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Band 10 des spannenden Tierfantasy-Abenteuers! Der Kampf um Erdas tobt weiter! Während Abeke und Rollan nach Nilo aufbrechen, wo weitere Große Tiere erwacht sind, machen sich Conor und Meilin in einem selbst gebauten Boot auf den beschwerlichen Weg über das Schwefelmeer. Sie wollen sich dem grässlichen Wyrm entgegenstellen, der den Immerbaum – das Herz Erdas' – zu zerstören droht. Doch mitten auf hoher See kentert ihr Boot. Ist Erdas nun endgültig dem Untergang geweiht? Entdecke die Welt der "Spirit Animals": Band 1: Der Feind erwacht Band 2: Die Jagd beginnt Band 3: Das Böse erhebt sich Band 4: Das Eis bricht Band 5: Die Maske fällt Band 6: Die Stunde schlägt Band 7: Der Zauber befreit Band 8: Das Dunkle kehrt zurück Band 9: Die Erde bebt Band 10: Der Sturm naht
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Seitenzahl: 228
Veröffentlichungsjahr: 2019
Als Ravensburger E-Book erschienen 2019Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH© 2019 Ravensburger Verlag GmbHOriginaltitel: Spirit Animals – Fall of the Beasts. The ReturnCopyright © 2016 Scholastic Inc. All rights reserved. Published by arrangement with Scholastic Inc., 557 Broadway, New York, NY 10012, USA.SCHOLASTIC, SPIRITANIMALS and associated logos are trademarks and/or registered trademarks of Scholastic Inc.Übersetzung: Friedrich PflügerUmschlag: Keirsten Geise unter Verwendung einer Illustration von Angelo RinaldiVorsatzkarte und Vignetten: Wahed KhakdanAlle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.ISBN 978-3-473-47933-7www.ravensburger.de
Für Savannah, Sydney, Elisabeth, Adrienne, Daniel, Tex, John Marcus, Aidan und Nadia.Und für Theo und Sebastian, zwei Hunde, die keinem Apfel widerstehen können.V.J.
ZERIF
Zerif rammte seine Finger in den schmalen Spalt und zog sich auf den schmalen Felssims hinauf. Vor ihm lagen die majestätischen Gipfel der Kenjoba-Berge. Unten waren noch immer die Rufe der niloischen Krieger und Grünmäntel zu hören, die ihn seit Tagen verfolgten. Er hatte gehofft, sich in einem Dorf im Süden von Nilo verstecken zu können, aber schon nach kurzer Zeit hatte ihn jemand entdeckt und ihn bei der Obrigkeit verpfiffen. Er war sofort geflüchtet, als der erste Grünmantel im Dorf herumschnüffelte.
Nach dem Ende des Krieges waren ihm nur wenige Verbündete geblieben. Als durch die Zerstörung des Immerbaums die Wirkung von Gerathons Gallentrank zunichtegemacht war, hatten sich die meisten Eroberer sofort ergeben. Die wenigen Krieger, die dem Reptilienkönig weiterhin unverbrüchlich die Treue hielten, wollten mit Zerif nichts zu tun haben – und würden ihn vermutlich an die Grünmäntel ausliefern, wenn sie ihn fanden.
Nicht einmal sein Schakal war ihm geblieben. Wie die anderen Tiere hatte auch er ihn verlassen, als er die Macht über ihn verloren hatte.
Er war froh, dass er sich nicht die Mühe gegeben hatte, ihm einen Namen zu geben.
Was soll’s, dachte er. Ich bin Zerif. Ich werde wieder triumphieren. Wie immer.
Er erkletterte den nächsten Felssims und schrammte sich Hände und Gesicht, als er sich hinaufzog. Sein zerrissener und ausgeblichener blauer Kittel flatterte im heulenden Wind. Dann wehte die Brise plötzlich von der anderen Seite und ihm stieg fauliger Geruch in die Nase. Er blickte sich um. Auf einem Felsabsatz weiter rechts pickten große schwarze Bussarde an den Überresten eines Tiers. Zerif schob sich rückwärts, um so viel Anlauf wie möglich zu haben. Dann schnellte er los; seine geschwächten Beine ruderten in der Luft. Er kam auf der Felskante auf, stolperte und wäre beinahe ins Leere gestürzt. Als seine Füße Halt gefunden hatten, stürmte er auf die Vögel los und verscheuchte sie.
Zerif betrachtete den halb verwesten Kadaver – ein Wildhund, von dem außer wenigen Fleischfasern an den trockenen Knochen nicht viel übrig geblieben war. Auch das Fell des Tiers war zerrissen. Trotzdem hob er die Überreste auf und warf sie sich über die Schulter. Einer der Grünmäntel war mit einem Fuchs unterwegs; Zerif hoffte, das tote Tier würde seinen eigenen Geruch überdecken.
Nachdem Zerif noch mehrere Stunden geklettert war, gelangte er an einen langen Spalt in der Felswand. Mühsam zwängte er sich hinein. Die glatten, kühlen Wände der niedrigen Höhle waren mit kleinen grünen Moospolstern bedeckt. Die Höhle war kaum groß genug, um aufrecht zu sitzen, geschweige denn zu stehen. Zerif zitterte so sehr, dass seine Zähne klapperten; auch seine Finger waren blau gefroren, aber er wagte es nicht, Feuer zu machen.
Er kochte vor Wut. So war das nicht geplant gewesen, als er sich mit den Eroberern verbündet hatte. Sie hatten ihn im Stich gelassen.
Er ließ den Kadaver neben sich fallen und rollte sich ganz eng zusammen. Er würde erst einmal abwarten und Pläne schmieden. Irgendwann würden die Grünmäntel die Verfolgung aufgeben.
Und dann, bald schon, würde er wieder groß und mächtig sein.
Zwei Tage später war er noch immer nicht aus der Höhle gekrochen.
Immer wenn er sich aufmachen wollte, glaubte er, die Schritte der Grünmäntel oder die Rufe der niloischen Krieger zu hören. Vielleicht war es nur der Wind. Oder die Geräusche der Steine, die den Berg hinabstürzten. Vielleicht bildete er sich das auch alles nur ein. Er hatte versucht, vom Moos zu essen, um wieder zu Kräften zu kommen, hatte das bittere Zeug aber gleich wieder hochgewürgt, kaum dass es im Magen ankam.
Als er so dalag, das Gesicht an den Boden gepresst, sah er zum ersten Mal den grauen Wurm, der auf ihn zukroch.
Er war klein und sah merkwürdig aus – als wäre er flüssig, oder vielleicht wie ein Rauchfaden. Mit unheimlicher Entschlossenheit kam er auf Zerif zu, fast als wüsste er, dass er da war. So etwas hatte Zerif noch nie gesehen.
Was ist das? Ein Blutegel? Eine Schnecke?
Kann man das essen?
Zerif schüttelte den Kopf, während er überlegte, was er tun sollte. Ist der mächtige Zerif so tief gesunken, dass er sich vorstellen kann, einen Wurm zu essen?
Er hob den Wurm hoch und wollte ihn untersuchen. Viel schneller als erwartet, schlängelte sich dieser jedoch seine Hand hinauf. Bevor er sich recht versah, hatte der Wurm schon seinen Ellbogen erreicht. Zerif wedelte wild mit dem Arm, aber der Wurm ließ sich nicht abschütteln. Stattdessen grub er sich in eine tiefe Schramme an Zerifs Schulter. Wie von Sinnen warf sich Zerif gegen die Felswand in der Hoffnung, das Ding zu zerquetschten. Als das nicht gelang, hob er einen scharfkantigen Stein auf und versuchte, sich den Wurm herauszuschneiden.
Offenbar ließ sich die Kreatur durch nichts aufhalten. Unter seiner Haut schob sie sich weiter bis zum Schlüsselbein, dann den Hals hinauf zum Gesicht. Zerif konnte spüren, wie sich der Wurm bewegte. Er schrie – vor Angst und auch vor Schmerz. Schon spürte er, wie sich der Wurm an seiner Stirn ringelte.
Zerif wand sich, bohrte die Finger in seine Gesichtshaut und brachte sich tiefe Schrammen bei.
Dann wurde er mit einem Mal ruhig. Seine Beine und Arme bewegten sich nicht mehr. Sie gehörten gar nicht mehr zu ihm.
Es war, als dringe ein uraltes Geflüster in seinen Geist. Es begann ganz leise, wurde aber stärker und nährte die Wut und Bosheit, die schon immer in den Tiefen seiner Seele gehaust hatten.
Neue Kraft durchströmte ihn. Er erhob sich und spürte weder Hunger noch Schmerz. Er hörte die Stimme, die ihn zum Aufbruch drängte. Nach Norden. Ein Wesen von großer Macht würde ihn dort erwarten. Ein Adler.
Halawir.
Plötzlich waren Hunderte kleiner grauer Würmer um ihn. Sie krochen aus dem Gestein, sickerten heraus wie flüssiges Dunkel. Parasiten. Verbündete.
Mit ihrer Hilfe würde Zerif wieder groß werden.
Gefürchtet und angebetet.
Er würde die Welt beherrschen.
WELLEN
Takoda saß am Ufer des Schwefelmeers. Gelbes, schleimiges Wasser plätscherte um seine Stiefel und drang durch das abgenutzte Leder, aber er wollte nicht aufs Trockene. Von hier hatte er den besten Blick auf das endlose Meer, die schroffen Felswände und den schmalen Strand dazwischen.
Takoda suchte immer noch und hoffte, irgendwo Xanthes blasse Haut oder ihr weißes Haar aufblitzen zu sehen. Er wusste, das Mädchen würde die Gruppe finden. Das musste sie. Er gestattete sich keine Zweifel.
Wie lange war es her, dass er sie gesehen hatte, als sie durch die Arachanen-Felder gerannt waren? Stunden? Tage? Noch länger? Takoda kannte Xanthe zwar erst seit Kurzem, aber die langen Gespräche mit ihr waren ihm sehr wichtig geworden. Sein Leben bei den Mönchen schien sie genauso zu fesseln wie ihn ihr Leben unter der Erde. Längst war sie nicht mehr nur ihre Führerin. Sie war ihre Freundin geworden. Seine Freundin. Und jetzt war sie fort. Genau wie seine Eltern damals im Krieg.
Ein Stück entfernt am Strand höhlten Meilin und Conor einen riesigen violetten Flaschenkürbis aus. Beim Durchsuchen der Felshöhlen waren sie auf eine Stelle mit mehreren Kürbispflanzen gestoßen. Die Früchte stanken, und fast hätte Takoda auch noch die wenige Nahrung von sich gegeben, die er noch im Magen hatte. Aber nach einem ersten Versuch sah es so aus, als könnten sie in der harten Schale gemeinsam die Reise übers Meer wagen.
Takoda hörte Schritte hinter sich, wandte sich aber nicht um. Selbst der weiche Sand am Ufer des Schwefelmeers konnte die schweren Schritte von Kovo, dem Großen Tier, nicht dämpfen. Seinem Seelentier.
Vor wenigen Wochen hätte Takoda weder die Schritte noch das Schnauben hören müssen, um zu wissen, dass sich Kovo näherte. Seine Gegenwart war einfach irgendwo in seinem Bewusstsein zu spüren gewesen. Anfangs war das seltsam gewesen, aber allmählich hatte Takoda das Gefühl schätzen gelernt. Es erinnerte ihn an das ruhige, fortwährende Summen eines Kolibris, der an eine Blüte heranschwirrte. Seit aber die Bindungen der Seelentiere zu ihren menschlichen Gefährten zum Zerreißen gespannt waren, konnte er den Affen kaum noch spüren.
Anfangs hielt Takoda das für einen Segen. Wenn die Bindungen brachen, dachte er, dann würde er den gerissenen, heimtückischen Kovo vielleicht los, der zwei große Kriege in Erdas angezettelt hatte. Inzwischen aber konnte sich Takoda das Leben nicht mehr ohne ihn vorstellen.
Außerdem hatten die Wut und der Schmerz über den Tod seiner Eltern an Schärfe verloren, seit die Bindung zu Kovo bestand. Diese Gefühle waren noch da, verblassten aber langsam. Sie verzehrten ihn nicht. Er konnte damit zurechtkommen. Aber mit Xanthes Verschwinden brach nun alles wieder auf.
Kovo ließ eine Handvoll Felsenkraut neben Takoda in den Sand fallen. Ohne Xanthe konnten Takoda und die anderen nicht unterscheiden zwischen Pflanzen, die sie ernährten, und solchen, die sie krank machten – oder schlimmer. Meilin hatte auf einem Streifzug Felsenkraut gefunden. Xanthe hatte ihnen gezeigt, was man tun musste, um an die Nährstoffe zu gelangen. Selbst jetzt, wo sie fort war, rettete das Mädchen ihnen immer noch das Leben.
Kovo stupste Takoda an der Schulter an; der Junge hob den Kopf und sah ihm in die Augen. Es erstaunte ihn immer wieder, wie behutsam der Große Affe einen berühren konnte, wenn er wollte. Als Kovo Takodas Aufmerksamkeit erlangt hatte, presste er die Finger zusammen und führte sie zu seinem Mund.
„Danke“, sagte Takoda. „Aber was ist mit Conor und Meilin? Haben sie auch schon gegessen?“
Er war sich nicht sicher, aber es sah fast so aus, als verdrehte Kovo bei der Erwähnung ihrer Namen seine großen roten Augen.
Kovo und Meilin mochten sich nicht. Sie hätten das zwar niemals zugegeben, aber sie waren sich in vielerlei Hinsicht ähnlich. Als Anführer forderten beide Informationen, auch wenn es einfacher gewesen wäre, einfach danach zu fragen.
Was Conor betraf, fragte sich Takoda, ob Kovo ihn bereits aufgegeben hatte. Conors Zustand verschlechterte sich mit jedem Tag. Der Parasit wanderte zwar immer langsamer seinen Arm hinauf, aber er wanderte noch immer. Bald würde er den Jungen in seiner Gewalt haben.
Takoda hob ein paar Büschel Felsenkraut auf und versuchte, sie dem Affen zurückzugeben. „Kovo, die anderen müssen auch etwas essen. Und vielleicht wären sie in deiner Gegenwart weniger befangen, wenn du es ihnen anbieten würdest.“
Kovo schnaubte, ging dann aber, auf seine Fingerknöchel gestützt, am Strand entlang in Richtung der Felswände zurück. Seine Fäuste trommelten auf den Strand, dass der Sand nur so spritzte und das liegen gelassene Felsenkraut bedeckte.
Seufzend erhob sich Takoda. Er schüttelte das Kraut aus, so gut es ging, und marschierte zu Conor und Meilin hinüber. Anfangs hatte er dabei geholfen, den Kürbis auszuhöhlen, aber als er immer wieder aufs Meer hinausblickte, anstatt das stinkende Fruchtfleisch herauszuschälen, hatte Meilin ihn schließlich fortgeschickt.
Als Takoda herankam, sprang Briggan auf und hüpfte verspielt um ihn herum.
„Kein Fleisch, tut mir leid“, sagte Takoda.
Briggan winselte und kehrte zurück an Conors Seite. Seit dem Feuer blieb der Wolf immer dicht bei ihm, obwohl ihm wegen des schwarzen Sands zwischen den Pfoten offensichtlich nicht wohl war.
„Kovo hat noch mehr Felsenkraut gefunden“, sagte Takoda zu Conor. Conors Stirn glänzte vor Schweiß, und Takoda fragte sich, ob das an der Arbeit lag … oder an dem Parasiten, der sich an seinem Halsansatz ringelte.
„Danke“, murmelte Conor. „Ich könnte tatsächlich eine Pause gebrauchen.“
„Bist du sicher, dass es auch wirklich Felsenkraut ist?“, fragte Meilin und scharrte weiter im Kürbis. „Es würde mich nicht wundern, wenn Kovo versucht, uns etwas Giftiges unterzuschieben.“
Takoda schüttelte den Kopf. „Glaubst du, du wirst ihm irgendwann einmal vertrauen?“
„Nein“, antwortete Meilin knapp.
Takoda lachte kurz auf, verstummte aber, als er begriff, dass Meilin es ernst gemeint hatte. Er steckte ein paar Stücke der faserigen Pflanze in den Mund. „Es ist Felsenkraut“, bestätigte er, während er kaute. „Da bin ich mir sicher.“
„Gut. Dann müssen wir für unsere Reise so viel wie möglich davon sammeln.“ Meilin ließ den Stein fallen, mit dem sie den Kürbis bearbeitet hatte, und spreizte die Finger. Sie waren von der Arbeit gerötet und wund. „Was meinst du, Conor?“, fragte sie. „Reicht das?“
Als er keine Antwort gab, stieß ihn Briggan mit der Schnauze an.
Conor kniff die Augen zusammen und blickte dann von dem Wolf zu Meilin. „Entschuldige. Was hast du gesagt?“
„Nicht so wichtig“, erwiderte sie. Meilin schloss die Augen, berührte das Tattoo auf ihrem Handrücken und zog eine Grimasse. Einige lange Sekunden später erschien Jhi. „Wie wär’s, wenn du dich ein bisschen ausruhst?“, wandte sich Meilin an Conor. „Jhi wird sich um meine Hände kümmern, und dann suche ich mit Takoda zusammen, was wir für die Reise brauchen. Wenn wir wieder zurück sind, können wir aufbrechen.“
Takodas Herz schlug schneller. Er spuckte das Felsenkraut aus. „Schon? Vielleicht solltest du dich auch ausruhen. Kovo und ich können die erste Wache übernehmen …“
„Kommt nicht infrage“, blaffte Meilin.
„Mir kannst du doch vertrauen, selbst wenn du Kovo nicht traust.“ Er zog sich den grünen Mantel um die Schultern. „Vergiss nicht, wir stehen auf derselben Seite.“
Jhi, die sich um Conor gekümmert hatte, hielt inne und beobachtete den Wortwechsel zwischen Takoda und Meilin. Ihre schwarzen Ohren zuckten, als sie sich mit ihrem schwerfälligen Körper vorsichtig in den Sand setzte. Dann beugte sie sich zu Conor hinüber, leckte seine Haut noch einmal, behielt aber Takoda im Blick.
„Es ist nicht so, dass ich dir nicht vertraue“, erklärte Meilin. „Uns läuft nur die Zeit davon.“ Sie kam um das provisorische Boot herum und blieb vor Takoda stehen. „Sie wird auch nicht kommen, wenn wir noch einen Tag warten.“
So direkt, wie Meilin das aussprach, hätte sie ihm genauso gut ein Messer ins Herz stoßen können.
„Woher willst du das wissen?“, fragte Takoda erregt. Er konnte die Wut in seiner Stimme selbst hören. Den Mönchen hätte das missfallen. „Xanthe kennt sich in diesen Höhlen besser aus als wir alle zusammen. Irgendwann wird sie zu uns zurückfinden.“
„Takoda“, sagte Meilin beschwörend, was ihn noch mehr verstörte, „es ist nun schon mindestens zwei Tage her. Sie hätte uns längst gefunden, wenn sie könnte.“ Sie blickte aufs Meer hinaus. „Auch wenn du offiziell noch kein Grünmantel bist, hast du doch die Pflicht, Sadre für Xanthe zu retten. Sie würde das wollen.“
Takoda fragte sich, ob es in Sadre überhaupt noch jemanden gab, den man retten konnte. So viele waren schon dem Wyrm und seinen Parasiten zum Opfer gefallen.
„Hilf mir, ein paar Sachen für die Reise zusammenzusuchen“, sagte Meilin und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Wir brauchen noch etwas, das wir als Paddel benutzen können.“
Er schüttelte ihre Hand ab. „Ich weiß nicht, ob ich jemals offiziell ein Grünmantel sein will, wenn man dafür so eiskalt werden muss. Offenbar weiß die große Meilin von Zhong nicht, wie es sich anfühlt, jemanden zu verlieren, der einem etwas bedeutet.“
Meilin riss die Augen auf, kniff sie aber rasch wieder zusammen. „Also schön. Bleib hier und wate in Selbstmitleid. Ich werde die Sachen selbst zusammensuchen.“ Sie drehte sich um und stürmte über den Strand davon.
Takoda sah sie in einer Höhle verschwinden. Er hatte einen bitteren Geschmack im Mund, der nicht von dem Felsenkraut stammte. Sein Blick fiel auf Jhi, die ihn immer noch anstarrte. Sie sahen sich in die Augen, und Takoda spürte, wie sie in seine Gedanken eintrat. Allmählich verblasste alles, was seine Wut befeuert hatte – die Trauer darüber, dass er Xanthe und seine Eltern verloren hatte, und selbst ihre Lage wirkte nicht mehr ganz so aussichtslos.
Als sich Takodas Puls beruhigt hatte, wandte Jhi den Blick von ihm ab. Sie sah in Richtung der Höhle, in der Meilin verschwunden war.
Takoda stieß einen tiefen Seufzer aus, dann ging er um die Kürbisschale herum zu Jhi und Conor. Anstelle von Wut verspürte er nun ein schlechtes Gewissen. „Danke, Jhi“, sagte er und sank vor ihr auf die Knie. „Conor, glaubst du, Jhi möchte, dass ich Meilin nachgehe?“
„Warte erst ein bisschen, bis sie sich beruhigt hat“, antwortete Conor. Er tätschelte Jhi den Kopf, genau zwischen den Ohren. „Aber du könntest Meilin nachgehen, wenn du willst“, sagte er zu der Pandabärin. Jhi blickte Conor an und neigte den Kopf zur Seite. „Ist schon in Ordnung“, meinte Conor. „Wir wissen doch beide, dass du ohnehin nicht mehr viel für mich tun kannst.“
Jhi leckte ihm ein letztes Mal übers Gesicht und ging dann gemächlich über den Strand davon. Eine Hand auf den Kürbis gestützt, erhob sich Conor vom Boden, verlor aber gleich wieder im Sand den Halt.
„Warte, ich helfe dir“, sagte Takoda und sprang auf. Er packte Conors Arm, legte ihn sich über die Schulter und tat, als bemerke er nicht den Parasiten, der sich unter der Haut über Conors Schlüsselbein ringelte.
Zusammen gingen sie zum Fuß der Felsen, wo sie notdürftig ihr Lager eingerichtet hatten.
Die Wand ragte so weit in die Höhe, dass nicht zu erkennen war, wo die riesige Höhle endete. Von dort irgendwo waren sie herabgestürzt, als sie in großer Eile den brennenden Feldern entkommen waren.
Takoda hatte Xanthe zuletzt gesehen, als sie ihnen zur Warnung mit aufgerissenen Augen zugewinkt hatte, damit sie stehen blieben. Dann war sie in letzter Sekunde zur Seite gesprungen. Er selbst, Conor und Kovo waren gegen Meilin geprallt und über die Kante gestürzt.
Zurück beim Lager, sank Conor in den Sand und löste seinen Mantel. „Meilin ist manchmal ein bisschen dickköpfig, aber sie meint es gut. In einer Schlacht würdest du niemand anderen bei dir haben wollen.“
Briggan ließ sich neben Conor nieder und legte die Schnauze in seinen Schoß.
„Außer Briggan natürlich.“ Der Wolf schien über die Bemerkung zu grinsen.
„Wenn du glaubst, Meilin wäre eben sauer auf dich gewesen, dann hättest du sie mal sehen sollen, als ich vorschlug, ihr solltet mich zurücklassen“, fuhr Conor fort. „Da habe ich geglaubt, sie würde mir gleich eine verpassen.“
„Ich muss wohl noch viel über sie lernen“, sagte Takoda. „Über Menschen im Allgemeinen. Die Mönche in Nilo waren längst nicht so … temperamentvoll wie sie.“
„Ich werde mit ihr reden, wenn sie wieder zurück ist. Meilin braucht den Rückhalt unserer Gruppe ebenso wie jeder andere, auch wenn sie das nicht zugibt.“ Conor seufzte. „Aber was Xanthe angeht, hat sie recht. Wir können nicht auf sie warten. Wir müssen machen, dass wir weiterkommen.“
Takoda blickte aufs Meer hinaus. Wenn Xanthe dort draußen war, würde sie das Lager sehen können? Oder war es zu gut verborgen?
„Ihr Vater“, sagte Conor.
Takoda riss den Kopf herum. „Was?“
„Meilin hat im Krieg ihren Vater verloren. In dem Krieg, den Kovo begonnen hat.“ Conor tätschelte Briggan die Flanke. „Ich war dabei, als General Teng starb. Das Krokodil des Schlingers tötete ihn. Ich habe gesehen, wie Meilin seinen Leichnam beweint hat“, sagte Conor. „Dann ist sie aufgestanden, hat sich die Augen getrocknet und weitergekämpft.“ Conor legte sich neben Briggan in den Sand. „Mit Verlust kennt sie sich aus, Takoda. Mehr als jeder andere von uns.“
„Und was ist mit ihrer Mutter geschehen?“, fragte Takoda. War sie auch eine Kriegerin gewesen? War sie wie seine eigene Mutter im Krieg gestorben?
„Sie ist schon lange tot. Ich weiß aber nichts Genaues.“ Conor gähnte. „Entschuldige, ich muss mich noch ein bisschen ausruhen. Ich brauche alle meine Kräfte für diesen Kampf …“
„Gegen den Parasiten?“, fiel ihm Takoda ins Wort.
„Nein. Gegen den Wyrm.“ Conor blickte Takoda mit schweren Lidern an. „Ich spüre ihn. Je näher wir ihm kommen, desto lauter höre ich ihn in meinem Kopf. Als würde er mich zu sich ziehen.“
Takoda beobachtete, wie Conor die Augen schloss. „Und schlafen hilft?“, fragte er.
„Ein bisschen“, erwiderte Conor. „Jedenfalls im Augenblick.“
Takoda war sich nicht sicher, wie viel Zeit Meilin und Jhi mit der Erkundung der Höhlen zubrachten. Am Strand verging die Zeit langsam, aber als Takoda während ihrer Abwesenheit alles ihm Aufgetragene erledigt hatte, gab er es schließlich auf, die Stunden zu zählen.
So bemerkte er auch nicht, dass sie zurückkehrten. Kovo war es, der ihn darauf aufmerksam machte. Der Große Affe schnupperte und zog sich dann die gekrümmten Finger übers Gesicht. Launisch. So nannte er Meilin.
Kurz darauf tauchten Meilin und ihr Seelentier auf. „Viel habe ich nicht gefunden“, erklärte Meilin, als sie im Lager ankam. „Ein bisschen Felsenkraut und ein paar Ranken, die wir als Seil benutzen können.“
Takoda blickte mit einem Nicken auf den Stock in ihrer Hand. „Und einen neuen Kampfstab?“
Sie zuckte die Achseln. „Etwas länger wäre er mir lieber, aber er wird helfen, falls wir aus dem Wasser angegriffen werden.“
„Kovo und ich waren auch unterwegs. Wir haben ein bisschen Felsenkraut gesammelt und außerdem habe ich diese hier gefunden.“ Er schlug seinen Mantel beiseite und zeigte auf zwei kleine Kugeln. „Sie sind zwar nicht so hell wie Xanthes Leuchtsteine, aber so können wir unsere letzte Holzfackel erst einmal aufheben.“ Takoda ließ die Kugeln wieder verschwinden und zerrte den Stiel eines großen Pilzes auf seinen Schoß.
„Und was ist das?“, fragte Meilin.
„Unser Paddel“, antwortete Takoda. „Ich habe ihn am Strand gefunden. Kovo hat geholfen, den Pilzhut abzubrechen und den Stiel herzubringen. Er ist hart und zäh – fast wie Holz –, aber ich glaube, ich könnte ihn noch so zuschleifen, dass man ihn gut greifen kann.“
Meilin schüttelte den Kopf. „Der ist doch viel zu groß.“
„Für uns schon“, sagte Takoda, „aber nicht für Kovo.“
Meilin presste die Lippen aufeinander und starrte das Große Tier an. Kovo starrte zurück und seine Augen wirkten wie rote Löcher in seinem schwarzen Fell. Meilin strich sich das Haar aus dem Gesicht. „Wahrscheinlich bleibt uns keine Wahl.“
Takoda stand auf und stützte sich auf das halbfertige Paddel. „Jetzt schlaf erst einmal. Ich mache das hier fertig und halte solange Wache.“
„Nein, ich …“
„Ich schlage das nicht nur deinetwegen vor und auch nicht, damit wir noch länger hierbleiben.“ Takoda warf einen Blick auf Conor. Jhi war schon wieder bei ihm. „Conor muss sich so viel ausruhen wie möglich. Aber wenn ihr beide aufwacht, können wir sofort aufbrechen – versprochen. Ich werde dann nichts mehr dagegen einwenden.“ Takoda wartete, bis sich Meilin gesetzt hatte, und fügte hinzu: „Und es tut mir leid, was ich vorhin gesagt habe. Ich hätte nicht so gedankenlos daherreden dürfen. Wer so viele Schlachten erlebt hat wie du, hat bestimmt auch Angehörige oder Freunde verloren.“
„Hat dir Conor von meinem Vater erzählt?“ Sie schüttelte den Kopf und schnaubte verärgert. „Er redet zu viel.“
„Auch möglich, dass du zu wenig redest.“
Meilin öffnete ihren Mantel, zog ihn aus und legte ihn zusammen, um ihn als Kissen zu benutzen. „In Zhong gibt es ein altes Sprichwort: Die Zeit der Bambusblüte kommt für jeden von uns. Was zählt, ist das Leben, das wir führen.“
„Bei den Mönchen heißt es ganz ähnlich“, sagte Takoda. „Unsere Wirkung in der Welt wird nicht bestimmt durch die Größe des Kieselsteins, der in den Teich fällt, sondern durch die Wellen, die er schlägt.“ Er nahm den Stein zur Hand, mit dem er das Paddel bearbeitet hatte. „Meine Eltern sind auch im Krieg gestorben. Meine Mutter war eine Kriegerin. Sie ist bei der Verteidigung von Nilo gegen die Eroberer ums Leben gekommen. Mein Vater kam um, als er mir Zeit zur Flucht verschaffte.“
Meilin kniff vor Überraschung die Augen zu. „Das habe ich nicht gewusst“, sagte sie leise.
Takoda zuckte mit den Schultern. „Vielleicht rede ich ja auch nicht genug.“
Meilin sah zu Kovo hinüber. Der Affe hatte sich von ihr abgewandt und blickte aufs Meer hinaus. „Wie erträgst du es, mit ihm verbunden zu sein, obwohl du doch weißt, was er getan hat? Wofür er verantwortlich ist?“
„Zu Anfang, als ich ihn rief, habe ich mich das auch gefragt“, antwortete Takoda. „Aber die Verbindung hilft mir sogar dabei, mit der Wut fertigzuwerden. Nun, sie half, bis Xanthe …“ Er wandte sich von Meilin ab, denn er wollte nicht, dass sie das Glitzern in seinen Augen bemerkte. „Kovo ist nicht böse. Nicht wirklich. Aber er glaubt, dass er Erdas am besten schützen kann.“
„Indem er zwei Kriege beginnt?“, murmelte Meilin. „Eine großartige Weise, seine Liebe zu Erdas zu zeigen!“
Takoda musste lachen. „Du solltest dich ausruhen. Bis dann, in ein paar Stunden.“
Er ging davon und zerrte den Pilzstiel hinter sich her. Kovo folgte ein paar Schritte hinter ihm. Auf halbem Weg über den Strand ließ Takoda sich in den Sand sinken. Wenn das Paddel fertig war, würden seine Hände genauso wund und gerötet sein wie die von Meilin, aber für ein bedeutsames Vorhaben wie das ihre war das ein geringer Preis.
Kovo stupste ihn sanft an der Schulter an und deutete auf die Stelle, an der er sonst gesessen hatte.
Takoda schüttelte den Kopf. „Ich kann jetzt keine Zeit mehr damit vergeuden, aufs Meer hinauszusehen. Es ist noch viel zu tun, bis Meilin und Conor wieder aufwachen. Und sie haben recht. Ich kann nichts mehr für Xanthe tun.“ Er versuchte, den Kloß hinunterzuschlucken, der ihm im Hals steckte. „Sie war der Kieselstein. Wir müssen jetzt die Wellen sein.“
Kovo ließ sich vor Takoda auf die Knie. Seine Augen waren so riesig. So rot. Immerhin war in ihnen keine Wut zu erkennen – jedenfalls nicht in diesem Augenblick. Kovo grunzte, schloss die Pranke zu einer Faust und machte vor seiner Brust eine kleine, kreisförmige Bewegung.
Takoda setzte sich auf. „Es … tut dir leid?“, fragte er. Kovo hatte dieses Wort bisher noch nie benutzt. „Ich dachte, du hättest sie nicht gemocht!“
Kovo zeigte auf Takoda und legte dann seine beiden Zeigefinger aneinander. Nach diesem Zeichen zog er die geöffneten Handflächen vor seinem Gesicht herunter.
„Ja, es schmerzt “, sagte Takoda. „Und ich bin sehr traurig.“ Takoda konnte kaum fassen, was für eine Unterhaltung er mit Kovo führte. Er war immer davon ausgegangen, dass ihn der Affe als unvermeidbares Ärgernis betrachtete. Sollte sich Kovo tatsächlich um ihn sorgen?
Er betrachtete Kovos Gesicht, in dem sich sonst Hochmut und Verachtung gespiegelt hatten. Als er von beidem nichts erkennen konnte, legte er seine Hand an den Mund und dann wieder hinunter in den Schoß. „Ich danke dir, Kovo.“ Dann ballte er die Hand zur Faust und wiederholte das Zeichen, das der Affe eben gemacht hatte. „Und … mir tut es auch leid.“
DANTE
Abeke stand an Bord der Telluns Stolz II und beim Anblick der sandfarbenen Felsklippen in der Ferne wurde ihr ganz warm ums Herz. Nilo. Ihre Heimat. Die geschäftigen Hafenstädte entlang der Nordgrenze unterschieden sich zwar stark von Okaihee, aber allein schon die Vorstellung, wieder auf vertrautem Boden zu sein, ließ in ihr Sehnsucht nach der Savanne aufkeimen.
Abeke blickte hinauf zum blauen Himmel und den ziehenden Wolken. Der Wind stand günstig, bauschte die Segel des Schiffs und schob sie immer näher an Nilo heran. Die Telluns Stolz II