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"Unverschämt", urteilen ihre Lehrer über die zwölfjährige Anja und schicken sie in ein Internat. Anja ist aber nicht an "Hanni und Nanni-Romantik" gelegen und sie reagiert wütend. Doch alles wird anders, denn gute Freunde, Mädchen und Jungen, Abenteuer und Streiche führen dazu, dass sie das Internatsleben nicht mehr missen möchte.
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Seitenzahl: 388
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Der entscheidende Morgen
Die Ankunft
Verwirrung
Ein normaler Tag
Es spukt
Allerlei Alltägliches
Der glückliche Abend
Der Club
Besuch
Das Landheim
Die Neue
Am Kellersee
Josep
Herr Arno von Sturmheim
Was liegt an heute Abend?
In die Ferien
Neues vom Landheim
Unruhe und Gebrabbel
Das neue Schuljahr
Die Taufe
Kriminal-Tango
Besuch
Die Geige
Die Krise
Der tote Flügel lebt
Die Kaserne
Ein schöner Schreck
Einer fehlt immer
In den Club
Neustädter Kleinkrieg
Juliane
Kleine Überraschungen
Im neuen Jahr
Das ›Championat‹
Das gute Stück
Gefährlicher Besuch
Ein Jahr schon vorbei
Anja hatte es gut zu Hause. Als Ältere in der beiden Kinder verstand sie sich gut mit ihrem zehnjährigen Bruder. Auch zu ihren Eltern hatte sie ein gutes Verhältnis, auch wenn ›Paps‹, wie nur sie ihn nennen durfte, wenig Zeit für die Familie hatte. Er war Edelstein-Händler und als Fachmann in Idar-Oberstein hoch angesehen. Es ging ihnen gut. Sie bewohnten in Neustadt ein schönes Haus mit großem Garten. Das war auch der Grund, weshalb der Familienrat beschlossen hatte, nicht nach Idar-Oberstein umzuziehen. So sah man aber den Vater recht selten.
Aber das Mädchen war zufrieden. Sie hatte ein großes und, wie sie meinte, cool eingerichtetes Zimmer, der Garten war ein wenig ihr Hobby, außerdem konnte sie dort prima mit ›Bello‹, dem Hund der Familie, herumtoben. Na ja, Neustadt war etwas öde, und in der Schule lief es auch nicht so toll …
Anja wachte auf, bevor die Mutter sie weckte. »Ätzend!«, dachte sie. »Heute die Mathe-Arbeit!« Sie setzte sich auf die Bettkante, und ihr Blick fiel auf die Wand neben dem Fenster. Igitt, eine Spinne! Und was für eine! Spinne am Morgen bringt Unglück und … Ach was, Aberglaube.
Die Mutter schaute herein. »Ah, du bist schon wach?« »Ja, Mama, drei Tage vor den Osterferien werd´ ich munter.«
Waschen, anziehen, Bello begrüßen, Frühstück und ab zum Schulbus. Verflixt, morgens reichte die Zeit nie so ganz.
Im Klassenzimmer wartete schon der Mathelehrer. Komisch, der grinste immer so blöd’, wenn es eine Klassenarbeit gab.
Anja kochte innerlich schon, als die Zettel mit den Aufgabenstellungen verteilt wurden. Irgend so´n Zeugs mit einem ›X‹! Wer will mir denn da´n X für´n U vormachen..? Das hatte sie alles nicht richtig verstanden. Der Lehrer war sowieso ätzend!!
»Und nun bitte absolute Ruhe!«, ertönte es von vorne. »Ihr habt nur diese eine Schulstunde. Dafür sind es bloß sechs Aufgaben.«
Ein Blick aufs Blatt … äh, ja, wo und wie anfangen?
»Ich pack das nicht. Mist!« Sie stümperte in ihrem Arbeitsheft ein paar Zeilen zusammen. Dann kritzelte sie das Geschriebene wieder durch und stand nach zehn Minuten kurz entschlossen auf. Sie ging nach vorne und warf dem verdutzten Lehrer das Heft hin. »Wie, schon fertig?«, fragte der zweifelnd. Anja war wütend: »Ihr könnt mich Alle mal, und Sie ganz besonders!«
Wenn es vorher in der Klasse schon ruhig gewesen war, so herrschte jetzt versteinerte Stille.
Keiner rührte mehr einen Finger, alle Mädchen und Jungen hatten aufgehört, zu schreiben.
»Raus!«, rief der beleidigte Pädagoge.
Anja war es, als hätte sie sich selbst den Boden unter den Füßen weggezogen. Wie konnte sie nur …? Wie in Hypnose stelzte sie aus dem Klassenraum.
Auf dem Flur schien sie langsam zu erwachen. »Wie konnte ich nur?«, fragte sie sich wieder verzweifelt. »Ich habe mich genau so verhalten wie die Prollos, auf die ich sonst immer herabschaue.«
Nun stand sie vor der Klassentür und wusste nicht, was sie tun sollte. Was würde die Mutter sagen? Und Paps erst mal, wenn er Freitag nach Hause käme. »Ich muss mich entschuldigen! Aber wenn er die Entschuldigung nun nicht … « Es klingelte. Einige Minuten später ging die Klassentür auf, und der Lehrer rauschte an ihr vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Er verschwand am Ende des Flurs im Lehrerzimmer. – Weitere bange Minuten vergingen. Ihre Mitschüler schauten abwechselnd aus der Tür. Man hörte sie drinnen tuscheln und lachen. Da erscholl ein Ruf über den Flur: »Anja! Zum Direktor!« »Oh je, ich hab’s doch gewusst. Spinne am Morgen … « Sie setzte sich in Bewegung, am Lehrerzimmer vorbei zur letzten Tür auf der rechten Seite. ›Direktor‹ stand dort auf einem Messingschildchen. Kaum hatte sie einmal an die Tür gepocht, ertönte ein barsches »Herein!«
Da stand sie nun wie ein Häufchen Unglück vor dem Schreibtisch des Schulleiters. Sie wusste, er mochte sie ganz gerne, aber heute sah man ihm das nicht an. Mit hochrotem Kopf fauchte er: »Du bist bis zu den Ferien beurlaubt. Danach sehen wir weiter!« »Aber ich wollte … « »Auf Wiedersehen!« Anja schlich hinaus.
Die kleine Pause war vorbei. So musste sie, von allen Mitschülern angestarrt, ihre Schultasche aus der Klasse holen. Auf den Schulbus wollte sie nun natürlich nicht warten. Sie lief nach Hause.
Die Mutter erwartete sie schon an der Haustür. »Ich bin angerufen worden.«, sagte sie. »Geh sofort auf dein Zimmer.« Anja gehorchte.
Am Freitag gegen 19 Uhr kam der Vater nach Hause. Anja saß mit Herzklopfen in ihrem Zimmer und lauschte bei angelehnter Tür auf die Stimmen unten im Flur. Sie konnte nichts verstehen. Die Wohnzimmertür ging zu. Da! Wieder die Tür! »Anja!«, rief ihr Paps. »Ja, ich komme!« Schnell die Treppe hinunter, dann stand sie gleich im Wohnzimmer.
»Mein Kind, « sagte der Vater, »du kommst ins Internat.«
»Aber Paps!«, schrie sie entsetzt. »Für heute hat es sich ausgepapst.«, sagte der nur.
*
Die Osterferien waren gelaufen für Anja. Sie hielt sich fast nur noch auf ihrem Zimmer auf, hörte Musik oder lag auf ihrem Bett und ging rabenschwarzen Gedanken nach.
In ihrer Vorstellung gab es irgendwo, dort, wo die Welt mit Brettern vernagelt war, ein düsteres, nach Reinigungsmitteln riechendes Gebäude, in dem blässliche, ernste Erwachsene ebenso blasse, eingeschüchterte Jugendliche durch eine auf jede Minute verplanten Tagesablauf zwingen würden.
»Lieber Gott, lass alles nur einen bösen Traum sein. Gleich wache ich auf und muss zur Schule, eine Mathe-Arbeit schreiben.« – Sie kam sich albern vor und legte eine neue CD auf.
Tag auf Tag verstrich, und wenn Anja zum Essen nach unten ging, waren die Anzeichen erschreckend deutlich, dass die Eltern mit ihrer Ankündigung absolut ernst machten. Die Mutter hatte zwei offene Reisetaschen auf der Arbeitsplatte des Hauswirtschaftsraumes stehen, in denen sich mehr und mehr Kleidung, Wäsche und sonstige Dinge des täglichen Bedarfs ansammelten. »Nur nicht daran denken, ein paar Tage hab‹ ich ja noch.«
Nach gelegentlichem, ziellosem Bummeln durch das Städtchen ging sie immer gleich wieder auf ihr Zimmer. Dort kam sie sich jetzt schon wie im Gefängnis vor.
Das letzte Ferien-Wochenende! Der Vater erschien wie immer am Freitag gegen 19 Uhr. Als sie beim Abendessen saßen, wurde mit keinem Wort die bevorstehende Abreise erwähnt. Anja machte einen letzten, verzweifelten Versuch: »Ihr glaubt doch nicht, dass ich da bleibe?! Wo schickt ihr mich eigentlich hin? Eine mit meinem Benehmen behalten die da sowieso nicht!«, meinte sie aggressiv.
Mama verzog keine Miene, der Vater schüttelte den Kopf und lächelte.
Wütend stapfte das Mädchen nach dem Essen hinauf in ihr Zimmer und warf sich auf’s Bett, dumpf grübelnd.
Das Telefon auf ihrem Nachttisch klickte, Aha, es wurde telefoniert! Sollte sie mithören? Sie wusste, dass das mit der etwas veralteten Anlage möglich war. So etwas hatte sie noch nie auch nur gedacht. Aber jetzt, in ihrer Situation? Erst zögerte sie, aber zwei Minuten später setzte sie sich auf und nahm vorsichtig den Hörer ab.
Ein zweistimmiges Gelächter war zu hören, dann sagte Paps: »Alles klar und vielen Dank!« »Nichts zu danken!«, entgegnete eine fremde Stimme. »Auf Wiederhören.« »Auf Wiederhören.«
Zu spät! Sollte es etwas Wichtiges gewesen sein, sie hatte es verpasst.
Der Sonnabend verstrich, der Sonntag auch, nichts passierte. Hatten die Eltern sich doch anders entschieden?
»Hoffentlich rappelt es bald im Karton!!«, dachte Anja. »Das ewige Warten hält ja keiner aus! Soll ich noch mal fragen? Nein, Papa ist ein richtiger Dickkopf, dann bleibt es erst recht bei der Entscheidung. Aber morgen geht doch die Schule wieder los.«
Sie warf sich auf´s Bett und machte sich einmal mehr trübe Gedanken. Darüber schlief sie irgendwann ein. –-
»Aufstehen, wir fahren bald!« Mama stand am Bett. Draußen war es noch dunkel. »Wie spät ist es denn?«, krächzte Anja völlig verschlafen. »Fünf Uhr! Nun steh auf, seit wann schläfst du in deinen Sachen? Dusch dich und zieh frisches Zeug an, um 6 Uhr 30 geht es los.«
»Warum habt ihr mir das ganze Wochenende über nichts gesagt?«
»Du hättest ja auch mal fragen können. Du bist viel zu unselbständig, wir haben dich verwöhnt. Das wird jetzt anders!«
Das Mädchen war zu müde, um sich aufzuregen. Nun, so sollte es also sein.
»Wie weit ist es denn noch?«, fragte Anja wütend und trotzig. »Oh«, antwortete Paps gut gelaunt vom Lenkrad her, »wir sind so gut wie da.« »Was, hier, in diesem elenden Kaff?« Keine Antwort. Nun waren sie schon über Stunden unterwegs Richtung Norden, draußen huschten gerade die reetgedeckten, hübsch herausgeputzten Häuser eines kleinen Dorfes vorbei. Ein Schild war zu sehen: ›Zum Hafen‹. Der Vater bog ein. »Das ist ja noch eine City, dieses Süttrop, gegen das, wo du hinkommst.«, lautete die verspätete Auskunft. »Ihr seid wohl froh, mich los zu sein?« »Aber Kind!«, seufzte die Mutter, Paps aber sagte: »Ein Jahr musst du durchhalten und viel dazulernen.«
Ein kurzes Stück Straße vom Ortsrand durch Wiesen, dann kamen sie bei einem kleinen Hafen an. Auf einem Parkplatz zwei achtsitzige Autos mit der Aufschrift ›Internat Schloss Süttrop‹, an Mole und Steg Platz für etwa fünf bis sechs Fischerboote, ein Kutter dümpelte an zwei Trossen.
Dahinter graues, weites Wasser, Dunst in der Luft und in einiger Entfernung eine recht hoch aus dem Wasser ragende Insel, nur undeutlich zu sehen mit einzelnen Gebäuden. Anja sagte gar nichts mehr, aber sie malte sich ihren ersten Auftritt auf dieser Knast-Insel in grellen Farben aus. Sie würde richtig auf den Putz hauen, dann flöge sie gleich wieder …
»Aussteigen!«, rief Mama. Paps war schon am Kofferraum und holte die zwei großen Reisetaschen heraus. Die Mutter nahm einige Plastiktüten und drückte ihrer Tochter auch zwei in die Hände. »Und nu?« Der Vater steuerte den Kutter an. »Hallo, Schipper!«, rief er, »Sind Sie vom Internat?« Die Tür von Steuerhäuschen ging auf. »Hallo«, sagte eine helle Stimme. Eine junge Frau kam heraus. »Ich heiße Lustig, bin Mädchen für alles da drüben. Ich soll Sie abholen.« »Prima«, meinte Papa und bestieg das Boot, dessen hintere Hälfte, überdacht und verglast, Platz für etwa 35 Personen bot. Er begrüßte Frau Lustig und half dann Mama und Anja an Deck. Mama war neugierig. »Sie fahren selber dieses Schiff?«, fragte sie höflich. »Ach, diese Nussschale.«, kam es mit deutlich norddeutschem Tonfall zurück. Dann wandte sich die junge Frau dem Steuerhaus zu, und die Familie stieg den kleinen Abgang zum Passagierraum hinab. Der Schiffsdiesel pochte, der Kutter wurde von der Leine genommen und kam in Fahrt. – Nun hatte Anja wieder Zeit für wilde Pläne. Sie schaute nicht nach draußen und registrierte die verstreichenden zehn Minuten gar nicht. Da wurde der Motor leiser, das Boot schwenkte herum und legte knirschend an.
Jetzt sah das Mädchen hinaus. Links in der Ferne die Küste, im Vordergrund eine winzige Mole, rechts ein Steg, dahinter grauer, steiler Felsen und eine Treppe nach oben.
Gemeinsam stiegen alle vier schließlich vom Hafen hinauf. Noch drei Stufen, endlich würde man den Knast begutachten können. In diesem Augenblick drängte sich die Sonne durch den Dunst, als wollte sie am heutigen Montag Nachmittag einen guten Eindruck schinden.
Eine Insel, platt wie ein Handtuch, Anja fand sie nicht sehr groß. Den vorderen Teil nahm eine Art Park ohne hohen Bewuchs ein. Eine Blockhütte, einige Beete und Rasenflächen, dazwischen der Hauptweg zum Schloss. Aber war das ein Schloss? Es hatte zwar einen stämmigen Turm in der Gebäudemitte, sah aber teilweise recht neu aus. »Schloss Süttrop?«, fragte der Vater. »Ja, « meinte Frau Lustig, »aber eigentlich ist es ein umgebautes Gutshaus.« Sie gingen den Weg zum Haus entlang, bis sie die große Eingangstür erreicht hatten. »Ich muss nun in die Küche, wann soll ich Sie wieder übersetzen?«, fragte ihre Schipperin und wandte sich nach links. »Ich denke, so in einer Stunde, « antwortete Paps, »wir möchten uns schon noch etwas umsehen.« Mama nickte.
Anja schluckte. »Auf in den Kampf, « dachte sie, »ihr könnt mich gleich wieder mitnehmen.« Der Vater drückte die Schwingtür auf. Sie betraten eine niedrige, geräumige Halle mit langen, schweren Balken unter der Decke. Weiß getünchte Wände, ein Fußboden in Schachbrettmuster aus schwarzen und hellgrauen Steinplatten, links ein breiter Durchgang, einige Türen zu beiden Seiten. Ganz hinten links standen drei Sessel und ein kleiner Tisch, rechts gegenüber ein kurze Tresen wie bei einem Hotelempfang. »Aha, dort sollten wir uns melden.« Papa klopfte auf die Tresenplatte, stutzte und bemerkte ein aufgestelltes Schild. Er nahm es hoch und sah es genau an, denn in dieser Ecke war es nicht besonders hell. »Hier steht, wir möchten uns einige Minuten gedulden, es käme gleich jemand.« Paps ging zur Sitzecke, sie nahmen Platz.
Schweigen … Drei Minuten, fünf, sieben … Anjas Wut verrauchte, ihre Spannung und Ängstlichkeit nahmen zu. Aus der Tiefe des Hauses hörte man Geschirrklappern. Im Hintergrund der Halle ertönten Schritte. Zwei Mädchen kamen durch einen schmalen Durchgang, dahinter ein dunkelhaariger Junge. Sie liefen Richtung Eingang und kamen an den Wartenden vorbei. »Guten Tag, hallo, Tach.« Mehr Beachtung war nicht. Anja schätzte sie auf zwölf bis dreizehn Jahre, Landeier! Aber immerhin nicht total ätzend.
Zehn Minuten waren vergangen. Erneut Schritte. Zwei Mädchen, etwa dreizehn Jahre alt, kamen auf sie zu. »Guten Tag, ich bin die Sabine … « »und ich die Lena, wir sollen Herrn Rüther entschuldigen, er ist noch verhindert. Doch wir können Ihnen schon alles zeigen … «
»Vielen Dank, « die drei standen auf, »aber wir sehen uns draußen noch ein wenig um.«, meinte Papa.
»Dann müssen wir schon wieder los. Alles Weitere beim nächsten Besuch. Tschüs, Tochter, halt die Ohren steif!« Auch Mama verabschiedete sich nun liebevoll. Beide verschwanden aus der Halle.
Anja war nach Heulen zu Mute. »Hey, du bist …?« Sabine streckte ihr die Hand entgegen. »Anja« »Dann komm!« Die Mädchen nahmen das Gepäck auf, es ging nach hinten zum Durchgang. »Die Steintreppe«, erläuterte Lena. Es war eine ausgetretene Wendeltreppe. »Wie viel Stock …?«, pustete Anja nach ein paar Stufen. »Wohl keine Kondition, wie?« Die Mädchen gickerten. »Nur einen … « Schon gelangten sie in einen Flur, links einige Türen, rechts auf halber Länge ein Durchgang. »Hier ist der ›Harem‹«, kicherte Sabine. »Häh?«, meinte Anja. »Na ja, der Mädchenflur. Betreten für Jungen nur mit besonderer Erlaubnis.«
»Aber komm, du hast Glück, gleich das erste Zimmer, es hat zwei Fenster.« »Und wo sind die Jungen?« Anja taute etwas auf. »Hier über uns.«, zeigte Lena nach oben. »Aber wenn die nun nachts einfach runterkommen?«
»Nee, « griente Sabine, »die sind alle im Club oder wollen rein. Aber komm, hier ist deine Suite.« Sie riss mit einer tiefen Verbeugung und entsprechend großartiger Handbewegung die Zimmertür auf … und Anja ließ ihre beiden Plastiktüten fallen, die Hausschuhe purzelten daraus hervor. »N-nein, « stammelte sie, »nein!« »Praktisch, die Gesundheitslatschen musst du sowieso gleich anziehen.«, meinte Lena ungerührt.
Ein Raum, recht groß für eine Person, tat sich auf. Aber die Einrichtung! Zwei Fenster über Eck mit neutralen, braunen Gardinen, der Fußboden mit Plastikbelag, ein schlichter, weißer Nachttisch, ein weißes Stahlrohrbett, ein Tisch, zwei harte Stühle, ein weißer Schrank, an allen Kanten mit schmalen Plastikleisten eingefasst, das war’s. Kein Bild, keine Tischdecke, keine Überdecke auf dem mit weißer Wäsche bezogenen Bett. Das schlimmste: Es gab kein Waschbecken. »Und wo wasche ich mich?« Anja war entgeistert.
»Da, wo wir uns alle waschen, im Waschraum.«, antwortete Sabine. »Aber bevor du einen Herzinfarkt kriegst, komm mal mit.«
Die vierte Flurtür führte in einen Waschraum. Dort gab es acht Waschbecken, viele kleine Fächer mit Waschzeug, jede Menge in Reihe aufgehängte Handtücher und im Hintergrund noch eine Tür. »Wo geht es da hin?« »In den Duschraum.« Lena machte die Tür auf, und Anja bekam den nächsten Schock. »Ohne Vorhänge, ohne alles?« »Sei nicht albern.«, kicherte Lena. »Wir sind im Harem. Man gewöhnt sich ganz schnell daran. … Aber verflixt, ich habe Lu-Lu versprochen, beim Decken zu helfen. Ab dafür!« Sie verschwand schnellstens. »Wer ist Lulu?«, fragte Anja. »Lu-Lu sind Lustig und Lustig, die Köchin und ihre Tochter, beide schwer in Ordnung. Nu komm, ich zeig dir mein Zimmer.« Sie verließen den Waschraum, gingen schräg über den Flur zum Durchgang. Hier sah man den größeren Teil des Harems, links und rechts Tür neben Tür. »Das sind ja … « … zusammen 27 Zimmer.«, fiel ihr Sabine ins Wort. Sie öffnete die erste Tür links.
»Boh, cool!«, rief Anja. »Woher hast du das alles?«
»Ist fast alles selbst gemacht.«, meinte Sabine stolz.
Auf dem Bett lag eine rot-weiß gewürfelte Decke, aus gehäkelten Quadraten zusammengenäht, der Schrank hatte das gleiche Muster, vor dem Bett lag ein kleiner, hell-und dunkelbraun gesprenkelter, flauschiger Teppich, die Stühle hatten rote Kissen, und die Tischdecke war, zum Glück, weiß mit einer schmalen Kante aufgedruckter, winziger Blätter. Damit nicht genug, hingen an den Wänden gerahmte Starposter, und auf dem Nachttisch stand ein schönes Radio. »Ist das auch selber gemacht?«, kicherte Anja. »Haha! Aber der Teppich in der Werkgruppe.« »Echt? Warum haste nicht einen ganz großen gemacht?« »Weißt du, was das für’ne Arbeit ist? Außerdem will ich mich nicht tot putzen.« »Putzen?«, fragte Anja. »Ja, die Zimmer machen wir selber sauber.« »Und wenn man es mal vergisst, ist auch nicht schlimm?« »Denkste, ich bin im Club.«
Nun wurde unsere Neue aber hellhörig. Dauernd sprachen die anderen Mädchen vom ›Club‹. Aber ehe sie fragen konnte, erklärte Sabine weiter die Einrichtung des Zimmers: »Alles aus Stoff und die Bilder sind selbst gemacht im Kunst- und Handarbeitsunterricht oder in der Werkgruppe, das Radio kriegste geborgt vom Internat, eines Tages, wenn du keinen Mist baust.« »Aber woher hast du den coolen Schrank?« »Der ist genau wie deiner, hab´ich mit Tapete verschönt, die ich mir aus Neustadt geholt habe.« »Wieso Neustadt?«, fragte Anja. »Kommst du etwa auch aus Neustadt?« »Nee, da bin ich immer, wenn Kuttertag ist.« »Häh?« »Na, ist wohl zu viel am ersten Tag, aber bist du aus Neustadt?« »Ja« »… und dann kommste hier ins Internat? Nur acht Kilometer und ein bisschen Wasser entfernt?« Anja ging ein Licht auf: »Neustadt in Westfalen! Gibt´s hier auch eins?« »Ja, unsere einzige erreichbare Stadt.« »Wann können wir da mal hin?« »Du erst, wenn du im Club … « Sabine wurde unterbrochen, denn auf dem Flur ertönte ein Gong. »Gong, sagte der Graf!«, rief sie, »Hunger, ham-ham, komm, es gibt Essen. Wetten, dass sie dich im Speisesaal alle anstarren? Aber da musst du durch. Morgen früh ist alles gelaufen. Da geht’s dir gut. Komm. Pünktlichkeit ist eine Zier … « Sie zog Anja am Arm den Flur hinunter zur Steintreppe und schnatterte weiter auf sie ein. Während sie durch die Halle gingen, erfuhr Anja so, dass sie am Tisch neben Sabine sitzen würde. Morgens und mittags hätten sie die Ehre der Gesellschaft von Frau Walraf bei Tisch, abends nur gelegentlich, wenn sie Nachtbereitschaft hätte.
Die Informationen wurden spärlicher, als sie in dem großen Speisesaal hinter ihren Stühlen am Tisch standen. Der Saal war mit seiner Decke, dem Boden und den weißen Wänden der Halle ähnlich, an der Schmalseite gegenüber dem Eingang gab es einen mächtigen Kamin, dessen Öffnung am Boden von eingelegten Sandsteinplatten umgeben war.
An den Längswänden konnte man aus je acht kleinen Sprossenfenstern sehen, von der Decke hing über jedem der sieben Tische ein eiserner Kronleuchter. Eigentlich hübsch … »Gong!«, ertönte es von der Tür her. Anja war wieder eine Frage eingefallen. So sagte sie halblaut zu Sabine: »Was ist eigentlich mit … « Mit dem Gongschlag aber herrschte augenblicklich eisernes Schweigen im Saal, Dadurch wirkten Anjas Worte wie Trompetenstöße in der Stille. Die Ärmste wurde knallrot und verstummte. Der ganze Saal, über fünfzig Augenpaare starrten sie an. Sabine grinste und verdrehte die Augen.
Man hörte Schritte, ein jüngerer Mann betrat den Speisesaal. Er ging zum Kamin und schaute dann zu den Esstischen. »Guten Abend! Wir begrüßen heute eine neue Schülerin, Anja Müller. Sie ist zwölf Jahre alt und kommt aus Neustadt in Westfalen. Anja, mein Name ist Rüther, ich bin der Internatsleiter.« Die Mädchen und Jungen schauten immer noch auf Anja und begannen, laut auf die Tischplatten zu klopfen. Herr Rüther war zu seinem Platz gegangen und setzte sich mit einem lauten »Guten Appetit«. Sofort setzten sich alle und begannen mit Unterhaltung in normaler Lautstärke. Aber Anja fiel auf, dass sie immer noch von allen Seiten beguckt wurde. Man redete wohl auch über sie! Schließlich fragte sie Sabine: »War das denn so schlimm, die paar Worte, dass mich alle so anglotzen müssen?« »Nee, das liegt an etwas anderem, das erkläre ich dir auf deinem Zimmer.«
Zu essen gab es an diesem Abend belegte Brote, dazu einen Kräutertee. Wie Anja erfuhr, war das sehr unterschiedlich. – Von jedem Tisch hatte immer ein Mädchen oder Junge das Essen von einer Durchreiche neben dem Kamin abzuholen und zunächst dem Mitarbeiter an den Tisch zu bringen, der sich bediente und dann weitergab. Der Tischdienst war an einen festen Platz gebunden. Jede Woche rückten die Schüler an ihren Tischen um einen Stuhl weiter. So kam jeder nach und nach an die Reihe.
Der Aufschnitt auf den Broten schmeckte Anja nicht besonders. »Das liegt daran, « erklärte Lena, die ihr gegenüber saß, »dass heute der fettarme Tag ist. Wir versuchen fast alle, uns ziemlich fit zu halten. Na, da zieht die Küche mit.« »Wenn du das so sagst, « antwortete Anja, »mir fällt jetzt auf, dass es hier keine richtig Dicken gibt.«
Das Essen wurde beendet, die Tischdienste besorgten große Tabletts, auf die mit lautem Geschepper das Geschirr zusammengestellt wurde. Nun konnten sie gehen.
Sabine sagte in der Halle zu Anja: »Wir können noch durch den Park gehen, Tischtennis spielen, auf dem Fernsehplan ist eine Sendung angesetzt. In welcher Klasse bist du?« »In der siebenten.«
»Dann musst du um 9.15 Uhr auf dem Zimmer sein oder im Bademantel vor dem Fernseher. Um 9.30 Uhr soll dein Licht aus sein.« »So früh? Ich bin doch kein Baby mehr!« »Wir müssen aber auch was bringen. Dann sieh zu, dass du schnell in den Club … ach ja, komm, wir quatschen noch auf deinem Zimmer.« Sie gingen nach oben. Auf der Treppe wurde Anja von hinten angesprochen. »Hallo, « sagte eine Jungenstimme, »ist das nicht Miss Nike?« Anja drehte sich um und sah dem Jungen ins Gesicht, der durch die Halle gelaufen war, als sie mit den Eltern in der Sitzecke gewartet hatte. »Was bist du, doof oder doof?«, fragte sie und verließ die Treppe, als sie beim Harem ankamen. »Das war Jörg, « meinte Sabine, »der ist ganz in Ordnung, aber oft auch komisch.«
Nun setzten sie sich in Anjas noch kahles Zimmer, und das Mädchen erfuhr so viele Neuigkeiten, dass ihr der Kopf schwirrte. Das Wichtigste aber war der sogenannte Club, dessen Mitglied man im Allgemeinen frühestens nach einem viertel Jahr werden konnte. Das verschaffte einem viele Vorteile. Die Bettgeh-Zeiten verschoben sich um dreißig Minuten, wobei allerdings Eigenverantwortung erwartet wurde. Stand am nächsten Morgen eine Klassenarbeit an, so war es die Regel, die normale Schlafenszeit einzuhalten. Für Club-Mitglieder gab es Zutritt zu einem besonderen Clubraum, den Sabine ihr morgen zeigen wollte. Außerdem konnten sie einmal in der Woche einen längeren Ausgang in Neustadt machen. Das war der sogenannte Kuttertag.
»Ich sehe, « sagte Sabine, »du kippst bald vom Stuhl. Aber noch eins: Zieh morgen nicht dein ›Nike-Shirt‹ an und trag im Haus deine Hausschuhe. Turnschuhe sind nur beim Sport erwünscht. Deswegen haben die dich im Speisesaal so begafft.« »Ah so.« sagte Anja schlaff, zu verwirrt, um noch weiter zu fragen. »Echt, du musst mir das alles die nächsten Tage noch mal vorkauen.« »Mach ich, und schlaf gut, gute Nacht.« Sabine verschwand. Es war 20.15 Uhr, als Anja in Hausschuhen zum Waschraum ging. Katzenwäsche und ab ins Bett.
Als sie in der frisch riechenden Bettwäsche lag, versuchte sie, den Tag noch mal zu überdenken. Aber sie fand keinen Anfang und kein Ende. – Plötzlich saß ein dunkelhaariger Junge auf ihrem Nachttisch. Er war ungefähr so alt wie sie, hatte knallblaue Augen und sagte spöttisch: »Na, Miss Neustadt, es ist Club-Zeit mit Lu-Lu-lei-lei, schlaf einszweidrei … «
Anja erwachte durch ein helles, durchdringendes Geräusch … eine Glocke. Ein Blick auf ihre Uhr, es war 6.45 Uhr. Das durfte doch nicht wahr sein! Zu Hause stand sie doch auch erst um 7.30 Uhr auf. Na ja, mit Frühstück war dann immer nicht mehr viel … Was hatte sie nur für Zeugs geträumt? Schade, vergessen, aber kein unangenehmer Traum.
Rums! Die Tür ging auf, Sabine stand im Rahmen. »Auf auf! Willst du das Schlussgedrängel im Waschraum erleben?« Der Waschraum! Mit einem Satz war Anja aus dem Bett. Beide gingen sie drei Türen weiter. Dort waren sogar noch einige Becken frei. Anja griff die Waschtasche aus ihrem Fach, stand unschlüssig am Becken. Wieder Sabines Kommando: »Los los, du hast doch noch nichts zu verbergen. Ich übrigens auch kaum.« Sie zog ihr Oberteil aus und Anja ebenso. Einige ältere Mädchen, die sich schon wuschen, grinsten: »Du bist im Harem. Wir sind ganz unter uns.« Dann planschten sie sich mit kalten Wasser ein. Es wurde nicht mehr viel geredet.
Zögernd erschien Anja fix und fertig in der Halle. Sie trug ein weißes Sweatshirt, Jeans und ihre Hausschuhe. Da lief sie Herrn Rüther über den Weg. »Ah, Anja, « sagte er, »komm doch mal bitte kurz mit ins Büro.« Sie gingen in einen kleinen Raum, der nur bescheiden möbliert war. »Setz dich, « begann er, »ich war gestern bei deiner Ankunft nicht verhindert. Dein Vater hatte mir aber am Telefon geschildert, wie du auf deine Unterbringung hier reagiert hast. Da ist es ein alter Trick von mir, diese Schüler ins Leere laufen zu lassen.« »Ja, « antwortete Anja, »ich war ganz schön geladen. Aber an wem sollte ich meine Wut auslassen?«
»Siehst du! Und heute?«
»Och, ich weiß gar nichts mehr; all das Neue, ich kann mir kaum noch alles merken.«
»Sag mal, Anja, weshalb solltest du ins Internat?« Da wurde Anjas Stimme ganz leise: »Ich war wohl etwas unverschämt zu einem Lehrer, etwas sehr unverschämt.« Sie bekam einen roten Kopf. »Weshalb erzähle ich dem da alles?«, dachte sie. Aber der war wohl netter, als sie sich einen Internatsfuzzi vorgestellt hatte. Sie hatte einen verknöcherten, älteren Pauker-Typen erwartet. – »Na dann, « unterbrach er ihre Gedanken, »herzlich willkommen bei uns. Übrigens, gut, das du dein Sweatshirt von gestern nicht angezogen hast. Weißt du, wir wollen hier keine ›Markenklamotten‹, weil es einige Schülerinnen und Schüler gibt, deren Eltern sich so etwas nicht erlauben können. Wir möchten aber keine Unterschiede nach Äußerlichkeiten. Wer besser sein will, soll das im Sport beweisen, oder in seinen schulischen Leistungen, klar?«
»Klar, aber haben wir hier nicht alle … na … gut betuchte … Eltern? Wie sonst den Platz bezahlen?«
»Anja, es gibt Freiplätze, halbe und ganze, aber darüber reden wir sonst nicht.« Herr Rüther stand auf: »Übrigens, mein Spitzname ist ›BOSS‹, blöder Name. Und nun ab zum Frühstück.«
Anja kam als Letzte kurz vor dem ›Boss‹ in den Speisesaal. Als sie sich gesetzt hatten, fragte Sabine, wo Anja gewesen sei. Nach deren Bericht kam nur ein kurzes »Ah so«.
Auf den Tischen standen Körbe mit Brötchen, kräftigem Grau- und Vollkornbrot. Anja zählte und stellte fest, dass für jeden nur ein Brötchen gedacht war. Schade, sie liebte Brötchen! Als sie ihres verputzt hatte, fiel ihr auf, dass fast alle Mädchen Brotscheiben auf den Tellern oder in der Hand hatten. Ähnlich sah es an den anderen Tischen aus. »Sabine, isst du dein Brötchen nicht?« »Nee, kannst du haben.« »Meins auch … meins auch … «, ertönte es aus verschiedenen Richtungen. Und nun wurde sie über den wertvollen Gehalt von Brot, speziell der dunkleren Sorte, aufgeklärt. »Weißt du, « sagte eine Mitschülerin, »wir sind hier alle recht gut in Sport. Heiße übrigens Benni, fünfzehn Jahre alt, nicht vorbestraft.« Alle lachten. »Benni nennt man mich, weil meine Eltern mir den beknackten Name ›Benjamina‹ gegeben haben. Sollte ein Junge werden. Heute Nachmittag ist Basketballgruppe. Komm doch einfach.« »Okay, Benni, mach ich« Sie schaute Sabine an: »Kommst du auch?« »Klar!«
Das Frühstück endete wieder mit schauerlichem Geklapper des Geschirrstapelns. Es war 7.45 Uhr.
Anja flitzte die Steintreppe hoch und holte aus ihrem Zimmer all ihre Schulsachen. Nun wurde es spannend. War der Unterricht genauso ätzend wie an ihrer alten Schule? Schwer bepackt kam sie zurück in die Halle, Sabine und Lena lachten. »Das sieht aus!«, prustete Lena, und Sabine meinte: «Die Sportsachen kannste gleich wieder hochbringen. Wir ziehen uns immer auf den Zimmern um. Morgen früh kommst du schon in Sportsachen zum Frühstück. Erste Stunde Sport.«
Wieder zurück, wurde sie von den beiden Mädchen durch eine schmale Türöffnung neben der Steintreppe in den Schulflur gebracht. »Hier links der Werkraum.«, nach ein paar Metern:«Hier, dritte Tür rechts unsere Folterkammer.« Anja betrat das Klassenzimmer. »Was ist das denn?«, rief sie. »Eins, zwei … neun Plätze und der Lehrertisch?« »Was erwartest du bei fünfzig Schülern in sechs Klassen, ein Platz ist sogar noch frei.« Anja stöhnte: »Das kann ja heiter werden … da bin ich ja dauernd dran.« »Ebent, ebent«, sagte spöttisch ein Mädchen und steckte sich ein Schildchen mit dem Namen ›Juliane‹ an. Alle anderen Schüler im Raum machten es genau so. Es gab noch Peter, John, Frank und Martin. Alle bis auf John, einen stämmigen, älter wirkenden Jungen, trugen kleine, goldfarbene Dreiecke an ihren Hemden oder Pullovern. »Was ist das?« Sie deutete auf Lenas Kragen. »Das Club-Abzeichen.«, kam die Antwort.
Laute, elektrische Klingel auf dem Flur, und schon tat sich die Tür auf. Eine Frau, nein, eher eine Dame, kam herein. Hellgraues Kostüm, hochhackige Schuhe, etwa 35 Jahre alt. Allgemeines Gemurmel der Acht: »Oh, heute so chic … sehr chic … elegant!« Die Dame lachte. »Ich hatte mal genug von den ewigen Jeans und Gesundheitsschuhen. Guten Morgen!« »Moin-Moin!« »Oh, « sprach sie weiter, »ein neues Gesicht! Du bist …?« »Anja« »Ah, und ich bin Frau Dr. Wichtig. Tut mir leid, so heiße ich nun mal.« Anja lächelte verlegen. »Gut in der Schule?« Nun bekam unsere Neue einen roten Kopf: »Öööh … « »Ja, ja, Schon gut, aber hier hast du ja beste Voraussetzungen.«
Der Unterricht begann wie eine angenehme Gesprächsrunde. Erdkunde war angesagt, und die Schülerinnen und Schüler waren gut eingespielt. Wenn jemand sprach, wurde nicht dazwischen geredet, jeder konnte so ungestört zum Unterricht beitragen. Die Beantwortung von Fragen durch Vorposaunen war nicht möglich.
So eng war das Miteinander. Es machte mehr Spaß als in Neustadt. Man hatte fast immer was zu tun, auch wenn es oft nur darum ging, gut zuzuhören. Rasend schnell verging die Stunde.
»Mensch, prima, « meinte Anja, als die Lehrerin die Klasse verließ, »nicht so langweilig … aber ätzend anstrengend.« »Siehste, darum die Bettgeh-Zeiten, Eigenverantwortung und so … «, sagte Sabine. »Ich bin ja sooo verantwortungsvoll!!!«, jaulte Juliane und verdrehte die Augen nach oben. »Ah, Jauliane wieder.« Lena grinste.
Alle folgenden Stunden, es waren noch fünf weitere, waren ähnlich vollgepackt mit Information und direkter Ansprache. Als die Schulklingel zum Ende läutete, war Anja geschafft. Sie ging auf ihr Zimmer. Ein Uhr, um 13.30 Uhr musste sie zum Mittagessen. ›Poch-poch‹ … »Ja!« Sabine schaute herein. »Dienstag ist der schlimmste Tag. Morgen haben wir Sport und zwei Stunden Werken. Da kannst du dich erholen.« »Mensch ja, weck mich, wenn ich einpenne.« Anja warf sich aufs Bett. »Geht klar.«
Natürlich hatte sie den Gong zum Essen nicht überhört. Nun saß sie im Speisesaal, es duftete nach Gebratenem. Herr Rüther hatte nichts Besonderes angesagt, nur die Basketball-Gruppe sollte um 16.20 Uhr antreten.
Der Tischdienst flitzte zur Durchreiche und kam mit einer großen Platte Hackbraten zurück, dazu gab es Rosenkohl, aber nicht pampig, wie sie ihn kannte, sondern in schönen, einzelnen Röschen, leicht angebräunt, ohne Sauce, die gab es vom Hackbraten, und dampfende Salzkartoffeln. Zustimmendes Gemurmel am Tisch. Anja nahm sich eine Scheibe, Sauce und Kartoffeln. »Los, Gemüse.«, sagte Lena. »Ich steh nich’ auf Rosenkohl.« »Auf den schon.« Zögernd tat sie sich einige Köpfchen auf den Teller. Vor Kopf des Tisches saß Frau Walraf. Sie faltete ihre Serviette, die hier zu Anjas Leidwesen alle benutzen mussten, auseinander und begann zu essen. Das war das Startzeichen. Man langte kräftig zu. »Schmeckt prima, sogar den Kohl kann man essen.«, meinte Anja. »Echt? Auch das Fleisch?« Sabine schmunzelte. »Halb Tofu, halb Fleisch.« »Tohugs … « Anja war der Bissen etwas quer runtergegangen. »Was ist das?« »Ist unheimlich gesund, aus Soja!« »Ihr mit eurem Gesundheitstick!« Aber es schmeckte. Dumpfes Gebrabbel, Essensduft, die Neue fühlte sich irgendwie … sie gehörte schon dazu … aber wozu?
Es klapperte zur Mittagspause, wie Benni sich ausdrückte. Von 14 Uhr bis 14.30 Uhr hatten sie Zeit für sich.
So hatte Anja sich auf ihr Bett gelegt, um sich für die Hausaufgaben zu konzentrieren. Da kratzte es an der Tür. »Herein!« Nichts, es kratzte wieder. Anja schoss zur Tür, öffnete sie, bums-platsch, bekam sie einen Plastikbecher voll Wasser auf den Kopf. Einige Jungen schauten aus dem Treppenhaus und lachten. Hinterhältige Bande! Anja sagte möglichst cool: »Haha, lasst euch mal was Originelleres einfallen.« Jörg machte einige Schritte von der Treppe in den Harem. »Und was soll das sein?«, fragte er. »Vielleicht …« Hinten im Flur schaute ein junger Mann aus dem Durchgang. »Hey!«, brüllte er. »Was macht ihr im Harem?!« Er schoss den Flur entlang. – »Larson!« Die Schüler verschwanden nach oben, wobei sie einen neuen Weltrekord im Treppenrennen aufstellten. Der junge Mann stoppte und sagte: »Angst ham’se nich’, aber laufen könn’se … Larson mein Name, Sport, Englisch, Geschichte, guten Tag, Anja.« So bekam Anja mit, wie strikt auf Dinge geachtet wurde, die nur scheinbar an der langen Leine liefen. »Ich hab heute und bis morgen früh Dienst hier.«, erklärte der Lehrer. »Da um die Ecke ist unser Dienstzimmer, wenn mal was ist.« »Alles klar, « sagte Anja, »aber das war nicht so schlimm mit den Jungen.« »Darum geht es auch nicht. Selbst wenn sie dir nur artig ›guten Tag‹ gewünscht hätten, diesen Flur betreten sie nur mit Erlaubnis.«
Anja ging wieder auf ihr Zimmer. Nun war kaum noch Zeit bis 14.30 Uhr. Das hieß, wieder im Klassenzimmer zu erscheinen, um unter Aufsicht die Hausaufgaben, schriftlich wie mündlich zu erledigen. Das konnte nur Stress bedeuten. Eine Stunde und dreißig Minuten! Zu Hause war sie immer nach 30 bis 40 Minuten fertig gewesen. Was sollte sie mit der restlichen Zeit anfangen?
Draußen grelles Geläute. Fünf Minuten vor Beginn der Hausaufgabenzeit … – Schon war Getrappel zu hören, alles ging nach unten. Die Klasse 7 war pünktlich und vollzählig zur Stelle. Herr Larson saß am Lehrertisch. Sofort setzten sich die Mädchen und Jungen. »So, Ruhe jetzt.«, sagte der Lehrer halblaut. Prompt war Stille, nur das Herausnehmen von Büchern und Heften war zu hören. – Einige Zeit beugten sich alle über ihre Aufgaben. – »Huuuäa!« Juliane gähnte laut. »Ich verbitte mir das!!«, dröhnte Herr Larson. Anja hätte ihm gar nicht zugetraut, dass er so wütend gucken könnte. »Aber ich bin mit meinen Aufgaben fertig.«, antwortete Juliane, ausnahmsweise etwas schüchterner. »Englischbuch, komm nach vorne mit dem Buch.«, sagte Herr Larson nun ganz ruhig. Juliane gehorchte sofort und stand neben dem Lehrertisch. In seiner Eigenschaft als Englischlehrer griff sich ›Champion‹, wie sie ihn alle mit Spitznamen nannten, das Buch: »Stück 6, wenn ich nicht irre. Was heißt … « Nun fragte er Juliane vier Vokabeln ab, von denen sie zwei nicht ins Englische übersetzen konnte. Zack, hatte sie ihr Buch wieder und kehrte auf ihren Platz zurück. Sie versenkte sich über die aufgeschlagenen Seiten.
Anja hatte alle schriftlichen Aufgaben zügig und für ihre Verhältnisse sehr ordentlich erledigt. ›Champion‹ stand auf und stolzierte, scheinbar träumend, zwischen den Tischen hin und her. Anja blickte über ihre Schulter und nahm sich schnell das Englischbuch vor. Herr Larson lachte: »Anja, es darf auch jedes andere Fach sein.« Verflixt, der merkte aber auch jede Bewegung. Ätzend, war der nun unsympathisch oder nicht?.
Draußen schrillte die Klingel. Mensch, schon eine und eine halbe Stunde rum? Die Mädchen und Jungen sprangen auf und rekelten sich, aber einer blieb sitzen: John. »Ein Streber?«, fragte Anja Sabine. »Nö, der will in den Club, hat aber ’ne glatte Sechs in Erdkunde, obwohl des Boss meint, er wäre clever. Dummheit darf in den Club, Faulheit nich’.« – Sie verließen die Klasse, und Anja erinnerte Sabine daran, dass sie ihr den Clubraum zeigen wollte. »Heute nach dem Abendessen. Jetzt komm.« Sie zerrte Anja in den Speisesaal, wo auf Tabletts ein kleines Stück Kuchen lag. Sie bedienten sich dazu aus großen Kannen und gossen sich Milch in Becher. »Schon besser als der Körnchenkaffee heute früh.« Anja schüttelte sich. »Gibt es mal so, mal so.«, meinte Lena.
Die ganze Kaffeepause dauerte zwei, drei Minuten. »Kommst du gleich in Sportzeug auf den Basketball-Platz?«, fragte Sabine. »Wo ist der denn?« Anja schlug sich vor die Stirn. »Weißt du eigentlich, dass ich von gestern nach meinem Eintritt in dieses Kloster hier bis jetzt noch nicht draußen war? Das gibt’s doch nicht!« »Ein Grund mehr, « meinte nun Benni, die in der Nähe gestanden hatte, »raus, fünfzig Meter geradeaus und dann rechts, Fräulein Müller.« Schnell verschwanden alle nach oben.
Unser Fräulein Müller zog blitzschnell das Sportzeug an, es ging wieder runter, raus aus der Halle. Draußen war schönstes Frühlingswetter. Sie blieb stehen und atmete tief durch. Hübsch hier, Rasenflächen, im Hintergrund Beete und blühende Büsche, dicht beim Haus ein roter Aschenplatz, nicht riesig, aber immerhin, daneben ein Käfig – der Tennisplatz und schließlich der Basketball-Platz, auch eingezäunt. All das lag, vom Haus gesehen, auf der rechten Seite. Sie hatte bei ihrer Ankunft nichts gesehen, nur das Gefängnis, in das sie gemusst hatte. Aber war es denn überhaupt eins? »Wir werden sehen.«, dachte sie.
Mit federnden Schritten jagte Benni absichtlich dicht an ihr vorbei Richtung Käfig und rief: »Los, Fräulein Müller!« Ihr Tempo beeindruckte Anja. Sofort lief sie hinterher, versuchte, die Größere einzuholen, leider unmöglich. »Ich komme, Benjamina!«, fuhr es ihr heraus. Benni bremste: »Booh, noch einmal diesen Namen!« Anja grinste. »Wie heiße ich?« »Anja-Anja, liebstes Anjalein!« Die Beiden gackerten und betraten den Platz. Herr Larson stand dort, einen Ball unter dem Arm. Er pfiff kurz durch die Zähne. »Alle da? Gut! Wie immer fünf Minuten aufwärmen, Mädchen gegen Jungen.« Der Ball flog in die Luft, ein baumlanger Schüler von etwa sechzehn Jahren fing ihn auf. Jemand warf die Käfigtür zu, und ab ging es Richtung Korb. Da der Lange aber zunächst nur gut im Fangen war, kamen auch die Mädchen schnell zum Zuge. So ging es einige Zeit hin und her. Pfiff, dann begann das eigentliche Training.Ein weißer Strich vor einem Korb diente als Sprungmarke. Jeder musste nun Ballbehandlung um einige aufgestellte Mädchen und Jungen üben, springen, werfen. Nur Anja hielt sich zurück. ›Champion‹ nahm sie aufs Korn. »Anja, jetzt zeig uns, ob du Talent hast. Schon mal gespielt?« »Kaum«, das war geschwindelt. ›Nie‹ hätte es heißen müssen. »Gebt ihr den Ball! Nun Anlauf! Nein, schärfer, noch mal, bis zur weißen Marke, Sprung, Ball in den Korb!« Anja gab ihr Bestes. Mit dem Sprung klappte es recht gut, aber sie verriss den Ball total. »Ist ja auch falsch! Den Ball so weit wie möglich von oben, mit fast gestreckten Armen!« Plötzlich klappte es! Von zehn Würfen gingen acht in den Korb. »Prima, du hast Talent!«, brüllte ›Champion‹ begeistert.
So lief es weiter für alle, achtzig Minuten lang. Dann wurde abgepfiffen. »Schluss für heute.« Die Meute klatschte, dann gingen alle ziemlich verschwitzt zum Haus zurück. Etwa zwanzig Mädchen und Jungen hatten sich richtig verausgabt.
Es war 17.40 Uhr. »Kommst du mit duschen?«, fragte Sabine. »Wenn du meinst!?«, antwortete Anja unsicher.
»Oder willst du warten, bis du Grünspan ansetzt?«
»Ferkel!«
Sie gingen als erste in den Duschraum, aber blieben nicht lange alleine. Alle Sportlerinnen kamen, und Anja war froh, dass sie zeitig da gewesen war. Nun fand sie alles plötzlich total normal.
Das Wasser hatte sie erfrischt; als sie sich fertig angezogen hatte, lief sie zu Sabines Zimmer. Sie klopfte. »Herein!« »Du, Sabine, « sagte sie, im Türrahmen stehend, »ich habe Hunger!« »Halb sieben. Komm rein.« war die Antwort.
Überpünktlich waren sie beim Abendessen. Es spielte sich nichts Besonderes ab im Saal, aber es gab einen leckeren Wurstsalat.
An diesem Abend nahm Sabine Anja mit zur zweiten Tür auf der linken Seite der Halle. Dort zog sie eine Plastikkarte aus ihrer Hosentasche und schob sie in einen mit Messing eingefassten Schlitz. Ein Summen, und die Tür zum Clubbereich sprang auf. Nun sah man ein Wendeltreppenhaus. »Gleichzeitig Abgang für Notfälle, ist Vorschrift.«, erklärte Sabine. Jetzt ging es drei Stockwerke nach oben. Sie kamen in einen großen, runden Raum, nur die Ecke für das Treppenhaus war ausgespart. Viele Fenster, vier niedrige Sitzgruppen für je sechs Personen, auf jedem Tisch eine Messinglampe mit grünem Glasschirm, ein Fernseher, ein Bücherregal und sogar eine kleine Bar an der Wand zum Treppenhaus machten auf Anja einen sehr gemütlichen Eindruck. Sie ging über den dicken Teppichboden zur Bar, vor der zwei Hocker standen. Auf einem kleinen Schild am Regal hinter dem Tresen war zu lesen: ›Kein Alkohol!‹.
»Das hier ist übrigens der Turm, den man vom Park aus sieht.«, meinte Sabine. Anja seufzte und dachte sich, dass es wohl schön wäre, wenn sie das erste viertel Jahr schon herum hätte. »Stöhn‹ nicht, komm mit auf mein Zimmer, ich hab ein paar Leute zum Tee eingeladen.«
Sie verließen den Clubraum und gingen in den Harem, in Sabines Zimmer, wo bereits der Tisch vor das Bett geschoben war. Sabine hantierte mit Tee und einer hübschen Kanne, während Anja in einem Schnellkocher Wasser holte. Als sie wiederkam, saßen dort am Tisch schon Benni, Lena und noch ein älteres Mädchen, dessen Namen Anja nicht kannte. »Elke.«, stellte sie sich vor, »Klasse 9« Die drei hatten ihre Stühle mitgebracht, zwei Plätze waren also noch frei. Man unterhielt sich über Alltäglichkeiten, und Sabine goss den Tee auf. Es klopfte. »Ja!« Herein kamen Jörg und Martin. Ihr ›Widersacher‹, wie Anja ihn für sich nannte, grinste spöttisch. Eigentlich sah er ja gar nicht schlecht aus! Wenn er nur nicht immer dieses überhebliche Getue drauf hätte!
Jörg dachte ähnlich. Sie gefiel ihm vom Äußeren her mit ihren hellbraunen, halblangen Haaren und den grauen Augen. Wenn sie nur nicht so steif und humorlos wäre!
Aber es wurde ein gemütlicher Abend. Der grüne Tee schmeckte, eine Kerze brannte auf dem Tisch, für kurze Zeit schaute auch mal Herr Larson rein und trank eine Tasse Tee mit. Die Mädchen und Jungen sprachen über den Tag, den Club, die ›City‹ von Neustadt, kurz, über alles, was so belanglos-interessant war.
Dann fuhr Sabine auf. »Mensch, neun Uhr durch, ab geht’s!« Alle sprangen auf, Jörg etwas hektischer: »Hoffentlich bekomme ich keinen Ärger!« Er gab Sabine, und nur ihr, die Hand, sagte höflich: »Gute Nacht, alle zusammen.« und verschwand. Benni erklärte: »Der ist in der Sechsten, ist zu spät.« Anja hatte den Mund auf und schaute auf ihre Hand. »Was ist denn mit dem los?« Die Mädchen stießen sich an und amüsierten sich.
Schnell war das Wichtigste beiseite geräumt, man wünschte sich eine gute Nacht, und jeder verschwand auf seinem Zimmer.
Als Anja im Bett lag, war sie mit dem Verlauf des Abends recht zufrieden. – Dass er ihr die Hand gegeben hatte … und höflich ist er gewesen! Sie beschloss, schnellstens etwas für ihr Zimmer zu tun .
Anja wachte auf. Was war los? War was auf dem Flur? Ja, da hörte sie etwas! Sie setzte sich im Bett auf. Gegackere, Knurren, Fiepen … dumpfen Brummen. »Ich muss wissen, was los ist.«, dachte sie und sprang auf. Was tun? Ah, sie würde auf die Toilette gehen, vor dem Waschraum, und ganz verschlafen tun.
Als sie die Tür normal laut öffnete, war einen Augenblick Stille auf dem Flur. Sie torkelte aus dem Zimmer, Richtung WC und rieb sich die Augen. Da ertönten leise hastig patschende Schritte von nackten Füßen. In der dämmerigen Nachtbeleuchtung huschten drei Gestalten, in weiße Tücher gehüllt, an ihr vorbei und verschwanden eiligst auf der Steintreppe. Aha, die Jungen! Die fünfte Tür links stand etwas auf. Dort hatten sie versucht, ein Mädchen zu erschrecken.
Anja klappte mit der Toilettentür und ging wieder in ihr Zimmer. Sie schloss aber ihre Tür nicht ganz. Aus einem Spalt konnte sie genau auf die Steintreppe gucken. Fünf Minuten passierte nichts.
Sie war schon fast so weit, wieder ins Bett zu gehen, als sich auf der Treppe etwas tat. Die drei Gespenster erschienen wieder. Vorsichtig kamen sie wieder in den Harem, dann wagten sie sich weiter. – Darauf hatte Anja gewartet. Sie schoss aus dem Zimmer und griff nach dem Laken der erstbesten Spukfigur. Hektisches Durcheinander, die ›Unwesen‹ flohen. Sie bekam Stoff zu fassen und zog. Mit lautem Knirschen zerriss etwas, sie behielt einen großen Fetzen in der Hand. Weg war der Spuk! Anja besah sich in ihrem Zimmer ihre Beute und bekam einen Lachanfall. Es war offensichtlich der Hosenboden eines auffällig gemusterten, etwas sehr morschen Schlafanzugs. Hervorragend! Sie öffnete ihre Tür wieder. Von oben kam unterdrücktes Lachen und eine verstellte Stimme: »Ich brauch meinen Hosenboden!« Anja raunte zurück ins Treppenhaus: »Ich leg ihn hier hin, hol ihn dir.« Dann zog sie sich geräuschvoll zurück und postierte sich wieder so, dass sie einen Überblick über den vorderen Teil des Flurs behielt. Er kam, raffte sein Flattergewand zusammen und griff sich das Stück Stoff. Da sagte das Mädchen durch den Türspalt: »Welch mickrige Hinteransicht« »Unverschämt!« entfuhr es ihm mit normaler Stimme. Natürlich, es war Jörg, der nun endgültig floh. Aber auf der ersten Stufe lag noch etwas. Es war ein ganz schmaler Stoffstreifen im passenden Muster. Den hob Anja sorgfältig auf.
*
Zum Frühstück am nächsten Morgen ging Anja bewusst etwas später in den Saal. Hui, war sie müde, aber der Spaß war es wert. Sie hatte den Stoffstreifen wie ein Freundschaftsband um das rechte Handgelenk gebunden und ›flanierte‹ nun an Jörg, der schon hinter seinem Stuhl stand, vorbei. Die rechte Hand auf Schulterhöhe und gespreizt, wedelte sie affektiert hin und her. Jörg bekam einen knallroten Kopf. Zwei weiteren Schülern konnte man deutlich ansehen, dass sie in der Nacht dabei gewesen waren, denn sie grinsten vom einen Ohr bis zum anderen.
Nach dem Frühstück wartete Jörg in der Halle. »Find ich schwer in Ordnung, dass du mich nicht verpetzt hast.«, meinte er. Sie fuhr ihn nur an: »Bin ich eine Petze?« und ließ ihn stehen.