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Wer ist der wahre Feind? Der, der dich stößt oder der, der still dabei zusieht, wie du fällst? Willkommen an der härtesten Tennis-Akademie der Welt - dem Ort, an dem gescheiterte Talente ein letztes Mal aufschlagen dürfen. Hier geht es um Titel. Um Ruhm. Um alles. Und manchmal auch um eine Liebe, die nie eine Chance hatte und ums blanke Überleben. Julie wollte nie wieder einen Schläger in die Hand nehmen - zu tief sitzt der Schmerz über den Verlust, der alles verändert hat. Doch in Sydney bekommt sie eine letzte Chance. Zwischen erbarmungslosem Training, toxischem Ehrgeiz und einer Freundschaft, die plötzlich mehr bedeutet, verliert Julie zusehends die Kontrolle. Und während auf dem Platz um Punkte gespielt wird, hat außerhalb längst jemand ganz andere Ziele. Denn irgendjemand will Julie endgültig vom Feld fegen. Und der erste Aufschlag war erst der Anfang.
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Seitenzahl: 525
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Für meinen Piesi
~ weil du mich immer bestärkt hast, meinen Träumen zu folgen ~
TEIL I
Kapitel Eins
Kapitel Zwei
Kapitel Drei
Kapitel Vier
Kapitel Fünf
Kapitel Sechs
Kapitel Sieben
Kapitel Acht
Kapitel Neun
Kapitel Zehn
Kapitel Elf
Kapitel Zwölf
Kapitel Dreizehn
Kapitel Vierzehn
Teil II
Kapitel Fünfzehn
Kapitel Sechzehn
Kapitel Siebzehn
Kapitel Achtzehn
Kapitel Neunzehn
Kapitel Zwanzig
Kapitel Einundzwanzig
Kapitel Zweiundzwanzig
Kapitel Dreiundzwanzig
Kapitel Vierundzwanzig
Kapitel Fünfundzwanzig
Kapitel Sechsundzwanzig
Kapitel Siebenundzwanzig
Blogeintrag 5
Kapitel Achtundzwanzig
Kapitel Neunundzwanzig
Epilog
Pinke Tennistasche über der rechten Schulter, rosé-goldener Koffer an der linken Hand und natürlich das passende Beautycase auf den Koffer gesteckt. Hoher Pferdeschwanz mit goldblonden Locken. Türkises Tennisoutfit. Der Rock flattert um die langen, braungebrannten Beine.
So stehe ich im Eingang der riesigen Tennishalle des Wilson Colleges in Sydney. Verdammt, das nenne ich mal Good first impression – nicht.
Ich selbst wäre bei meinem Anblick sofort Anführerin meines Anti-Fanclubs geworden – unsympathischer geht es kaum.
Dass hinter diesem Aufzug bloß eine feige Sau steht, die sich nicht getraut hat, ihren Sponsor um etwas unauffälligere und weniger tussy-schreiende Sachen zu bitten, weil sie froh sein kann, dass sie überhaupt noch einen Sponsor hat, sieht man ja leider auf den ersten Blick nicht.
Man bringe mir ein Schild, auf dem diese trotzdem peinlichen, aber wenigstens erklärenden Worte stehen.
Während ich mich schüchtern umblicke, atme ich einmal tief ein und aus. Zum einen, um mich zu beruhigen und zum anderen, weil der Duft von Tennishallen komischerweise immer so wahnsinnig gut ist und eine beruhigende Wirkung auf mich hat. Es ist eine Mischung aus frisch ausgerolltem Teppich, einer neu aufgemachten Dose Bälle und frisch gewaschenen Sportklamotten. Keine Ahnung, warum es nicht, wie in jeder anderen Sporthalle, nach Schweißfüßen und Gummimatten riecht – das Mysterium des Tennissports.
Mir läuft ein kalter Schauer über den Rücken und auf meinen nackten Armen breitet sich eine Gänsehaut aus. Auch so eine Sache, die in jeder Tennishalle dieser Welt gleich ist: Es ist immer ein wenig zu kalt und damit meine ich nicht nur die Raumtemperatur. Auch wenn dieser Sport mir immer eine Heimat war, so werde ich mich aber nie an den permanent herrschenden Druck gewöhnen. Er ist jederzeit greifbar. Ich glaube manchmal, das ist der Grund, warum es in Tennishallen immer kalt ist – man kann ja nicht riskieren, dass die Spieler auch nur eine Sekunde vergessen, dass sie Leistung zu bringen haben. Ich habe es nie vergessen! Keinen einzigen Tag! Auch wenn ich seit einem Jahr nicht gespielt habe…
Ich linse auf die Uhr an meinem Handgelenk. Es ist erst kurz vor 2 Uhr. Um halb 3 Uhr soll ich mich hier mit der Direktorin des Colleges und meinem neuen Trainer treffen.
Ich überwinde die letzten Meter mit meinem höllisch schweren Gepäck zu einer Ansammlung von Sitzecken und lasse mich auf einen Sessel fallen, der auf eine riesige Glasfront gerichtet ist. Hinter der Scheibe erstrecken sich acht Tennisplätze.
Interessiert schaue ich mir die Spieler an. Auf dem ersten Platz spielen zwei junge Mädels ein Einzel gegeneinander. Es scheint um nichts zu gehen, denn sie lachen zwischen den Punkten ausgelassen. Das würden sie nicht, wenn es hier etwas zu gewinnen gäbe. Auf dem Platz dahinter trainieren vier Jugendliche, die etwa in meinem Alter sind mit einem blonden, breitschultrigen Trainer, der glatt einer Tenniszeitschrift entsprungen sein könnte. Sie spielen ein gemischtes Doppel. Mein Blick bleibt an dem einen Mädchen hängen, das so federleicht auf ihren Zehnspitzen wippt, als würde sie den Boden gar nicht berühren.
Sie steht auf der vorderen Position am Netz und wartet auf ihren Einsatz – obwohl man das eigentlich gar nicht warten nennen kann. Sie geiert auf ihren Einsatz.
Und da ist er auch schon: Ein scharfer Ball schießt durch die Mitte. Viele andere hätten einen solch schweren Ball wohl dem hinteren Spieler überlassen, aber das Mädchen springt in die Mitte, geht so weit in die Knie, dass es fast nach einer Hocke aussieht und schießt den Ball in einem perfekten Winkel knapp an der gegenüberstehenden Netzspielerin vorbei in das freie Viertel hinten rechts.
Ich muss mich zusammenreißen, nicht vor Begeisterung aufzuspringen und loszujubeln, obwohl die Spieler in der Halle es durch die Glasfront sicher eh nicht gehört hätten.
Beim Nach-hinten-Gehen klatscht das bildhübsche Mädchen mit den kurzen braunen Haaren ihren Doppelpartner ab und macht sich dann direkt wieder bereit, den Aufschlag des Gegenübers anzunehmen. Das nenne ich mal Professionalität.
„Möchtest du was trinken?“, fragt mich jemand hinter mir auf Englisch und ich brauche eine Sekunde, um gedanklich vom gewöhnten Deutsch ins Englische zu wechseln.
Ich schaue zu der Kellnerin, die unbemerkt neben mich getreten ist. Auch sie kann nicht viel älter sein als ich – vielleicht 19 oder 20?
„Oh Entschuldigung, ich wusste nicht, dass die Stühle zu einem Lokal gehören“, stammele ich etwas unbeholfen und lächele sie entschuldigend an.
„Kein Problem, also willst du nichts?“
Ich überlege eine Sekunde, aber dann bestelle ich kurzerhand doch einen großen Kaffee.
„Langer Flug?“, fragt sie und zeigt dabei auf meinen großen Koffer.
„Ziemlich lang“, antworte ich und merke erst jetzt, wie erschöpft ich eigentlich bin. Meine Hände und Beine sind richtig zittrig. „Ich komme aus Deutschland. Hamburg, um genau zu sein.“
Das Mädchen mit den warmen braunen Augen lächelt mich aufgeregt an: „Deutschland, wirklich? Ich war noch nie in Europa.“
Es ist süß, wie ehrlich sie ist. Normalerweise habe ich immer das Gefühl, dass Leute entweder erzählen, wie viel von der Welt sie selbst schon gesehen haben oder sie sagen einfach gar nichts, weil es ihnen unangenehm ist. Dabei gab es nicht nur einen Moment in meinem Leben, in dem ich mir gewünscht hätte, einfach mal zuhause bei meiner Familie bleiben zu dürfen. Vielleicht ist dieses Geltungsgefühl vor allem so ein Ding beim Tennis, obwohl niemand hier auf dieser Schule sich etwas darauf einbilden sollte, hier zu sein. Schließlich ist es kein College, auf das all die Ausnahmetalente kommen, sondern diejenigen, die den Absprung in die Oberliga noch nicht aus eigenen Kräften geschafft haben und denen langsam aber gut die Zeit wegläuft.
Mit meinen 19 Jahren könnte ich schließlich längst auf den großen Grand Slam Turnieren spielen, genau wie all die anderen da auf den Plätzen. Also Pressure is on! Und wenn ich mir so ansehe, wie kühl die Atmosphäre da unten auf dem Platz ist, bin ich mir ziemlich sicher, dass sich jeder einzelne hier ebenfalls diesem Druck bewusst ist.
„Wie heißt du?“, frage ich und strecke dem Mädchen mit den kurzen, schwarz gelockten Haaren die Hand entgegen.
Sie nimmt schnell ihr Tablett in die linke Hand, um die rechte frei zu haben.
„Amira!“ Wieder ein herzliches Lächeln.
„Julie“, antworte ich und spreche dabei meinen Namen extra englisch aus, um es ihr leichter zu machen.
„Schön, dich kennenzulernen, Julie. Ich hole dir mal deinen Kaffee.“
Ich nicke ihr dankbar zu. Fünf Minuten hier und schon eine neue Freundin – und das, trotz meines unmöglichen Aufzugs. Nicht schlecht!
Mein Handy vibriert in meiner Tasche. Hastig fische ich es heraus und drücke auf das grüne Hörersymbol.
Es dauert einige Sekunden, bis das Gesicht meines besten Freundes Niklas auftaucht.
„Nikki, das ist aber lieb, dass du dich meldest“, brülle ich etwas zu laut und hysterisch in den Hörer, als müsste ich die tausenden Kilometer zwischen uns mit meiner bloßen Stimme überbrücken.
„Aber hör mal!“ Er macht eine entsetzte Miene. „Meine beste Freundin zieht an die andere Seite der Welt, um mit Steffi Graf Junior und Roger Federer 2.0 ins Bootcamp zu gehen und ich melde mich nicht, oder was? So weit kommt es noch!“
Er lacht und ich lasse mich nur zu gerne von seinem Lachen anstecken. „Ich bin immer wieder erstaunt, wie viele Tennisspieler du doch kennst. Das muss der schlechte Einfluss sein. Hast du zu viele Stunden auf mich wartend am Platzrand verbracht?“ Ich zwinkere ihm zu.
„Genau das und dabei habe ich mir etliche Tennisdokus reingezogen.“ „Echt jetzt?“ Ich reiße die Augen auf.
Nikki krümmt sich vor Lachen und formt dann mit seiner freien Hand ein kleines Dach, was er über seinen Kopf hält. Unser Freundschaftszeichen für „Achtung, Ironie!“, wenn ich es mal wieder nicht checke.
„Würdest du jetzt neben mir stehen, würde ich dich hauen“, witzele ich und strecke ihm stattdessen die Zunge heraus.
Sein Blick wird ein wenig ernster. „Na dann hat es wohl doch eine gute Sache, dass mein Lieblingsmensch von jetzt an mit Kängurus schmust.“
Wir schweigen ein paar Sekunden und schauen uns durch den Bildschirm traurig an.
Es ist mir wirklich wahnsinnig schwergefallen, mich von Nikki zu verabschieden. Seit ich denken kann, ist er an meiner Seite – schließlich sind unsere Familien in Deutschland Nachbarn – wir waren immer zusammen in einer Klasse und nach der Schule ist er oft mit mir zum Tennisplatz gekommen und hat mir zugesehen, bis ich fertig war.
„Dein Kaffee“, höre ich zum wiederholten Mal Amiras Stimme von der Seite, ohne sie vorher gesehen zu haben.
„Danke“, sage ich und nehme den Kaffee entgegen. „Was bekommst du?“ „Mein Chef sagt, das geht aufs Haus. Ich habe ihm erzählt, dass du aus Deutschland kommst und anscheinend wurde die Neue aus Deutschland bereits gespannt erwartet.“ Sie zwinkert wissend und lässt mich unwissend zurück.
„Wieso werde ich gespannt erwartet?“
Doch bevor sie mir erklären kann, was sie damit meint, macht sich Nikki mit einem lauten „Hallo? Erde an beste Freundin. Julie, bitte kommen. Ich rede ja gerne mit deinen Brüsten, aber langsam wäre mir dein Gesicht schon lieber“ bemerkbar und ich hebe erschrocken das Handy wieder vor mein Gesicht, sodass ich ihn sehen kann. Ich habe wirklich kurz vergessen, dass er noch dran ist und bin wahnsinnig froh, dass hier niemand Deutsch versteht.
Aus dem Augenwinkel sehe ich Amiras neugierigen Blick. Als ich mich zu ihr drehe, formt sie lautlos die Worte „Your Boyfriend?“ mit den Lippen und zieht dabei neckisch ihre Augenbrauen hoch.
Lachend drehe ich den Bildschirm in Richtung Amira, sodass sie und Nikki sich quasi Auge in Auge stehen und rufe laut in den Hörer: „Sie will wissen, ob du mein Freund bist.“
Ich wünschte, ich könnte in diesem Moment seinen Blick dazu sehen, aber der Bildschirm ist immer noch auf Amira gerichtet, als er in perfektem Englisch anzüglich flüstert: „Nein, mein Engel. Sie ist wie eine Schwester für mich. Ich bin also noch frei.“
Bei Amiras geschocktem Gesichtsausdruck pruste ich los und drehe Nikki dann wieder zu mir. Auch er scheint seinen Humor mal wieder selbst am meisten zu feiern.
„Musst du meine neue Freundin gleich verschrecken?“
Als würde ein Schatten über sein Gesicht fallen, ist er von einer Sekunde zur nächsten wieder gespielt ernst: „Sportlich, sportlich, beste Freundin der ganzen Welt. Gerade erst angekommen und schon eine supersüße neue Freundin. So gefällst du mir.“ Dann gibt er mir ein Zeichen, dass ich ihn wieder zu Amira drehen soll.
„Tut mir leid, Liebes. An meinen Humor muss man sich erst einmal gewöhnen. Tue mir einen Gefallen und kümmere dich um sie. Auch wenn sie tut, als hätte sie alles im Griff. Glaube mir, das hat sie nicht!“
Ihr geschockter Gesichtsausdruck verwandelt sich wieder in ihr niedliches Lächeln und sie nickt verständnisvoll. „Alles klar. Dann lass ich euch Geschwister“ bei dem Wort zeichnet sie Gänsefüßchen in die Luft „mal weiterquatschen.“
Mit einem letzten Lächeln, was für mich bestimmt ist, dreht sie sich weg und geht in Richtung der Bar, die ich erst jetzt auf der anderen Seite der Eingangshalle entdecke.
Ich drehe Nikki wieder zu mir und schüttele den Kopf. „Du bist unmöglich.“
„Und du viel zu weit weg.“
Ich hauche einen Kuss in die Luft, den er auf der anderen Seite der Welt auffängt und auf seine Wange legt.
„Man, sind wir kitschig“, sagen wir wie aus einem Mund und lachen los.
Im gleichen Moment gehen die vier vom Tennisplatz die Treppe vom Platz hoch zur Eingangshalle und bleiben bei meinem Gegröle stocksteif stehen. Herablassend starren sie mich an, als wäre es das Peinlichste der Welt, öffentlich zu lachen. Und ich dumme Nuss höre auch noch damit auf, als wäre es wirklich peinlich. Peinlich!
„Die Neue hat eindeutig zu viel Spaß hier“, sagt das Mädchen, das vorhin den Wahnsinnsschlag gemacht hat, und zieht von dannen. Ihr intensiver Blick trifft mich und lässt mich schaudern. Ihre drei Freunde, die vom Verhalten her auch locker ihre Untertanen sein könnten, folgen ihr auf den Fuß und schnauben verächtlich: „Mal sehen, wie lange noch.“
Oh man, wieso müssen Mädchen auf Colleges immer die Klischees erfüllen, die man aus Filmen und Büchern kennt? Verdammt, überrascht mich doch mal!
„Danke für die nette Begrüßung!“, rufe ich ihnen hinterher und hoffe, dass sie das noch gehört haben. Die sollen sich bloß nicht direkt am Anfang einbilden, sie könnten mich behandeln, wie sie wollen und ich höre mir das einfach so an. Die Zeit hier wird eh schon schwer genug. Da brauche ich so einen Mist nicht auch noch!
„Gib’s ihnen! Zeig’s den eingebildeten Tennisgöttinnen.“
„…und Göttern“, füge ich hinzu.
„Wie, die Typen sind da auch Zicken?“, fragt Niklas und reißt die Augen so weit auf, dass ich lachen muss.
„Sieht ganz so aus!“
Ich schaue noch einmal auf, um zu gucken, ob die vier wirklich abgehauen sind. Obwohl sie mich natürlich eh nicht verstehen würden, wenn ich Deutsch mit Nikki spreche.
Sie sind tatsächlich im Gang rechts neben der Eingangstür verschwunden, aber stattdessen kommen jetzt zwei andere Personen durch diesen Gang auf mich zu und halleluja, sie lächeln – naja, zumindest die Frau.
Eine großgewachsene Frau mittleren Alters mit rotgefärbten, langen Haaren – das muss die Direktorin sein – und ein junger Mann mit muskelbepackten Armen – nach dem Ausschlussprinzip: mein Trainer. Ach stimmt, er stand doch eben noch unten auf dem Platz und hat die anderen trainiert. Eilig raune ich ein „Melde mich später“ ins Handy und lege auf, bevor Nikki noch etwas sagen kann.
Nervös streiche ich meine feuchten Hände an meinem Tennisrock ab und gehe dann einen Schritt auf die beiden zu. Was tue ich hier eigentlich? Hätte ich nicht einfach weiter heulend im Bett bleiben können?
„Julie, schön dass du da bist. Hattest du eine angenehme Reise?“
Die Direktorin, wenn ich mich recht erinnere, Ms Stoner, reicht mir die Hand und zeigt dann auf den Mann, der neben ihr steht: „Das ist Matt, dein Trainer.“
„Danke, die Reise war lang, aber ok“, sage ich, auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob sie noch eine Antwort von mir erwartet. „Hallo Matt, schön dich kennenzulernen.“
Matt wirft mir einen abschätzigen Blick zu und mustert mich kritisch.
Weil sein Verhalten mir irgendwie Angst macht, wende ich mich lieber wieder der Direktorin zu.
Ms Stoner breitet die Arme aus, als wäre die Halle ihr persönliches Königreich. „Hast du dich schon umgesehen?“
„Ein wenig. Also im Grunde habe ich es nur bis zu dem Stuhl geschafft, von der netten Kellnerin einen Kaffee bekommen und dann vergessen, den Kaffee zu trinken. Naja und die Tennishalle konnte man nicht übersehen.“ Verdammt, Niklas Art, schneller zu reden als zu denken, hat keinen guten Einfluss auf mich.
Ms Stone grinst höflich. Matt schaut weiterhin düster drein. Aber immerhin zeigt er dann auf mein Tussy-Gepäck. „Kann ich dein Gepäck nehmen, wenn wir uns ein bisschen das Gelände ansehen?“,
fragt er gespielt höflich, greift – ohne auf eine Antwort zu warten – nach meiner Tennistasche und wirft sie sich über die Schulter.
Ich erspare mir den Kommentar, dass er noch bescheuerter mit der pinken Ausrüstung aussieht als ich. Vielleicht sollte ich meinen neuen – anscheinend chronisch schlecht gelaunten Trainer – nicht direkt am ersten Tag verärgern. Schließlich soll er mir dabei helfen, wieder fit zu werden.
Wir schlagen den Weg durch den Gang ein, durch den die beiden gekommen sind, wobei der Gang sich als gläserner Tunnel in ein komplett anderes Gebäude entpuppt, was dann wohl das College sein muss.
Ich gehe mit Ms Stoner vorweg und höre mir tausend wichtige Fakten über das Gebäude oder auf den Bildern gezeigte ehemalige Studenten, die heute berühmte Tennisspieler sind, an und nicke bei jeder Kleinigkeit freundlich. Aber eigentlich bin ich mit dem, was ich sehe, schon so überfordert, dass ich ihren Worten gar nicht richtig zuhören kann.
All die Spieler da an der Wand haben durch diesen Ort noch den Absprung geschafft. Aber wie viele haben ihre Ziele trotzdem nicht erreicht? Wie viele haben ihre Kindheit geopfert, jeden einzelnen Tag des Lebens dem Tennis gewidmet, ihrem Vater versprochen, dass sie es schaffen – und es am Ende doch nicht gepackt.
Ich stand noch nicht einmal auf dem Platz und dennoch scheint der Druck mich bereits zu zerreißen.
Zwischendurch schaue ich mit schlechtem Gewissen zu Matt, der immer noch mit meinem schweren Gepäck hinter uns herläuft. Aber selbst nach zehn Minuten sieht er kein bisschen angestrengt aus, weshalb ich beschließe, wegen Superman jetzt kein schlechtes Gewissen mehr zu haben. „Und das sind die Klassenräume, wo vormittags Sporttheorie und speziell Tennistheorie unterrichtet wird. Da geht es dann um Trainingsmethoden, Taktiken und die Analyse anderer Spieler.“
Bei diesem Teil ihres Vortrags höre ich ihr gespannt zu. Natürlich habe ich mir das alles auch schon im Internet durchgelesen, nachdem mir mein Sponsor verkündet hat, dass ich ab diesem Sommer hier zur Schule gehen werde – oder eher gesagt, mir die Pistole auf die Brust gesetzt hat.
Im Gegensatz zu Deutschland, sind deutlich weniger Stühle und Tische vorhanden. Die Klassen scheinen hier aus höchstens zehn Studenten zu bestehen. Die meisten Zimmer haben außerdem eine komplette Fensterfront, die zum Hafen Sydneys rausgeht.
„Julie? Julie, hörst du mir zu?“
Erschrocken reiße ich mich von dem Anblick los und starre die Direktorin an, der ich gerade offensichtlich nicht mehr zugehört habe.
Doch sie sieht nicht verärgert aus, sondern eher amüsiert. „Es ist mehr als verständlich, dass dich das hier erst einmal überfordert, aber wir sind uns sicher, dass du dich schnell einfinden wirst.“
Dann legt sie eine Hand auf meine Schulter und schiebt mich ein bisschen vor sich her, als würde sie mir abnehmen wollen, allein gehen zu müssen. Nach kurzer Zeit wird mir die Berührung jedoch unangenehm und ich verschnellere meinen Schritt ein wenig.
„Bei unseren Gesprächen mit deinem Heimatverein kam heraus, dass du das letzte Jahr so gut wie gar nicht gespielt hast.“ Zum ersten Mal schaltet sich Matt wieder ins Gespräch ein. Ihn habe ich fast vergessen.
„Ja, das stimmt.“
Bitte frag mich nicht, wieso! Bitte frag mich nicht, wieso! Bitte frag mich nicht, wieso!
„Wieso hast du aufgehört?“
Er kann nicht wissen, warum das die dümmste Frage der Welt ist und man mir diese Frage nicht einfach mal kurz im ersten Gespräch zwischen der Besichtigung der Klassenzimmer und der Besichtigung der Mensa fragen sollte. Er kann es nicht wissen und trotzdem wünschte ich, er wüsste es. „Mein Vater ist gestorben.“
Stille – zumindest für ein paar Sekunden. An den Gesichtern der beiden ist klar zu erkennen, dass sie diesen Teil der Geschichte bereits kannten.
„Das tut mir leid, Julie“, sagt Matt, legt mir seine monströse Hand genau auf die Stelle, auf der eben noch die zierliche Hand von Ms Stoner lag und stichelt weiter: „Aber was hat das mit Tennis zu tun?“
Ich brauche eine Sekunde, bis ich die Antwort herausgepresst bekomme: „Tennis war der Grund.“
Stille – dieser Teil war nun wohl auch für sie neu und beide scheinen endlich zu verstehen, dass das kein Thema ist, was zwischen Tür und Angel besprochen werden sollte.
Dass sie stattdessen allerdings gar nichts mehr sagen, macht die angespannte Situation nicht gerade besser.
„Bei uns teilen sich immer zwei Schülerinnen eine Art kleine Wohnung. Jede hat ihr eigenes Zimmer mit Bad, das Wohnzimmer mit kleiner Küche wird geteilt. Ich hoffe, deine Mitbewohnerin ist gerade da.“
Ms Stoner klopft an einer Tür, aber wartet keine Sekunde, bis sie diese aufreißt. Die Frau hat Nerven!
Viel-zu-früh-erwachsen-gewordene-Sportler-Teenager werden in einer Schule zusammengepfercht und sie öffnet einfach so eine Tür, hinter der auch gut halb oder ganz nackte hormongesteuerte junge Menschen sonst was miteinander anstellen könnten.
„Stella, Marvin, ich glaube es jetzt nicht.“
Als ich über die Schulter der Direktorin linse, entschlüpft mir ein etwas zu hysterisches und unüberlegtes Lachen. Dass ich mit meiner Vermutung so richtig liegen würde, ist aber auch echt komisch.
Das Mädchen und der Typ, die mich vorhin in der Halle so doof angemacht haben, sitzen zusammen auf der Coach. Oder um genauer zu sein, sind sie auf der Coach ineinander verflochten, wie ein sexy Knoten aus Gliedmaßen und recht wenig Stoff.
Beide tragen noch ihre Tennisklamotten, wobei das Mädchen mit der zugegebenermaßen coolen Kurzhaarfrisur nur noch in Sport-BH auf dem Schoß des Jungen sitzt. Ihr Top hängt wie in einer stereotypischen Sitcom über einer Stehlampe, als hätten sie es extra dort aufgehängt, damit es nach Wild-herummachendem-Ausziehen aussieht.
Nun ja, vielleicht hat er sie aber auch einfach beim wilden Herummachen ausgezogen.
Hinter Ms Stoner betrete ich einen Art Wohnbereich. Es ist ein offener, heller Raum. „Wow, was für ein offener und heller Raum“, schwärme ich und schaue dabei nach rechts und links, als wären die nackten Gliedmaßen gar nicht da, wo sie immer noch stocksteif sind und uns anstarren.
„Halt die Fresse!“, faucht das Mädchen und klettert endlich von dem Schoß des blonden Muskelbergs herunter. In ihrem Blick ist kaum so etwas wie Scharm zu erkennen, nur Wut – auf mich?
Als hätte sie es ausgesprochen, zeige ich mit meinem Zeigefinger entsetzt auf mich selbst. Sie tut so, als wäre ich diejenige gewesen, die auf kein Herein gewartet hat oder zumindest diejenige, die so doof ist, an einer öffentlichen Akademie, am Tag der Anreise ihrer neuen Mitbewohnerin, mit ihrem Freund im Gemeinschaftsraum rumzumachen.
Ach, verdammt! Erst jetzt kommt der Gedanke an, dass wohl tatsächlich sie meine Mitbewohnerin ist – ja, immer her mit den Blockbuster-Klischees! „Vielleicht zeigen Sie mir einfach erstmal mein Zimmer?“, frage ich an Ms Stoner gewandt und hoffe, damit ein wenig die Situation zu retten. Vielleicht habe ich dann wenigstens ein kleines Ass im Ärmel bei dieser Stella – ein klitzekleines?
„Ich bin wirklich sehr enttäuscht von euch beiden, dass ihr eurer neuen Mitschülerin so einen“, sie stockt kurz und wird glaube ich sogar ein wenig rot im Gesicht, „unangenehmen Empfang bereitet.
Ihr solltet euch schämen.“
Stellas Blick wandert wieder zu mir und ich könnte Ms Stoner dafür schlagen, dass sie das Ganze jetzt noch einmal in meine Richtung gedreht hat. Als wäre die Situation nur für mich – äh – unangenehm gewesen.
„Vielen Dank auch“, zischt Stella und greift anschließend nach ihrem Shirt und der Hand von ihrem Freund und zieht ihn zu einer der Türen, die von dem Wohnbereich abgehen. Das ist dann wohl ihr Zimmer.
Ich atme einmal tief ein und wieder aus und setze dann ein Lächeln auf, als wäre das alles gerade nicht passiert. „Können wir?“, frage ich dann und folge Ms Stoner und Matt in das andere Zimmer.
„Das ist dein Zimmer. Falls du Fragen hast, melde dich gerne. Ansonsten lassen wir dich erst einmal ankommen“, kündigt meine neue Direktorin an und verlässt dann fast fluchtartig den Raum, als hätte sie jetzt erst einmal genug von Teenagern und ihrem Job im Allgemeinen.
Matt räuspert sich. Ich drehe mich zu ihm. „Was ich eigentlich vorhin nur zu deiner Pause sagen wollte: Ich bin gespannt, ob du so einen Rückstand wieder aufholen kannst.“
Mit diesen wahnsinnig aufbauenden Worten geht er ebenfalls aus dem Raum und lässt mich zwischen kahlen Wänden, einem unbezogenen Bett, einem leeren Schrank und meinem Barbie-Gepäck zurück.
Ich würde sagen, mein Start hier war – äh – durchwachsen.
Tennis ist die brutalste Sportart, die ich kenne – vielleicht nicht so körperlich brutal wie Boxen, wo du ständig auf die Fresse bekommst, aber psychisch ist Tennis mit kaum einem Sport vergleichbar.
Niemand, der nicht mal ernsthaft Tennis gespielt hat, kann das verstehen und es ist auch wahnsinnig schwer zu erklären, aber beim Tennis ist es in gewisser Weise so, als würdest du nicht gegen den Gegner auf der anderen Seite spielen, sondern gegen dich selbst. Dagegen, dich nach jedem Schlag nicht noch mehr selbst zu hassen.
Denn Tennis hast du, egal wie viel du trainierst oder wie lange du schon spielt, niemals komplett im Griff. Tennis hat dich im Griff.
Wenn du auf den Ball zuläufst, gehen tausend Gedanken durch deinen Kopf. In welche Richtung soll ich spielen? Womit rechnet der Gegner? Lang oder kurz? Welches ist der schwache Schlag des Gegners? Gehe ich nach vorne oder bleibe ich hinten? Spiele ich scharf oder mit Topspin?
Und wenn sich all die Entscheidungen dann in weniger als einer Sekunde vereint haben und du zum Schlag ansetzt, kann es trotz der vielleicht taktisch richtigen Entscheidung ein Fehler sein.
Weil du nicht richtig triffst, nicht richtig stehst, der Ball falsch aufkommt, du abgelenkt bist, zu langsam oder zu schnell bist oder du einfach einen schlechten Tag hast, an dem – trotz wochenlanger Vorbereitung – nichts klappt.
Du verschlägst.
Und während du zurück zur Grundlinie gehst, um neu aufzuschlagen oder den Aufschlag des Gegners anzunehmen, spielst du die neunhundertneunundneunzig Möglichkeiten im Kopf durch, die du stattdessen hättest spielen können und die vielleicht von Erfolg gekrönt gewesen wären. Vielleicht, möglicherweise, aber nie sicher.
Du hasst dich selbst, weil du dir vorwirfst, vielleicht zu viel gewollt zu haben und fragst dich, ob du die einzige Tennisspielerin auf diesem Planeten bist, die es nicht schafft, Schläger und Ball vollkommen zu kontrollieren. Dabei ist das einfach Tennis! Tennis wirst du nie voll und ganz kontrollieren.
Wenn du Tennis einmal zu lieben gelernt hast, richtig innig zu lieben, dann wird es schwer, wieder davon abzukommen.
So war es bei mir auch – nachdem mein Vater gestorben ist. Tennis und mein Vater waren für mich immer eins, sie waren unwiderruflich miteinander verbunden. Mein Vater war mein Trainer, mein Manager, manchmal auch mein Psychologe, wenn mich ein Spiel mal wieder komplett fertiggemacht hat.
Nachdem er gestorben ist, ist in gewisser Weise auch Tennis für mich gestorben. Das Problem war nur, dass es – im Gegensatz zu meinem Vater – weiterhin immer um mich herum war. Es hat mich verfolgt.
Ich wollte diesen vertrauten Teil meines Lebens so gerne behalten, ich wollte weitermachen, als wäre nichts passiert, aber es ging nicht.
Jedes Mal, wenn ich einen Platz betreten habe, ging die Panik in mir los. Ich wurde mit all meinen schlimmsten Ängsten und Erinnerungen gleichzeitig konfrontiert und so stark war ich einfach nicht.
Erst als meine Sponsoren mir die Pistole auf die Brust gesetzt haben und mir das Ultimatum stellten, diese Schule oder Schluss mit dem Tennis, bin ich irgendwie aufgewacht. Papa hätte gewollt, dass ich kämpfe.
Also bin ich jeden Tag auf den Platz gegangen. Nicht um zu trainieren, so weit war ich noch nicht. Ich bin gerannt. Immer um den Platz, als wäre der Teufel hinter mir her – was er in gewisser Weise auch war.
Und dann habe ich mich in den Flieger gesetzt: Die Angst vor dem Platz besiegt, die Konfrontation mit dem Spielen aber noch vor mir.
Angespannt stehe ich einen Meter hinter der Grundlinie und warte auf den Aufschlag von Matt. Er hat mich noch an diesem Nachmittag aus meinem Zimmer geholt, um bei einem Einzeltraining herauszufinden, in welche Gruppe ich passen würde.
Ich war nicht unglücklich darüber. Zwar sind meine Beine von der langen Reise immer noch etwas wackelig und die Tatsache, dass ich in Deutschland gleich nach einer erholsamen Nacht von meinem Wecker geweckt werden würde, steckt mir noch in den Knochen, aber nach der überaus freundlichen Begrüßung von Stella kam es mir mehr als gelegen, mein Zimmer schnell wieder zu verlassen. Also heißt es jetzt, den Sprung ins kalte Wasser zu wagen.
Und jetzt stehe ich hier auf dem Platz. Das ist bereits mehr, als ich in Deutschland geschafft habe – vielleicht weil die Anlage nicht tausend Erinnerungen weckt.
Das Knirschen unter meinen Füßen, als ich von einem auf den anderen tänzelte, hört sich vertraut an. Der Griff meines Tennisschlägers, das Gewicht in der Hand, fühlt sich vertraut an. Die rote Asche auf dem Platz riecht vertraut.
Und obwohl alles so vertraut ist, schnürt es mir dennoch die Kehle zu. Matt streckt sich in die Höhe. Sein gesamter Körper spannt sich an. Er schwingt seinen Schläger über die Schultern, nur um ihn in der nächsten Sekunde nach oben zischen zu lassen, wo er den Ball perfekt trifft. Als der Ball so weit in der rechten Ecke landet, dass er mich meilenweit aus dem Feld heraustreibt, schlittere ich über den Sand dem Ball entgegen und spiele ihn scharf, knapp übers Netz, longline – mein erster Schlag seit einem Jahr und es fühlt sich gut an.
Erstaunlich gut und richtig. Adrenalin schießt durch meine Adern.
Wie ich dieses Gefühl vermisst habe!
Vorhand, longline: Mein ehemals bester Schlag. Zwar habe ich dadurch nicht sonderlich lange Zeit, um wieder in die Mitte zu kommen, aber normalerweise kommt der Ball so gut, dass ich den nächsten trotzdem bekomme.
Normalerweise. Nicht aber bei einem Gegner wie Matt. Er hat anscheinend mit genau dem Ball gerechnet und schickt ihn gnadenlos in meine Rückhandecke. Keine Chance, den zu bekommen.
Verärgert schüttele ich meinen Kopf und bleibe eine Sekunde stehen, um meine Wut über mich selbst buchstäblich herunterzuschlucken.
Dieses Gefühl wiederum habe ich nicht vermisst!
„Zu voraussehbar! Jeder vernünftige Gegner weiß, wo Julie Stefan ihren Ball platziert.“
Ich hebe den Kopf, um Matt wütend anzufunkeln, aber die Worte kamen gar nicht von ihm. Hinter ihm geht ein junger Typ am Zaun entlang, öffnet die Tür und betritt den Platz.
„Und du bist?“ Matt geht einen Schritt auf den Typen zu und während ich mich noch frage, warum ein Kerl hier wie selbstverständlich auf den Platz spaziert, den Matt gar nicht kennt, treffen meine Augen die des Neuen – und ich erkenne ihn.
Verdammt, wie lange ist es her?
Tja, die Frage ist einfach zu beantworten: Es ist genau ein Jahr vergangen, seit der verdammt nochmal schlimmsten Nacht meines Lebens. Jene Nacht, in der sich einfach alles verändert hat.
Und der Typ da vor mir mit den krassesten braunen Augen der Welt war ein viel zu großer Teil davon. Seine dunkle, leicht verschwitzte Haut glitzert in der Sonne und ich muss grinsen. Das ist ja wie bei fucking Twilight, wo die hotten Typen immer in der Sonne glitzern.
Er grinst auch, aber ich bezweifele, dass er auch gerade an Twilight denken muss.
Wie ferngesteuert gehe ich auf ihn zu, aber er dreht sich erst einmal zu Matt, um ihm die Hand zu drücken.
Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass genau er hier gerade vor mir steht, in Australien?
Wie oft war er Teil meiner Erinnerungen, wenn ich bei dem Gedanken an diese beschissene Nacht mal wieder in Tränen ausgebrochen bin? Und jetzt steht er vor mir.
„Jay Carter, der zweite Neuling.“ Jay greift nach Matts Hand und schüttelt sie kräftig.
„Ah Jay, schön dich kennenzulernen. Wir haben erst morgen mit dir gerechnet.“ Matt legt Jay eine Hand auf die Schulter und schiebt ihn in Richtung Netz.
Immer noch etwas steif überbrücke ich die letzten Meter und will gerade meinen Arm ausstrecken, um Jay ebenfalls die Hand zu geben, wie nach einem Match, wenn ich der Gegnerin dazu gratulieren muss, dass sie mich plattgemacht hat. Aber Jay hat andere Pläne.
Freudestrahlen nimmt er mich in den Arm und auch wenn die ersten Gedanken, die durch meinen Kopf rasen, viel mit der Tatsache zutun haben, dass ich total verschwitzt bin (und hoffentlich nicht stinke), genieße ich seine kräftigen Arme um mich. „Julie aus Deutschland, dass ich dich hier wiedersehe.“
Sein starker britischer Akzent bringt mich zum Grinsen. Wer kann bitte so einem süßen, versnobten Akzent widerstehen?
Matt gestikuliert verwirrt zwischen uns hin und her. „Ihr kennt euch?“
Innerlich rattert es in mir, wie ich jetzt möglichst einfach und ohne zu privat zu werden, erklären soll, woher wir uns kennen, aber Jay nimmt die Sache in die Hand.
„Ja, wir sind uns schon mal auf einem Turnier begegnet – in Rom.“
Das Wort begegnet zieht er dabei so anzüglich in die Länge, dass ich die Erklärung vielleicht doch lieber selbst übernommen hätte. Ich laufe rot an. Und das noch zusätzlich zu der Röte, die ich durchs Training im Gesicht habe.
Matts Blick fliegt verunsichert zwischen Jay und mir hin und her. Es ist fast süß, wie Jays Worte den riesigen Muskelklotz aus dem Konzept bringen.
Auch wenn Jay sich gerade einen Spaß aus etwas macht, was ganz und gar nicht lustig war, bin ich froh, dass ich so zumindest die Geschichte nicht erzählen muss. Ein Blick von Jay verrät mir, dass genau das seine Intension war. Erleichterung durchströmt mich.
Ich lächele Jay dankbar zu und gehe zur Bank, um nach meiner Flasche zu greifen. „Egal, was du jetzt für Bilder in deinem Kopf hast – sie sind falsch“, versichere ich Matt schnell.
In Matts Gesicht erscheint tatsächlich sowas wie ein Grinsen. Komisch, bevor Jay hier aufgetaucht ist, dachte ich nicht, dass er dazu überhaupt in der Lage ist.
Während Matt mit Jay das typische „Wie war deine Reise“-Gespräch beginnt, lasse ich meinen Blick ein wenig über die Anlage wandern.
Zum einen, weil es hier wirklich faszinierend ist, aber vielleicht auch ein wenig, um Jays viel zu intensiven Blicken zu entfliehen.
Rund um die – keine Ahnung – bestimmt zwanzig Außenplätze wurden Pinienbäume gepflanzt, um ein wenig Schatten zu spenden. Ich muss leider sagen, dass es, auch wenn nachmittags die Sonne ein bisschen erträglicher wird, nicht sonderlich viel bringt. Wie ein riesiger Feuerball steht sie ganz oben am Himmel und lässt sich von den mickrigen Bäumen an der Seite gar nichts sagen. Verdammt, diese australische Sonne killt mich! Und da ist es auch nicht sonderlich förderlich, dass ich mittlerweile seit gut 50 Stunden wach bin.
Der Schweiß läuft mir unter meiner Cap die Stirn runter und ich greife nach meinem Handtuch, um mir das Gesicht trockenzuwischen.
„Willst du dich kurz umziehen, Jay? Dann könnt ihr mir beide heute noch zeigen, was in euch steckt.“
„Alles klar!“ Jay zwinkert mir zu und joggt dann vom Feld Richtung Tennishalle, in der sich auch die Kabinen befinden. Wir haben sogar alle einen eigenen Schrank und können unsere verschwitzten Sachen nach dem Spielen in einen Korb legen, damit alles für uns gewaschen wird. Hallelujah, diesen Job will ich nicht haben. Ich glaube, ich muss dem armen Waschpersonal da irgendwann mal Schokolade hinlegen … oder vielleicht lieber eine Whiskyflasche.
„Na dann, Julie, würde ich sagen, Aufschläge!“
Ich kippe mir eine halbe Flasche eiskaltes Wasser über die Beine, in der Hoffnung, dass sie mich noch nicht im Stich lassen und gehe zur Grundlinie.
Als ich vom Weiten Stella und ihre drei Freunde von vorhin entdecke, die sich in ein Draußen-Café gesetzt haben, um mich zu beobachten, spüre ich einen Kloß im Hals.
Aber ich muss langsam mal mit diesem scheiß Konkurrenzkampf klarkommen – schließlich spiele ich schon mein ganzes Leben lang Tennis. Also versuche ich, mich davon nicht aus der Ruhe bringen zu lassen, nicht darüber nachzudenken, dass das hier durchaus eine Katastrophe werden könnte nach meiner einjährigen Pause und pfeffere dann einen Aufschlag nach dem nächsten übers Netz, als hätte ich nie was anderes gemacht. So nämlich!
Mit jedem Ball, den ich in die Höhe werfe und dann mal angeschnitten mal gerade übers Feld schieße, fliegen Erinnerungsfetzen durch meinen Kopf.
Jay ist wirklich der Letzte, mit dem ich hier gerechnet habe und ehrlich gesagt hier hätte treffen wollen. Es gibt Momente im Leben, die möchte man einfach für immer vergessen und genau das habe ich auch versucht. Dabei ging es nie um Jay selbst – ich liebe seine Art – aber wenn ich auch nur diese Dreadlocks und die perfekten weißen Zähne sehe, bekomme ich eine Gänsehaut. Und das leider nicht nur, weil er so gut aussieht. Nicht ohne Grund habe ich mich nie wieder bei ihm gemeldet.
Nach zehn Minuten kommt Jay wieder angelaufen und auch wenn ich ihn eigentlich nie wieder sehen wollte, beschließe ich – ja ok, vielleicht mit einem kleinen Seitenblick auf Stella und ihre Crew – dass er mein Verbündeter werden sollte. Er ist schließlich auch neu und die da drüben offensichtlich nicht sehr offen dafür, neue Leute aufzunehmen.
Ich zwinge mir ein Lächeln ab und gehe wieder zum Netz, um die nächsten Anweisungen von Matt entgegenzunehmen.
„Julie, spiel Jay erst einmal ein bisschen ein.“
Wir nicken beide und gehen jeweils auf eine Seite.
Er spielt gut – mehr als gut, er spielt fantastisch, aber ich kann mithalten. Wir harmonieren gut – so wie damals.
Nach dem Training schnappt sich Matt wieder meine pinke Tasche und zu dritt verlassen wir den Platz.
„Julie, deine Leistung alleine war weit unterm Durchschnitt, aber ihr habt wahnsinnig gut zusammengespielt – wirklich stark“, lobt uns Matt und ich muss – trotz der harten Kritik – lächeln. Irgendwie beruhigt es mich, dass zumindest nicht alles schlecht war.
„Ich sag immer, Tennis ist wie guter Sex.“ Erschrocken verschlucke ich mich an dem Traubenzucker, den ich nach dem Training eingeworfen habe. Sprachlos starre ich Jay an.
Es ist einen kurzen Moment mucksmäuschenstill zwischen uns, doch dann muss ich laut lachen. Ja, wir haben nach wie vor den gleichen Humor, ob ich nun will oder nicht.
Er zwinkert mir zu. „Man muss eine Einheit sein, sich auf den anderen einlassen, sich im gleichen Takt bewegen. Und guter Sex funktioniert nun mal nicht mit jedem.“
Immer noch grinsend schüttele ich den Kopf und schaue leicht gerötet zu Matt. Doch auch der scheint den Spruch verstanden zu haben und lächelt nur. Zumindest Jay scheint er zu mögen!
„Hey Julie, hast du dieses Lächeln gesehen?“, fragt Jay mich und boxt Matt dabei freundschaftlichen auf den Arm. „Scheint so, als würde jemand dieses Gefühl kennen.“
„Möglicherweise gibt es da jemanden.“ Matt schaut verträumt nach oben und zum ersten Mal habe ich das Gefühl, ihn ein wenig greifen zu können. Ich zwinkere ihm zu und wir alle lachen. Vielleicht kann das Training mit ihm doch erträglich werden.
Nach einer ausgiebigen Dusche gehe ich, noch mit tropfenden Haaren, den gläsernen Gang ins College und dann die Treppe hoch zu den Zimmern.
Als ich gerade den Plastikchip aus meiner Tasche kramen will, um die Tür zu Stellas und meinem Zimmer zu öffnen, geht gegenüber eine andere Tür auf. Jay kommt heraus.
Er trägt eine kurze Jeans und ein weißes Tanktop. Es sieht gut aus mit seiner dunklen Haut.
„Hey, Julie aus Deutschland“, begrüßt er mich und lehnt sich gegen die Wand.
„Na, Jay aus England. Alles klar?“
Er schaut mich ein wenig zu lange an, womit er einen Schauer auslöst, der eiskalt über meinen Rücken jagt. „Dass ich dich hier wiedersehe, hätte ich auch nicht gedacht.“
Etwas beschämt schaue ich auf den Boden. „Es tut mir leid, dass ich mich nicht gemeldet habe. Ich…“ „Alles gut. Nach dem tausendsten Anruf kam mir irgendwann dann auch die Erkenntnis, dass du vielleicht einfach nicht an diese Nacht erinnert werden willst. Wirklich, alles gut.“
Ich hätte verstanden, wenn er sauer wäre. Klar ist auch schon ein Jahr vergangen, aber fair war ich damals nicht. Ich hätte zumindest nochmal mit ihm sprechen können. Nervös spiele ich an meiner Kette herum. Ich habe sie seit Papas Unfall nicht mehr abgenommen.
„Lust, was essen zu gehen?“
Überrascht sehe ich ihn an. Er steht immer noch lässig an die Wand gelehnt und ein Teil von mir bewundert ihn dafür, wie er alles Unausgesprochene zwischen uns überspielt und irgendwie an die Leichtigkeit von jener Nacht anschließt. Seit Papas Tod habe ich mir diese Leichtigkeit verboten, aber vielleicht ist es genau das, was ich jetzt brauche.
„Gerne. In 10 Minuten in der Eingangshalle? Ich würde da gerne noch jemanden fragen, ob sie mitkommen will“, lenke ich schnell ein, damit bei ihm nicht der Eindruck aufkommen kann, das hier sei ein Date.
Er nickt und lächelt charmant, aber ich bin mir ziemlich sicher, einen Hauch von Enttäuschung in seinem Blick erhaschen zu können. Es ist besser, wenn die Fronten direkt zwischen uns geklärt sind!
„Gleich zwei Mädchen zum Essen ausführen? Komme ich mit klar.“
„Da bin ich mir sicher!“ Ich zwinkere ihm zu und will mich gerade wieder der Tür widmen, da drehe ich mich noch einmal zu ihm um.
„Weißt du, nach dem Training ist für mich immer wie nach sehr gutem Sex. Ich habe wahnsinnigen Kohldampf.“
„Ich glaub, ich mag dich immer noch, Julie aus Deutschland“, sagt er grinsend und verschwindet wieder hinter seiner Zimmertür.
Ok, vielleicht war das nicht sehr förderlich für die klaren Fronten!
Mit der flachen Hand haue ich mir selbst gegen die Stirn. Dumm, dumm, dumm!
Ich schlüpfe in den Raum, ignoriere Stella, die auf dem Sofa sitzt und irgendwas auf ihrem Handy ansieht und verschwinde dann hinter meiner Zimmertür.
Es sieht noch immer so kahl aus, wie vorhin, als ich es das erste Mal betreten habe. Nur dass mein riesiger Koffer nun offen auf dem Boden liegt und schon einige Klamotten unordentlich im Raum herumfliegen.
Als Matt mich zum Training abgeholt hat, habe ich nur schnell meinen Koffer aufgerissen, meine Sachen herausgekramt und dann wieder das Zimmer verlassen.
Und nun muss ich das Auspacken wohl wieder auf später verschieben.
Ich stöpsele meinen Föhn in die Steckdose und föhne meine Haare so gut es geht trocken. Der Rest kann bei der schwülen, warmen Abendluft hier in Australien auch draußen trocknen.
Anschließend fische ich einen Jeans-Jumpsuit aus meinem Koffer und schlüpfe hinein. Es ist kein tolles Outfit, aber mit Blick auf die Zeit das Einzige, was ich jetzt auf die Schnelle hinbekomme.
Ich stopfe Handy, Geld und Schlüssel in eine Bauchtasche und schnalle sie mir überkreuzt um Schulter und Hüfte.
Dann verlasse ich das Zimmer.
Ich spüre Stellas Blick im Rücken, als ich schnellen Schrittes durch den Wohnraum gehe, durch den ich gerade erst gekommen bin, aber sie sagt nichts und ich bin froh darüber. Unsere erste Begegnung hat mir für heute schon gelangt.
Ich beeile mich, durch die Gänge zum Café an der Tennishalle zu kommen und drücke die Daumen, dass Amira noch da ist. Nachdem sie vorhin so lieb zu mir war, hoffe ich, dass sie Lust hat, heute Abend mitzukommen und Jay und mir ein bisschen Sydney zu zeigen.
Als ich gerade die Treppe herunterspringe, klingelt mein Handy.
Ich fische es aus meiner Bauchtasche und nehme den eingehenden Videoanruf an. Nikkis strahlend blaue Augen erscheinen auf dem Bildschirm – nur seine Augen. Er hat diese dämliche Angewohnheit, das Handy immer so nah an sein Gesicht zu halten, um mich zu schocken. Dass das Ganze nach dem zweiten Mal langweilig wurde, hat er bis heute nicht verstanden. „Hello, hello!“, rufe ich in den Hörer und er schreckt leicht zusammen, weil er so nah am Lautsprecher ist. DAS wird wirklich nie langweilig.
„Hallo, beste Freundin der Welt, auf der anderen Seite der Welt.“
Ich beobachte, wie er sich auf sein Bett fallen lässt.
„Guten Morgen Deutschland, guten Abend Australien“, ahme ich die absolut beste Trash-TV-Show nach, die er und ich immer zusammen gucken. Er lacht auf und ein kleiner Stich durchfährt mich. Verdammt, ich vermisse ihn jetzt schon. Er ist mein Anker!
„Ich vermisse dich, doofe Kuh“, spricht er mir aus dem Herzen.
„Und ich dich erst, aber ich bin gerade auf dem Sprung.“ Ich drücke auf einen Sensor, um die Glastür vor mir zu öffnen. Von Weitem entdecke ich Amira, die gerade dabei ist, die Tür zum Café abzuschließen. Meine Schritte verschnellern sich.
„Moment mal, auf dem Sprung? Ich dachte, du liegst mutterseelenalleine in deinem Bett und bereust es, mich jemals verlassen zu haben.“
„Falsch gedacht!“, nehme ich ihm kaltherzig seine Hoffnung.
„Amira, warte!“ Ihr Kopf fährt herum und ihre Lippen formen sich zu einem Lächeln.
„Uhh, die heiße Amira“, kommt es aus meinem Handy. Und erneut: Gott sei Dank spricht hier keiner Deutsch!
„Julie, schön dich zu sehen.“ Sie nimmt mich in den Arm. „Von dir hört man ja heiße Sachen.“
„Wie bitte?“, kommt es von mir und Nikki gleichzeitig.
„Naja, erster Tag und direkt taucht hier ein Verflossener von dir auf.
Spannend.“ Sie grinst übers ganze Gesicht und ich bin mir kurz unsicher, ob ich jetzt mitgrinsen oder doch lieber im Boden versinken soll. Die Gerüchteküche ist auf jeden Fall schnell hier.
„Ähh hallo, habe ich da Verflossener gehört? Julie, Erklärung bitte, hallo?“ „Jetzt nicht.“ Ein letztes Zwinkern in die Kamera und schon habe ich aufgelegt. Bei dem Gedanken, wie Nikki gerade in seinem Zimmer sitzt und am Ausrasten ist, muss ich lachen.
Es dauert genau eine Sekunde, bis eine WhatsApp-Nachricht auf meinem Handy erscheint. „Das werde ich dir niemals verzeihen! Ich verlange eine Erklärung.“ Dahinter hat er ungefähr hundert wütende Smileys gemacht. Ich ignoriere seine Nachricht und stelle mich darauf ein, in der nächsten Stunde noch etwa zehn weitere dieser Sorte zu bekommen. Doch erst einmal widme ich mich wieder Amira.
„Wie hast du so schnell davon erfahren?“
„Matt hat es erzählt.“
„Du kennst Matt?“
„Ja, also…“
„Ladies, seid ihr bereit?“ Jays Stimme hallt durch die ganze Halle und ich drehe mich lächelnd zu ihm um. Die Enttäuschung, dass wir nicht zu zweit losziehen, ist vollends aus seinem Gesicht verschwunden und was bleibt, ist das sympathischste und einladendste Lächeln, was ich jemals gesehen habe und dem ich schon vor einem Jahr hoffnungslos verfallen bin.
Er hat sich tatsächlich noch etwas anderes angezogen und offensichtlich hat er in den letzten Jahren seine Liebe zu Hüten nicht verloren. Über sein Tanktop hat er ein lässiges Jackett geworfen und auffällige rote Sneaker an. Er sieht unfassbar gut aus.
„Amira, das ist Jay“, sage ich und verfluche ihn dafür, dass er nicht eine Minute später gekommen ist, damit ich Amira das Missverständnis noch hätte erklären können.
Jay zieht die zwei Köpfe kleinere Amira wie selbstverständlich in eine Umarmung.
„Und, wollen wir los?“, sagt Jay übermutig, zieht sein Hut vom Kopf und macht eine einladende Geste.
„Ähh, ich kam noch gar nicht dazu, Amira zu fragen“, sage ich schnell. „Hast du Lust, uns ein bisschen Sydney zu zeigen und was essen zu gehen?“ Amira harkt sich bei mir unter und zieht mich an Jay vorbei zum Ausgang. „Liebend gerne“, ruft sie und hängt dann etwas leiser und nur für meine Ohren bestimmt: „Aber du schuldest mir noch eine Erklärung“ hinterher.
Die Straßen Sydneys sind der absolute Wahnsinn am Abend. Es ist dunkel, aber auf eine mysteriöse Weise nicht so dunkel, wie es eine deutsche Straße bei Nacht wäre. Vielleicht liegt es an dem fantastischen Sternenhimmel, der über der Stadt leuchtet oder aber an den Straßen, die die Hitze des Tages noch in jedem Spalt verstaut haben.
Es fühlt sich fast an, als gäbe es eine Fußbodenheizung, die ein wohliges Gefühl an den Körper abgibt. Vielleicht macht mir die Dunkelheit daher keine Angst.
Mein Blick wandert verstohlen zu Jay, der in seinem gewohnt tänzerischen Gang neben Amira herläuft und sie in ein Gespräch über ihre Lieblingsorte der Stadt verwickelt hat. Er ist noch genau wie früher – jeder liebt ihn, auf der Stelle. Es gibt kein Entkommen.
„Das hier ist mein absoluter Lieblingspark. Man kann so schön den Kleiderbügel sehen und es ist nicht ganz so voll.“
Ich bin froh, dass ich mir vor meinem Aufbruch ein bisschen was über Australien und Sydney angelesen habe, so erspare ich mir die doofe Frage, was sie mit Kleiderbügel meint. Es ist allerdings auch ohne die Recherche nicht gerade schwer zu erraten.
Als wir uns fast gleichzeitig ins Gras fallen lassen – links von mir Amira, rechts Jay – bekomme ich beim Anblick der riesigen beleuchteten Brücke eine Gänsehaut.
Ich liebe diesen Moment, wenn man etwas im echten Leben sieht, was man sonst nur von Postkarten oder aus dem Fernsehen kennt.
Es ist was ganz besonderes und wirkt im ersten Moment fast irreal, obwohl es nicht echter sein könnte.
„Ich war früher oft mit meinen Freunden hier. Wir haben dann einen Minigrill mitgebracht und ganz viele Kleinigkeiten zu essen. Und dann haben wir Musik angemacht und Stella und ich haben zur Musik getanzt.“
Ruckartig fahre ich zu Amira herum. „Hast du gerade Stella gesagt?“
Ich reiße geschockt meine Augen auf. Stella und Amira sind, soweit ich beide nach einem Tag einschätzen kann, die zwei letzten Menschen, die ich mir als Freundinnen hätte vorstellen können.
Ein Grinsen huscht über ihre Lippen. „Ja, ich habe Stella gesagt.“
Abschätzig schaut sie mich an.
Ok, verdammt, jetzt nichts Falsches sagen. „Achso … also … ihr seid Freundinnen?“, stottere ich herum und muss innerlich selbst die Augen verdrehen, wie einfach ich zu durchschauen bin.
„Wieso, magst du sie etwa nicht?“ Amiras Gesichtsausdruck wird ernst. Wütend funkelt sie mich an, als dürfte ich jetzt nichts Falsches sagen. Die liebe nette Amira von eben ist von einer Sekunde auf die nächste verschwunden. Ich lehne mich ein Stück von ihr weg, aber Jays Hände packen mich an den Schultern und halten mich davon ab, noch weiter zurückzuweichen.
„Sorry, Schätzchen, flüchten ist nicht“, haucht mir Jay ins Ohr und auch wenn ich ihn nicht sehen kann, weiß ich ganz genau, dass sich sein amüsiertes sensationsgeiles Grinsen gerade von einem Ohr zum anderen erstreckt. Wieso kann ich nicht ein einziges Mal meinen Mund halten? „Also, ich …“, fange ich an, aber weiß ehrlich gesagt selbst nicht, worauf ich hinauswill. Und dann bricht Amira plötzlich in schallendes Gelächter aus und kugelt sich auf dem Rasen herum.
Ihre schwarzen Locken stehen wirr in alle Richtungen ab und bleiben in ihrem Gesicht kleben, was feucht von den ganzen Lachtränen ist.
Nur langsam kommt die Erkenntnis bei mir an, dass sie mich verarscht hat. Kurzerhand werfe ich mich auf sie und gemeinsam rollen wir den leichten Hügel herunter, auf den wir uns gesetzt haben. „Du bist so gemein!“, bringe ich zwischen zwei Lachern hervor.
„Sorry, not sorry.“ Oh wow, wie soll man bei diesem süßen australischen Akzent noch böse sein?
„Ladys, ich will ja nichts sagen, aber die Wahrscheinlichkeit, dass ihr bei eurem Abgang mindestens zehn Hundehaufen überrollt habt, ist ziemlich hoch.“ Jay zieht seine Augenbrauen hoch und macht ein angeekeltes Gesicht. „Und ehrlich gesagt ziemlich abturnend.“
Ich schaue ihn geschockt an. „Ach verdammt, und dabei dachte ich, dass Amiras und meine kleine Wrestling-Einheit dich heiß gemacht hat.“ Meine Stimme trieft vor Ironie.
Jays Blick wird weich und verschränkt sich mit meinem so fest, als würde er nie wieder aufhören, den Blick von mir zu wenden. „Ich habe dich vermisst, Julie aus Deutschland“, haucht er und ich weiß, dass er es genau so meint.
Amira öffnet eine gläserne Tür zu einem Lokal, für das wir alle nicht ausreichend schick gekleidet sind – ok, vielleicht mit Ausnahme von Mister-ich-trage-einen-stylischen-Hut-und-sehe-eh-fantastisch-aus.
Uns schlägt etwas stickige Luft und eine Geräuschkulisse von hundert parallel laufenden Gesprächen entgegen. Die Decke des Lokals ist flächendeckend mit einem Netz aus kleinen Lichtern behangen, sodass es aussieht wie der Sternenhimmel, der hier in Australien so atemberaubend schön ist.
An größtenteils Zweiertischen sitzen in Anzüge und Abendkleider gehüllte Menschen, an deren Outfit wahrscheinlich jede Naht teurer ist, als alles, was ich heute anhabe.
Etwas peinlich berührt schaue ich an mir herunter. Den Jeans-Overall hätte ich in der Theorie schon schick kombinieren können, aber mit meinen Sneakern und der Bauchtasche sehe ich eher aus, wie ein Touri, der den ganzen Tag unterwegs war, als wie jemand, der in so eine Umgebung passt. Ich will gerade Amira auf die Schulter tippen, ob wir nicht doch lieber woanders hinwollen, da kommt bereits ein Kellner auf uns zu. Oder sagt man zu einem Kellner im teuren Anzug und geleckter Frisur eher Ober?
Nervös streiche ich mit feuchten Händen meinen Jumpsuit glatt und stecke meine Haare hinter die Ohren.
Eine Hand legt sich beruhigend auf meinen unteren Rücken und ich schaue mit hochgezogenen Augenbrauen zu Jay, der sich neben mich gestellt hat. Vielleicht hat er beschlossen, mein schickes Accessoire zu sein – well, es könnte funktionieren. Mit dem Mann an meiner Seite sehe ich entweder fantastisch aus, weil eh alle Augen auf ihn gerichtet sind oder mein offensichtliches Fehl-am-Platz-Sein fällt noch mehr auf. Gedanklich drücke ich mir selbst die Daumen, dass der erste Fall zutrifft.
„Julie aus Deutschland, entspann dich! Du siehst toll aus.“
Finster schaue ich ihn an. „Vielen Dank, jetzt werde ich auch noch rot.“
Er lacht und seine schneeweißen Zähne blitzen im Glanz der tausend Lichter an der Decke auf wie in einem fucking Hollywood-Blockbuster.
Um mich von seinem perfekten Look und meinem Touri-Outfit abzulenken, schaue ich wieder zu Amira, die – ohne fies sein zu wollen – mit ihren Arbeitsklamotten jetzt auch nicht den Preis für die Bestgekleidetste bekommen wird. Mit ihrer schwarzen Stoffhose und der schlichten weißen Bluse fällt sie aber zumindest nicht so auf.
Überraschenderweise kommt der Kellner trotz unseres Aufzugs mit einem strahlenden Lächeln auf uns zu und – nimmt Amira in den Arm. Ok, das erklärt zumindest, warum sie uns in diesen Nobelschuppen gebracht hat. „Julie, Jay, das ist mein Bruder Ethan. Ethan, das ist Julie aus Deutschland und Jay aus Großbritannien.“
„Hey, Leute.“ Der große, braungebrannte Typ kommt auf mich zu, nimmt mich kurz in den Arm und gibt mir ein Küsschen rechts, eins links auf die Wangen. Sein Blick bleibt ein bisschen zu lange an mir hängen. Zuerst denke ich, dass er mein fragwürdiges Outfit begutachtet, aber er sieht eher so aus, als würde er mir ohne Worte ein Kompliment geben wollen. Mit seinen bloßen Blicken bringt er meinen Körper zum Beben. Ok, der Typ macht mich nervös. Er sieht aus wie die männliche – und wie männliche! – Version von Amira.
Schwarz gelockte Haare, tiefbraune Augen, nur sehr viel größer als sie. Er hat eine kräftige Statur, sieht aber nicht so aus, als würde er sonderlich viel Sport machen, was ihm kein bisschen an Attraktivität nimmt.
Jays Arm schiebt sich zwischen uns und greift nach Ethans Hand.
Erst jetzt wird mir klar, dass wir uns wohl ein paar Sekunden zu lange gegenseitig angestarrt haben.
„Freut mich!“, sagt Jay nur und legt mir dann demonstrativ wieder seine Hand auf den Rücken, was mir ein bisschen unangenehm ist.
Wenn ich etwas gar nicht abkann, dann ist es besitzergreifendes Verhalten.
Hilfesuchend drehe ich mich zu Amira, die sofort zu verstehen scheint. „Das ist der Laden meiner Eltern. Ethan, ist auf der Terrasse noch was frei?“
„Klar, für meine Lieblingsschwester immer.“ Er geht voran, zwischen den Tischen hindurch auf eine große Glasfront zu, hinter der man die Lichter des Hafens sehen kann. Das Bild erinnert mich so sehr an meine Heimat Hamburg, dass ich kurz schlucken muss. Es wird ungewohnt sein, so lange nicht zuhause zu sein.
Amira harkt sich bei mir unter und zieht mich mit sich, um die Situation mit Jay etwas zu lockern. Ich bin ihr unendlich dankbar dafür.
„Nur so nebenbei erwähnt: Mein Bruder ist erst 16, also würde ich mich von ihm fernhalten, aber das muss ja Jay nicht wissen“, raunt sie mir entgegen und zwinkert herausfordernd.
Ich bleibe kurz stehen und schaue sie zunächst erstaunt an, weil ihr Bruder locker als Ende zwanzig durchgehen würde und anschließend warnend, weil ich auf solche Spielchen wirklich keine Lust habe.
Mich machen Jays Blicke ja schon nervös, ein zweiter von der Sorte ist mir wirklich zu viel!
Als wir an einem Tisch auf der Terrasse stehen bleiben, stockt mir der Atem bei dem postkartenschönen Ausblick. Man kann nicht nur die berühmte Brücke sehen, sondern von Weitem sogar das Opernhaus. Ein leichter Windhauch macht die immer noch herrschende Hitze so erträglich, dass ich erleichtert einmal tief ein und wieder ausatme.
„Julie?“ Erschrocken schaue ich auf. Ich habe mich so in dem Anblick dieses Panoramas verloren, dass ich gar nicht gemerkt habe, wie Ethan mir einen Stuhl zurechtgerückt hat und auffordernd darauf zeigt.
„Ähh, sorry, klar“, sage ich nicht gerade ladylike und lasse mich auf das bequeme Polster fallen.
„So und du bist also die doofe Bitch, die den Platz meiner Schwester eingenommen hat?“, haut er raus, schaut mich jedoch weiter charmant an, was nicht zu den Worten passt, die gerade aus seinem Mund gekommen sind. „Was?“, sagen Jay und ich gleichzeitig, wobei sein ‚Was‘ eher aggressiv und meines vollkommen verwirrt klingt.
„Ethan!“, weist Amira ihren (wie ich jetzt weiß) kleinen Bruder zurecht und hängt dann Gott sei Dank eine Erklärung hinterher: „Es gibt da was, was ich dir oder euch noch nicht verraten habe.“
Gespannt schaue ich sie an. Sie sitzt fast etwas eingeschüchtert in ihrem Sessel und schaut betreten auf den Boden. Ihre langen Wimpern werfen einen Schatten auf ihre Wangen. Sie ist wirklich sehr hübsch, muss ich neidlos eingestehen.
„Ähm, ich hole euch mal eine Runde Cocktails“, wirft Ethan ausweichend ein und verschwindet dann schnell, als wäre ihm klar geworden, dass er gerade ein Fass aufgemacht hat, das von Amiras Seite vielleicht lieber verschlossen geblieben wäre.
Keiner von uns nimmt mehr von Ethan Notiz. Jay und meine Augen verharren auf Amira.
„Ich arbeite erst seit ein paar Wochen in dem Café in der Tennishalle.
Ursprünglich bin ich ebenfalls auf die Akademie gegangen, bis ich mich auf dem Platz so sehr am Knie verletzt habe, dass ich nicht mehr spielen konnte. Daher kenne ich auch Stella, sie war meine Zimmernachbarin.“
Mit großen Augen schaue ich sie an. „Moment – das heißt, mein Zimmer…“
„War vorher mein Zimmer“, beendet sie meinen Satz.
„Und mein Platz an der Akademie…“ Ich stocke erneut.
„War vorher mein Platz.“
„Shit, wieso hasst du mich nicht?“, spreche ich den ersten Gedanken aus, der mir in den Kopf schießt.
Sie lacht und legt eine Hand auf den Arm ihres Bruders, der gerade neben sie getreten ist und einen farbenfrohen Cocktail vor ihr abstellt. „Ach Quatsch, wieso sollte ich? Du hast mir den Platz ja nicht weggenommen.“ Ethan schnaubt. „So hat sich das aber nicht angehört, als du davon erfahren hast, dass dein Platz wieder vergeben wird. Ethan, wie können die mir das antun? Ethan, ich schwöre, egal wer kommt, ich hasse sie. Ethan, erlös mich, ich will tot sein.“ Ethans Stimme klingt quarkig, als er versucht, seine Schwester zu imitieren und wir müssen alle lachen.
Ich schaue verstohlen zu Jay, der hartnäckig ein Lachen unterdrückt.
Es ist klar zu erkennen, wie sehr er sich bemüht, nicht über Ethans Witze zu lachen. Die Eifersucht trieft ihm aus jeder Pore. Ich stupse ihn an und ziehe mahnend eine Augenbraue hoch. Auf eine Eifersuchtsszene habe ich wirklich keine Lust – schließlich gibt es auch keinen Grund dafür. Zwischen Jay und mir ist schließlich nichts und war eigentlich auch nie was.
Er scheint den Wink zu verstehen und hebt sein Glas in Richtung von Ethan: „Hey Mann, willst du nicht auch mit anstoßen?“
Überrascht schaut Amiras Bruder, dem unbedingt mal jemand raten sollte, sich bei Hollister als Modell zu bewerben, ihn an und lächelt dann zögerlich. „Ich setze mich nachher zu euch und esse mit euch, wenn es ok ist? Ich muss eh mal etwas in den Magen bekommen.“
Dann hebt er sein mittlerweile leeres Tablett und zieht von Dannen.
Wie kann man so erwachsen wirken und doch noch so jung sein?
Ethan hält seine Ankündigung und kommt wenig später mit mehreren Platten Essen, vier Tellern und einem Wasser wieder. „Die Küche hat euch alle Spezialitäten zusammengestellt. Ich dachte, das passt, damit ihr euch nicht entscheiden müsst.“
„Danke, das sieht fantastisch aus“, sage ich begeistert. Bei dem Geruch und dem Anblick des Essens läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Seit meiner Abreise aus Deutschland habe ich nichts Vernünftiges mehr gegessen – wenn man von dem Flugzeugessen absieht.
Wahnsinn, dass es nicht einmal 48 Stunden her ist, dass ich Hamburg verlassen habe und Nikki zum Abschied in den Armen gehalten habe, der mich netterweise zum Flughafen gebracht hat.
Bei dem Gedanken an Nikki werfe ich einen kurzen Blick auf mein Handy. Als ich die Benachrichtigung „112 neue Nachrichten“ lese, kann ich mir ein Grinsen nicht verkneifen.
„Oh wow, dein Freund?“, pfeift Ethan, der sich gerade auf den Platz neben mich fallen lässt und wie selbstverständlich seinen Arm um meine Stuhllehne legt und dabei auf mein Handy schaut. Alles klar, Stopp! Bis hier hin und keinen Schritt weiter, mein Freund!
„Mein bester Freund“, betone ich und habe das Gefühl, dass ich diese Rechtfertigung schon viel zu oft in meinem Leben hinterherschieben musste, wenn es um Nikki ging.