Spiel zwischen den Welten - Roland Steinmetz - E-Book

Spiel zwischen den Welten E-Book

Roland Steinmetz

0,0

  • Herausgeber: 110th
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

Marc McCann, ein junger, aufstrebender Wissenschaftler, steht an der Schwelle einer neuen Phase seines Lebens: Das Angebot einer Universitätsanstellung führt ihn in eine andere Stadt. Doch gerade als der junge Wissenschaftler beginnt, sich in seinem neuen Leben einzurichten, geschehen seltsame, unvorhersehbare Dinge, die ihn an seinem Verstand zweifeln lassen. Was man anfangs als Schizophrenie diagnostiziert entpuppt sich als etwas völlig anderes. Da ereignen sich zwei brutale Morde an jungen Studentinnen in der Stadt. Marc gerät zunehmend in das Visier der beiden Ermittler Garcia und Dalfio. Als sich die Situation zuspitzt gerät die Welt förmlich aus den Fugen…

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 579

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Spiel zwischen den Welten

von

Roland Steinmetz

Impressum

Cover: Karsten Sturm-Chichili Agency

Foto: fotolia.de

© 110th / Chichili Agency 2015

EPUB ISBN 978-3-95865-726-7

MOBI ISBN 978-3-95865-727-4

Urheberrechtshinweis

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors oder der beteiligten Agentur „Chichili Agency“ reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Kurzinhalt

Marc McCann, ein junger, aufstrebender Wissenschaftler, steht an der Schwelle einer neuen Phase seines Lebens: Das Angebot einer Universitätsanstellung führt ihn in eine andere Stadt. Doch gerade als der junge Wissenschaftler beginnt, sich in seinem neuen Leben einzurichten, geschehen seltsame, unvorhersehbare Dinge, die ihn an seinem Verstand zweifeln lassen. Was man anfangs als Schizophrenie diagnostiziert entpuppt sich als etwas völlig anderes. Da ereignen sich zwei brutale Morde an jungen Studentinnen in der Stadt. Marc gerät zunehmend in das Visier der beiden Ermittler Garcia und Dalfio. Als sich die Situation zuspitzt gerät die Welt förmlich aus den Fugen…

Über den Autor

Roland Steinmetz ist niedergelassener Facharzt für Allgemein-/ Sportmedizin und Naturheilverfahren in Darmstadt. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder. Der Thriller „Spiel zwischen den Welten“ ist sein Debütroman.

1

Der alte Pick-up keuchte um die Ecke, als hätte sein letztes Stündlein geschlagen. Langsam kroch er die kurze Steigung hinauf. Passend zu den rostigen Stellen an den Kotflügeln, die bewiesen, dass der Wagen schon einige Jahre auf dem Buckel hatte, krachte das Getriebe, als die Automatik einen kleineren Gang einlegte. Das nachfolgende Fahrzeug, das nur auf eine Gelegenheit gewartet hatte zu überholen, zog laut hupend an dem Ford vorbei. Man konnte das erregte Gestikulieren des Nissanfahrers gut erkennen. Mit ausgestrecktem Mittelfinger grüßte er den Lenker des Pick-ups. Dieser nahm all das nicht wahr, sondern suchte konzentriert nach der Nummer des Hauses, in dem er ab heute wohnen sollte.

Marcus McCann, von seinen Freunden Marc genannt, hatte die Wohnung über eine Internet-Agentur gefunden. Das Haus, so stand es auf der Internetseite, lag in der Nähe zum Universitätscampus, einem Ort, an dem Marc beabsichtigte, in den nächsten Jahren einen nicht kleinen Teil seines Lebens zu verbringen. Wohnraum in dieser Stadt war knapp, heiß begehrt und teuer, wie er sich hatte zähneknirschend eingestehen müssen. Selbst der Preis dieser Wohnung hatte ihn die Luft anhalten lassen. Alle anderen waren unbezahlbar. Erst als seine Eltern im gut zugeredet hatten und versprachen, ihm bis zu seiner ersten Gehaltsabrechnung das nötige Geld vorzustrecken, hatte er zugegriffen, als er die Annonce auf der Website gelesen hatte. Für eine Besichtigung war keine Zeit geblieben. Er zählte in Zweierschritten die Hausnummern hoch und stoppte den klapprigen Wagen direkt vor dem Eingang seines neuen Domizils. Es war ein vier Stockwerke hohes Haus, dessen Putz an vielen Stellen abgebröckelt war. Eingeklemmt lag es zwischen zwei anderen Wohnhäusern, deren Giebeldächer mit hübschen Erkern versehen waren und Marcs neue Wohnstätte mit ihrem Flachdach wie einen abgeschnittenen Klotz wirken ließen. Der Ausleger eines auf dem Dach montierten rostigen Baukrans reichte weit über die Brüstung hinaus auf die Straße. Quietschend drehte er sich in der schwachen Brise mit dem Wind. Es war, als zeige ein Krallenfinger drohend auf die weiß getünchten Nachbarhäuser, die in einem unheimlichen Gegensatz zu den mit Graffiti beschmierten Wänden von Marcs neuem Wohnblock standen. Die dunkelbraune Eingangstür verschwand nahezu hinter grotesken Fratzen und seltsam geformten Buchstaben, die ein Sprayer wie im Drogenrausch auf der rauen Mauer hinterlassen hatte.

Doch den unangenehmsten Eindruck hinterließ das Gerüst, das die ganze Front des Hauses einhüllte und fast bis zum Dach reichte. Spinnweben hingen in den Ecken, die erahnen ließen, dass das stählerne Korsett schon geraume Zeit an Ort und Stelle stand. Staubiger Schmutz hatte sich wie ein dicker Film auf Flächen und Holme gelegt und das Gewirr von Streben und Stützen wirkte wie ein marodes Skelett.

Marc schaute noch einmal auf den Computerausdruck in seinen Händen und zurück zu der beklemmend wirkenden Fassade. Es gab keinen Zweifel, er hatte das richtige Haus gefunden. Der äußere Eindruck, der sich abzeichnete, frustrierte ihn. Die gespannte Erwartung während der langen Fahrt war einer bedrückenden Stimmung gewichen. Marc ließ den Blick zum obersten Stockwerk hinaufwandern, dort, wo direkt unterhalb des Krans drei unbeleuchtete Fenster auf der linken Seite das Apartment markierten, in dem er nun die nächste Zeit leben würde. Er schluckte. Höhenangst war ein Problem, das er seit seiner Kindheit kannte. Zwar dominierte ihn diese Angst nicht mehr, aber er war weit davon entfernt, jede aufsteigende Panik zu beherrschen. Marcs Vorfreude auf die neuen Räumlichkeiten hatte sich dem Nullpunkt genähert. Müdigkeit und Erschöpfung forderten zusätzlich ihren Tribut. Er fühlte nur noch eine fatalistische Stimmung in seinem Inneren. Verdammt, dachte er sich, vielleicht hätte ich nicht so vorschnell sein sollen. Dass das Apartment in der obersten Etage lag, hatte er zwar in der Annonce gelesen, doch hatte er dieser Information in der Eile seiner Entscheidung nicht die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt und die Tatsachen weitgehend zu verdrängen versucht. Bis zu diesem Augenblick. Doch nun, neben all seiner Frustration, drückte die Höhe umso mehr auf sein Gemüt. Doch wie sollte man in einer großen Stadt wie dieser in der Kürze der Zeit eine schöne und zugleich billige Wohnung finden, die zudem noch zu ebener Erde lag? Schäbig, teuer und hoch waren die Worte, die ihm durch den Kopf schossen. Er fluchte auf das Internet.

Als Marc vor der Eingangstür stand, schaute er auf ein gutes Dutzend Klingeln. Es dauerte eine Weile, bis er den handgeschriebenen Namen des Hausmeisters, der ihm von der Wohnungsagentur mitgeteilt worden war, auf einer von ihnen entziffern konnte. Halbherzig drückte er den Knopf und wartete eine Weile, bis sich eine mechanisch klirrende Stimme aus der Gegensprechanlage meldete. Als Marc seinen Namen nannte, öffnete sich mit einem leisen Klackern die Verriegelung der Eingangstür. Marc trat ein. Es ging einige wenige Stufen nach oben, dort wo die Wohnungen der untersten Etage lagen. Schon auf dem ersten Absatz stand der Hausmeister vor seiner Eingangstür und winkte Marc mit der einen Hand zu sich, während er in der anderen Hand eine Serviette hielt, mit der er sich über die Mundwinkel wischte.

„Da ist ja unser neuer Mitbewohner“, nuschelte er undeutlich, während er den letzten Rest seines Mittagessens hinunterschluckte. „Ich heiße John Pinter, aber alle nennen mich hier nur Jonny.“ Beide Männer reichten sich die Hände.

„Es tut mir leid, dass ich gerade zur Essenszeit bei Ihnen auftauche“, entschuldigte sich Marc und zur Bestätigung knurrte in diesem Moment sein Magen vernehmlich laut.

„Kein Problem“, winkte der Hausmeister ab, „ich war eben fertig. Warten Sie einen Moment, ich hole nur schnell die Schlüssel.“ Er drehte sich um und verschwand in seiner Wohnung. Einen Augenblick später erschien er wieder mit einem dünnen Schlüsselbund in seiner rechten Hand.

„Dieser hier ist für die Eingangstür hier unten“, er hielt einen Schlüssel nach dem anderen in die Höhe, „Keller und Briefkasten. Der ist für Ihr neues Domizil. So, und jetzt wollen wir mal hinaufgehen.“

Das Treppenhaus war geräumig und gepflegt, ganz anders als die Außenfassade. Die Treppen verliefen im rechten Winkel zueinander und machten in der Mitte einem breiten Schacht Platz, der von unten bis in die oberste Etage blicken ließ. Das schmiedeeiserne Geländer war im Jugendstil kunstvoll gestaltet, was dem Aufgang ein stattliches Erscheinungsbild gab. Unter den Füßen knarrten die ausgetretenen Eichenstufen, gaben unter den Schritten angenehm federnd nach.

Der Hausmeister ging voran. Wie die meisten seiner Zunft trug er einen blassblauen verschlissenen Kittel, der vorne geknöpft war und knapp oberhalb der Knie endete. Obwohl der Mann schon einen leichten Bauchansatz hatte, war er groß und kräftig und stieg erstaunlich behände die vielen Stufen hinauf, gefolgt von Marc, der den fehlenden Fahrstuhl bedauerte. Rechts und links einer jeden Etage schloss sich ein kurzer Flur an, von dem jeweils auf beiden Seiten je eine Wohnungstür zu den Apartments führte. Es gab also vier Wohnungen je Stockwerk. Als sie das oberste erreicht hatten, öffnete der Hausmeister auf der linken Seite eine weiß gestrichene Tür.

„Immer hinein in die gute Stube.“ Marc war baff.

Was für ein Gegensatz im Vergleich zur heruntergekommenen Außenansicht des Hauses!

Vor wenigen Minuten noch war Marc zutiefst enttäuscht und nun, von einem Augenblick zum anderen, war er richtiggehend begeistert. Ein Wechselbad der Gefühle übermannte und verwirrte ihn, das er so noch niemals kennengelernt hatte. Jedenfalls nicht mehr seit der romantischen Glückseligkeit in Erwartung seines ersten Dates und dem Entsetzten, seine Angebetete in den Armen eines anderen zu erwischen.. Damals wechselte Glück in Trauer. Heute war es genau umgekehrt. Hier hatte sich soeben tiefe Resignation in Freude gewandelt.

Ein großer, von Licht durchfluteter Raum war als Wohn- und Arbeitszimmer angelegt. Die geräumige Küche war komplett neu eingerichtet. Sie war zum Wohnzimmer nur durch eine mit einer schweren Mahagoniplatte bewehrten halbhohen Mauer abgetrennt, die als Frühstückstisch zu nutzen war. Eine Schiebetür führte vom Hauptraum in ein geräumiges, weiß gekacheltes Bad. Neben einer kleinen Dusche war dort auch eine stattliche Badewanne zu finden, ein Umstand, der Marc glücklich seufzen ließ, da er für sein Leben gern ein ausgiebiges Bad nahm. Über einem mit edlen Armaturen versehenen Waschbecken hing ein wuchtiger Spiegel, der dem Badezimmer eine ungeahnte Tiefe gab und es noch einmal so groß wirken ließ. Komplettiert wurde die Designerwohnung durch einen gemütlich eingerichteten Schlafraum mit einem weichen Doppelbett, das das Zimmer dominierte. In der ganzen Wohnung waren geschmackvolle Bilder aufgehängt, die sich allesamt als Originale herausstellten und durch den feinen Pinselstrich den Maler als wahren Könner erkennen ließen.

Neu und modern war die Wohnung. Eine bequeme Couch stand vor den großen Fenstern, aus denen man von oben auf das geschäftige Treiben weiter unten blicken konnte. Die oberste Bretterebene des Gerüstes lag eine Handbreit unter den Fenstern und ließ die Sonnenstrahlen ungehindert in die Räume fallen.

Marc näherte sich der Glasfront, hielt aber einen Schritt davor inne. Der Hauch einer unangenehmen Beklemmung begann sich in ihm auszubreiten. Ein Unbehagen, das er gut genug kannte. Ein kurzer Blick über das Baugerüst hinunter auf die Straße reichte ihm und er trat zurück in den Raum. In seinem Inneren hatte er gerade eine unsichtbare Linie gezogen, die er nicht mehr überschreiten wollte. Immer eine gute Armeslänge von der Fensterfront entfernt. Damit konnte er leben.

Er fand die Wohnung toll! Noch immer perplex, aber freudig erregt, schaute er sich ein weiteres Mal in den vier Wänden um.

„Hier gibt es ja sogar ein funktionierendes Telefon“, bemerkte er verwundert, als er gedankenverloren den Hörer an sein Ohr gehalten hatte und ein Freizeichen hörte.

„Auch Kabelfernsehen und Internet“, sagte der Hausmeister gelassen. „Alles im Mietpreis inbegriffen. Sie sind ein Glückspilz!“

Marc grinste mehr als zufrieden. Damit hätte er nie und nimmer gerechnet. Das ganze Haus war eine muffige Schale mit einer wahren Perle in ihrem Inneren.

„So, dann will ich Sie mal allein lassen“, bemerkte der Hausmeister, der milde lächelte und sich an der Begeisterung seines neuen Mieters erfreute. Er drückte Marc den Schlüsselbund in die Hand. „Passen Sie gut darauf auf. Ich musste gestern das klemmende Schloss austauschen und bin noch nicht dazu gekommen, einen Ersatzschlüssel anfertigen zu lassen. Wenn Sie mir den Bund morgen ein paar Stunden überlassen, werde ich mich darum kümmern.“ Er legte den Zeigefinger zum Gruß an die Stirn. „Wenn Sie noch etwas brauchen, sagen Sie mir ruhig Bescheid. Ich helfe gerne.“ Ein letztes Nicken, dann ließ er den neuen Bewohner allein zurück.

Marc grinste zufrieden. Jeder Besucher würde ihn beneiden, jedenfalls dann, wenn er bei einer Stippvisite nicht bereits beim Betrachten der Fassade auf dem Absatz kehrt gemacht hätte.

Doch zuerst hieß es erst einmal: Einziehen. Und das bedeutete, dass er den Wagen ausräumen und seinen Inhalt nach und nach in den vierten Stock schleppen musste. Bei diesem Gedanken dämpfte sich Marcs Hochgefühl ein wenig. Den aufsteigenden Hunger ignorierend machte er sich auf den Weg hinab und begann, seine persönlichen Dinge hinaufzutragen. Nach fast zwei Stunden hatte er es endlich geschafft und er stellte die letzte abgewetzte Kiste ab. Erleichtert schob er die Wohnungstür hinter sich zu. Sorgfältig drehte er den Schlüssel im Schloss und legte die Kette vor, wie er es von seiner ängstlichen Großmutter gelernt hatte. Dann ließ er sich erschöpft auf einen Stuhl in der kleinen Küche fallen. Sein Blick fiel auf einen Karton, der halb unter anderen Gegenständen begraben war. Marc zog ihn hervor und freute sich über die Weitsicht seiner Mutter, die ihm gestern Abend die Kiste ins Auto geschmuggelt haben musste. Darin fand er Baguette und Käse, leckere Pasteten, Hartwurst und Marmelade. Und nicht zuletzt eine gute Flasche Rotwein aus dem sonst so gut gehüteten Weinkeller seines Vaters. Marc lächelte dankbar. In einer der Küchenschubladen fand er einen Korkenzieher. Ein Blick in eine Glasvitrine zeigte ihm ein dünnstieliges Weinglas. Nachdem er den ersten Schluck probiert und seinen mächtigen Hunger mit Brot und Käse gestillt hatte, räumte er den größten Teil seiner Habseligkeiten in die vorhandenen Schränke und Schubladen. Als die Sonne begann unterzugehen, sah die Wohnung schon so heimelig aus, als würde er hier bereits eine Ewigkeit wohnen. Marc legte eine CD mit leichtem, melodischem Jazz in den Player und ließ Wasser in die Badewanne einlaufen. Weinflasche und Glas nahm er mit und stellte sie auf den breit gefliesten Rand. Nachdem er sich entkleidet hatte, betrachtete er sich kurz im Spiegel. Wie immer fiel ihm eine Strähne seiner dunkelblonden Haare in die Stirn, die er mit dem Strich seines Zeigefingers zurück an ihren angestammten Platz zurückschob. Seine warmen braunen Augen, die sonst immer vor Schalk blitzten, sahen müde aus. Als er über sein markantes Kinn tastete, spürte er wieder die kleine Narbe, die er sich als Kind im Garten seiner Eltern zugezogen hatte.

Genüsslich ließ er sich in das heiße Wasser gleiten. Die Anspannung des Tages fiel langsam von ihm ab. Noch ein paar Schlucke von dem köstlichen Wein, die einlullende Musik, all das ließ ihn zunehmend entspannen. Der Stress der letzten Woche, das Packen, die nicht enden wollende Autofahrt und schließlich der Einzug in sein neues Domizil: Alles perlte nun von ihm ab wie ein Wassertropfen von einem Lotusblatt. Marc schloss die Augen, gab sich der Musik und dem heißen Wasser hin, das ihn wie eine weiche Haut einhüllte. Einen Augenblick lang schien er eingenickt zu sein, doch plötzlich schreckte er auf und öffnete die Augen. Ihm war, als setzte sein Herz einen Wimpernschlag lang aus. Die Musik war nicht mehr zu hören. Auch der Geruch hatte sich verändert. Als würde der Hauch eines teuren Parfums in der Luft hängen. Mit einem Mal sprang die Tür auf und eine junge Frau eilte in das Bad. Eine eng anliegende sportliche Jacke betonte ihre Figur. Sie schien im Begriff zu sein, noch kurz das Bad benutzen zu wollen, bevor sie die Wohnung verlassen würde. Weit beugte sie sich über das Waschbecken, bis ihre vollen, nun gespitzten Lippen fast den Spiegel berührten und zog mit einem Lippenstift die Linien ihres Mundes nach. Dann streifte sie noch einige Male mit ihren Händen durch ihr Haar, bis ihre hellblonden schulterlangen Strähnen perfekt saßen.

Marc hatte sich wie erstarrt in der Wanne auf die Ellenbogen gestützt und starrte völlig perplex von hinten auf die Fremde. Durch den Spiegel konnte er die ebenmäßigen Züge der Frau gut erkennen, die hohen Wangenknochen und die perfekt glatte Haut. Als die Besucherin sich umdrehte, blickte sie direkt zu ihm hinüber. Sie musste ihn bemerkt haben, doch es war, als schaue sie durch ihn hindurch. Mit Schrecken musste Marc feststellen, dass er völlig nackt war und versuchte sich verzweifelt an den entscheidenden Körperstellen mit den Händen vor neugierigen Blicken zu schützen. Dabei verlor er das Gleichgewicht. Er rutschte mit seinem Po über den glatten Wannenboden fußwärts. Wasser drang in seinen noch immer offen stehenden Mund, als sein Kopf untertauchte. Laut prustend und eine Menge Wasser auf den Fußboden des Badezimmers spritzend, gelangte er wieder an die Oberfläche, den Blick noch immer auf die schöne Unbekannte geheftet. Doch die schien in keiner Weise irritiert zu sein und reagierte so, als würde sie dieses ganze Schauspiel nicht berühren. Ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, marschierte sie durch die offene Tür nach draußen und ließ Marc allein zurück. Sie schien ihn gar nicht gesehen zu haben. Ein Hustenanfall schüttelte ihn und es dauerte eine knappe Minute, bis er das Badewasser aus der Kehle gehustet hatte. Erst jetzt nahm er wieder die melodische Jazzmusik wahr, die die Wohnung erneut erfüllte. Er sprang aus der Wanne, warf sich das Handtuch um die Hüften und stürmte nach draußen. Ein kurzer Blick in die Zimmer zeigte ihm, dass hier außer ihm selbst niemand mehr war. Die Wohnungstür fand er verschlossen und mit vorliegender Kette vor. Eilig entriegelte er sie, bevor er auf den Hausflur hinaustrat. Doch von der geheimnisvollen Frau war nichts zu sehen. Stattdessen stand dort Jonny, der Hausmeister, und hantierte an einem Stromkasten herum.

„Haben Sie die Frau erkannt, die eben aus meiner Wohnungstür kam?“, bestürmte Marc den Mann atemlos.

„Eine Frau? Hier ist niemand vorbeigekommen.“

„Aber gerade muss doch jemand an Ihnen vorbei gekommen sein!“ Marcs Stimme überschlug sich. Hastig schaute er über das Geländer hinab nach unten, um sich selbst ein Bild zu machen. Doch auch in den unteren Stockwerken nahm er keinerlei Bewegungen wahr, die auf die Frau hingewiesen hätten.

„Ich repariere hier seit einer halben Stunde diesen blöden Stromkreislauf. Und auch wenn ich schon etwas in die Jahre gekommen bin, kann ich Ihnen schon noch sagen, ob jemand in den letzten Minuten an mir vorbeigelaufen ist. Oder meinen Sie nicht?“ Der Hausmeister antwortete entschieden. Ein leichter Unmut klang in seiner Stimme mit. Als Marc sich anschickte, die Treppen hinunter zu eilen, musterte der Hausmeister seinen neuen Mieter von oben bis unten.

„Vielleicht sollten Sie sich besser etwas Vernünftiges anziehen.“

Als Marc an sich hinunterschaute, bemerkte er das nasse Handtuch, das seine Nacktheit nur unvollständig bedeckte. Peinlich berührt zog er es fester um seine Hüften. „Sie hatten einen stressigen Tag. Vielleicht waren Sie kurz eingenickt und haben Ihren Besuch nur geträumt. Schlafen Sie sich mal richtig aus und morgen wird die Welt wieder in Ordnung sein.“

Marc nickte verlegen und verabschiedete sich. Zögernd betrat er erneut seine Wohnung. Ein weiteres Mal verriegelte er sorgsam die Tür hinter sich.

2

Am nächsten Morgen erwachte Marc früh. Obwohl sportlich fit, fühlten sich seine Arme und Beine wie Blei an. Zu oft war er am Vortag, bepackt wie ein Esel, die vielen Stufen bis in den vierten Stock hinaufgestiegen. Außerdem hatte er in der Nacht wegen des heftigen Gewitters über der Stadt schlecht geschlafen. Sofort erinnerte er sich an die schöne Unbekannte gestern in seiner Wohnung. Lag es wirklich nur an der Erschöpfung, dass ihm sein Verstand einen Streich gespielt hatte? War er, wie Jonny vermutete, einfach nur ein wenig eingenickt und hatte geträumt? Aber alles hatte so realistisch gewirkt! Was hatte sie in seiner neuen Wohnung gemacht? Doch es machte keinen Sinn darüber nachzudenken, wenn sie nur seiner Fantasie entsprungen war. Ein Lächeln huschte über Marcs Lippen, als er sich an die ebenmäßigen Züge der Frau erinnerte. Sogar das kleine Grübchen in der linken Wange der Frau sah er noch so deutlich vor sich, wie er es hatte in ihrem Spiegelbild erkennen können. Etwas verlegen gestand er sich ein, dass er sich seine zukünftige Freundin so wünschte. Aber eine solche Frau konnte man im realen Leben nie und nimmer treffen. Er seufzte und versuchte die Eindrücke des letzten Abends aus seinem Hirn fortzuwischen.

Überhaupt hatte er heute noch zu viel zu tun, als sich weiterhin darüber Gedanken zu machen. Er stellte das Radio an und sprang schnell unter die Dusche. Als er sich ankleidete, lief gerade der Wetterbericht und einen Moment lang stutzte Marc, als der Moderator den Bericht mit den Worten beendete, dass der neue Tag nach dieser herrlich sternenklaren Nacht mit anhaltendem Sonnenschein beginnen würde. Marc schüttelte den Kopf. Er wusste noch zu gut, wie in der Nacht die Blitze sein Schlafzimmer erhellt und sowohl der laute Donner als auch das stürmische Prasseln des Regens ihm trotz seiner Erschöpfung den Schlaf geraubt hatten. Radiosendungen aus der Konserve waren nicht sein Ding und vertauschte Wetterberichte schon gar nicht. Die Sender versuchten an allen Ecken zu sparen und das hatten sie nun davon, wenn sie das Personal entließen. Sei es drum. Die Anzahl der Rundfunksender in dieser Stadt dürfte gegen unendlich tendieren. Marc wechselte kurzerhand den Kanal. Plötzlich musste er verstohlen gähnen. Egal. Es würde sich unterwegs schon irgendwo ein starker Kaffee bei Starbucks finden lassen. Einen richtigen Muntermacher brauchte er jetzt. Dann würde die Welt wieder im Lot sein. Als er gerade das Haus verlassen wollte, kam ihm eine junge kräftige Frau auf der Treppe entgegen. Sie hielt eine große Einkauftasche in der Hand und man sah, dass sie froh war, die oberste Etage erreicht zu haben. Als sie Marc sah, lächelte sie erfreut, während sie außer Atem schnaufte, was ihre umfangreiche Oberweite heftig hin und her wogen ließ.

„Du bist dann ja wohl mein neuer Nachbar von gegenüber“, keuchte sie noch völlig außer Atem und kam auf ihn zu. Behutsam setzte sie die Tasche ab und streckte ihm eine Hand entgegen, die gut und gerne auch einem Mann hätte gehören können. Marc ergriff sie ohne zu zögern.

„Ich heiße Molly, Molly Smithone, und du bist sicher dieser Marc McCann.“ Mollys Händedruck war trocken und kräftig, was Marc auf Anhieb gefiel. Sie trug einen lilafarbenen Wickelrock und hatte einen Palästinenserschal um den Hals gewickelt. Ihre Augen funkelten vor Lebensfreude. Die Stimme der Frau war laut und ertönte in einem dunklen Alt. „Komm mit rein, ich lade dich auf einen Kaffee ein.“ Die Nachbarin, öffnete ihre Wohnungstür und trat, ohne sich um Marcs Antwort zu kümmern, in ihr Apartment. Marc zögerte nur einen Wimpernschlag, hatte er doch eigentlich vor, bei seinem neuen Arbeitsplatz vorbeizuschauen. Aber einen Kaffee konnte er wirklich vertragen. Und statt ihn allein in der Stadt zu trinken, würde er hier bei der Nachbarin sicher genauso gut schmecken.. Molly war ihm sympathisch, wenn wohl auch nicht unkompliziert, wie er mit einem Blick auf die volle Tragetasche feststellen musste, die darauf zu warten schien, von ihm in die Nachbarwohnung getragen zu werden. Er seufzte leise und griff nach dem Einkauf. Verwundert, wie schwer sie war, hob er die Tasche auf und trat durch Mollys Tür.

„Espresso? Latte macchiato? Cappuccino?“

Marc stellte den Beutel mit den Besorgungen ab.

„Einen Cappuccino, wenn es nicht so viel Umstände macht.“

„Kein Problem“, rief die Nachbarin. „Setz dich, ich bin gleich soweit.“

Marc schaute sich um. Die Wohnung war genauso geschnitten wie seine eigene. Während jedoch seine Räume zur Straße hin ausgerichtet waren, zeigten ihre Fenster auf einen kleinen Innenhof. Zudem war dieses Apartment vollkommen anders eingerichtet. An den Wänden hingen gerahmte Poster von Popgruppen, deren Namen er noch nie gehört hatte. Die grell geschminkten Gesichter darauf und die teils kraftvollen zweideutigen Posen, in denen die Bandmitglieder abgelichtet waren, deuteten nicht darauf hin, dass es sich um Vertreter der Country-Musik handelte. Das Wohnzimmer war voller Tand. Plüschtiere machten sich auf dem abgewetzten Sofa breit und passten so gar nicht zu dem martialischen Bilderschmuck der Wände. Auf dem niedrigen Couchtisch glommen die Reste eines Räucherstäbchens vor sich hin und füllten die Luft mit einem schweren, süßlichen Geruch. Marc räumte einen Löwen und einen Teddybär beiseite, bevor er sich setzte. Von der angrenzenden Küche drang das Summen eines bekannten Heavy-Metal-Songs zu ihm herüber, der vor mehr als zehn Jahren kurz in den Charts zu finden gewesen war. Nur kurze Zeit später kam die Frau mit zwei Kaffeetassen zurück und stellte eine davon vor Marc auf den niedrigen Beistelltisch.

„Also, erzähl mal. Was treibt dich in diese Stadt?“

Marc nahm einen Schluck Cappuccino, in dem seine Gastgeberin mindestens drei Löffel Zucker versenkt hatte.

„Man hat mir hier an der Uni einen Job angeboten.“

Molly nickte, als wäre nun alles klar.

„Welches Fach?“, fragte sie knapp.

„Angewandte Psychologie.“ Sie pfiff leise durch die Zähne.

„Ein Psychologe unter unserem Dach! Wahrscheinlich analysierst du schon ganz genau, warum ich als alleinstehende Frau einen gut aussehenden Burschen wie dich zu einem Kaffee eingeladen habe.“

Marc schmunzelte. Abwiegelnd hob er die Hände.

„Keine Sorge. Bei mir dreht es sich eher um Wirtschaftspsychologie. Dabei geht es nicht darum, welche Männer du zu dir nach Hause einlädst, sondern darum, wie dein subjektives Empfinden in einem ökonomischen Umfeld ist.“

Molly bewegte anerkennend ihren Kopf, und blickte ihrem Nachbarn direkt in die Augen. Dann grinste sie breit.

„Ich habe nichts davon verstanden, was du gerade gesagt hast“, sagte sie ehrlich, obwohl ihre Geste zuvor etwas ganz anderes ausgedrückt hatte.

„Ist auch nicht so wichtig“, beeilte er sich zu erklären. „Im Wesentlichen geht es um einfache Fragen. Zum Beispiel warum du gerade jetzt Aktien kaufst oder verkaufst. Oder ob du im Supermarkt eher eine Milchtüte mit roter oder blauer Schrift kaufen wirst.“ Noch einmal kostete er an seinem Kaffee. „Und wo arbeitest du?“

Es stellte sich heraus, dass Molly als Assistentin im physikalischen Institut der Universität arbeitete. Ihr Medizinstudium hatte sie zwar abgeschlossen, dann aber ihre Leidenschaft für die Physik entdeckt.

„Wir führen da etwas seltsame Versuche durch“, beschrieb sie vage.

„Was macht ihr denn so?“, fragte Marc neugierig, doch Molly wollte sich nicht weiter erklären.

„Wir sind gerade erst ganz am Anfang unserer Forschungen und es wäre noch zu früh darüber zu reden.“

Es entstand eine Pause in ihrem Gespräch, in der beide an ihren Getränken nippten. Nur zu gerne würde Marc auch etwas über Mollys Tätigkeit in Erfahrung bringen, doch er akzeptierte ihr geheimnisvolles Schweigen. Schließlich wechselte er das Thema, bevor die Stille unangenehm wurde.

„Wie sind denn so die anderen Mitbewohner hier?“, fragte er.

Molly hob kurz die Schultern, als hätte sie nur wenige Informationen zu bieten.

„Nun, Jonny den Hausmeister wirst du ja schon kennen. Er hat dir die Schlüssel gegeben. Er ist ein netter Zeitgenosse und sehr hilfsbereit. Ist das Waschbecken verstopft oder die Sicherung defekt: einfach Jonny rufen. Gute und schnelle Arbeit. Die meiste Zeit wirst du ihn im Flur anstatt zuhause antreffen. Ich habe ihm schon die halbe Universität vorgestellt, denn fast immer, wenn ich Besuch bekomme, laufen meine Gäste an ihm vorbei. Er trägt einen Ring am Finger, aber seine Frau habe ich noch nie zu Gesicht bekommen.

In den Etagen unter uns kenne ich einen alten Mann und zwei junge Familien.“ Sie zog die Stirn kraus, bevor sie fortfuhr. „Aber viel kann ich dir dazu nicht sagen. Der Rentner hat seine Wohnung direkt unter meiner und ist schlecht zu Fuß. Er verlässt kaum das Haus und ist darüber hinaus äußerst schwerhörig, so dass ich mir über die Lautstärke meiner Musik kaum Gedanken machen muss.“ Molly zwinkerte mit dem rechten Auge und grinste spitzbübisch. „Alles, was der Mann so braucht, lässt er sich bringen. Und sonderlich kontaktfreudig scheint er auch nicht zu sein. Die Familien sind nett, aber kümmern sich fast nur um ihren kleinen Nachwuchs. Nichts, um mal abends schnell ein Bier zu zischen. Apropos, ich habe immer welches im Kühlschrank. Wenn dich also die Lust auf was Kühles übermannt, komme einfach mal rüber.“

Marc lachte erfreut.

„Das werde ich mir merken. Nur Wasser trinken ist sowieso nicht mein Ding.“

„Und dann wären noch die Leute auf diesem Stockwerk. Mich hast du ja schon kennengelernt.“ Sie grinste ihn mit einem übertriebenen Augenaufschlag an, der eher zu einem Teenager als zu einer erwachsenen Frau gepasst hätte. „Auf der anderen Seite des Treppenhauses wohnen Josh und Phil. Ein schwules Paar und immer unterwegs. Machen irgendwas mit Mode, oder so. Von denen kriegst du kaum was mit. Und zur Straße hin neben dir wohnt Anabelle. Sie kellnert in einer Bar in der Eastside, ist jeden Abend unterwegs und kommt erst früh am Morgen nach Hause. Für meinen Geschmack ist sie zu still. Nicht so ein geschwätziges Plappermäulchen wie ich eins bin. Aber sie scheint o.k. zu sein. Halt nur ein bisschen…“, sie suchte nach einem passenden Wort. Es war Marc, der den Satz beendete.

„…langweilig?“

Molly verzog das Gesicht, was man als Geste der Zustimmung interpretieren konnte.

„Unterstehe dich, ihr irgendetwas davon zu erzählen!“

Marc strich sich mit den Fingern über seine Lippen, als seien sie in dieser Angelegenheit für immer versiegelt.

„Und was ist mit dem Vermieter? Gibt’s von dessen Seite Probleme?“

„Pah“, schnaubte Molly abschätzig. „Die wirst du nie zu Gesicht bekommen, jedenfalls nicht, solange du deine Miete pünktlich bezahlst.“

„Die Vermieter? Ich dachte, es gäbe nur einen?“

„Es sind zwei Brüder, die sich heillos zerstritten haben. Die rechte Seite des Hauses gehört dem einen, die linke dem anderen. Eigentlich wollten sie die Außenfassade gemeinsam wieder in Schuss bringen, doch nachdem das Gerüst schon vor Wochen gestellt worden war, gab es wieder Ärger zwischen den beiden und jeder wird nun wohl sein eigenes Ding machen.

Die beiden plauderten noch eine ganze Weile, doch dann fiel Marcs Blick auf seine Uhr.

„Jetzt muss ich aber wirklich los“, sagte er und erhob sich. „Es war nett dich kennenzulernen. Es ist schön, eine sympathische Nachbarin in meiner Nähe zu wissen.“

Molly lächelte verschmitzt.

„Und ich bin froh, einen so gut aussehenden Kerl nur eine Flurbreite entfernt gleich gegenüber wohnen zu haben. Sei nicht ärgerlich, wenn ich dich ab und an als meinen Liebhaber ausgebe, wenn mal wieder einer meiner spät pubertierenden Studenten versucht, mir den Hof zu machen.“

Marc grinste unsicher. Er wusste nicht, was er darauf entgegnen sollte, aber Molly ließ ihn über eine Erwiderung auch gar nicht nachdenken.

„Dann viel Glück in dieser Stadt. Wenn ich dir irgendwie helfen kann: einfach klingeln. Das nächste Mal werde ich einen meiner herrlichen Muffins für dich gebacken haben. Spezialrezept von meiner Großmutter. Du wirst mir danach zu Füßen liegen.“ Sie zwinkerte ihm zu. Doch dann hielt sie inne, als hätte sie eine bessere Idee.

„Ich habe morgen frei. Hast du schon etwas vor?“

Marc schüttelte den Kopf.

„Wie wäre es, wenn ich dir die Sehenswürdigkeiten der Stadt zeigen würde?“

„Das wäre toll!“

„Dann werde ich dir die Muffins gleich für morgen früh backen!“ Molly schien in ihrem Element zu sein. „Wir beginnen mit dem Frühstück und dann werden wir durch die Stadt ziehen! Einverstanden?“

Marc nickte dankbar. Er war froh, in der neuen Stadt eine Freundin gefunden zu haben.

Als er das Haus verließ, änderte er seine Pläne und verschob den Besuch an seinem neuen Arbeitsplatz auf später. Der Kühlschrank war leer und so war es besser, erst einmal ein paar Einkäufe zu erledigen. An Blitze, Donner und Gewitterregen, die ihn in der letzten Nacht wach gehalten hatten, dachte er nicht mehr. Deshalb fielen ihm auch nicht die staubtrockenen Straßen auf. Seit Wochen war kein einziger Tropfen Regen gefallen.

3

Es klingelte, dann klopfte es und wieder wurde die Klingel gedrückt. Marc schreckte aus dem Tiefschlaf auf. Einen Moment lang wusste er nicht, wo er war. Er schaute sich aufgeregt in seinem Schlafzimmer um. Der Wecker zeigte sechs Uhr am Morgen, für Marc war das noch mitten in der Nacht. Es musste etwas außergewöhnlich Wichtiges sein, ihn um diese Uhrzeit aus dem Bett zu werfen. Mit Daumen und Mittelfinger wischte er sich mit der einen Hand den Schlaf aus den Augen, mit der anderen warf er die Decke zur Seite und sprang aus dem Bett. Nur mit seiner Boxershorts bekleidet rannte er zur Tür. Bestimmt war ein Feuer ausgebrochen und das Haus musste evakuiert werden. Unwillkürlich sog er die Luft durch die Nase ein, doch er konnte keinen Brandgeruch ausmachen. Er riss die Tür auf und erwartete eine Handvoll Feuerwehrmänner, die mit Helmen und Äxten bewaffnet, versuchen würden, ihn aus dem brennenden Haus zu retten, während sie ihm den Weg durch Feuer und Rauch freikämpften.

Doch draußen stand Molly und grinste ihn an.

„Gut geschlafen?“

„Was ist passiert?“ presste Marc hervor und blickte den Flur auf und ab, als würde er erwarten, die Flammen aus dem Treppenhaus schlagen zu sehen.

„Was passiert ist?“ Molly sah ihn fragend an. „Du bist zum Frühstück eingeladen. Schon vergessen?“

Marc starrte Molly mit großen Augen an.

„Frühstück?“, fragte er.

„Ich bitte Dich, Marc! Ich habe dich gestern zum Frühstück eingeladen. Das hast du doch nicht vergessen, oder?“ Molly sprach mit ihm wie mit einem Fünfjährigen, während sie ihren Zeigefinger im Kreis um ihre Schläfe rotieren ließ, als wolle sie Marcs Gehirnwindungen dadurch aktivieren.

„Nein, natürlich nicht“, stammelte Marc, der erst jetzt bemerkte, dass er außer seiner Shorts nichts am Leibe trug.

„Dann zieh dich an und komme rüber. Ich habe eine Überraschung für dich.“ Molly musterte Marc von Kopf bis Fuß, nickte anerkennend und ging davon. „Du hast fünf Minuten“, sagte sie mit dem Rücken zu ihm gewandt, während sie die Tür zu ihrer Wohnung hinter sich schloss.

Marc schaffte es in zehn Minuten sich zu duschen, zu rasieren und anzuziehen. Als er an Mollys Tür klopfte, wurde sie sofort geöffnet. Marc wollte schon eintreten, doch Molly versperrte ihm den Weg und lächelte kess. Trotzdem gelang es Marc, einen kurzen Blick in die Wohnung zu werfen. Der Tisch war nicht gedeckt.

„Überraschung“, sagte Molly knapp und holte hinter ihrem Rücken einen dünnen Seidenschal hervor. Sie ließ den verwirrten Marc sich umdrehen und verband ihm mit flinken Fingern die Augen.

„Kein Frühstück?“, fragte er sichtlich enttäuscht, ließ aber zu, dass der Seidenschal seine Augen verschloss.

„Warte es ab“, antworte Molly hintergründig und hakte sich bei ihm ein. Sie führte ihn den Flur entlang, doch anstatt die Treppe nach unten zu nehmen, stiegen sie gemeinsam einige Stufen nach oben. Marc war zu sehr damit beschäftigt, sich zu konzentrieren, blind mit Molly Schritt zu halten. Ihm blieb keine Zeit darüber nachzudenken, wohin Molly ihn führte. Nach einem kurzen Aufstieg hörte Marc, wie Molly eine leicht quietschende Tür öffnete. Als sie hindurchgegangen waren, knirschte der Belag unter Marcs Füßen und ein kühler Windhauch wehte zu ihm hinüber. Die Luft war frischer und die Geräusche der Straße drangen in ungewohnter Klarheit an sein Ohr. Ein Vogel zwitscherte. Einige Sekunden später blieb Molly stehen und zog Marc das Tuch vom Kopf. „Ein Willkommensfrühstück für den neuen Mieter!“ Molly machte eine galante Bewegung mit dem Arm und deutete auf einen kleinen Tisch, den sie auf der Dachterrasse gleich neben der kniehohen Außenmauer aufgestellt hatte. Zu dieser frühen Morgenstunde offenbarte der Standort einen atemberaubenden Blick auf die erwachende Stadt. Brötchen und Croissants verströmten einen herrlichen Duft. Saft, Marmelade, Käse und Wurst, alles was das Herz begehrte, war auf kleinem Raum liebevoll gedeckt und lud zu einem bezaubernden Frühstück bei Sonnenaufgang ein. In einem Eiskühler steckte eine Flasche Champagner. Das Aroma von frisch gebrühtem Kaffee tat das Übrige dazu. Und die angekündigten frisch zubereiteten Muffins fehlten natürlich auch nicht.

Marc blinzelte ein paar Mal. Sonne stach in seine Augen und er kniff sie zusammen. Erst langsam gewöhnte er sich an das helle Licht bis ihm plötzlich bewusst wurde, in welcher Höhe er sich befand. Er erbleichte und trat hektisch einige Schritte zurück, bis er das Metall des Türrahmens berühren konnte. Er atmete schwer und seine Hände zitterten. Molly schaute ihn mehr irritiert als besorgt an. Ihr war sofort klar, was Marcs Problem war.

„Alles in Ordnung?“, fragte sie mitfühlend, die Stirn kraus gezogen. Marc reagierte nicht, sein Blick war mit weit aufgerissenen Augen auf die Brüstung gerichtet.

Entschieden trat Molly auf Marc zu, hakte sich bei ihm unter und führte ihn kurz entschlossen zurück zu ihrem Apartment.

„Wie wäre es, wenn du so lange in meiner Wohnung wartest, bis ich das Frühstücksgeschirr von der Dachterrasse nach unten gebracht habe?“

„Das wäre eine gute Idee“, antworte Marc erleichtert. Seine Stimme zitterte und seine Worte klangen angespannt. Sobald sie das Treppenhaus erreicht hatten, begann sich sein Atem wieder zu beruhigen.

John Pinter, der sich trotz der frühen Stunde schon an einer Lampenfassung im Flur versuchte, blickte Molly und Marc grinsend an, als sie ihm Arm in Arm entgegenkamen. Doch als er Marcs kalkweißes Gesicht sah, bot er sofort seine Hilfe an. Im Vorbeigehen erklärte ihm Molly knapp die Situation und versicherte dem Hausmeister, alles unter Kontrolle zu haben.

Erst als Molly ihren Nachbarn durch die Tür in ihre Wohnung schob, nahm Marcs Gesicht wieder Farbe an und seine Wangen begannen zu glühen. Er wusste nicht, ob es an der Geborgenheit der vier Wände oder seiner Verlegenheit lag. Schweißtropfen standen auf seiner Stirn, die er rasch mit dem Handrücken abwischte. Dankbar nahm er auf dem Sofa in Mollys Apartment Platz. Es dauerte nur ein paar Minuten, bis Molly mit einem großen Tablett zurückgekehrt und die leckeren Sachen auf dem Küchentisch ausgebreitet hatte. Zeit genug für Marc, um sich wieder zu fangen. Er seufzte tief und setzte zu einer Erklärung an, doch Molly hob die Hand.

„Jetzt lass uns in Ruhe das Frühstück genießen.“

„Aber, ich…“

„Marc, es gibt nichts zu begründen.“ Und dann, als sei nichts geschehen, fragte sie ihn: „Möchtest du dein Ei gebacken oder gekocht?“

Das Frühstück war sehr gut gewesen und hatte bis in den späten Vormittag gedauert. Noch zweimal hatte Marc versucht, seine Höhenangst zu erklären, doch beide Male hatte Molly abgewunken. Zu keinem Zeitpunkt hatte Marc das Gefühl, als würde ihm seine Reaktion oben auf dem Dach als Schwäche ausgelegt. Nach und nach fühlte sich Marc entspannter. Das Gespräch mit Molly gestaltete sich ungezwungen locker und er hatte den Eindruck, sein Gegenüber schon seit seiner Jugend zu kennen. Nach dem Frühstück zogen sie gemeinsam durch die Straßen. Molly zeigte Marc die interessantesten Ecken der Stadt, führte ihn zu angesagten Cafés, Galerien und Kneipen und machte ihn auf die Szene-Clubs in verwinkelten Gassen aufmerksam, die einen Besuch in den nächsten Wochen lohnen würden. Die Sonne war schon längst untergegangen, als sie nach Hause zurückkehrten. Marc hatte das Frühstück und den Tag mit Molly genossen. Dass die Beziehung zu ihr sich zu einer tiefen Freundschaft entwickeln würde, davon war er überzeugt. Einen Atemzug lang überlegte er, ob Molly mehr erwarten würde. Doch er war sich sicher, dass sie genauso wie er an Freundschaft und nicht an Erotik interessiert sein würde.

Eine wohltuende Müdigkeit hüllte Marc ein, als er vor der Entscheidung stand, ins Bett zu gehen, oder den ereignisreichen Tag mit einem Glas Rotwein ausklingen zu lassen. Er entschloss sich für den Wein. Ohne sich die Mühe zu machen, die CD im Player zu wechseln, drückte Marc einfach den Startknopf. Dann entkorkte er eine gute Flasche Chianti, die er vorsorglich im Supermarkt erstanden hatte, nahm eines der Kristallgläser aus dem Regal und goss sich großzügig ein. Mit einem lauten Knarren schob er einen der bequemen Sessel vor das Fenster. Der Abstand dazu war perfekt. Nicht zu nah, dass die Panik in ihm aufflackerte, aber doch so nah, dass er das Gefühl haben konnte, eine kleine Herausforderung zu bestehen. Er ließ sich in die weichen Polster fallen und gab sich dem gleichmäßigen Takt der ruhigen Musik hin. Die Stahlstreben vor seinem Fenster und die rauen Gerüstbretter störten ihn nicht. Im Gegenteil. Er verspürte eine zusätzliche Sicherheit, als sei das Gerüst ein Puffer zwischen Absturz und Geborgenheit. Er wippte mit dem Fuß im Rhythmus der Musik. Ab und an nahm er einen Schluck aus seinem Glas und spürte den fruchtig herben Wein angenehm in seinem Gaumen. Langsam stellte sich eine tiefe Entspannung ein, die nur schwer von der wohligen Mattigkeit zu unterscheiden war. Er schloss die Augen, um sich ganz diesem behaglichen Gefühl hinzugeben. Er vergaß die Zeit und lebte den Moment in Behaglichkeit. Wieder nahm er einen Schluck aus dem Rotweinglas und rollte den edlen Tropfen in seinem Mund, bevor er ihn die Kehle hinabgleiten ließ. Ein stimmungsvoller Ausklang dieses Tages.

Als er die Augen wieder öffnete, hatte sich etwas verändert. Marc blinzelte, doch er wusste nicht, was geschehen war. Sein Herz begann schneller zu schlagen und er bemerkte einen leichten Anflug von Angst, die rasch stärker wurde. Er hatte das Gefühl, zu nah am Fenster zu sitzen. Doch wie konnte das sein? Ein paar Augenblicke zuvor hatte er sich rundum gut auf diesem Platz gefühlt. Doch nun schien es ihm, als sitze er direkt vor dem Abgrund und ihn trenne nur eine Armeslänge von dem Sturz in die Tiefe. Rasch schob er den Sessel ein wenig zurück, und sofort wurde der aufsteigende Kloß in seiner Magenkuhle kleiner. Er dachte nach, was geschehen war, während er nach draußen in die Dunkelheit starrte. Und plötzlich fiel im auf, was anders war. Das Gerüst vor seinem Fenster war verschwunden. Keine Metallstrebe, kein ungehobeltes Kiefernbrett war zu sehen. All das war verschwunden. Nichts mehr deutete auf die bevorstehende Renovierung hin. Doch das war nicht ganz richtig. Denn wenn er zur Seite schaute, konnte er an der anderen Haushälfte die verzinkten Metallstangen eines Baugerüstes erkennen. Sein Mund wurde trocken. Geistesabwesend nahm er einen Schluck aus dem Rotweinglas. Der Wein schmeckte gut, hatte aber ein anderes Bouquet. Sein Blick fiel auf das Etikett der Weinflasche. Er stutzte. Ein Bordeaux. Das alles konnte nicht sein! Er kniff die Augen zusammen und versuchte aus dem Traum aufzuwachen. Mit beiden Händen schlug er sich auf die Wangen. Als er die Augen wieder öffnete, stand das Gerüst wieder direkt vor seinen Augen. Schnell blickte er auf die geöffnete Weinflasche. Ein Chianti. Marc atmete mit geblähten Backen aus. Es war ein spannender, aber auch anstrengender Tag gewesen. Es war Zeit zu Bett zu gehen.

4

Den nächsten Tag verbrachte Marc mit Dingen, die man ungern tut, die aber nach einem Umzug in eine neue Stadt wohl notwendig sind. Wenigstens in den Augen der Bürokraten. So war er damit beschäftigt, die Einträge in Ausweis und Führerschein zu ändern, neue Papiere und Nummernschilder zu beantragen und für die Verwaltung der Stadt seinen Wohnsitz zu ändern. Und jeder Gang zu einer der zuständigen Behörden war mit einer langen Warteschlange, endlosen Formularen und immer wieder gleich lautenden Erklärungen verbunden, die Marc den letzten Nerv raubten. Als gäbe es außer ihm keine anderen Bürger dieses Landes, die von einem Bundesstaat in einen anderen ziehen würden!

Endlich hatte er alles beisammen, einige Unterlagen hielt er bereits in den Händen, andere waren wenigstens schon beantragt und würden in den nächsten Wochen zur Abholung in den verschiedenen Ämtern bereitliegen. Immerhin hatte das Ganze wenigstens am Rande für Marc etwas Positives. Denn während er mit dem Stadtplan in der Hand von einem der Büros zum nächsten pilgerte, hatte er nun einen groben Überblick über die Lage der großen Haupt- und der wichtigsten Nebenstraßen der Stadt. Während er am Vortag mit Molly das Augenmerk auf die spannenden Dinge der Stadt gerichtet hatte, wusste er nun auch, wie er dorthin gelangen konnte. Und Molly hatte ihm ganz in der Nähe seiner neuen Wohnung einen hübschen Park gezeigt. Bestens geeignet, um dort mindestens drei Mal in der Woche ein paar Meilen zu joggen. Am folgenden Tag, als er alles in geordnete Bahnen gelenkt hatte, um einer Bürokratenseele Freude zu machen, wollte er sich einen freien Tag gönnen. Er begann mit einem exquisiten Frühstück mit einem doppelten Cappuccino in seinen neuen vier Wänden, während er sorgfältig den Daily Telegraph in seinen Händen studierte. Er legte den mit feiner Pastete bestrichenen Toast auf den Teller und schob ihn gemeinsam mit der Tasse ein wenig beiseite. Dann legte er die Zeitung auf den Tisch und strich mit der flachen Hand eine Knickstelle im Papier glatt, die sich quer über die Seite gebildet hatte. Auf den ersten Blättern wurden die üblichen politischen Probleme des Landes erläutert und einige Kommentare geschrieben. Den Wirtschaftsteil überflog Marc nur – er beschränkte sich auf die Schlagzeilen. Als neuer Bewohner dieser Stadt hatte er das Bedürfnis, die Seiten, die sich mit den lokalen Ereignissen beschäftigten, besonders intensiv zu durchleuchten. Ein neu eingeweihter Kindergarten in einem Stadtteil, von dem Marc noch nicht gehört hatte; ein Bericht über Bewohner am Stadtrand, die sich über die seit Wochen ausgefallene Straßenbeleuchtung beschwerten; ein bedauernder Artikel über den Austausch der letzten Telefonzelle mit Münzeinwurf, so dass nun im ganzen Stadtgebiet nur solche mit Kreditkarte aufgestellt worden waren; ein Wasserrohrbruch in der Falkstreet; ein brennender Mülleimer in Upper East. Marc seufzte. Nicht gerade eine anregende Lektüre. Als er die nächste Seite der Zeitung aufschlug, stutzte er jedoch. Interessiert blieb er an einem Artikel über die repräsentative Wohnkultur seines Stadtviertels hängen. Das Bild über dem Bericht kam ihm irgendwie bekannt vor, doch erst einen Augenblick später erkannte er, dass es ein Schnappschuss seines Wohnblocks war, der zuoberst auf der Seite prangte, in ungewohnter Perspektive aus der obersten Etage eines der gegenüberliegenden Häuser aufgenommen.

Ein großer Artikel unter dem Foto stach Marc ins Auge. Der Bericht beschrieb die Beschaulichkeit und das aufgewertete Wohngefühl nach den umfangreich geförderten Sanierungsmaßnahmen in den letzten Jahren. Doch der Autor des Beitrages kritisierte auch die ewig gestrigen Hausbesitzer, die sich diesem Trend entzogen hatten und sich der Verschönerung des Ortsteils durch ihre Ignoranz einfach widersetzten. Als Beispiel dafür wurde gerade die schäbige Fassade von Marcs Wohnblocks genannt, die trotz umfangreicher Förderhilfen noch immer in einem desolaten Zustand war. So fiele es dem Betrachter der Front schwer zu entscheiden, ob die bröckelnden Mauern, die grellen Schmierereien oder das marode Stahlgerüst hässlicher waren. Der Zeitungsartikel endete mit dem Hinweis, dass nun die Stadtverwaltung an die beiden zerstrittenen Besitzer entschieden herantreten wollte, um sie dazu zu bewegen, die nötigen Reparaturarbeiten zum Wohle der Bevölkerung endlich zu beginnen.

Marc schlug die Zeitung zu. Es war so, wie Molly gesagt hatte. Er selbst war über den derzeitigen Zustand der Außenfassade nicht wirklich empört, da die Wohnung selbst in einem Top-Zustand war. Zudem ahnte Marc, dass eine schicke Instandsetzung des Gebäudes im Sinne des Zeitungsschreibers mit einer noch h höheren Miete aus seinem eigenem Geldbeutel einhergehen würde. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, kam ihm die Hauswand schon längst nicht mehr so schäbig vor, wie sie beschrieben worden war. Er zuckte die Achseln. Wenn die beiden Besitzer sich so spinnefeind waren, dass sie sich nicht einigen konnten, wie die Kosten der Renovierung aufgeteilt werden sollten, dann konnte es ruhig noch ein wenig so weiter gehen. Marc nahm einen letzten Schluck aus seiner Kaffeetasse und räumte den Tisch ab. Heute würde er es sich gut gehen lassen. Er hatte eine tolle Wohnung, einen neuen Job und den lästigen Papierkram hinter sich gelassen. Was wollte er mehr. Er telefonierte eine Zeitlang mit seinen Eltern, die wie immer alles ganz genau wissen wollten. Danach rief er noch zwei alte Schulfreunde an und lud sie für den nächsten Monat zu sich ein. Sie würden bestimmt Spaß haben, wenn sie gemeinsam die Gegend unsicher machten. Unwillkürlich grinste Marc erwartungsfroh. Er war rundum zufrieden. Doch jetzt wollte er noch etwas tun, was er in den letzten Tagen und Wochen leider viel zu sehr vernachlässigt hatte. Schnell hatte er Laufshirt und Jogginghose übergestreift und sich die Kopfhörer seines iPods in die Ohren gesteckt. Nachdem er die Haustür sorgfältig verschlossen hatte, verknotete er den Sicherheitsschlüssel mit dem Schnürsenkel seines rechten Laufschuhs. So behinderte der Schlüssel Marc nicht und trotzdem trug er ihn immer bei sich. Schnell wählte Marc noch eine Playlist mit schnellen Beats aus und schon ging es hinaus auf die Straße. Ein kurzer Weg zum Park, dann wählte Marc einen der vielen Wege und begann im Gleichklang der eindringlichen Musik in seinen Ohren zu laufen. Der Untergrund war nicht zu hart und bestens zum Joggen geeignet. Ein paar einzelne Läufer kamen ihm entgegen oder überholten ihn, aber Marc hielt sein Tempo und seinen Rhythmus bei. Seine verspannten Muskeln im Nacken lockerten sich allmählich, während seine Beine ihn im gleichmäßigen Schritt vorantrugen. Die Sonne schien angenehm warm vom wolkenlosen Himmel. Je länger Marc unterwegs war, desto leerer wurde sein Schädel. Während zu Beginn des Lauftrainings unzählige Gedankenstränge wie einzelne Fäden wild durch seinen Kopf schossen und sich verknoteten, so breitete sich nun eine angenehme Ordnung in seinem Gehirn aus, als würden aus dem wirren Knäuel seiner Gedanken nur noch die wichtigsten übrig bleiben und geordnet nebeneinander liegen. Beim Joggen hatte er immer seine besten Ideen gehabt, die ihn sowohl privat als auch beruflich weitergebracht hatten. Während er lief, spürte er, wie die unzähligen kleinen Probleme und Unsicherheiten auf wenige Dinge zusammenschrumpften, die er nun einzeln gedanklich anpacken und verarbeiten konnte. Die Musik in seinen Ohren half ihm dabei, den Takt und seine innere Ruhe nicht zu vergessen. Es war, als würden Körper und Geist durch den gleichmäßigen Schritt voneinander Distanz halten. Ein herrliches Gefühl der Klarheit. Tiefe Entspannung breitete sich in Marc aus.

Es dauerte eine Weile, bis er spürte, dass sich etwas verändert hatte. Der Beat in seinen Ohrhörern klang nun anders. Der hämmernde Bass gab einen veränderten Takt vor, die Gitarrenriffs des Bandleaders kreischten in einer höheren Tonlage. Zum dritten Mal bog er nun in einen der Wege ein, der den Beginn einer neuen Runde markierte. Marcs Lauf war nicht mehr so flüssig, wie noch Augenblicke zuvor. Sein Blick fiel auf ein Blumenbeet auf seiner rechten Seite. Eine Vielzahl blauer und gelber Blumen reckten ihre Kelche in den Himmel. Ein schöner Anblick in einem gepflegten Park. Und doch stutzte Marc. Hatte nicht zuvor an genau dieser Stelle ein prächtiger Stock mit dem betörenden Duft unzähliger roter Rosen gestanden? Marc wurde langsamer und blieb schließlich stehen. Er atmete tief durch die Nase ein. Der Rosenduft war nun einem erdigen Geruch, vermischt mit dem frisch gemähten Grases gewichen, ganz anders, als er ihn in Erinnerung hatte. Marc ließ seinen Blick über den Park wandern. Eine junge Joggerin, der er schon vorab zweimal begegnet war, lächelte ihm erneut zu. Sie trug einen zartrosafarbenen Laufdress. Dabei hätte Marc schwören können, dass sie noch wenige Minuten zuvor ein knallrotes Shirt getragen hatte. Doch das, was Marc am meisten irritierte, war der Himmel. Nicht eine Wolke hatte das tiefe Blau getrübt, als er mit seinem Lauftraining begonnen hatte. Doch nun war das Blau einem bedrohlichen Grau gewichen, das nicht einen Sonnenstrahl hindurch ließ. Wie konnte in so kurzer Zeit ein solch totaler Wetterumschwung stattfinden? Marc wurde schwindelig. Irritiert lehnte er sich an einen der uralten Bäume, die den Wegesrand säumten. Er zog die Kopfhörer aus seinen Ohren und massierte sich mit den Fingern die Schläfen. Die Augen hielt er geschlossen, zwickte sie dann so fest er konnte zusammen. Was geschah hier? Er merkte, wie eine überwältigende Übelkeit in ihm aufstieg, ein Unwohlsein, das er sonst eher von seiner Höhenangst kannte. Das Herz raste. Die Augen noch immer geschlossen, die Kabel der Kopfhörer in der Hand, kämpfte er gegen diesen Brechreiz an. Er versuchte, das Würgen zu kontrollieren. Plötzlich ebbte es ab. Aus den Kopfhörern in seiner Hand klang nun leise der ihm bekannte Viervierteltakt seiner Lieblingsband. Während sich sein Herzschlag normalisierte, öffnete Marc langsam die Augen. Die Sonnenstrahlen aus dem wieder strahlend blauen Himmel wärmten seine Haut. Ein leichter Duft nach Rosen lag in der Luft. Als sich Marc vorsichtig umwandte, sah er gerade noch, wie die junge Joggerin um die Ecke bog. Sie trug ein knallrotes Laufshirt.

5

Es dauerte eine Weile, bis er auf dem riesigen Campus das Institut gefunden hatte, in dem er die nächste Zeit arbeiten sollte. Es war ein unscheinbares zweigeschossiges Gebäude mit einer großen, von Licht durchfluteten Reihe von Fenstern, die nach Südwesten ausgerichtet waren. Neben dem Eingangsportal rankte wilder Wein und bedeckte einen großen Teil der Häuserfront mit seinem dichten Blattwerk. Auch wenn es noch ein paar Tage bis zu Marcs ersten Arbeitstag dauern würde, so wollte er sich doch schon einmal vorstellen und umsehen. Der Eingangsbereich des Instituts war mit erlesenen Hölzern dekoriert, die so gar nicht zu den sonst häufig abgenutzten Einrichtungen an Universitäten passen wollten. Hier hatte der Innenarchitekt Geschmack bewiesen und einer der Sponsoren dieser Einrichtung einen offenen Geldbeutel. Die Dame an der Pforte wies Marc freundlich den Weg. Als er das Vorzimmer seines zukünftigen Chefs betrat, wurde Marc von dessen Sekretärin begrüßt.

„Was kann ich für Sie tun?“, fragte sie und wandte sich ihrem Besucher zu, während sie den Kopfhörer des Diktiergerätes aus den Ohren nahm.

„Mein Name ist Marcus McCann“, sagte Marc. Weiter kam er nicht.

„Mister McCann! Ich bin Barbara Hunting, die Sekretärin von Professor Drake.“ Sie war aufgesprungen, um den Schreibtisch herumgekommen und zu Marc geeilt. „Wir haben Sie noch gar nicht erwartet, wo Sie doch erst in zwei Wochen hier bei uns ihre Tätigkeit aufnehmen werden.“ Sie schüttelte ihm herzlich die Hand. Ms. Hunting war eine kleine, zierliche Frau in den besten Jahren, wie man ihr Alter gemeinhin bezeichnen würde. Sie trug ein modernes braunes Kostüm über ihrer weißen Bluse. Die akkurat geschnittene Pagenfrisur verbarg nicht ihre grauen Strähnen und gab ihr einen strengen Gesichtsausdruck, der gar nicht zu ihrem herzlichen Wesen zu passen schien. Obwohl ihre Füße in Schuhen mit hohen Absätzen steckten, reichte die Sekretärin nur bis zu Marcs Schulter. Ein schmaler goldener Ring mit einem großen Brillanten ließ sie als verheiratete Frau erkennen. „Leider ist Professor Drake die nächsten Tage auf einer Vortragsreihe im Ausland. Ich bin sicher, er hätte sich über Ihren vorzeitigen Besuch sehr gefreut.“ Sie musterte Marc unauffällig und schien zufrieden zu sein. „Es ist mir eine Freude, Sie kennen zu lernen.“ Marc lächelte verlegen.

„Was führt Sie zu uns?“, fragte Ms. Hunting und strahlte ihren Gast an, als wären sie alte Bekannte.

„Ich war gerade in der Gegend“, sagte er, was nicht ganz der Wahrheit entsprach, „und dachte, ich könnte vielleicht schon einmal den einen oder anderen Kollegen kennen lernen.“

„Eine hervorragende Idee!“, bestätigte die Sekretärin nickend. „Wenn Sie möchten, stelle ich Ihnen die Mitarbeiter von Professor Drake gerne vor.“ Erfreut nahm Marc ihr Angebot an. Gemeinsam verließen sie das Vorzimmer und Ms. Hunting begann ihn durch verschiedene Abteilungen des Instituts zu führen.

„Das hier wird Ihr Büro sein“, erklärte Ms. Hunting, nachdem sie in einen Raum getreten war, dessen Eingang nicht weit von einer Tür mit der Aufschrift Professor Drake entfernt war. „Der Professor hat seine engsten Mitarbeiter gerne in seiner Nähe“, erwähnte Barbara Hunting Marc beiläufig, der sich die Zeit nahm, sich genauer umzuschauen. Das Büro war klein, aber gemütlich eingerichtet. Und es lag im Erdgeschoss, wie Marc dankbar bemerkte. Ein großer Schreibtisch aus einem hellen Holz dominierte das Zimmer und strahlte eine angenehme Atmosphäre aus. Der Computer am rechten Rand des Tisches trug die Typenbezeichnung eines erst vor wenigen Wochen auf den Markt gekommenen Modells. Durch das große Fenster an der Seite, welches von einem geschmackvollen Vorhang eingerahmt wurde, fielen die Sonnenstrahlen in das Zimmer und füllten es wohlig mit Licht. Der bequeme Schreibtischstuhl hinter dem Tisch war so platziert, dass man von dort sowohl aus dem Fenster als auch hinaus auf den Flur schauen konnte. Schränke und Regale waren perfekt aufeinander abgestimmt und zeigten einen ausgewogenen Kompromiss zwischen Wohnlichkeit und Funktionalität. Die weiß getünchten Wände waren noch kahl, aber Marc konnte sich schon genau vorstellen, wie der Raum mit Bildern und ein paar Pflanzen bestückt aussehen würde. Allein die Vorstellung gefiel ihm. Die Sekretärin, die etwas abseits stehen geblieben war, schmunzelte.

„Ich sehe, es gefällt Ihnen“, sagte sie und als Marc eifrig nickte, erklärte sie ihm nicht ohne Stolz, dass sie es gewesen war, die die Einrichtungsmöbel für diesen Gebäudetrakt ausgesucht hatte. „Kommen Sie, ich zeige Ihnen auch noch den Rest.“

Gemeinsam spazierten sie durch das Gebäude. In einem der nächsten Räume, dessen Tür offen stand, trafen sie auf einen von Marcs zukünftigen Kollegen, den Ms. Hunting ihm als Peter Frazer vorstellte. Die Begrüßung war herzlich, fast, als würde man einen alten Bekannten wieder sehen.

„Wenn es ihnen Recht ist, Ms. Hunting, dann zeige ich unserem neuen Freund den Rest der Einrichtung“, schlug Peter Frazer vor, der bemerkt hatte, dass die Sekretärin verstohlen auf die Uhr gesehen hatte. Entschuldigend schaute Ms. Hunting zu Marc hinüber.

„Ich erwarte noch ein dringendes Telefonat für Professor Drake. Wenn es ihnen nichts ausmacht…“

„Natürlich nicht“, beeilte Marc sich zu erklären.

„Dann lasse ich sie mal mit ihrem tapferen Mitstreiter allein“, antwortete die Sekretärin und zwinkerte Marc zu.

„Noch einmal vielen Dank!“, rief Marc ihr hinterher und erntete ein strahlendes Lächeln.

Die beiden Kollegen standen noch einen Augenblick beieinander und sahen Ms. Hunting nach, die schnellen Schrittes zurück in ihr Büro eilte. Plötzlich gähnte Peter Frazer heimlich hinter vorgehaltener Hand. Marc fiel es sofort auf.

„Müde?“, fragte er, doch Peter machte nur eine abwiegelnde Handbewegung. „Nur schlecht geschlafen“, nuschelte er und wechselte sofort das Thema. „Was hat dir denn Drakes rechte Hand schon alles gezeigt?“, fragte er mit seiner tiefen, nun wieder klaren Stimme. „Hoffentlich war sie nicht zu kurz angebunden, ihre Scheidung läuft gerade auf Hochtouren und manchmal ist die gute Seele deshalb richtig durcheinander.“ Peter Frazer war ein großer, schwerer Mann mit leichtem Bauchansatz und anhaltendem Lächeln. Seine dunklen Augen stachen wie schwarze Oliven aus seinem Gesicht hervor und gaben seinen weichen Zügen eine unerwartet strenge Note. Er trug ein T-Shirt, das über der Brust einen Mann mit herausgestreckter Zunge zeigte. Doch das Shirt war so verwaschen, dass erst auf den zweiten Blick auffiel, dass es sich um Albert Einstein handelte. Die ausgetretenen Sportschuhe waren an den Sohlen der Außenseiten abgelaufen. Marc fühlte sich bei Peters Anblick sofort an einen in die Jahre gekommenen Kraftsportler erinnert; sein Körper schien von längst vergangenen Trainingseinheiten zu zehren, doch das, was er nun an Muskelkraft und Ausdauer verloren hatte, wurde durch Masse mehr als kompensiert.

Marc unterstrich schnell den überaus herzlichen Empfang durch Ms. Hunting und zählte Peter Frazer all die Räumlichkeiten auf, die er schon mit der Sekretärin besucht hatte.

„Dann wollen wir uns mal den Rest anschauen“, sagte Peter.

„Arbeitest du hier schon lange als Psychologe?“, fragte Marc. Peter schüttelte den Kopf.

„Ich bin eher ein Quereinsteiger“, antworte er. Doch es blieb keine Zeit, die Sache weiter zu vertiefen, denn gerade traten sie gemeinsam in einen großen, freundlich eingerichteten Raum mit großen Fenstern.

„Das ist einer unserer Interviewräume.“

Eine der Wände wurde fast vollständig von einer verspiegelten Glasscheibe eingenommen.

„Hier sitzen der oder die Probanden und einer der Interviewer“, erklärte Peter und machte eine weit ausholende Geste mit der Hand. „Aber dort hinter dem Spiegel“, sie traten zurück auf den Flur und öffneten eine weitere Tür, „können die Teilnehmer bestens analysiert werden.“ Direkt neben dem Interviewraum befand sich eine kleine, fensterlose, düster wirkende Kammer. Die Glaswand, die von der anderen Seite wie ein Spiegel fungiert hatte, war von dieser Seite aus transparent, so dass die Interviewteilnehmer durch das Glas hindurch beobachtet werden konnten.

„Natürlich werden die Probanden vorab informiert, dass wir ihnen auf die Finger schauen“, erläuterte Peter, „aber nach den ersten zehn Minuten denkt niemand mehr daran und die Befragungen gehen völlig ungezwungen vonstatten.“ Marc war beeindruckt. Eine teure Videoanlage war installiert worden und das Objektiv der Kamera war in den Nachbarraum gerichtet. Eine Reihe von Mischpulten und Aufnahmegeräten standen neben mehreren Computern und schienen auf ihren Einsatz zu warten.

Hier würde Marc gänzlich unbefangene Interviewpartner befragen können und er würde die Möglichkeit haben, im Anschluss an diese Gespräche auch noch nachträglich Mimik und Körpersprache analysieren zu können. Das war wahrlich ein Luxus für seine akademische Forschung, mit dem er in dieser Perfektion nicht gerechnet hatte.

„Da kann sich dein Forscherherz doch richtig austoben, oder?“, fragte Peter, als hätte er die Gedanken seines Besuchers lesen können und gab Marc noch ein paar weitere Momente zum Staunen und Bewundern.

„Und was ist dort?“, fragte Marc neugierig und deutete auf eine Bürotür, an der ein kleines rotes Kreuz auf weißem Grund hing.

„Das ist der Raum für die Kriseninterventionen.“

„Ihr habt ein eigenes Zimmer für Kriseninterventionen?“ Marc starrte seinen Gegenüber überrascht an.

„Ich habe es noch nie erlebt, dass es benutzt wurde“, wiegelte Peter ab und machte eine belanglose Geste mit seiner Hand, „aber es soll schon mal vorgekommen sein, dass einer unserer Probanden bei den Befragungen psychisch kollabiert ist. Und dann holen wir Dr. Wilson.“

„Dr. Wilson?“, wiederholte Marc noch immer überrascht. Er erinnerte sich an einen eigenen Fall, als ein junger Mann bei der Entscheidung, ob ihm der rote oder blaue Yoghurtbecher besser gefiel, plötzlich in Tränen ausgebrochen war. Zwei Stunden lang war er kaum zu beruhigen gewesen. Damals hatte Marc ihm nur ein weiches Sofa in irgendeiner Büroecke anbieten können. Ein Kriseninterventionsraum war Luxus pur!

„Dr. Wilson ist unser Psychiater. Ein erfahrener Mann“, beantworte Peter Marcs Frage. „Er hat in der Stadt eine Praxis für Nervenheilkunde. Und im Notfall können wir ihn rufen. Ich habe gehört, dass er auch einige der anderen Institute betreut. Und auch eine Reihe von Universitätsmitarbeitern. Was immer die auch von ihm wollen.“ Peter grinste. „So, und nun wollen wir dir noch einige deiner Kollegen vorstellen.“