprinzen“
Finanzminister Schmidt über seine Stellung in Partei und Kabinett
„Wer die Mitte abschreckt, verliert“
Die Sicht Schmidts auf das Unbehagen der Bundesbürger der SPD

DER KANZLER

„Wir sind ein erstklassiger Partner“
Die neue weltpolitische Rolle der Bundesrepublik
„Denen musste es mal gezeigt werden“
Die Antwort auf den Terrorismus
„Gleiches nicht mit Gleichem vergelten“
Die Reaktion der DDR auf das SPIEGEL-Manifest und der Vorwurf des Rentenbetrugs
„Leistung liegt im Deutschen drin“
Der Glückfall Bundesrepublik, die deutsche Teilung und der Kampf gegen den RAF-Terrorismus
„Meine Sorge ist: kein Stillstand“
Die Gefahr eines Weltkrieges, der Nato-Doppelbeschluss und die sowjetische Invasion in Afghanistan
„Breschnew ist doch kein Abenteurer“
Kanzler Schmidt über seinen Versuch, in Moskau zwischen Amerikanern und Sowjets zu vermitteln
„Einen Zwiespalt gibt es bei mir nicht“
Die Bereitschaft Schmidts zum Ausstieg aus der Kernenergie
„Die FDP wird nicht geschont“
Die Krise der sozialliberalen Koalition

DER ZEITZEUGE

„Die Schizophrenie des Ganzen“
Jugend in der Nazi-Zeit
„Die Amerikaner haben uns ungeheuer geholfen“
Erinnerungen an die Gründerjahre der Bundesrepublik
„Umtaufen in Strauß-Affäre“
Die SPIEGEL-Affäre 1962
„Der gefährlichste Moment“
Die atomare Abschreckung und die Gefahr eines Nuklearkriegs

DER ELDER STATESMAN

„Es gibt drei große Krisen“
Altkanzler Schmidt über Helmut Kohl und die Kanzler-Tauglichkeit von Wolfgang Schäuble
„Den Knüppel vergraben“
Die Schwächen des Vertrags von Maastricht
„Das ist grober Unfug“
Die Folgen des Irak-Kriegs für das deutsch-amerikanische Verhältnis
„Er kann regieren“
Altkanzler Schmidt ruft Peer Steinbrück zum SPD-Kanzlerkandidaten aus
„17 waren viel zu viele“
Schmidt und Frankreichs Ex-Präsident Valéry Giscard d'Estaing analysieren die Gründe der Euro-Krise
„Willy verstand nichts von Wirtschaft“
Die Altkanzler Schmidt und Gerhard Schröder über 150 Jahre SPD-Geschichte

Anhang

Impressum
Helmut Schmidt • Einleitung

Vorwort

Unter normalen Umständen wäre Helmut Schmidt nicht Bundeskanzler geworden, denn zwei nur wenig ältere Sozialdemokraten konnten ihre Ansprüche besser begründen. Doch der eine – es war der heute vergessene SPD-Fraktionsvorsitzende Fritz Erler – starb 1967 an Krebs; und der andere – Schmidts Amtsvorgänger Willy Brandt – trat 1974 zurück. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich Schmidt bereits darauf eingestellt, bei nächster Gelegenheit aus der Politik in die Wirtschaft zu wechseln.  
Stattdessen zog er ins Kanzleramt ein, in dem er gut acht Jahre verblieb. In dieser Spanne übte er enormen Einfluss auf die internationale Politik aus. Ob US-Präsidenten, sowjetische Spitzenpolitiker oder europäische Staats- und Regierungschefs – sie alle gaben Schmidts Worten großes Gewicht.  
Und dennoch machte sich der Hanseat  keine Illusionen über die eigene Bedeutung. Die entscheidenden Weichenstellungen – die Bindung im Westen und die Öffnung nach Osten – hatten seine Vorgänger vorgenommen. Seine Regierungszeit werde eine „Episode“ bleiben, schrieb Schmidt 1976, und er fügte hinzu, sie werde hoffentlich als „hilfreich“ betrachtet werden.  
Als Schmidts Hauptaufgabe erwies es sich, Schlimmeres zu verhindern: indem er die Folgen der Weltwirtschaftskrise eindämmte, den aufkommenden Konflikt zwischen den Supermächten USA und Sowjetunion abmilderte und – seine wohl größte Leistung – den Terrorismus bekämpfte, ohne den Rechtsstaat preiszugeben.  
Viele Deutsche haben ihn dafür respektiert, verehrt haben sie ihn nicht. Das änderte sich erst nach seinem Sturz 1982. Schmidt wurde zum erfolgreichsten Altkanzler, den die Deutschen je hatten, zur unbestrittenen Autorität in fast allen politischen Fragen. Der SPIEGEL hat die zwei Karrieren Schmidts mit einer Mischung aus Sympathie und Kritik begleitet. Herausgeber Rudolf Augstein bezeichnete ihn im Rückblick als einen der weltweit „zehn bedeutendsten Regierungschefs der Nachkriegszeit“.  
Der Sozialdemokrat widerum schimpfte zuweilen über die Neigung des Hamburger Magazins, „jedwede öffentliche Autorität zu zerstören“. Und er adelte es zugleich mit dem Befund, dass ohne den SPIEGEL „manche üblen Affären und mancher Betrug am Parlament und an der öffentlichen Meinung unentdeckt und ungeahnt geblieben“ wären.  
In diesem E-Book finden Sie ein Auswahl der besten Interviews und SPIEGEL-Gespräche mit Helmut Schmidt.          
DER AUFSTIEG • SPIEGEL 28/1969

„Ich bin gegen Koalitionen“

SPIEGEL-Interview mit dem SPD-Fraktionsvorsitzenden Helmut Schmidt
SPIEGEL: Herr Schmidt, würden Sie grundsätzlich noch einmal die Aufgabe übernehmen wollen, Moderator einer Großen Koalition zu sein?
Schmidt: Wenn die Frage so gemeint ist, ob ich, noch einmal zurückversetzt in die Situation vom November/Dezember 1966, die gleiche Entscheidung treffen würde, lautet meine Antwort: ja. Wenn die Frage sich auf künftige Situationen bezieht, lautet meine Antwort: Ich will das nicht ausschließen.
SPIEGEL: Haben Sie mit Herrn Barzel gern oder nur zähneknirschend zusammengearbeitet?
Schmidt: Keineswegs zähneknirschend. Ich bin im Grunde kein Freund von Koalitionen. Wenn aber eine notwendig ist, gehört dazu der Wille zur Kooperation. Im Gegensatz zu manch anderem Politiker auf der anderen Seite habe ich den Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion als einen kooperationsfähigen Mann kennengelernt.
SPIEGEL: Barzel hat ja auch aus der Arbeit mit Ihnen profitiert.
Schmidt: Ja. Barzel war vor zweieinhalb Jahren als Bundeskanzlerkandidat in seiner Fraktion abgeschlagen im Rennen geendet. Wir haben der Fraktion der CDU vorgemacht, wie in einer solchen Koalition die Parlamentsfraktionen gegenüber der Regierung aufzutreten haben. Von diesem Beispiel hat dann auch die CDU/CSU-Fraktion profitiert, und dies hat dem Herrn Barzel die Stärke gegeben, die er heute in seiner Fraktion hat.
SPIEGEL: War es vertretbar, daß in den letzten Monaten Politik von dem Bemühen überlagert wurde, die Koalition zusammenzuhalten?
Schmidt: Was wir im Laufe des letzten halben Jahres an die Gesellschaft voranbewegenden Gesetzen gemacht haben, ist, gemessen am Ertrag früherer Legislaturperioden, ungewöhnlich viel: Ausbildungsförderung zum Beispiel, Lohnfortzahlung, Rentenfinanzierung, Strafrechtsreform, Finanzverfassungsreform, Publizitätsgesetz man kriegt die Gesetze bald gar nicht mehr alle aus dem Kopf zusammen. Diese ungewöhnlich guten Ergebnisse konnten nur durch die Koalition gemeinsam erzielt werden.
SPIEGEL: Nun hat die CDU/CSU zuletzt recht kaltschnäuzig ihre Mehrheit gegenüber der SPD ausgespielt. Wie fühlt man sich dann als SPD-Fraktionschef?
Schmidt: Es gibt manche Gesetze, in denen wir sehr kaltschnäuzig unsere Forderungen durchgesetzt haben. Ich nenne zum Beispiel die Verjährung und die Lohnfortzahlung. Wie man sich fühlt, wenn man in einer Sache seinen Willen nicht durchgesetzt hat? Etwa so, wie ein SPIEGEL-Redakteur, dessen Story anders gedruckt wird, als er sie geschrieben hat.
SPIEGEL: Unsere Storys werden, wenn überhaupt, in Absprache umgeschrieben. In der Großen Koalition dagegen las es sich oft genug am nächsten Tag anders, wenn CSU-Chef Strauß ohne Absprache das Wort oder die Feder ergriff.
Schmidt: Es hat in der Bundesregierung erhebliche Schwierigkeiten gegeben zwischen dem Bundeskanzler und dem CSU-Vorsitzenden. Das hat sich ausgewirkt auf die Effektivität der Koalitionspolitik insgesamt. Kiesinger hat in Wirklichkeit einer Koalition aus drei und nicht aus zwei Parteien vorgesessen. Ich bezeichnete kürzlich Pressechef Diehl als heimlichen Oberbundeskanzler. Strauß könnte man den unheimlichen Unterbundeskanzler des Herrn Kiesinger nennen.
SPIEGEL: Halten Sie es dennoch für richtig, daß die SPD 1966 nicht mit der FDP, die ihre Fähigkeit zur Geschlossenheit doch bei der Heinemann-Wahl bewies, eine Koalition bildete?
Schmidt: Zurückversetzt in die Lage vom Herbst 1966 würde ich dieselbe Entscheidung noch einmal treffen. Im Laufe von 20 Jahren haben über 20 Abgeordnete der FDP während der Legislaturperioden ihre Fraktion verlassen, davon einer zur SPD, alle anderen zu rechten Parteien. Man muß das auch für die Zukunft einkalkulieren. Seit der Heinemann-Wahl haben wir Landesparteitage der FDP erlebt, die nicht zu Ende geführt werden konnten, wir haben Austritte von FDP-Landtagsabgeordneten erlebt. Von zuverlässiger Einheitlichkeit kann hier nicht die Rede sein. Deshalb war die theoretische SPD/FDP-Mehrheit bisher zu klein zum Regieren.
SPIEGEL: Brandt hat angekündigt, er wolle selbst die Führung im Parlament übernehmen, wenn die SPD in die Opposition käme. Wo sehen Sie dann Ihre Aufgabe?
Schmidt: Bei der Führung der Sozialdemokratischen Partei handelt es sich immer um ein Team. Einen gegen den anderen durch spitze Fragen in Interviews ausspielen zu wollen, scheint mir ein ziemlich aussichtsloser Versuch.
DER AUFSTIEG • SPIEGEL 46/1970

„Ein gewisses Bedauern hier und dort“

SPIEGEL-Interview mit Verteidigungsminister Helmut Schmidt über die Salt-Gespräche
In der finnischen Hauptstadt Helsinki sprechen seit letzter Woche Sowjets und Amerikaner zum dritten Mal über eine Begrenzung ihrer strategischen Waffen (Strategic Arms Limitation Talks, Abkürzung Salt). Beide Seiten haben sich offenbar darüber geeinigt, zunächst nur über jene weitreichenden Waffensysteme zu verhandeln, mit denen sie einander direkt angreifen oder einen solchen Angriff abwehren können. Die Mittelstrecken-Atomwaffenträger, über die Ost und West in Europa verfügen – darunter 700 sowjetische Raketen – sind vorerst nicht Verhandlungsthema. Westeuropäische Militärs befürchten, daß die beiden Großen sich einigen, ohne diese atomare Gefahr auszuräumen.
SPIEGEL: Herr Minister, Sie haben einmal gesagt, es würde eine „ernste Lage“ entstehen, „wenn Salt zum Erfolg kommt, ohne von den 700 russischen Mittelstrecken-Raketen zu reden“. Ist die Lage jetzt ernst?
Schmidt: Zunächst: Hier sprechen zwei Weltmächte unter dem Gesichtspunkt ihrer eigenen Interessen miteinander. Zu ihren eigenen Interessen gehört bei beiden auch die Berücksichtigung der Interessen ihrer jeweiligen Verbündeten. Ich meine aber, daß ähnlich wie beim Atomsperrvertrag auch nach einem eventuellen Ergebnis der dritten Salt-Runde – ein Resultat wäre im Laufe des Winters oder Frühjahrs denkbar – damit gerechnet werden muß, daß die direkten Interessen dritter Staaten, die an der Verhandlung selbst nicht beteiligt sind, nicht voll befriedigt werden. Das gilt auch für die Bundesrepublik Deutschland.
SPIEGEL: Würden Sie ein solches Verhandlungsergebnis ablehnen?
Schmidt: Nein, es gibt überragende Interessen der Friedenssicherung auch für unseren Staat, die letztlich überwiegen werden. Aus diesem Grunde werden wir etwaigen Vereinbarungen zwischen den beiden Weltmächten aus der dritten Salt-Runde mit ähnlichen Gefühlen – einem gewissen Bedauern hier und dort – zustimmen wie dem Atomsperrvertrag.
SPIEGEL: Sie haben kürzlich in München erklärt, es habe schon beim Atomsperrvertrag Pressionen gegeben, und man müsse bei Salt vielleicht mit stärkeren rechnen.
Schmidt: Anders als bei den damaligen Verhandlungen zwischen den Weltmächten sind wir diesmal – nicht nur die Bundesrepublik Deutschland, sondern alle europäischen Verbündeten der USA – sehr stark in jede Phase vor und während dieser drei Gesprächsrunden eingeschaltet gewesen: Man hat uns informiert und konsultiert. Es gibt hier keine Kritik am Verfahren. Übrigens müssen wir ja einer Salt-Vereinbarung nicht beitreten, weil wir „strategische“ Waffen nicht besitzen.
SPIEGEL: Die Supermächte nähern sich einer Einigungsformel, nach der nur strategische Waffen wie Interkontinental-Raketen, Atom-U-Boote und Fernbomber auf dem heutigen Stand eingefroren werden sollen. Fänden Sie das befriedigend?
Schmidt: Der Unterschied zwischen strategischen Waffen und nichtstrategischen Waffen ist akademisch. Gleichwohl hat er sich im Laufe der Zeit auf der ganzen Welt eingebürgert. Natürlich sind auch Mittelstreckenraketen strategische Waffen, die zu politischen Pressionen benutzt werden können – übrigens ebenso wie Bomberflotten oder Panzerdivisionen –, weil sie strategische, nämlich politische und nicht nur militärische Bedeutung haben können.
SPIEGEL: Fällt die Frage der Mittelstreckenrakete unter den Tisch?
Schmidt: Es ist ganz gewiß falsch, anzunehmen, daß bei Salt über Mittelstreckenraketen überhaupt nicht geredet würde. Aber: Vereinbarungen zwischen den USA und der Sowjet-Union sind auf manchen Gebieten sogenannter strategischer Waffen sehr viel einfacher als auf dem Gebiet der Mittelstreckenraketen, und zwar deshalb, weil nur die Sowjet-Union jene Raketen hat. Auf Seiten des Westens steht dem nichts Vergleichbares gegenüber.
SPIEGEL: Die Amerikaner haben ihre in Europa stationierten Mittelstreckenraketen 1962 abgezogen.
Schmidt: Es waren nur sehr wenige, und sie wären inzwischen auch reif fürs Heeresmuseum. Über diesen Abzug will ich nicht klagen. Aber es ist auf jenem Gebiet von den Amerikanern auch nichts mehr entwickelt worden. Das macht jeden Handel, jeden Kompromiß über diese Kategorie von Waffen schwierig.
SPIEGEL: Warum müßte denn eigentlich überhaupt gehandelt werden? Normalerweise kann die Bundesrepublik doch als Nato-Land davon ausgehen, daß auch der Einsatz der sowjetischen atomaren Mittelstreckenraketen zwangsläufig den großen Gegenschlag der Amerikaner auslösen müßte.
Schmidt: Im Zeitalter nuklearen Gleichgewichts zwischen den Supermächten wird ohne allergrößte Not weder der eine noch der andere von seiner First Strike Capability* Gebrauch machen. Infolgedessen verringert sich im militärischen Gleichgewicht auf der Welt zwangsläufig die politische und kriegsverhindernde Wirkung der First Strike wie auch der Second Strike Capability, über die beide gleichermaßen verfügen. Die politische Bedeutung konventioneller militärischer Machtmittel wird dagegen größer.
SPIEGEL: Aber Sie haben doch selbst gesagt, die Mittelstreckenraketen gehörten eigentlich zu den strategischen, also keinesfalls zu den konventionellen Waffen.
Schmidt: Die Tatsache, daß Mittelstreckenraketen nur auf einer Seite vorhanden sind, beeinträchtigt zwar das nuklear-strategische Gleichgewicht nicht wesentlich. Ich würde sogar von politisch-strategischer Parität auf diesem Felde reden. Weil aber diese Mittelstreckenraketen sicherlich noch ein Jahrzehnt militärisch-technisch brauchbar bleiben, bleiben sie auch politisch brauchbar, und zwar gegenüber europäischen Ländern. Mir wäre es, weiß Gott, lieber, sie wären nicht da.
SPIEGEL: Würde nicht ein Erfolg der Salt-Gespräche die Grundlage für weitere Verhandlungen auch über Mittelstreckenraketen oder die Reduzierung der konventionellen Streitkräfte in Europa bedeuten, die Sie angeregt haben?
Schmidt: Sicher. Falls Salt zu keinem Ergebnis führen oder gar dramatisch scheitern sollte, wird es keine ernsthaften Gespräche zwischen den östlichen und westlichen Staaten über beiderseitige Verringerung der Truppen und Waffen in Mitteleuropa geben. Politisch gesehen kann so etwas nur erfolgreich angestrebt werden im Laufe einer Entwicklung, die auf einem Wirksamwerden des deutsch-sowjetischen Vertrages aufbaut. Das heißt: Befriedigende Regelung der schwebenden Berlin-Fragen, kein neuer Krieg im Nahen Osten und auch kein schwerer Rückschlag bei Salt. Es besteht gute Aussicht, daß diese Voraussetzungen eintreten. Unsere Bemühungen um beiderseitige Truppenreduzierung sind – genauso wie der deutschsowjetische Vertrag und die Verhandlungen darüber – die Fortsetzung unserer Gleichgewichtspolitik mit anderen Mitteln.
*Fähigkeit zum ersten (Atom-)Schlag, Second Strike Capability: Fähigkeit zum atomaren Gegenschlag.
DER AUFSTIEG • SPIEGEL 1-2/1971

„Ohne Macht kann man nicht reformieren“

SPIEGEL-Gespräch mit dem stellvertretenden SPD-Vorsitzenden, Verteidigungsminister Helmut Schmidt
SPIEGEL: Herr Minister, wir haben ja in Deutschland, Gott sei Dank, keinen Spiro Agnew, aber wir haben einen Helmut Schmidt. Und dem wird vorgeworfen, daß er verunsicherten Kleinbürgern nach dem Munde redet, daß er, wie Wehner auf dem Jungsozialisten-Kongreß in Bremen sagte, lästerliche Reden gehalten hat. Sind Sie der Champion der SPD für Law and Order?
Schmidt: Was Herbert Wehner gemeint haben könnte, muß er Ihnen selber erläutern, das ist nicht meine Sache. Ihnen wäre ich dankbar, wenn Sie mir konkret sagen würden, wo der Schmidt sich für „Law and Order“ eingesetzt hat.
SPIEGEL: Vielleicht meinen Wehner und wir dasselbe, nämlich Ihre Äußerungen vor dem SPD-Parteirat im Februar 1969. Da haben Sie von Versumpfung der Landschaft und moralischer Knochenerweichung gesprochen und zugleich davon, daß auch die Demokratie Führer brauche und daß es darum gehe, 25 oder 30 Millionen verunsicherten Kleinbürgern wieder die Sicherheit zu geben, ihre Volkswagen würden nicht umgeworfen.
Schmidt: Mein Diskussionsbeitrag im Parteirat bezog sich auf die Situation von 1969 und wurde in einem Bundestags-Wahljahr formuliert. Die Sozialdemokratische Partei, die die Gesellschaft und den Staat und seine Institutionen verändern will, muß ja zugleich das Kunststück vollbringen, das Vertrauen von mehr als 50 Prozent der Wähler zu erringen und zu erhalten. Das heißt: Die politisch Führenden dieser Partei müssen einerseits die eigenen und die zukünftigen Wähler, die man dazugewinnen will, in dem, was ihnen an Veränderung des Bestehenden als politisch wünschenswert vorgestellt wird, soweit wie möglich fordern, aber sie andererseits nicht so weit überfordern, daß sie sich aus Konservativismus zurückwenden zur CDU/CSU.
SPIEGEL: Damals haben Sie von der wünschenswerten Veränderung des Bestehenden nichts gesagt. Sie haben gegen „gewisse Leute“, die ja auch verändern wollten, ein bewußt gehandhabtes Prinzip strafrechtlicher Abschreckung gefordert und Richtern und Staatsanwälten vorgeworfen, daß sie die Gesetze nicht zügig anwenden.
Schmidt: Ich bin der Meinung, daß solche Gesetze, die staatliche Behörden zum Handeln auffordern, auch befolgt werden müssen. Es ist ein Unterschied zwischen einem Gesetz, das einer Behörde anheimgibt, nach Opportunität zu verfahren, und einem Gesetz, das eine Behörde anweist, das eine zu lassen oder das andere zu tun. Personen, die von Staats wegen Macht ausüben, müssen sich in ihrem Verhalten nach dem richten, was im Gesetz steht. Alles andere liefe darauf hinaus, Machtpositionen unkontrolliert benutzen zu lassen.
SPIEGEL: Warum werden Sie innerhalb Ihrer Partei von einigen Leuten angegriffen?
Schmidt: Zum Beispiel mein entschiedenes Eintreten für die Große Koalition 1966 trägt mir noch heute einiges an Gegnerschaft in der Partei ein. Zumal ich nicht zu denen gehöre, die ihr Mitmachen bei der Großen Koalition öffentlich vergessen machen wollen.
SPIEGEL: Ihr Parteifreund Wehner und die Jungsozialisten haben offenbar den Eindruck, daß Sie rigoros nach links abblocken und nach rechts den Kleinbürger streicheln.
Schmidt: Was den Kleinbürger angeht, so würde ich es für völlig falsch halten, ihn zu streicheln, ihn einzulullen. Bis zu einem gewissen Grade ist es sogar dringend notwendig, ihn unsicher zu machen hinsichtlich der ihm vertraut gewesenen Umwelt, denn ohne ein gewisses Maß an Unsichermachen ist es ja nicht möglich, ihn zum kritischen Urteil über das bisher vertraut Gewesene zu bringen. Aber eine Sicherheit darf ich ihm nicht nehmen: daß das Neue, was die Sozialdemokratische Partei an die Stelle des Vertrauten zu setzen verspricht, nicht nur möglich ist, sondern daß es für alle vorteilhaft ist und für ihn nicht das Ende seiner Existenz bringt.
SPIEGEL: Darin würden Ihnen wohl sogar die Jungsozialisten zustimmen. Dennoch gelten Sie bei den Jusos als Rechter. Wären Sie zum Juso-Kongreß nach Bremen gegangen, hätten Sie damit rechnen müssen, ausgebuht zu werden. Wie erklären Sie sich das?
Schmidt: Zunächst einmal halte ich es für unzulässig, „die“ Jungsozialisten als eine einheitliche politische Position aufzufassen. Es gibt weit über 100 000 junge Sozialdemokraten im Jungsozialistenalter, und nur ein relativ kleiner Prozentsatz von ihnen hat sich in den Jungsozialistengruppen zusammengetan. Viele politisch sehr aktive junge Sozialdemokraten sind außerhalb dieser Gruppen tätig. Und selbst der relativ kleine Teil, der sich in Jungsozialistengruppen organisiert, hat unter sich durchaus verschiedene Auffassungen zu verschiedenen Fragen.
SPIEGEL: Zugegeben, aber die Mehrheit der Jusos, die Mehrheit der gewählten Delegierten in Bremen hätte Ihnen bei dem Kongreß einen unfreundlichen Empfang bereitet.
Schmidt: Wenn es so gekommen wäre – das steht ja nicht fest –, hätte es an Vorurteilen gelegen, die der eine oder andere und manche miteinander über meine politische Position verbreiten. Und im übrigen glaube ich nicht, daß jemand, der konkret politisch denken und auch argumentieren will, im Ernst einer Diskussion mit mir ausweichen würde.
SPIEGEL: Norbert Gansel sagte, im Parteipräsidium gebe es außer Wehner, Brandt und Wischnewski nur eine reaktionäre Masse. Nun bestreiten Politiker heute gern, daß es rechte und linke Flügel überhaupt gibt. Aber ist es nicht doch so, daß es in Ihrer Partei eine rechte Mehrheit gibt und daß sie in Ihnen ihren Mann sieht?
Schmidt: Ich gehöre zu denjenigen, die sich immer gegen die Tendenz zur Gruppenbildung innerhalb der eigenen Partei gewehrt haben. Von einer rechten Flügelbildung in diesem Sinne, insbesondere wenn sie gleichgesetzt wird mit der Mehrheit in der SPD, wie Sie es eben taten, kann man gegenwärtig – und ich füge hinzu: Gott sei Dank – nicht sprechen.
SPIEGEL: Aber von markanten Gegensätzen wird man wohl sprechen dürfen.
Schmidt: Was ich für mich gelten lassen würde, ist die ausgesprochene Überzeugung, daß die Sozialdemokratische Partei Deutschlands in die Lage versetzt werden muß, aus eigener Kraft, gestützt nur auf die Mandate ihrer eigenen Fraktionskollegen, eine Regierung im Deutschen Bundestag zu bilden. Das ist mein Ziel gewesen, seit ich dieser Partei zugehöre. Damit es erreicht werden kann, ist notwendig, die Sozialdemokratische Partei wählbar zu machen und wählbar zu halten für ausreichend viele Personen, das heißt über die 50 Prozent hinaus. Ob man diese Personen als rechts, links, oben oder unten einstuft, ist im Augenblick kein brennendes politisches Problem.
SPIEGEL: Sind Sie der kompromißlose Pragmatiker der SPD, der auf die Veränderung gesellschaftspolitischer Verhältnisse verzichtet, um konservative Wähler zu gewinnen?
Schmidt: Wenn eine politische Partei danach strebt, die Mehrheit im Lande zu erringen, ist das kein Pragmatismus, sondern der Daseinszweck einer politischen Partei in einem parlamentarischen Staatssystem. Weiter: Was mich angeht, kann von einem Verzicht auf den Versuch, die Gesellschaft und den Staat und seine Institutionen zu verändern, überhaupt keine Rede sein. Ich halte es hier mit Herbert Wehner, und wir halten es beide mit Max Weber, der das Wort von der Notwendigkeit des Augenmaßes für einen Politiker zuerst geprägt hat. Augenmaß für das, was jeweils möglich ist.
SPIEGEL: Oder nötig ist.
Schmidt: Es gibt Leute, die das im Augenblick Mögliche für weniger nötig halten und sich lieber mit Fernzielen oder gar mit Endzielen beschäftigen. Andere und ich selbst halten Fern- oder Endziele für etwas unverzichtbar Notwendiges, an dem sie ihre augenblicklichen Schritte orientieren, legen aber besonderes Gewicht darauf, die augenblicklichen Schritte genauso groß zu tun, wie es nur gerade eben geht, aber nicht größer, als es geht. Um zum Beispiel nicht Gefahr zu laufen, daß sie entweder Stimmen verlieren oder daß sie Versprechungen machen, die sie im Laufe einer Legislaturperiode nicht verwirklichen können. Ich würde es für unzulässig halten, jemand als „bloßen“ Pragmatiker abzustempeln, weil er immer gerade die Schritte tut, die eben noch möglich sind, und nicht zugleich über das große Ziel spricht. Genauso würde ich es für unzulässig halten, denjenigen, der seine Aufmerksamkeit auf das Fernziel richtet, deswegen als Nichtpolitiker abzustempeln. Ich gehöre nicht der Denkrichtung an, die sich etwa den Wahlspruch zu eigen macht, das Ziel sei nicht wichtig, der Weg sei alles.
SPIEGEL: Aber dabei kommt es zu Zielkonflikten. Es könnte sein, daß gewisse Fragen keinen Aufschub mehr dulden und gelöst werden müssen, man sie aber gleichwohl nicht glaubt anpacken zu können, weil man Rückschläge bei den Wählern befürchtet.
Schmidt: Können Sie mir ein praktisches Beispiel für eine Frage geben, die aus Rücksicht auf irgendwelche Wählergruppen nicht angepackt wird, obwohl sie eigentlich keinen Aufschub duldet?
SPIEGEL: Sind Sie der Meinung, daß beispielsweise das Eigentum an Grund und Boden stärker eingeschränkt werden muß als bisher?
Schmidt: Ja. Im Prinzip muß die soziale Bindung des Eigentums an Grund und Boden in der Praxis des Bundes, der Länder und vor allem der Gemeinden sehr viel stärker ausgeprägt werden. Dazu ist zweifellos eine Änderung der zugrundeliegenden Gesetze notwendig.
SPIEGEL: Sind Sie für konfiskatorische Erbschaftsteuern bei Großvermögen, um die Vererbung von Machtpositionen zu verhindern?
Schmidt: Nein. Ich bin überhaupt gegen „konfiskatorische Steuern“. Der Ausdruck ist in Wirklichkeit ein Pleonasmus, denn jede Steuer konfisziert. Ich spreche lieber davon, daß das bisherige System unserer Erbschaftsteuer den Grundsatz steuerlicher Gerechtigkeit nur in sehr unzureichender Weise widerspiegelt, daß unser Steuersystem insgesamt diesen Grundsatz nicht ausreichend befolgt und daß es deshalb geändert werden muß.
SPIEGEL: Meinen Sie mit mehr Steuergerechtigkeit höhere Steuern auf Groß-Einkommen, Großvermögen und Groß-Erbschaften?
Schmidt: Ich gehe über eine mittlere Frist – über eine Frist von zehn, zwölf Jahren – davon aus, daß die wachsenden Aufgaben, die in einer modernen Industriegesellschaft durch den Staat oder durch die Gemeinschaft geleistet werden müssen, zwangsläufig dazu führen, daß die Gesamtsteuerbelastung der Gesellschaft zwar langsam, aber sicher ansteigen muß. Und daß sie außerdem gerechter verteilt werden muß.
SPIEGEL: Wenn Sie nicht deutlich sagen, welche Gruppen stärker belastet werden sollen, dann werden Sie damit auch potentielle SPD-Wähler verschrecken.
Schmidt: Das Publikum ist heute ganz gewiß einer höheren Steuerbelastung in der Gesamtgesellschaft abgeneigt. Dies ist also nicht dem Publikum nach dem Munde geredet, sondern eher gegen die bisherige Mehrheitsmeinung gesagt. Ich bin allerdings nicht der Meinung, daß das in abrupten Sprüngen zu geschehen habe, sondern daß es sukzessiv geschehen muß.
SPIEGEL: Stimmen Sie mit dem Fernziel der Jungsozialisten überein, daß die westdeutsche Gesellschaft durch systemüberwindende Reformen von Grund auf verändert werden muß?
Schmidt: Diese Formel ist kein Fernziel, sondern ein Gemeinplatz.
SPIEGEL: Sie selbst haben von der Veränderung der Gesellschaft gesprochen, der sich die SPD verschrieben habe.
Schmidt: Ich habe nicht gesagt, daß Veränderung an sich ein Fernziel sei.
SPIEGEL: Ist die westdeutsche Gesellschaft eine Klassengesellschaft?
Schmidt: Die Gesellschaft in der Bundesrepublik ist gewiß durch Klassen und Klassengegensätze geprägt -- aber nicht nur durch diese Art von Gegensätzen, auch durch andersartige Gegensätze. Und wenn man in der heutigen deutschen Gesellschaft von Klassen spricht, so sind die Klassen nicht etwa ausschließlich oder überwiegend definiert durch Eigentum oder Nichteigentum.
SPIEGEL: Wodurch noch?
Schmidt: Sie sind zum Teil definiert durch Abhängigkeiten der verschiedensten Art, und umgekehrt durch Dispositionsbefugnisse. Aber Dispositionsbefugnisse sind häufig gegeben, ohne daß Eigentum gegeben ist.
SPIEGEL: Akzeptieren Sie, daß die Klassengesellschaft etwas Vorgegebenes hat, das nicht verändert werden muß?
Schmidt: Nein, nein. Wie käme ich auf die Idee. Wo steht denn, daß sie vorgegeben sei. Nein, sie muß verändert werden. Nur bin ich vorsichtig bei der Formulierung des Zieles. Ich würde höchst ungern ohne Differenzierung von einer klassenlosen Gesellschaft als Ziel sprechen, denn ich weiß, daß es nach bisheriger geschichtlicher Erfahrung auch in jeder zukünftigen Gesellschaft mit Sicherheit Menschen geben wird, die mehr Dispositionsbefugnisse haben als andere.
SPIEGEL: Halten Sie denn für wünschbar, daß künftig eine erheblich größere Zahl von Leuten als bisher an der Dispositionsbefugnis teilhat?
Schmidt: Ich halte es nicht nur für wünschbar, sondern ich halte es für notwendig und überdies für machbar.
SPIEGEL: Sind Sie für die paritätische Mitbestimmung?
Schmidt: Ja. Aber ich möchte nicht die Arbeitnehmer eines großen Unternehmens von der einen Abhängigkeit von der Personengruppe A in die andere Abhängigkeit von der Personengruppe B überführen, sondern mir kommt es darauf an, den Arbeitnehmern selber Mitwirkungs- und Gestaltungsrechte, die sie tatsächlich ausüben können, zu verschaffen. Deswegen bin ich zum Beispiel, was die Durchführung der paritätischen Mitbestimmung in Großunternehmen angeht, dafür, daß die Arbeitnehmer ihre Vertreter in den Aufsichtsräten in geheimer Wahl selbst bestimmen. Natürlich ist auch paritätische Mitbestimmung in Großunternehmen so etwas wie repräsentative Demokratie. In einem Unternehmen mit einer Belegschaft von 50 000 Menschen können nicht alle 50 000 dieselben Dispositionsbefugnisse ausüben.
SPIEGEL: Meinen Sie mit der Personengruppe B, in deren Abhängigkeit die Arbeitnehmer nicht geraten sollen, die Gewerkschaften?
Schmidt: Nein. Ich habe die Personen gemeint, die in Zukunft im Aufsichtsrat sitzen.
SPIEGEL: Sie sollen also aus der Belegschaft kommen?
Schmidt: Ich habe gesagt, die Belegschaft soll· sie in geheimer Wahl wählen dürfen. Das ist was anderes als „aus der Belegschaft kommen“. Man darf aber nicht daran vorbeisehen, daß diejenigen, die auf diese Weise in die Aufsichtsräte kommen, sehr viel mehr Macht ausüben als einer von den 50 000, die der Belegschaft angehören. Ich will das nicht einen Klassenunterschied nennen, aber ich will darauf hinweisen, daß hier unabhängig vom Eigentum völlig verschiedenartige Quanten an Dispositionsbefugnissen ausgeübt werden.
SPIEGEL: Deshalb propagieren die Jungsozialisten unter anderem Mitbestimmung am Arbeitsplatz.
Schmidt: Ich halte von Mitbestimmung am Arbeitsplatz sehr viel. Ich bin seinerzeit in der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion, als wir im vorigen Jahr unsere Gesetzentwürfe vorgelegt haben, mit meiner Minderheitsauffassung unterlegen.
SPIEGEL: Unterstellt, die Verfügungsgewalt, und somit die Mitbestimmung, ist heute in den meisten Fällen unabhängig vom Eigentum ...
Schmidt: Die Dispositionsbefugnisse von Herrn Augstein beispielsweise hängen an seinem Eigentum. Aber Ihre Dispositionsbefugnisse im SPIEGEL, Herr Gaus, hängen nicht am Eigentum, sondern an der Rechtsstellung, die Sie durch Vertrag mit Herrn Augstein gewonnen haben.
SPIEGEL: ... ist es dann nicht heute viel vordringlicher, statt Eigentumsbildung Machtkontrolle anzustreben?
Schmidt: Beides nebeneinander. Kontrolle von Machtpositionen ist der entscheidende Leitsatz. Aber da wir ja nicht davon ausgehen, daß es in Zukunft überhaupt kein Eigentum mehr geben wird, halte ich es für wünschenswert, daß neu sich bildendes Eigentum in gerechter Weise auf alle Glieder der Gesellschaft verteilt werden möge.
SPIEGEL: Dann müßten Sie auch bereit sein, die hohen Einkommen stärker mit Steuern zu belasten als die mittleren und kleinen.
Schmidt: Richtig.
SPIEGEL: Redet die Programmkommission der SPD, der Sie vorsitzen, darüber?
Schmidt: Ich bin etwas gehandikapt bei meiner Antwort, weil die Mitglieder dieser Kommission übereinstimmend der Meinung sind, daß es gegenwärtig noch etwas zu früh wäre, über unsere Arbeit öffentlich Auskunft zu geben. Aber ich kann mit ein paar Strichen andeuten, worauf die Arbeit hinauslaufen soll: für einen mittelfristigen Zeitraum, der Ende des Jahres 1973 beginnt, festzustellen, was im Staat, in Ländern, in Kommunen, was in der Wirtschaft, was überall in der Gesellschaft wohin verändert werden muß, durch wen es zu geschehen hat, wieviel an Mitteln dafür aufgewandt werden muß, wieviel man an Mitteln infolgedessen dafür auch dem Staat verschaffen muß. Im Zusammenhang damit stellt sich die Frage, ob unter dem Aspekt der notwendigen Veränderungen die Investitionsrate erhöht werden muß, wenn ja, auf welche Weise, zu wessen Lasten.
SPIEGEL: Also etwa: Sozialinvestitionen zu Lasten privater Investitionen?
Schmidt: Auch das beschäftigt die Kommission: Wer soll über die Investitionsrate verfügen dürfen, wieweit wird sie zum Beispiel in die Hände von Ländern und Gemeinden gelegt, wieweit muß sie in den Händen privater Wirtschaftsunternehmen verbleiben. Alles dies sind Denkansätze, die für eine mittelfristige Periode einer Reihe von Jahren qualifiziert werden müssen. Daran anschließend muß man für eine Periode bis in die 90er Jahre hinein, möglicherweise bis an das Ende dieses Jahrhunderts, etwas entferntere Zwischenziele haben.
SPIEGEL: Welche sind das?
Schmidt: Das schließt ganz gewiß die Vorstellungen von einer Gesellschaft ein, in der fast niemand in anderen als in städtischen Verhältnissen leben wird. Es muß eine nicht nur erträgliche, sondern Geborgenheit ermöglichende großstädtische Lebensform gesichert werden. Zum Beispiel auf diesem Gebiet scheint mir vieles bisher gedanklich nicht geordnet zu sein.
SPIEGEL: Es klang bei Ihnen die Meinung an, daß künftig dem Staat mehr Möglichkeiten gegeben werden müßten, auch die Investitionen der Industrie zu beeinflussen, zu steuern. Ist das korrekt verstanden?
Schmidt: Ja. Das Recht auf völlige Investitionsfreiheit ist zwar heute schon durch mancherlei Gesetzesvorschriften eingeschränkt, indirekt zum Beispiel durch steuerrechtliche Bevorzugung der einen oder anderen Investition. Aber dies System bedarf möglicherweise des starken Ausbaus. Damit Sie mich richtig verstehen: Staatliche Investitionslenkung ist nach meiner festen Überzeugung zu beschränken auf solche Felder, auf denen es anders überhaupt nicht geht.
SPIEGEL: Herr Minister, in vielen Ihrer hier vorgetragenen Auffassungen, etwa zu Eigentum, Steuerrecht, Klassengesellschaft, Investitionsplanung, sind Sie gar nicht so weit entfernt von dem, was auch die Jusos anstreben.
Schmidt: Das wissen die leider bloß nicht alle.
SPIEGEL: Mag sein. Aber offenbar haben auch Sie an den Jusos manches wiedergutzumachen. Warum hauen Sie so auf die Leute ein?
Schmidt: Ich hau' nicht auf die Leute ein, sondern der SPIEGEL bringt sogenannte Zitate von mir, die diesen Eindruck erwecken. Ich habe mich öffentlich noch niemals zu den Jusos geäußert.
SPIEGEL: Wir zitieren: „Opportunistisches Verhalten gegenüber politisch irre gewordenen Jungsozialistengruppen ist Gift.“
Schmidt: Ja und? Da sind ja wohl einige irre gewordene Gruppen.
SPIEGEL: Worin besteht der Irrsinn? 
Schmidt: Zum Beispiel in der Absicht, mit den Kommunisten Volksfront zu machen. Dies kann nicht in Betracht kommen.
SPIEGEL: Auch die Jungsozialisten wollen keine Volksfront, sondern allenfalls vorübergehende Aktionsbündnisse, wie zum Beispiel bei der Besetzung von Häusern im Frankfurter Westend. Warum kommt das nicht in Betracht?
Schmidt: Weil es zum Zerfall der Schwächeren führen muß, die sich in solche Gemeinschaft begeben, und das sind immer die Demokraten.
SPIEGEL: Was stört Sie außerdem noch an den Jungsozialisten? Ist Ihr Bemühen, Wähler-Vertrauen zur SPD zu gewinnen, durch Parolen der Jungsozialisten gestört worden?
Schmidt: Ich spreche nicht von den Jungsozialisten schlechthin. Ich würde sagen, daß einige der lautstärksten Exponenten jungsozialistischer Gruppen und Zusammenschlüsse diesen Vertrauensbildungsprozeß gestört haben.
SPIEGEL: Sind Sie der Meinung, daß sich die SPD notfalls von diesen Vertretern der Jungsozialisten trennen muß?
Schmidt: Ich bin nicht und war nie der Meinung, daß man sich von ihnen trennen muß. Ich war immer der Meinung, daß man sich mit ihnen auseinandersetzen muß. Was das Trennen angeht, so kann es nur für solche gelten, die hinter dem Rücken ihrer eigenen Partei und ihrer eigenen Parteifreunde und Genossen mit anderen politischen Gruppen, die Gegner der Sozialdemokratischen Partei sind, gemeinsame Sache machen wollen.
SPIEGEL: Liegt es nur an der Unfähigkeit der Öffentlichkeit, differenziert sehen zu können, wenn sie meint, daß es zwischen Ihnen und Karsten Voigt, dem mit großer Mehrheit wiedergewählten Vorsitzenden der Jungsozialisten, Spannungen gibt?
Schmidt: Nein, das liegt gewiß nicht an der falschen Optik. Ich bin der Meinung, daß Herr Voigt sich in diesem Sommer im Verhältnis zu seinem Parteivorsitzenden und zu der Führung der Sozialdemokratischen Partei insgesamt in einer Weise verhalten hat, die ich nicht billigen kann und die ich nicht nachträglich akzeptieren werde.
SPIEGEL: Sie meinen ...
Schmidt: ... den hinter dem Rücken von Willy Brandt und dem Parteivorstand durchgeführten Besuch bei Herrn Ulbricht, nachdem man offiziell mitgeteilt hatte, man würde solchen Besuch nicht machen.
SPIEGEL: Glauben Sie nicht, daß die Mehrheit der Jungsozialisten hinter Herrn Voigt steht?
Schmidt: Das glaube ich in dem Punkt, von dem ich spreche, beispielsweise nicht.
SPIEGEL: Halten Sie für möglich, daß die Jungsozialisten Zweifel haben an dem von Ihnen für richtig gehaltenen Weg, gleichzeitig die Macht zu behaupten und die notwendigen Reformen durchzusetzen?
Schmidt:  Das halte ich für möglich und außerdem für legitim, aber auch für irrig: Ohne Macht kann man den Staat nicht reformieren.
SPIEGEL: Halten Sie für möglich, daß Ihre Art der geistig-politischen Auseinandersetzung mit den radikaleren Jungsozialisten in der Vergangenheit nicht immer adäquat gewesen ist?
Schmidt: Das halte ich für möglich.
SPIEGEL: Ist es richtig, daß sich unter den jüngeren Leuten, unter den 20- bis 30jährigen, eine stärkere Hinwendung zu ideologischen und theoretischen Problemen bemerkbar macht, als das in der Generation, zu der Sie gehören, verbreitet war?
Schmidt: Ja, das ist so.
SPIEGEL: Halten Sie es für ausgeschlossen, daß Jungsozialisten wie Voigt, Gansel und die, die Ihnen anhängen, im Laufe der nächsten Jahre mehr Einfluß für eine re-ideologisierte Politik erlangen?
Schmidt: Ich halte für wahrscheinlich, daß manche jungen Leute innerhalb unserer Partei, die heute Schlagzeilen machen, auch in Zukunft Schlagzeilen machen werden, auch noch in zehn oder 20 Jahren, vielleicht sogar noch mehr als heute. Und ich halte auch für wahrscheinlich, daß sie in dem Maße, in dem sie politische Verantwortung übernehmen, sich weniger mit Fernzielen, stärker mit konkreten Aufgaben von morgen und übermorgen beschäftigen werden.
SPIEGEL: Und Sie befürchten, daß eine allzu starke Betonung der Fernziele, die möglicherweise sogar Ihren eigenen Fernzielen nahe sein könnten, die sozialdemokratischen Wähler unsicher machen könnte?
Schmidt: Ich bin durchaus dafür, daß Fernziele debattiert werden, es kommt darauf an, in welcher Form und in welchem Gesamtzusammenhang. Häufig werden sie von manchen in einer Form debattiert, die provozieren soll, und dies muß nicht immer sehr zweckmäßig sein.
SPIEGEL: In diesem Land kann man auch ein wachsendes Unbehagen der Industrie über die derzeitige Regierung spüren. Schreiben Sie auch dieses Unbehagen der Lautstärke zu, mit der jungsozialistische Parolen vorgetragen werden?
Schmidt: Das ist nur zu einem Teil richtig. Für einige industrielle Führer war es ein Schock, eine sozialdemokratisch geführte Regierung in Bonn zu haben. Jetzt müssen sie sich mit der Realität dieser sozialdemokratischen Führung auseinandersetzen. Das ärgert sie. Ich kann deren Ärger verstehen, aber ich will ihm nicht abhelfen, im Gegenteil, ich möchte die sozialdemokratische Führung in Bonn viele Jahre behalten.
SPIEGEL: Sie glauben nicht, daß die Industrie in diesem Lande den Einfluß und die Macht hat, 1973 der SPD eine Niederlage zu bereiten?
Schmidt: „Die Industrie“ gibt es als politische Größe genausowenig wie irgendwelche anderen abstrakten Verallgemeinerungen. Es gibt heute in den Spitzenpositionen der Industrie und der Finanzwelt eine größere Zahl von Leuten, die die sozialdemokratische Politik für richtig halten, als das etwas vor fünf Jahren der Fall gewesen ist. Nach wie vor handelt es sich um eine kleine Minderheit, aber um eine wachsende Minderheit. Ich bin nicht der vermessenen Hoffnung, daß diese Minderheit bis 1973 zu einer Mehrheit in der Wirtschaft oder in der sogenannten Unternehmerschaft würde.
SPIEGEL: Sehen Sie, der als Haupt-Exponent der Großen Koalition galt, noch einmal die Chance einer Gemeinsamkeit zwischen der SPD und der CDU/CSU?
Schmidt: Wissen Sie, ich habe gemeinsam mit Herbert Wehner, Karl Schiller, Alex Möller, Egon Franke und anderen aus der damaligen Bundestagsfraktion und gemeinsam mit dem damaligen Regierenden Bürgermeister von Berlin, Willy Brandt, zu denjenigen gehört, die nach langer und sorgfältiger Untersuchung der damals bestehenden Möglichkeiten der eigenen Bundestagsfraktion eindeutig die Zweckmäßigkeit der Großen Koalition vorgestellt haben. Die Große Koalition entsprang aus einer Notlage, wirtschafts- und außenpolitisch, aus der Notwendigkeit, eine Notlage abzuwehren.
SPIEGEL: Und sie bot der SPD eine Chance, endlich einmal in die Regierung zu kommen.
Schmidt: Ja, die Große Koalition hat für die Sozialdemokratie jedenfalls eine Trittstufe bedeutet. Gegenwärtig und für die absehbare Zukunft ist aber weder eine Notlage zu erkennen, noch braucht die Sozialdemokratische Partei für die Führungsposition in Bonn irgendwelche Trittleitern. Deswegen kann ich überhaupt nicht sehen, daß wir je in absehbarer Zukunft wieder eine solche Kombination brauchen, ganz abgesehen davon, daß sie wegen der Verwischung politischer Gegensätze weder wünschbar noch gegenüber der Allgemeinheit, insbesondere der jüngeren Generation, zumutbar ist.
SPIEGEL: Trifft es zu, daß Sie insoweit manchen CDU-Politikern zuneigen, als sie die Ostpolitik von Brandt und Scheel für vorschnell halten?
Schmidt: Ich halte diese Ostpolitik für notwendig. Ich habe ja zu denjenigen gehört, die vor Jahren gemeinsam mit anderen unsere außenpolitische Konzeption entwickelt haben. Ich halte sie insbesondere auch nicht für vorschnell, sondern möchte eher für denkbar halten, daß man nach ein paar Jahren zu dem Ergebnis kommt, daß dies so ziemlich der letzte Zeitpunkt war, in dem eine solche Politik noch mit Aussicht auf Erfolg versucht werden konnte.
SPIEGEL: Da und dort hört man, daß Sie sich im Verteidigungsministerium eingeigelt hätten und hier in Ruhe abwarten, wie sich die Dinge personell und sachlich weiter entwickeln. Sie haben bei keiner der großen Debatten zur Ostpolitik das Wort ergriffen. Warten Sie ab, bis Ihre Stunde kommt?
Schmidt: Es ist nicht richtig, daß ich das Wort zur Ostpolitik nie ergriffen hätte. Ich habe es im Parlament nicht sehr ausführlich getan, weil es nicht notwendig ist, daß neben Brandt und Scheel noch ein Dritter die Außenpolitik der Bundesregierung im Bundestag erläutert. Von Einigeln kann keine Rede sein. Richtig ist, daß ein für ein bestimmtes Ressort innerhalb einer Bundesregierung verantwortlicher Minister es außerordentlich schwer finden muß, auf den übrigen Feldern der Politik öffentlich mit wesentlichen Äußerungen hervorzutreten. Man soll nicht in fremder Leute Gärten Blumen pflücken wollen.
SPIEGEL: Soweit man von Ihnen hört, halten auch Sie, ähnlich wie Strauß, eine Art Schatzkanzleramt aus Finanz- und Wirtschaftsressort für eine adäquate Konstruktion.
Schmidt: Ich lege Wert darauf, daß ich in dieser Feststellung mit Alex Möller übereinstimme. Was Herr Strauß darüber denkt, ist nicht so wichtig.
SPIEGEL: Würde dies ein Amt sein, das Sie reizen könnte?
Schmidt: Das wäre zweifellos eine reizvolle Aufgabe.
SPIEGEL: Würden Sie gern Bundeskanzler sein?
Schmidt: Ich halte mich nicht für ungeeignet. Aber ich sehe in der überschaubaren Zukunft überhaupt keinen Grund für einen Wechsel. Und wenn einmal ein Wechsel notwendig werden sollte – ich bin nur fünf Jahre jünger als Willy Brandt, und dann müßte man wohl in eine jüngere Kiste greifen. Wenn Sie mich aber fragen, was mich am meisten reizt, dann überhaupt kein Amt in einer Bundesregierung ...
SPIEGEL: ... sondern?
Schmidt: ... das Amt, das ich zuletzt im Bundestag ausgeübt habe.
SPIEGEL: Am liebsten Fraktionsvorsitzender?
Schmidt: Ohne eine Sekunde zu bedenken, ja.
SPIEGEL: Herr Minister, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Das Gespräch führten die Redakteure Günter Gaus, Alexander von Hoffmann und Rudolf Augstein.
DER AUFSTIEG • SPIEGEL 34/1972

„Mit Worten allein kann man nicht kämpfen“

Bundeswirtschafts- und Finanzminister Helmut Schmidt über den Kurs der SPD
SPIEGEL: Am Vorabend des beginnenden Wahlkampfes hat die SPD den Fehler gemacht, sich von Karl Schiller als Minister zu trennen. Mußte die SPD nicht wissen, daß man in dem Augenblick, in dem man Schiller zum Superminister machte, mit ihm bis zum Wahltag zusammenbleiben mußte?
Schmidt: Dies ist ein Feld, das Sie mit dem Bundeskanzler debattieren müssen, nicht mit mir. Alle die Entscheidungen, die Sie in Ihrer Frage berühren. sind solche, in denen zwei Personen vornehmlich beteiligt sind, nämlich Schiller und Willy Brandt. Diese beiden müssen Sie danach fragen.
SPIEGEL: Das können wir nicht akzeptieren. Sie sind stellvertretender Parteivorsitzender und ein wichtiger Minister im Kabinett, seit ein Sozialdemokrat Bundeskanzler ist. Ihre Distanzierung drückt bereits einen Mangel an Solidarität aus.
Schmidt: Es ist keine Distanzierung, sondern eine Feststellung von Tatsachen, denn ich war an keiner der beiden Entscheidungen, weder an der Berufung zum Superminister noch an der Demission, beteiligt.
SPIEGEL: Ist daraus zu schließen, daß Sie beide Entscheidungen für falsch halten?
Schmidt: Das ist ein unzulässiger und unzutreffender Schluß. Wenn ich an Entscheidungen nicht beteiligt war, ist daraus doch nicht zu schließen, daß ich sie mißbillige.
SPIEGEL: Uns scheint dennoch, daß die SPD sich am Beginn des Wahlkampfs in einer schlechten Verfassung befindet, unter anderem, weil führende Politiker wie Sie vornehm beiseite treten.
Schmidt: Ich bin doch nicht zur Seite getreten. Ich bin in eine Bresche hineingetreten, nachdem ich dazu aufgefordert worden bin.
SPIEGEL: Aber Sie sind in einer Hinsicht während der ganzen Legislaturperiode beiseite getreten. Sie haben gelegentlich, nachdem Sie sehr fair, sehr korrekt die Toleranz, den Anstand des Bundeskanzlers herausgehoben haben, auch distanziert über seine Führungsqualitäten gesprochen. In dieser Distanzierung liegt das vornehme Beiseitetreten, von dem wir meinen, daß es die Legislaturperiode Brandts, die jetzt zu Ende geht, stark mitbestimmt. Fühlen Sie sich an all diesem wirklich unschuldig?
Schmidt: Alle Ihre Feststellungen bedürfen keines Kommentars durch mich. Unschuldig an allem, was geschieht, kann sich niemand fühlen, der dem Kreis der Regierung und dem Kreis der Parteiführung angehört.
SPIEGEL: Sie haben in Ihrem ersten Fernseh-Interview nach Übernahme des Wirtschafts- und Finanzministeriums den Anstand, die Toleranz, die Langmut des Kanzlers gerühmt, aber auch indirekt darauf hingewiesen, daß die Kehrseite dieser Vorzüge, die Sie gerühmt haben, gelegentlich zu Entscheidungsverzögerungen, Entscheidungsunlust, zu einem Führen am zu langen Zügel geführt hat. Warum sagt der stellvertretende Parteivorsitzende der SPD überhaupt so etwas Mißdeutbares?
Schmidt: Zunächst einmal – ich habe sicherlich das gesagt, was ich für wahr halte. Zweitens: Wenn ich vorbereitet gewesen wäre auf jene Frage, hätte ich meine Antwort vielleicht etwas eleganter formuliert.
SPIEGEL: Hat der Bundeskanzler sich richtig entschieden, als er Schiller zum Superminister machte, und hat er sich richtig entschieden, als er ihn entließ?
Schmidt: Beide Entscheidungen waren richtig: Nachdem für den Bundeskanzler feststand, daß Alex Möller ausscheiden wollte, und er sich entschlossen hatte, dem zu entsprechen, war die Auswahl von Personen, die in Betracht kamen, nicht so schrecklich reichhaltig. Ich hätte mich an seiner Stelle auch so entschieden. Ich hätte allerdings die Absicht gehabt, damit eine möglichst rasch folgende Neuzumessung der Kompetenzen der nur vorübergehend zusammengefaßten beiden Ressorts zu verbinden.
SPIEGEL: Noch in dieser Legislaturperiode?
Schmidt: Ja.
SPIEGEL: Und zu der Frage nach Schillers Entlassung?
Schmidt: Da liegt die Ursache bei Schiller.
SPIEGEL: Warum war die Entlassung richtig?
Schmidt: Weil die Wendung ins Grundsätzliche, die Karl Schiller in seinem Rücktrittsbrief der Sache gegeben hat, dem Bundeskanzler gar keine andere Wahl ließ.
SPIEGEL: Jedenfalls, der Rücktritt Schillers hat Sie in eine Position gebracht, in der Sie zur beherrschenden Figur im Wahlkampf und im Kabinett, selbst über Bundeskanzler Brandt hinaus, werden könnten. Wie verstehen Sie Ihre Rolle?
Schmidt: Ich sehe keine beherrschende Rolle, weder im Wahlkampf noch im Kabinett. Im Kabinett werde ich meine Aufgaben erfüllen, wie das Grundgesetz sie vorschreibt, und nichts anderes. Und im Wahlkampf werde ich die gleiche Rolle spielen wie in allen bisherigen Wahlkämpfen.
SPIEGEL: Die CDU bereitet einen Wahlfeldzug vor, in dem Helmut Schmidt als ein Mann hingestellt wird, der das Ende der sozialen Marktwirtschaft herbeiführt. Da stehen Sie doch zwangsläufig im Mittelpunkt.
Schmidt: Dieser Unfug mit dem Ende der Marktwirtschaft wird uns von gewissen Vertretern der Opposition seit 1949 entgegengehalten. Das ist Schiller so gegangen, das ist Möller so gegangen, das ist früher Deist so gegangen, das wird mir so gehen und später noch manchen anderen. Dieser Humbug ist nicht mehr sehr eindrucksvoll für das Publikum. Ich wundere mich immer wieder, daß die Ghostwriter von Herrn Strauß diese Polemik immer wieder für erfolgversprechend halten.
SPIEGEL: Dennoch, die CDU hat durch Schillers Abgang und die Aktivitäten der Jungsozialisten dieses Mal besseres Propagandamaterial dafür, daß in der SPD ein ideologischer Kurswechsel sich vollzieht als bei den Wahlkämpfen in den sechziger Jahren. Es ist doch auch nicht zu bestreiten, daß sich unter den Sozialdemokraten heute eine zunehmend kritische Einstellung zu dem breitmacht, was hierzulande als soziale Marktwirtschaft ausgegeben wird.

„Wer ist eigentlich der Herr Narjes?“

Schmidt: Die Sozialdemokratie hat niemals das von Erhardt verbreitete Schlagwort von der sozialen Marktwirtschaft zu ihrem eigenen gemacht. Richtig ist, daß sich innerhalb der Sozialdemokratie im Laufe der letzten zehn Jahre, eigentlich schon einsetzend unmittelbar nach dem Godesberger Programm von 1959, eine zunehmend kritische Grundeinstellung zu vielen Fragen ausbreitete, die im Godesberger Programm normiert worden sind.
SPIEGEL: Grundsätzliche Fragen unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung – reduziert auf Schlagwörter wie „Sozialismus“ oder „Marktwirtschaft“ – werden in diesem Wahlkampf dennoch eine Rolle spielen wie in keiner Wahlauseinandersetzung der sechziger Jahre. Woran liegt das?
Schmidt: Wenn es so kommen sollte, dann liegt es zunächst daran, daß die ganze Welt überschwemmt wird von neuen Spielarten des Marxismus, der insbesondere in den Gehirnen der jüngeren Generation Aufnahme, zum Teil sogar enthusiastische Aufnahme findet, zum Teil sehr einbahnig, zum Teil realitätsfremd. Da wird häufig eine im Grunde zwar gerechtfertigte, in ihrer Formulierung aber einseitige, infolgedessen in die Irre führende Kritik geübt.
SPIEGEL: Bleibt immer noch die Frage, wieweit die Wähler einer solchen Analyse folgen können oder wieweit sie durch eine solche Diskussion abgeschreckt werden und wie jene berühmten Schiller-Wähler des Jahres 69 darauf reagieren.
Schmidt: Ich weiß nicht, ob jemand mal gezählt hat, wieviel Schiller-Wähler es gab. Ich habe das Schlagwort zwar tausendmal gehört, aber ganz im Ernst: Ob das sehr viele waren, kann ich nicht beurteilen. Ich habe es eigentlich immer bezweifelt. Denn die Zunahme der Sozialdemokratie bei den Bundestagswahlen ist seit 1957 eine sehr stetige. kontinuierliche. Sie hängt vor allem mit zwei Faktoren zusammen: mit dem Faktor Godesberger Programm und dem Faktor Willy Brandt. Dieses ist von 1961 bis 1969 ganz deutlich abzulesen. Dazu haben gewiß auch Karl Schiller und andere beigetragen.
SPIEGEL: Müssen Sie im Herbst nicht die Schiller-Wähler als Verlust abbuchen?
Schmidt: Nehmen wir mal an, daß es einen solchen Teil der Wählerschaft gäbe, glauben Sie im Ernst, daß die sich durch Strauß an der SPD irremachen lassen oder durch Herrn Narjes? Wer ist das eigentlich? Oder durch den großen Wirtschaftspolitiker Barzel?
SPIEGEL: Hat sich aber nicht irgendwo Karl Schiller selbst irremachen lassen? Denn die Erklärung, der Rücktritt Karl Schillers hätte mit all diesen innerparteilichen Diskussionen überhaupt nichts zu tun, ist doch wohl etwas vordergründig.
Schmidt: Der Hintergrund sieht wohl noch komplizierter aus, aber dann würde man auch in persönliche Bereiche gehen müssen. Deswegen müssen Sie halt akzeptieren, daß ich zu den Entschlüssen, die Karl Schiller in diesem Jahr gefaßt hat und vielleicht auch noch fassen wird, nichts sage.
SPIEGEL: Schillers Rücktritt hat aber doch die Begleitmusik für jene geliefert, die sich von teils vernünftigen, teils unvernünftigen jungsozialistischen Parolen und Thesen soweit verwirren lassen. Sie sagen sich, zwar können wir nicht recht glauben, daß Herr Narjes ein großer Wirtschaftsminister wird, aber ganz gewiß wollen wir nicht die Unsicherheit auf uns nehmen, die darin liegt, daß man nicht weiß, wie es mit diesen Sozialdemokraten weitergeht.
Schmidt: Wenn es ein paar gibt, die so denken sollten, dann werden wir das ertragen. Der Wähler fällt nicht herein auf irgendwelche Propaganda-Pläne, die intelligente Eierköpfe neben den Büros der politischen Führer und Minister ausgeheckt haben und zu denen sie die Parteivorsitzenden oder Vorstände überreden wollen, sie zu unterschreiben und zu plakatieren. Die Wähler richten sich vielmehr in dieser deutschen Demokratie, die doch nun immerhin bald ein Vierteljahrhundert funktioniert, und zwar gut funktioniert, nach dem, was sie erfahren haben, und nicht nach irgendwelchen Tricks. Diese Regierung hat in den letzten drei Jahren auf vielen Gebieten etwas geleistet, was wir vorzeigen können, und sehr viele Wähler haben diese Leistungen sehr praktisch erfahren.
SPIEGEL: Fürchten Sie nicht, daß die Plakatierung der Leistungen, die sicherlich vorhanden sind, verdrängt wird von der aktuellen Marktwirtschaftsdiskussion?

„Die Opposition redet nur von Marktwirtschaft.“

Schmidt: Es ist sicher nicht so, daß die Masse der Wähler an dieser kümmerlich herbeigeführten Marktwirtschaftsdiskussion sonderlich inneren Anteil nimmt.
SPIEGEL: Sie haben in der Zeitschrift „Marktwirtschaft“ dieser Tage einen Artikel veröffentlicht, in dem es heißt, es gäbe keinen Grund für die Bundesrepublik, das System der Marktwirtschaft zu verlassen. Sie akzeptieren also zunächst einmal in dieser Diskussion, daß es so etwas wie eine Marktwirtschaft gibt, weil Sie damit die Behauptungen der Gegenseite unterlaufen, daß die Sozialdemokraten die Marktwirtschaft abschaffen wollen. Was verstehen Sie als Sozialdemokrat unter Marktwirtschaft?
Schmidt: Ich brauche mich nicht auf Artikel aus der jüngsten Vergangenheit zu berufen, um meine marktwirtschaftliche Überzeugung zu belegen. Ich habe doch geahnt, daß Sie solche spitzfindigen Fragen stellen werden, daher habe ich mir in mein Wochenendhaus ein Buch über weltpolitische Strategie mitgenommen, das ich im Jahre 1960 geschrieben habe. Darin heißt es, daß die überkommenen ideologischen Traditionen des Marxismus die Sowjetführer nicht daran hindern werden, die überlegene Ratio und Effektivität des Marktes zu entdecken. Der Markt hat überall, wo er funktionstüchtig gemacht werden kann – und er kann ja auf vielen Gebieten funktionstüchtig gemacht werden –, eine überragende Effektivität. Das ist meine Meinung immer gewesen. Es gibt allerdings Gebiete, wo der Markt nicht funktioniert oder wo er nicht funktionieren kann. Nehmen Sie mal das Bildungssystem, das in der Bundesrepublik im wesentlichen in Anlehnung an das Bildungssystem der Weimarer Zeit wiederhergestellt worden ist: in diesem Bildungssystem funktioniert der Markt nicht.
SPIEGEL: Die Kritik Ihrer jungen Genossen an dieser Wirtschaftsordnung geht ja in die Richtung, daß diese Wirtschaft mit ihrem hohen Konzentrationsgrad, der Omnipotenz der Banken und mit der sehr stark verzerrten Vermögensverteilung weder das Prädikat sozial noch marktwirtschaftlich verdiene.
Schmidt: