Split Second - Zurück in der Zeit - Douglas E. Richards - E-Book

Split Second - Zurück in der Zeit E-Book

Douglas E. Richards

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Beschreibung

Dem brillanten Physiker Nate Wexler ist eine wissenschaftliche Sensation gelungen: Er hat einen Weg gefunden, in der Zeit zurückzureisen. Zwar nur für den Bruchteil einer Sekunde, dennoch sind die Konsequenzen, die diese neuartige Technologie mit sich bringt, gewaltig. Gerade will Nate mit seiner Verlobten Jenna auf seinen Erfolg anstoßen, als die beiden in ihrem Haus von Vermummten überfallen werden. Nate wird getötet, Jenna kann in letzter Sekunde entkommen – mit Nates Aufzeichnungen. Aufzeichnungen, die die Naturgesetze revolutionieren könnten ...

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Seitenzahl: 573

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Das Buch

Eigentlich will die junge Wissenschaftlerin Jenna Morrison mit ihrem Verlobten, dem brillanten Physiker Nathan Wexler, gerade auf seine neueste Entdeckung anstoßen, als eine Gruppe vermummter Männer das Haus stürmt und die beiden entführt. Dann überschlagen sich die Ereignisse: Nathan wird erschossen, und Jenna, die in allerletzter Sekunde entkommen kann, ist plötzlich auf sich alleine gestellt. Verzweifelt heuert sie den gewieften Privatdetektiv Aaron Blake an, um herauszufinden, was hinter dem Angriff steckt. Schnell stellt sich heraus, dass des Rätsels Lösung in Nathans Aufzeichnungen zu finden ist. Aufzeichnungen, die die Naturgesetzte revolutionieren könnten. Doch auch Jennas Feinde sind hinter den Daten her und die haben Verbindungen bis in die höchsten Kreise der Regierung. Es beginnt ein knallharter Kampf um Leben und Tod …

Atemberaubend, fesselnd und visionär – Split Second ist ein Science-Thriller, der seinesgleichen sucht.

Der Autor

Douglas E. Richards studierte Molekularbiologie und war viele Jahre in der Biotechnologie als Führungskraft tätig. Er verfasste eine Vielzahl populärwissenschaftlicher Artikel u. a. für den National Geographic und die BBC. Seine Science-Thriller landen regelmäßig auf der New York Times-Bestsellerliste. Er lebt mit seiner Familie in San Diego, California.

Mehr über Douglas E. Richards und seinen Roman erfahren Sie auf:

diezukunft.de

DOUGLAS E. RICHARDS

SPLIT

SECOND

ZURÜCK IN DER ZEIT

THRILLER

Aus dem Amerikanischen übersetztvon Maike Hallman

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Titel der amerikanischen OriginalausgabeSPLIT SECOND
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Redaktion: Catherine BeckCopyright © 2015 by Douglas E. RichardsCopyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe undder Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenUmschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München,unter Verwendung eines Motivs von silver tiger / ShutterstockSatz: Schaber Datentechnik, AustriaISBN 978-3-641-22271-0V002
www.diezukunft.dewww.penguinrandomhouse.de

ERSTER TEIL

DURCHBRUCH

SEKUNDENBRUCHTEIL (Substantiv):

1: Bruchteil einer Sekunde

2: Eine verschwindend geringe Zeiteinheit

»Die Vergangenheit kann sich nicht der Vergangenheit entsinnen. Die Zukunft kann nicht die Zukunft hervorbringen. Die Schneide eben dieses Augenblicks, des Hier und Jetzt, ist nie weniger als die Totalität alles Seienden.«

ROBERT PIRSIG

1

Jenna Morrison gab ihrer Schwester Amber einen Abschiedskuss, ohne auf das Gebrüll der kleinen Sophia zu achten. Sie war vollständig in eine Babydecke eingewickelt, sodass man ihre Gegenwart durch bloßes Hinsehen nicht bestätigen konnte, fast als wäre sie in ein baumwollweiches, mintgrünes schwarzes Loch gefallen. Die Decke vermochte Sophias ohrenbetäubendes Kreischen – von der Evolution verfeinert, bis es über alle Maßen nervtötend war und man es unmöglich ignorieren konnte – kein Stück zu dämpfen.

Amber klopfte Sophia behutsam auf den Rücken, hielt sie dicht am Körper und hoffte, dass der Grund für den Höllenlärm nur ein verklemmtes Bäuerchen war. Hilflos warf sie ihrer Schwester einen um Entschuldigung heischenden Blick zu. Das Baby hätte kein schlechteres Timing haben können.

»Danke, dass du gekommen bist, Jen«, sagte sie. »Du hast mir das Leben gerettet.«

»Spinnst du?«, fragte Jenna ein bisschen lauter als sonst, um das Gebrüll ihrer Nichte zu übertönen. »Um nichts auf der Welt hätte ich das verpassen wollen. Ich musste dich unbedingt sehen. Sophia kennenlernen. Ganz zu schweigen davon, mir meine persönliche Babydröhnung abzuholen. Ich sollte dir danken.«

»Du bist echt die Beste«, sagte Amber. Ihr war die Betrübnis über den Aufbruch ihrer Schwester an der Nasenspitze anzusehen, ebenso wie ihre wachsende Panik.

Aber wer hätte ihr das vorwerfen können? Mit zwanzig Mutter zu werden war das eine, aber etwas ganz anderes war es, wenn der Vater zwei Monate nach der Geburt verschwand. Das hätte jeden fertiggemacht, stabile Psyche hin oder her.

Als Jenna erfahren hatte, dass Amber das Kind ganz allein großziehen musste, war sie so schnell wie möglich aus San Diego aufgebrochen, um ihr mit Sophia zu helfen und sie moralisch zu unterstützen, wenigstens für eine Woche. Alles in allem war es ganz gut gelaufen, und sie war überzeugt, dass ihre Schwester allmählich ihre emotionale Stabilität wiedererlangte, auch wenn es natürlich Monate oder gar Jahre dauern konnte, bis sie sich wieder ganz erholt hatte.

Aber es war wirklich ermutigend, dass Amber nicht nur keinerlei Anzeichen einer postnatalen Depression zeigte, sondern sogar eine dieser Mütter war, die von Innen heraus zu leuchten schienen, in der Mutterschaft schwelgten und schier ertranken in wohligen Oxytocin-Fluten, ausgelöst von den unermüdlichen Versuchen des Babys, ihr die Brustwarzen vom Leib zu nuckeln.

Jenna wäre gern länger geblieben, aber sie steckte gerade mitten in ihrer Doktorarbeit über Genetik und musste in ihr eigenes Leben zurück. Und zurück zu Nathan Wexler, ihrem Verlobten.

»Pass auf dich auf«, sagte Jenna ernst. »Und denk dran, lass dich von nichts runterziehen. Jeder hat mal einen schlechten Tag. Aber vor dir liegt ein tolles Leben. Ich weiß es. Sophia hat ja keine Ahnung, was für ein Glück sie hat.«

Amber nickte, und in einem Augenwinkel erschien eine Träne. Jenna küsste die mintgrüne Decke, drückte die Lippen so fest darauf, dass das brüllende Baby die Berührung am Hinterkopf spürte. Dann stieg sie ohne ein weiteres Wort ins wartende Taxi und setzte sich auf die Rückbank.

Auf der Fahrt nach O’Hare dachte sie über das Leben nach. Was ihrer Schwester passiert war, hätte sie niemandem gewünscht, aber es war nicht zu leugnen, dass Babys entzückend waren, und viele Frauen packten es auch als alleinerziehende Mütter ganz bravourös. Und Jenna war überrascht von der Entdeckung, was für ein ausgeprägter Mutterinstinkt in ihr selbst geschlummert und nur auf den Anblick eines Babys gewartet hatte.

Wann würden sie und Nathan eine Familie gründen? Und wie viele Kinder würden sie wohl haben?

Nathan Wexler war ein brillanter Physiker und Mathematiker, und auch wenn sie ihm nicht mal annähernd das Wasser reichen konnte – wer konnte das schon? –, galt auch sie allgemein als begabt. Auf sie beide wartete, soweit sich so etwas vorhersagen ließ, ein von anspruchsvoller, befriedigender Arbeit erfülltes Leben.

Sie waren sich einig, dass sie irgendwann mal Kinder wollten, aber bisher hatten sie nur theoretisch darüber gesprochen. Natürlich hatten sie noch viel Zeit. Nathan war zwar schon neunundzwanzig, sie selbst aber erst sechsundzwanzig. Nur … würden sie wohl jemals beschließen, dass jetzt die richtige Zeit wäre? Inmitten ihrer Karrieren und anderer geistiger Herausforderungen, die am Ende womöglich die ganze Welt verändern würden – etwas, das vor allem bei Nathan nicht unwahrscheinlich war.

Immerhin hatten sie es immer noch nicht geschafft zu heiraten. Sie lebten jetzt seit achtzehn Monaten zusammen und betrachteten einander als Mann und Frau, aber Jennas Bereitschaft, Zeit von ihren anderen Leidenschaften abzuziehen, um das Ganze richtig offiziell zu machen, war verschwindend gering. Und auch eine rasche Hochzeit in Vegas kam nicht infrage, denn das hätte ihnen Nathans Familie niemals verziehen.

Also mussten sie einen Veranstaltungsort aussuchen. Das Ganze durchplanen. Gäste einladen.

Sie erschauerte. Lieber hätte sie sich auf einen Hügel voller Feuerameisen gesetzt.

Jenna fragte sich, wie lange sie und Nathan noch brauchen würden, bis sie sich gegenseitig das Jawort gaben. Und wenn sie es aus Zeitgründen nicht mal hinbekamen zu heiraten, würden sie es dann jemals schaffen, eine Familie zu gründen? Möglicherweise nicht.

Erst vor einem Jahr hatten sie und Nathan Idiocracy gesehen, einen alten Film, den sie urkomisch und oft auf geniale Art bissig gefunden hatten, aber er hatte bei ihnen auch einen Nerv getroffen: Die Grundprämisse des Films war, dass die Entwicklung der Menschheit nicht auf Großartigkeit zusteuerte, sondern auf Idiotie.

Und diese These wurde sehr nachdrücklich vermittelt. Ein Erzähler wies darauf hin, dass einstmals die natürliche Selektion dafür gesorgt hatte, dass die Stärksten, Klügsten oder Schnellsten am ehesten überlebten. Aber in der menschlichen Gesellschaft, in der es keine Raubtiere mehr gab, die die Herde ausdünnten, belohnte die Evolution nicht mehr Intelligenz, sondern bevorzugte schlicht diejenigen, die sich am meisten vermehrten.

Anschließend zeigte der Film lauter ungebildete Vollidioten, die alles flachlegten, was sich bewegte, einschließlich diverser Verwandter, und die es offenbar für den großartigsten Sport der Welt hielten, bei der leisesten Provokation Stühle nacheinander zu werfen. Sie vermehrten sich völlig unbekümmert wie sexsüchtige Karnickel.

Weshalb? Weil sie sonst nichts mit ihrer Zeit anzufangen wussten. Weil sie impulsgesteuert waren und zu dämlich, um zu begreifen, welchen Sinn Verhütung haben sollte. Und weil staatliche Finanzspritzen und Lebensmittelmarken immer großzügiger ausfielen, je mehr Kinder sie hatten.

Diese Szenen standen im scharfen Kontrast zu einem anderen Handlungsstrang, in dem zwei recht zimperliche, hochintelligente Spezialisten übers Kinderkriegen diskutierten. Beide waren sich einig, dass es sich um eine wichtige Entscheidung handelte und sie auf den richtigen Zeitpunkt warten sollten, denn ein Kind zu bekommen, sollte man keineswegs überstürzen. Am Ende starben sie kinderlos.

Die Moral: Die dämlichen Triebgesteuerten waren vielleicht nicht in der Lage, einen Beruf auszuüben oder Algebra zu begreifen, aber ganz sicher wussten sie, wie man einander flachlegte – und sich wie verrückt reproduzierte.

Der Film spielte viele Generationen in der Zukunft, nachdem diese umgekehrte Evolution bereits unvermeidlich zu einer Gesellschaft geführt hatte, die größtenteils aus Idioten bestand.

Eine Komödie, ja, aber während in Fachkreisen noch darüber diskutiert wurde, ob etwas dran sei, fiel es Jenna schwer, sich seiner inneren Logik zu entziehen.

Sie selbst war brillant, im Gegensatz zu ihrer weniger brillanten und erheblich stärker impulsgesteuerten Schwester. Sie fragte sich, wie viele Kinder Amber wohl haben würde. Und ob sie selbst und ihr supergenialer Mann überhaupt welche bekommen würden.

Auf dem Lindbergh-Flughafen in San Diego wurde Jenna von einem strahlenden, aber müden Nathan Wexler begrüßt, der genauso aussah wie während ihrer Skype-Telefonate der vergangenen Woche – als wäre er allergisch gegen Schlaf.

Nach einer langen Umarmung und als das Laufband endlich ihr Gepäck hergegeben hatte – der Flughafen war dafür bekannt, dass man lange auf seine Koffer warten musste –, fuhr Wexler sie nach Hause zu ihrem kleinen Mietshaus in La Jolla. An der University of California in San Diego war er mit Abstand der jüngste Lehrstuhlinhaber am Fachbereich Physik und hatte schon jetzt bahnbrechende Arbeiten in unterschiedlichen Teilgebieten der Physik und Mathematik geleistet.

Auf dem Weg löcherte Wexler sie mit Fragen über den Besuch bei ihrer Schwester, wollte wissen, wie sie Ambers Zustand einschätzte, obwohl sie sich darüber auch schon bei ihren täglichen Telefonaten unterhalten hatten. Als sie zu Hause ankamen, zauberte er eine Flasche teuren Rotwein hervor, dazu zwei elegante, übergroße Kelche aus Kristallglas. Mit funkelnden Augen schenkte er ein. »Willkommen zurück«, sagte er.

Jenna war beeindruckt. Bei ihnen brauchte es normalerweise einen größeren Anlass, damit sie mal nicht aus Plastikbechern tranken. Sie trugen alte Jeans und T-Shirt, denn sie fanden beide, dass Bequemlichkeit wichtiger war als Eleganz, und im Kontrast zu ihrer Aufmachung wirkten die noblen Gläser unpassend vornehm.

Es war kurz vor Mitternacht, und sie war erschöpft. In wenigen Minuten würde aus Sonntagnacht ganz offiziell Montagmorgen werden; in Chicago allerdings war es schon vor Stunden so weit gewesen, und ihr Körper war noch darauf eingestellt. Nathan kam ihr sogar noch erschöpfter vor, aber trotzdem umgab ihn eine Aura leuchtenden Triumphs, so als hätte er gerade im Lotto gewonnen.

Seit sie zusammenlebten, waren sie noch nie so lange am Stück getrennt gewesen; vielleicht hatte ihm das mehr zu schaffen gemacht als erwartet. »Du weißt aber, dass du mich nicht betrunken machen musst, um mit mir zu tun, was immer du willst, oder?«, fragte sie, und ihre Mundwinkel hoben sich zu einem ironischen Lächeln.

Worauf wartete er noch? Eigentlich hätten sie einander längst die Kleider vom Leib reißen sollen. Manchmal führte Erschöpfung – vor allem geistige – zu grandiosem Sex. Je gründlicher das Hirn ausgeschaltet wurde und primitiven Urinstinkten das Feld überließ, desto besser.

»Gut zu wissen.« Er erwiderte ihr Lächeln. »Aber ich habe nicht vor, dich betrunken zu machen. Ginge es mir darum, hätte ich dir das Übliche eingeschenkt – du weißt schon, aus dem großen Weinkarton im Kühlschrank.«

»Japp. Letzte Woche war ein ausgezeichnetes Jahr«, antwortete sie grinsend.

»Ich bin sicher, dir ist aufgefallen, dass der hier aus einer richtigen Flasche kommt. Mit einem richtigen Korken aus, du weißt schon, Kork.«

»Bemerkenswert«, sagte sie und zog die Augenbrauen hoch. »Hast du mich so sehr vermisst?«

»Natürlich hab ich dich vermisst«, sagte Wexler. »Aber ich gestehe, das hier hat einen anderen Grund.« Er machte eine Pause. »Das errätst du nie im Leben.«

»Du hast eine gewaltige Gehaltserhöhung bekommen?«, fragte Jenna.

»Nein, ich habe nicht gemeint, dass du raten sollst. Ich meinte, und zwar wortwörtlich, dass du tausend Jahre alt werden könntest und es trotzdem niemals erraten würdest.«

Jenna lachte. Er war ein bisschen schrullig, aber weit weniger, als man in Anbetracht seines Verstands hätte erwarten können. Und er war witzig und liebevoll und hatte ein so blitzschnelles Auffassungsvermögen, dass ihr davon manchmal ganz schwindelig wurde.

Sie hatte dumme Männer immer verabscheut. Aber als sie Nathan kennengelernt hatte, war auf einmal sie die Langsame gewesen, trotz der Tatsache, dass sie auf der High School die Abschlussrede gehalten hatte und ihre Ergebnisse im SAT-Test nahezu perfekt gewesen waren. Mit ihm zu diskutieren war atemberaubend.

Aber für ihn war es schwierig, allen anderen so weit voraus zu sein. Selbst die klügsten Köpfe der Physik an der Uni konnten nicht mit ihm mithalten. Und wenn schon brillante Leute im Vergleich zu ihm langsam dachten – wie viel Geduld musste ihn dann der Umgang mit durchschnittlichen Menschen kosten?

Jenna war überzeugt, dass die geistige Stimulation durch einen Geistesriesen es wert war, dafür einige Schrullen in Kauf zu nehmen. Das gehörte einfach dazu. Sie hatte mal einen Film über Stephen Hawking gesehen und darüber, wie seine Frau nicht nur mit den Schrullen eines superintelligenten Mannes klarkommen musste, sondern auch damit, dass dieser Mann vollständig gelähmt war. Nun, abgesehen von seinem Penis jedenfalls, denn sie hatten drei Kinder miteinander, auch wenn Jenna sich nicht besonders gern bildlich vorstellte, wie sie das wohl bewerkstelligt hatten.

Die Situation der Hawkings war tausendmal schwieriger als alles, womit sie sich je konfrontiert gesehen hatte. Nathan war nur modeblind, geistesabwesend und nahm manchmal alles zu wörtlich. Ziemlich regelmäßig führte er murmelnd Selbstgespräche und vergaß oft, wo er seine Sachen hingelegt hatte, weil sein brillanter Geist nicht immer mit dem alltäglichen Kleinkram zurechtkam. All das fand sie inzwischen liebenswert an ihm.

»Okay, wenn ich es also niemals erraten könnte, dann sag es mir doch einfach.« Sie hob ihr Glas.

»Ich dachte schon, du würdest nie fragen«, antwortete er grinsend. »An dem Tag, als du abgereist bist, hatte ich eine Eingebung, und seitdem arbeite ich rund um die Uhr daran. Es ist wirklich verblüffend. Ich bin da über ein paar esoterische Berechnungen gestolpert, aus denen nie jemand irgendeinen konkreten Nutzen ableiten konnte, und ganz plötzlich hat mich eine Erkenntnis getroffen und zu einem wirklich bemerkenswerten Schluss geführt.«

»Wie bemerkenswert?«

»Du-trinkst-gerade-Wein-aus-einer-Flasche-bemerkenswert. Vielleicht sogar Nobelpreis-bemerkenswert. Ich habe das Ganze noch nicht auf Praxistauglichkeit überprüft, aber zumindest theoretisch könnte es ein echter Durchbruch sein. Etwas Gewaltiges. Ich will damit nicht sagen, es wäre dieselbe Liga wie die Relativitätstheorie, aber andererseits lässt sich das nicht feststellen, ehe ich es nicht genauer ausgearbeitet habe. Und selbst wenn es sich nicht ansatzweise als so bedeutsam erweisen sollte, glaube ich, dass es für die Welt ebenso überraschend sein wird wie damals, als Einstein seine Theorien vorgestellt hat. Und vielleicht genauso revolutionär.«

»Und daran hast du die ganze Woche gearbeitet?«

Er nickte.

Das erklärte seinen offensichtlichen Schlafmangel. Wenn ihn eine große Idee am Wickel hatte, arbeitete er ohne Unterbrechung, bis er schließlich vor Erschöpfung zusammenbrach. »Wieso hast du beim Skypen nie was davon erzählt?«

»Na ja, du stecktest mitten in einer Krisensituation, und ich wollte, dass du dich in dieser Woche ganz auf dich und deine Schwester konzentrieren kannst. Außerdem war ich nicht ganz sicher, ob ich nicht einfach nur halluziniere. Bin ich immer noch nicht ganz.«

»Du machst mich fertig. Erzählst du mir, worauf du da gestoßen bist?«

Wexler lächelte. »Ich weiß nicht«, neckte er sie. »Vielleicht sollte ich warten, bis ich mir meiner Sache vollkommen sicher bin. Ich muss die Berechnungen und logischen Schlüsse noch auf Herz und Nieren prüfen und es den besten Leuten vorlegen, die ich kenne, um ganz sicher zu sein, dass ich mich damit nicht blamiere. Kann sein, dass ich irgendwas Wichtiges übersehen habe.«

»Uns ist aber beiden klar, dass das ziemlich unwahrscheinlich ist.«

»Ich weiß dein Vertrauen zu schätzen«, sagte Wexler verlegen. »Aber in diesem Fall stellt die Komplexität von Mathematik und Logik alles in den Schatten, woran ich mich bisher versucht habe. Dagegen wirkt die Stringtheorie so einfach wie schlichte Addition. Ich habe schon an Dan Walsh geschrieben und ihm mitgeteilt, was ich entdeckt zu haben glaube, und ihn gebeten, sich ein bisschen Zeit freizuschaufeln, damit er auch einen Blick darauf werfen und die Richtigkeit meiner Berechnungen überprüfen kann.«

Dan Walsh war Physiker an der nahen UCLA und seit Jahren ein enger Freund Nathan Wexlers.

»Okay«, sagte Jenna. »Das ist ja alles ganz süß, Nathan. Gefällt mir, wie du den Spannungsbogen aufziehst. Aber jetzt reicht’s. Mich hält es kaum noch auf dem Stuhl. Ernsthaft.« Sie stellte ihren Weinkelch auf dem Beistelltisch ab. »Also sag schon. Spuck’s aus. Ich stoße nicht mit dir auf eine bahnbrechende Entdeckung an, ohne den allergeringsten Schimmer zu haben, worum es dabei überhaupt geht.«

Wexler tippte aufs Display seines Handys, und aus dem Lautsprecher ertönte ein Trommelwirbel.

»Nicht dein Ernst!« Jenna lachte. Anscheinend beschränkten sich seine Vorbereitungen nicht auf den Wein. »Ich wusste ja nicht, dass du so einen ausgeprägten Sinn für Dramatik hast.«

»Du weißt eine ganze Menge nicht über mich«, antwortete er breit grinsend, untermalt vom Trommelwirbel, der in Dauerschleife lief.

Die Haustür flog auf, und drei Männer stürzten über die Schwelle in ihr kleines Zuhause, als wäre der Trommelwirbel ihr Stichwort gewesen.

Ganz kurz glaubte Jenna, sie seien Teil der Show, aber etwas an ihnen, ihr Aussehen, ihr Ernst, passte nicht dazu, und sie hatte sofort das Gefühl, dass diese Männer hochgefährlich waren. Und Nathans Reaktion – ihm blieb der Mund offen stehen, die Augen quollen ihm fast aus den Höhlen – machte ihr dann endgültig klar, dass er diese Leute nicht eingeladen hatte.

Sie wusste nicht, wer diese Männer waren und warum sie ihr Haus stürmten, aber eins war sicher – sie wussten genau, was sie taten. Sie hatten nicht nur vollkommen lautlos das Schloss geknackt, sondern es auch noch irgendwie geschafft, den Alarm auszuschalten.

Was zum Teufel ging hier vor?

Stumm standen die Männer da und warteten, bis die beiden Wissenschaftler ihren plötzlichen Auftritt verdaut hatten.

»Wer sind Sie?«, flüsterte Nathan Wexler den drei Eindringlingen zu. »Und was wollen Sie hier?«

2

Jenna wusste sofort, dass die Männer nicht hier waren, um sie auszurauben. Ein so gutes Team würde sich weit lohnendere Ziele suchen, eine Villa oder ein Kunstmuseum vielleicht, aber ganz sicher nicht dieses kleine Mietshaus.

»Dr. Wexler«, sagte der Größte der drei und nickte Nathan zu. »Miss Morrison. Bitte verzeihen Sie unser Eindringen. Aber ich fürchte, Sie müssen uns begleiten. Wenn Sie kooperieren«, fuhr er fort, »verspreche ich Ihnen, dass Ihnen nichts zustößt.«

Seine beiden Gefährten, ein kleiner, stämmiger Schwarzer und ein blasser, blonder Mann, der aussah, als hätte er deutsche Wurzeln, blieben stumm und wachsam.

»Wer sind Sie?«, wiederholte Wexler. »Und warum sind Sie hier?«

»Es geht um Ihre jüngste Entdeckung. Ich muss Sie zu jemandem bringen, der sich mit Ihnen darüber unterhalten möchte.«

»Woher um alles in der Welt wissen Sie, was für neue Entdeckungen ich eventuell gemacht habe?«

»Wissen Sie, meine Anweisungen lassen mir wenig Spielraum. Ich habe Ihnen bereits mehr gesagt, als ich eigentlich sollte. Meine Aufgabe ist es, Sie zu holen, so schonend wie möglich, aber mit der Bitte, keine Fragen zu stellen, bis Sie meinen Boss kennenlernen. Dafür, mit Ihnen zu diskutieren, werde ich nicht bezahlt.«

»Und wenn wir uns weigern?«, fragte Jenna.

Der Mann schüttelte den Kopf, und seine Kollegen behielten ihre gelassenen, aber recht abgebrüht wirkenden Mienen bei. »Ich fürchte, ein Nein können wir nicht akzeptieren.«

Jennas Verstand arbeitete fieberhaft. Der Mann hatte weder eine direkte Drohung ausgestoßen noch eine Waffe gezogen. Andererseits war das auch nicht nötig. Sie bezweifelte nicht, dass jeder dieser drei Männer mit ihr und Nathan fertigwerden konnte, selbst wenn er allein und unbewaffnet wäre und sie beide Maschinenpistolen hätten.

Auf was war Nathan da gestoßen? Wie hatten sie so schnell davon erfahren? Außerdem hatte Nathan gesagt, seine Entdeckung sei vor allem als Theorie relevant, ihr praktischer Nutzen aber fraglich. Weshalb also dieses große Interesse?

»Wir brechen gleich auf«, sagte der Anführer des Trupps. »Ich bitte noch mal um Verzeihung, aber vorher müssen wir uns kurz um ein paar Kleinigkeiten kümmern.«

Er nickte seinen beiden Kollegen zu, die loslegten und offenbar Anweisungen folgten, die sie zuvor erhalten hatten. Der Blonde ging zu Wexlers Computer und zückte einen kleinen Schraubendreher. In weniger als einer Minute hatte er den Rechner fachmännisch zerlegt und die Festplatte herausgeholt.

Sein Kollege durchsuchte das Haus und kehrte ein paar Minuten später mit Wexlers Laptop zurück. »Ich habe es überprüft, er hat wirklich nur einen Desktopcomputer und einen Laptop«, erstattete er Bericht. »Und ich habe unsere Wanzen entfernt.«

Der hochgewachsene Mann nickte. Jenna spürte ihren Herzschlag am Hals pulsieren. Die hatten sie verwanzt? Seit wann? Und warum?

Ging es hier um Nathans neue Entdeckung? Er hatte ihr erst vor wenigen Minuten davon erzählt. Undenkbar, dass diese Männer allein deshalb so einen Einsatz starteten. Die unausweichliche Schlussfolgerung: Neben den Wanzen mussten sie auch Nathans Telefon und den Computer überwacht haben. Nathan hatte ihr erzählt, dass er vor Kurzem Dan Walsh in einer E-Mail von seiner Entdeckung berichtet hatte. Das musste der Anstoß für diesen Überfall gewesen sein.

Der hochgewachsene Mann hob ein Handy ans Ohr. Es schwebte kein 3D-Bild vor ihm in der Luft, also beschränkte er das Telefonat absichtlich auf Audioübertragung. »Ich gehe davon aus, dass alles kopiert wurde, was Dr. Wexler über seinen Account in die Cloud hochgeladen hat, korrekt?«, fragte er ins Telefon.

Er lauschte der Antwort, es schien eine Bestätigung zu sein. »Bestens. Dann kann der Account jetzt gelöscht werden«, befahl er und beendete das Telefonat.

Er drehte sich zu den beiden Wissenschaftlern um. »Ich fürchte, ich muss Sie um Ihre Handys bitten«, sagte er und streckte die Hand aus.

Jenna warf Nathan einen Blick zu. Er atmete tief durch und nickte, reichte dem hochgewachsenen Wortführer sein Handy, und Jenna tat es ihm gleich. Als das erledigt war, deutete der Mann auf die Haustür, ohne Jennas Laptop, der sich immer noch in ihrem Handgepäck befand, auch nur mit einer Silbe zu erwähnen. Aus irgendeinem Grund war sie sicher, dass diese Männer von dem Laptop wussten, aber für ihre Arbeit interessierten sie sich nicht.

»Ich würde mich sehr freuen, wenn wir höflich miteinander umgehen könnten«, sagte der Hochgewachsene, der bei dem Trupp eindeutig den Ton angab. »Kann ich mich darauf verlassen, dass Sie beide nicht schreien oder auf andere Art versuchen, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen? Es würde Ihnen nicht weiterhelfen, und ich bin sicher, dass Sie es bevorzugen, nicht geknebelt zu werden. Wir sind verschwunden, ehe irgendwer sich einmischen oder die Polizei rufen kann.« Er zuckte mit den Schultern. »Und ehrlich gesagt – selbst wenn jemand es täte, das würde auch nichts ändern.«

Er sagte das mit solcher Selbstverständlichkeit, dass Jenna nicht anders konnte, als ihm zu glauben.

3

Der Nachthimmel über La Jolla war wie üblich wolkenlos, und unter normalen Umständen wären die funkelnden Sterne ein beeindruckender Anblick gewesen. Aber angesichts ihrer Lage kämpfte Jenna darum, ruhig zu bleiben und so nüchtern und leidenschaftslos zu beobachten, wie sie nur konnte.

Dank der ständigen Adrenalinstöße war sie körperlich und mental erschöpft und zugleich im Zustand höchster Wachsamkeit. Zu fünft umrundeten sie den Wohnblock und hielten vor einem Sattelschlepper an. Für ein Fahrzeug mit achtzehn Rädern war er vergleichsweise klein, aber trotzdem, er hatte achtzehn Räder und wirkte in diesem Wohnviertel wie ein gestrandeter Wal. Er beherrschte die Straße wie einer der seltenen Umzugswagen, die alle Jubeljahre mal auftauchten.

Als wäre die Nacht nicht sowieso schon völlig surreal, schmückten die in blauen Buchstaben aufgeklebten Worte Hostess Cake die Flanke des Trucks. Mehrere rote Herzen umringten das Firmenlogo, und der gesamte Wagen war mit Abbildungen von Cupcakes, Ho-Ho-Kuchen und Twinkies verziert. Zwar war es eine mondlose Nacht, aber das Sternenlicht reichte gerade eben aus, um die Verzierungen zu erkennen, und das Nummernschild, das sie sich merkte.

Auf dem Fahrersitz saß bereits jemand und wartete auf die Rückkehr seiner drei Kollegen. Der Laderaum war offen und spärlich beleuchtet, und man führte sie die Rampe hinauf.

Drinnen saßen an die Wand gelehnt drei weitere Männer, sie und ihre Kollegen nickten einander zu.

Wexler wandte sich an den kurzen, untersetzten Mann an seiner Seite und zog eine Braue hoch. »Sicher, dass Sie genug Leute dabeihaben?«, fragte er sarkastisch.

»Ja, es ist völlig übertrieben«, erwiderte der Mann schulterzuckend. »Geb ich zu. Aber nehmen Sie es als Kompliment, Dr. Wexler. Als Beweis dafür, wie wichtig Sie für uns sind.« Der Untersetzte, offenbar der Zweite in der Rangfolge, bedeutete ihnen, sich gegenüber von seinen drei Kollegen hinzusetzen. Sie gehorchten. Er stellte Wexlers Festplatte und den Laptop neben ihm ab, und er und sein blonder Kumpan setzten sich zu ihren Kollegen, ebenfalls den beiden Gefangenen gegenüber. Kurz darauf erwachte der Motor brüllend zum Leben, und das riesige Fahrzeug setzte sich in Bewegung und machte sich auf seine geheimnisvolle Reise.

An der Rückseite des fensterlosen Aufliegers hatte man irgendwelche schwere Ausrüstung aufgestapelt und festgezurrt, und neben jedem ihrer Entführer stand je ein großer Nylon-Seesack. Jenna hatte keinen Schimmer, was in diesen Taschen sein mochte, aber es war bestimmt keine Ladung Ho-Hos oder Twinkies, da zumindest war sie ganz sicher. Vermutlich irgendwelche Waffen, auch wenn bisher noch keiner der Entführer eine auf sie gerichtet hatte, wodurch der Anschein gewahrt wurde, sie würden freiwillig kooperieren.

Jenna musterte den Untersetzten und zwang sich zu einem Lächeln. »Bestimmt können Sie uns doch irgendwas sagen. Ich habe verstanden, dass Ihr Boss die Diskussion mit Dr. Wexler selbst führen will. Aber was schadet es, wenn Sie uns sagen, wohin wir fahren? Ich meine, wir sind immerhin trotz allem amerikanische Staatsbürger, und Sie gehören zum Militär, stimmt’s?«

Lächelnd schüttelte der Mann den Kopf. »Netter Versuch. Sie können annehmen, was immer Ihnen beliebt, ich kann Ihnen nicht mehr verraten. Aber entspannen Sie sich. Ihnen wird nichts passieren, und in wenigen Stunden bekommen Sie Ihre Antworten.«

Jenna runzelte die Stirn, aber dann wurde ihr klar: Ganz nutzlos war ihr Vorstoß nicht gewesen. Immerhin wussten sie jetzt, dass diese Reise im Laderaum eines Sattelschleppers nicht allzu lang dauern würde.

Der Truck arbeitete sich über jede Menge Kurven aus dem Wohngebiet heraus. Nach zehn Minuten beschleunigte er, sie mussten eine Autobahnauffahrt erreicht haben, und keine Stunde später fuhren sie bergauf. Obwohl es rings um San Diego zahlreiche Berge und Gebirge gab, war nach zwanzig Minuten stetigem Aufwärtsfahren klar, wo sie sich befanden. Nur ein Berg in näherer Umgebung war so hoch: Palomar.

Das Naturschutzgebiet Palomar Mountain lag nur etwa sechzig Meilen nordöstlich von San Diego, aber einen Berg mit fast tausendneunhundert Metern Höhe hinaufzufahren brauchte seine Zeit, die Fahrt konnte durchaus anderthalb bis zwei Stunden dauern. Die Gegend war dicht bewaldet, lauter Eichen und zahllose Nadelbäume wie Kiefern, Zedern und Tannen, außerdem jede Menge Farne.

Die bekannteste Sehenswürdigkeit befand sich in Gipfelnähe: das Palomar-Observatorium, wo sich das Hale-Teleskop befand, das jahrzehntelang als das wichtigste Teleskop der ganzen Welt gegolten hatte.

Nachdem sie weitere fünf Minuten in gemäßigtem Tempo der gewundenen Straße gefolgt waren, stieg der Fahrer ruckartig auf die Bremse, und sie wurden einen guten Meter Richtung Fahrerkabine geschleudert, hielten sich an den an der Wand befestigten Schlaufen fest und kämpften um ihr Gleichgewicht.

»Planänderung«, sagte eine körperlose, hörbar angespannte Männerstimme; zweifellos der Fahrer, der über irgendwelche Lautsprecher mit ihnen sprach. »Der vorausfahrende Wagen hat anderthalb Kilometer weiter vorne ein gegnerisches Team ausgemacht, das dort auf der Lauer liegt. Sie versuchen, sie aufzuhalten, während wir den Berg wieder runterfahren. Nicht auszuschließen, dass sich ein weiteres Team an unsere Fersen geheftet hat, bereitet euch also auf einen Kampf vor. Wir rufen Verstärkung.«

Im Innern des Trailers brach hektische Aktivität aus. Die Männer förderten kompakte Maschinenpistolen aus ihren Nylontaschen und mehrere Magazine in der Größe von Zigarettenschachteln zutage. Ein paar stießen Bemerkungen hervor, unterschiedliche Variationen von »Was zum Henker?«. Sie wirkten alle äußerst angespannt, und der Truck setzte sich rückwärts wieder in Bewegung, raste gefährlich schnell die schmale Straße entlang, die sich bergabwärts schlängelte. Die Fahrgäste im Innern klammerten sich mit aller Kraft an die Schlaufen, aber trotzdem wurden sie heftig herumgeschleudert.

»Was ist los?«, wollte Jenna wissen, nicht mehr in der Lage, sich zu beherrschen; es war eher ein Aufschrei als eine Frage.

»Weiß nicht«, sagte der Wortführer, noch immer mit den Vorbereitungen auf was auch immer beschäftigt. »Wir wissen, dass es einen Gegenspieler gibt. Aber es ist unmöglich, dass er über diese Operation hier Bescheid weiß. Unmöglich«, wiederholte er bestürzt. »Das hier sollte ein Routineeinsatz sein. Ein Spaziergang. Unsere Mannstärke und das Aufklärungsfahrzeug waren eine reine Vorsichtsmaßnahme, Standardvorgehen. Wir haben nicht mit Schwierigkeiten gerechnet.«

»Das ist ja sehr beruhigend«, brummte Wexler, der sich auf ihrer rasenden Abwärtsfahrt an dieselbe Schlaufe klammerte wie Jenna.

Dann, von einem Augenblick zum nächsten, verwandelte sich ihr kleiner Abschnitt des Palomar State Park in ein Kriegsgebiet.

Wieder stieg der Fahrer hart auf die Bremse; Jenna, die darum kämpfte, sich festzuhalten, hätte es fast die Schulter ausgerenkt. Es herrschte grauenhafter Lärm, Explosionen und hämmernde Schüsse. Die heftige Bremsung war zu viel für ihren Hostess-Lieferwagen, er geriet ins Schleudern. Krachend stürzte der Auflieger auf die Seite und trudelte von der Straße weg, riss sich vom Fahrzeug los und schlitterte einen steilen Abhang hinunter.

Im Innern flogen Körper in alle Richtungen, und die hinten festgezurrte Ausrüstung löste sich und kollidierte unkontrolliert mit den Fahrgästen. Zehn, fünfzehn Sekunden später krachte der Anhänger in eine gleichmäßig angeordnete Baumreihe und kam wieder zum Halten, im Fünfundvierzig-Grad-Winkel auf der Seite liegend.

Bereits bei ihrer Rutschpartie waren die Lichter im Innern schlagartig erloschen, und sie waren in vollkommener Dunkelheit umhergeschleudert worden, so als hätte man sie gemeinsam mit lauter schweren Gegenständen in einen gewaltigen Trockner gesteckt.

Ringsum waren noch immer Schüsse zu hören. Einer ihrer Entführer aktivierte ein Knicklicht, und zwei andere folgten rasch seinem Beispiel. Das schwache Licht reichte Jenna, um eine erste Bilanz zu ziehen. Sie hatte eine Handvoll kleinerer Schnitte und Abschürfungen davongetragen, war aber im Großen und Ganzen unversehrt. Zwei ihrer Entführer waren bewusstlos, und danach zu schließen, wie viel Blut aus ihren Kopfverletzungen quoll, waren sie höchstwahrscheinlich sogar tot.

Und Nathan hatte sich beide Beine gebrochen!

Er war am Leben, aber irgendetwas Schweres war mit unfassbarer Wucht gegen seinen Unterleib geprallt. Er stöhnte vor Schmerz, die Beine waren grotesk abgewinkelt. Aus dem rechten Schienbein ragte ein gesplitterter Knochen, die Wunde blutete stark.

Sie glitt zu ihm hinüber und schob die Hände unter seinen Kopf, hob ihn ein wenig an. Tränen rannen ihr übers Gesicht. Noch immer hallte der Lärm von Maschinenpistolen durch den Trailer.

»Wie schlimm ist es?«, fragte Nathan, seine Stimme war schwach und undeutlich.

Jenna war froh, dass er klug genug war, nicht selbst den Zustand seiner Beine zu begutachten, bei dem Anblick hätte er womöglich einen Schock erlitten. »Nicht so schlimm«, log sie unter Tränen. »Nichts, was ein paar gute Ärzte nicht wieder hinbekommen würden«, fügte sie hinzu und zwang sich zu einem Lächeln.

Sie musste dafür sorgen, dass er so ruhig blieb wie nur möglich. Dass er nicht den Mut verlor.

Während sie mit ihm redete, hatten die drei verbliebenen Entführer, allesamt mehr oder weniger unversehrt, hochmoderne Nachtsichtbrillen aufgesetzt, die mit Sicherheit ebenfalls aus ihren Seesäcken stammten. »McFadden, du kommst mit«, sagte einer von ihnen und huschte zur Trailertür, gefolgt von einem anderen, der McFadden sein musste.

Die Tür war eigentlich dazu gedacht, nach oben zu gleiten, aber im gekenterten Trailer mussten sie sie von links nach rechts aufstemmen. »Simkin«, bellte der Mann, der jetzt das Sagen hatte, während er und McFadden gemeinsam die Tür aufzwangen, »du bleibst hier und passt auf unsere Gäste auf. Und vergiss nicht, was hier auf dem Spiel steht«, fügte er grimmig hinzu.

Im selben Augenblick, als die beiden Männer den Trailer verließen, ertönte eine weitere Salve, ganz nah, und Jenna war sicher, dass dort draußen jemand lauerte und die beiden erwischt hatte.

Nur wenige Sekunden darauf erklang eine Stimme. »Simkin. Ich will Ihnen nur Dr. Wexler abnehmen. Sie müssen nicht sterben. Legen Sie ihre Waffen auf den Boden, und ich lasse Sie in Ruhe.«

Simkin antwortete nicht, aber sein Blick huschte fiebrig über das Durcheinander. Im nächsten Augenblick hatte er gefunden, wonach er suchte, nämlich Wexlers Festplatte und den Laptop, und er jagte mehrere Kugeln hinein, sodass nicht einmal der beste forensische Computerexperte der Welt noch irgendetwas Nützliches daraus würde retten können.

Als sie die Schüsse hörten, kamen die Männer von draußen herein und eröffneten das Feuer auf ihn.

Aber statt zurückzuschießen, tat Simkin etwas Unerwartetes. Etwas Undenkbares.

Während die Kugeln in ihn einschlugen, streckte er eine Hand aus und riss Jenna beiseite, schleuderte sie von dem Mann weg, den sie liebte, und im gleichen Atemzug richtete er mit der anderen Hand die Pistole auf Nathans Kopf.

Dann, als seine letzte Handlung auf Erden, ehe er starb, jagte der Mann namens Simkin eine Salve in das geniale Hirn Dr. Wexlers und löschte damit einen der größten Geister aus, die es in der Geschichte der Menschheit je gegeben hatte.

4

Jenna Morrison hörte einen markerschütternden Schrei, und gleich darauf wurde ihr klar, dass er aus ihrem eigenen Mund kam.

Die zwei Eindringlinge kamen hinter der glatten Trailerwand hervor. Dann standen sie dort, wo Jenna eben noch gewesen war, und betrachteten das Massaker.

Simkin und Nathan Wexler waren beide tot. Nathans Kopf war nur noch ein blutiger Brei, nicht mehr zu erkennen; er hatte sich in einen Torso mit blutigen, zerschmetterten Beinen verwandelt. Alles war mit karmesinroter Flüssigkeit bespritzt, überall sammelte es sich unter dem unerbittlichen Einfluss der Schwerkraft zu Pfützen.

»Gottverdammt noch mal«, schrie einer der beiden auf, er klang fast ebenso erschüttert wie Jenna, die sich nur deshalb nicht übergeben hatte, weil ihr Magen völlig leer war. »Scheiße!«

»Jenna, kommen Sie mit«, sagte einer der Männer zu ihr. »Ich beschütze Sie.«

Ihr Blick ging ins Leere, und sie gab nicht zu erkennen, ob sie ihn überhaupt gehört hatte.

»Jenna, kommen Sie! Jenna«, wiederholte er ihren Namen zum dritten Mal. »Kommen Sie zu sich!«

Seine Worte ergaben für sie keinen Sinn. Sie fühlte sich taub, wie gelähmt, und es kam ihr vor, als würden alle Geräusche durch eine kilometerdicke Watteschicht dringen, selbst das unaufhörliche Rattern der Waffen, die dort draußen im Wald immer noch abgefeuert wurden. Ihr Verstand und ihre Psyche waren nicht in der Lage, Nathans plötzlichen und barbarischen Tod zu erfassen.

Erst heute Morgen war sie bei Schwester und Nichte in Chicago gewesen. Vor wenigen Stunden noch gemeinsam mit Nathan in ihrem gemütlichen Haus in La Jolla.

Und jetzt?

Jetzt befand sie sich in den tiefsten Eingeweiden der Hölle. Mitten im Kriegsgebiet. Das wunderschöne kalifornische Naturschutzgebiet hätte sich ebenso gut in Afghanistan befinden können, oder im Iran.

Nathan war tot! Einfach so. Ihre große Liebe. Sein gewaltiger Verstand war über das gesamte Innenleben eines Kuchentrucks verspritzt worden. Wie war das nur möglich?

Nur sehr verzögert drang in ihr Bewusstsein, dass ihre Umgebung einen grünlichen Schimmer angenommen hatte. Der Mann, der mit ihr geredet hatte, hatte ihr ebenfalls eine Nachtsichtbrille aufgesetzt. Sie hatte es nicht einmal mitbekommen.

»Jenna, kommen Sie«, versuchte er es noch mal. »Gottverdammt.« Er schlug ihr ins Gesicht, fest. »Kommen Sie! Es bringt Dr. Wexler nicht zurück, wenn Sie ebenfalls getötet werden.« Er schlug sie noch mal.

Diesmal endlich spürte sie den Schmerz und kehrte in die Gegenwart zurück. Auf einmal drang sein letzter Satz tief in ihr wiedererwachendes Bewusstsein.

Er hatte recht. Sie konnte Nathan nicht zurückbringen. Aber sie konnte herausfinden, worum es überhaupt ging und weshalb das alles geschehen war. Sie konnte irgendwie dafür sorgen, dass die Verantwortlichen dafür in der Hölle schmorten.

»Ich heiße Andy«, sagte ihr Retter, der ihr in die Augen geblickt und bemerkt hatte, dass seine Ohrfeigen sie aus dem Abgrund gerissen hatten. »Andy Cavnar. Ich bringe Sie vor diesen Scheißkerlen in Sicherheit. Aber Sie müssen mitkommen.«

Sie duldete, dass er sie mit sich zum Ausgang zog, und jetzt, da ihre Augen wieder richtig fokussierten, war sie überrascht, wie lebendig die neongrüne Welt durch das Nachtsichtgerät wirkte.

Sie stiegen aus dem Truck, Cavnars Partner im Schlepptau. Vage drang das lärmende Peitschen von Hubschrauberrotoren in ihr Bewusstsein, das durch die kühle Nachtluft dröhnte. Kurz darauf wurde ihr klar, dass das betreffende Luftfahrzeug direkt über den Baumwipfeln schwebte, keine fünfundzwanzig Meter entfernt. Sie sah es verblüffend deutlich.

Cavnar zerrte sie vom Trailer weg, aber sie befanden sich noch immer auf ungleichmäßigem, sehr schräg abfallendem Untergrund, und Jenna klappte zusammen, überwältigt von einem plötzlichen Schwindelanfall.

Ein Schwindelanfall, der ihr das Leben rettete.

Aus dem Hubschrauber wurden Seile herabgelassen, an denen vier Männer herunterglitten, sie eröffneten noch im Fallen das Feuer. Kugeln durchsiebten auf Brusthöhe den Bereich, wo Jenna eben noch gewesen war. Einen ihrer beiden Begleiter zerriss es regelrecht in zwei Hälften, während sie selbst auf den kalten, mit Kiefernzapfen übersäten Waldboden stürzte, und neben ihr brach auch Andy Cavnar zusammen, eine Kugel im Bein.

Noch ehe die vier Männer von oben den Boden erreichten, wurden sie von hinten unter Feuer genommen, was Cavnar eine Atempause verschaffte und Jenna die paar Sekunden, die sie brauchte, um zu sich zu kommen und das Gleichgewicht wiederzufinden.

Cavnar schoss auf die vier Männer, die sich jetzt unversehens im Kreuzfeuer wiederfanden, über ihnen kamen bereits vier weitere Männer herunter. Kurz hielt er inne und drückte Jenna die kompakte Maschinenpistole seines Partners in die Hand. »Los!«, befahl er. »Laufen Sie!«

Jenna atmete tief durch und umklammerte die Waffe. Kroch geduckt los, vorangetrieben von Adrenalin und einem Überlebensinstinkt, der ausgeprägter war, als sie sich selbst zugetraut hätte. Halb rannte, halb schlitterte sie den bewaldeten Hang hinunter, während Cavnar sich wieder in die Schießerei einmischte.

Immer wieder warf sie einen Blick über die Schulter. Inzwischen ertönten nur noch vereinzelt Schüsse; die beiden Trupps hatten einander nahezu ausgelöscht, keiner stand mehr aufrecht. Einer der Sterbenden hatte es geschafft, eine Kugel in den Hubschrauber zu jagen, der Heli hustete schwarzen Rauch aus und musste beidrehen, damit er nicht in die Baumwipfel stürzte und sich in einen Feuerball verwandelte.

Nachdem Jenna eine halbe Ewigkeit lang den Abhang hinuntergerannt war, erreichte sie einen tiefer gelegenen Abschnitt der gewundenen Straße, auf der sie in den Hinterhalt geraten waren. Überall sausten Fledermäuse umher, das Nachtsichtgerät enthüllte Jenna ihr sonst so geheimes Leben. Normalerweise wäre sie durchgedreht vor Angst, aber nach dem, was sie gerade hinter sich hatte, war kein Adrenalin mehr übrig, um sich vor diesen Nachtgeschöpfen zu fürchten, die sich bestimmt von Insekten ernährten und den Kontakt zu Menschen sorgfältig mieden. Jedenfalls hoffte sie das.

Nachdem sie gut zwanzig Minuten lang über den Asphalt gelaufen war, tauchten plötzlich Scheinwerfer über ihr auf. Ohne nachzudenken, schloss sie die Augen, hastete zur Straßenmitte und baute sich dort auf, den rechten Arm nach vorn gestreckt, mit der Handfläche zum sich nähernden Wagen. Wenn der Fahrer oder die Fahrerin gerade halbwegs aufpasste, würde er oder sie anhalten. Wenn nicht, war es aus mit ihr.

Aber der Fahrer sah sie rechtzeitig und brachte den Wagen ruckartig zum Stehen.

Sie zerrte sich das Nachtsichtgerät vom Kopf und rannte zur Fahrerseite. Der dickliche Mann war erst Anfang dreißig, aber sein Haar wurde bereits schütter. Sie richtete ihre Maschinenpistole auf ihn und schob sämtliche Schuldgefühle beiseite. »Aussteigen!«, befahl sie laut genug, dass er sie auch durch das geschlossene Fenster hörte.

Voll ungläubigem Entsetzen starrte er sie an, aber die Maschinenpistole in ihrer Hand war unzweifelhafte Realität, ebenso wie die Schnitte und das Blut, mit dem sie von Kopf bis Fuß verziert war.

»Sofort!«, schrie Jenna, als er immer noch zögerte, vor Angst wie gelähmt. Ein Teil ihres Verstands blieb vollkommen distanziert und stellte nüchtern fest, wie schnell doch der Überlebenswille eine zivilisierte Wissenschaftlerin wie sie in eine Barbarin verwandelte. Es war bemerkenswert. Und erschreckend.

Mit erhobenen Händen taumelte der Mann aus dem Wagen.

»Ihnen passiert nichts«, sagte sie so ruhig, wie sie konnte. »Aber ich muss mir Ihr Auto ausborgen. Es geht um Leben und Tod. Ob Sie es glauben oder nicht, ich bin ein Opfer, keine Täterin.«

Der Mann schien ihr nicht zu glauben, aber er sagte nichts. Vermutlich betete er gerade um sein Leben, dachte sie, selbst wenn er womöglich eben noch Atheist gewesen war.

»Geben Sie mir Ihr Handy«, sagte Jenna.

Er reichte es ihr, und sie steckte es in eine der vorderen Taschen ihrer Jeans.

»Ich kann nicht riskieren, dass Sie jetzt die Polizei rufen«, erklärte sie ihm. »Aber ich verspreche Ihnen, dass Ihnen nichts geschieht. In drei oder vier Stunden rufe ich jemanden aus Ihrem Adressbuch an und sage ihm, wo Sie sind und wo ich Ihren Wagen abgestellt habe. Wie gesagt, ich muss ihn mir nur ausborgen.« Sie reichte ihm das Nachtsichtgerät. »Hier«, sagte sie. »Benutzen Sie bis zum Sonnenaufgang das hier.«

Sie war froh, dass sie den armen Kerl nicht in völliger Dunkelheit zurücklassen musste. Es war immerhin ein bisschen besser als nichts.

Sie fragte sich, ob zu dieser frühen Stunde noch andere Autos vorbeikommen würden, und wenn ja, ob der enteignete Fahrer es ihr nachmachen und einen davon anhalten würde. Sie bezweifelte es. Hier und jetzt wollte er nichts weiter, als bis zur Morgendämmerung den Kopf unten zu halten und dann zu überlegen, was zu tun war. Er war nicht annähernd so verzweifelt wie sie. In die Scheinwerfer eines heranrasenden Wagens zu starren und zu hoffen, dass er anhielt, war nichts für Leute mit schwachen Nerven.

Sie hieß den Mann mit dem schütteren Haar und dem Nachtsichtgerät in der Hand zehn Schritte zurücktreten, ehe sie in den Wagen stieg und Sitz und Rückspiegel einstellte. Sie ließ das Fenster ein paar Zentimeter herunter. »Das Ganze tut mir wirklich sehr, sehr leid«, sagte sie. »Aber ich verspreche Ihnen, Sie bekommen Ihr Auto bald zurück.«

Und mit diesen Worten schloss Jenna Morrison das Fenster, gab Gas und schoss in die Dunkelheit davon.

5

Jenna konzentrierte sich darauf, den Berg so schnell runterzukommen, wie es die Gesetze der Physik und die schmale, gewundene Straße erlaubten. Wenigstens erforderte das ihre gesamte Konzentration und ließ ihr weniger Zeit, über ihre Situation nachzudenken oder sich mit den grauenhaften Bildern von Nathan zu beschäftigen, der mit zertrümmerten Beinen dalag, den Kopf nahezu von den Schultern gerissen.

Natürlich hatte sie in Filmen schon zahllose Feuergefechte gesehen – wer nicht? –, aber zu ihrer Überraschung stellte sie fest, dass das Blutvergießen in Filmen nicht annähernd an das unfassbare Massaker herankam, das in Wirklichkeit stattfand. Kaliber und Durchschlagskraft moderner Waffen rissen die Getroffenen förmlich auseinander, was in Filmen nicht entsprechend rüberkam. Dankenswerterweise.

Obwohl sie all ihre Aufmerksamkeit darauf konzentrieren musste, nicht zum zweiten Mal binnen einer Stunde von der Straße zu fliegen, brach sie mehrfach in Tränen aus, noch ehe sie den Fuß des Bergs erreichte.

Endlich, unter Aufbietung der allerletzten Reste ihres Willens, der heute bis weit über seine Belastungsgrenze hinaus strapaziert worden war, schaffte sie es, Nathan aus ihren Gedanken zu verbannen und sich auf das akute Problem zu konzentrieren.

Wer waren die Männer, die den Hostess-Truck überfallen hatten? Hatten sie versucht, Nathan und sie zu retten?

Auf den ersten Blick schien es so. Simkin hatte nicht wild um sich geschossen, sondern genau gezielt. Andy Cavnar hingegen hatte versucht, sie zu beschützen. Hatte mitten in einem Schusswechsel innegehalten, um dafür zu sorgen, dass sie sich in Sicherheit bringen konnte.

Also was nun? Sollte sie sich an die Polizei wenden? An das Heimatschutzministerium? Die Presse?

An alle zugleich?

Vielleicht. Aber zuerst das Wichtigste – sie musste zurück nach Hause. Denn einer Sache war sie sich ganz sicher: Das alles war wegen Nathans Entdeckung passiert. Simkin hatte die Daten auf Nathans Computern lieber vernichtet, als sie in die Hände eines anderen fallen zu lassen. Und dann hatte er auch den Schöpfer dieser Daten vernichtet, mit der gleichen Gründlichkeit.

Zuvor hatten sie sämtliche Dateien aus Nathans Cloud gezogen und anschließend auch seinen Account gelöscht.

Sie waren sich ihrer Sache sehr sicher gewesen. Aber was sie nicht wussten: Nathan würde so etwas Wichtiges niemals in der Cloud speichern. Es war eine seiner Marotten. Er war ein bisschen paranoid. Er hatte immer als Senkrechtstarter gegolten, als Genie. Als regelrechtes Wunderkind. Und jetzt, mit neunundzwanzig, war er kein Kind mehr, aber noch immer war er seinem Alter voraus, sein Erfolg rief viele Neider auf den Plan. Und die meisten Wissenschaftler seines Fachgebiets waren ausgezeichnete Hacker. Also war er das Risiko mit der Cloud nicht eingegangen. Er hatte jeden Abend ein Backup seiner wichtigsten Daten erstellt – nur nicht im Cyberspace, wie die meisten es taten.

Jenna hatte diese Vorsichtsmaßnahme immer als einen seiner Spleens abgetan, aber offenbar war er umsichtiger gewesen, als ihr klar gewesen war.

Jeden Arbeitsschritt, den Nathan als bedeutsam erachtete, und insbesondere alles, was er für bahnbrechend hielt, hatte er lokal gesichert und mit einem Passwort versehen. Routinemäßig hatte er eine Kopie auf seinem Desktoprechner gespeichert und ein weiteres Backup woanders, nämlich auf einem USB-Stick, der im Haus versteckt war. Ein teures, WLAN-fähiges Modell, damit Nathan ihn nicht immer extra in den Rechner stecken musste. Dieser Stick fungierte sozusagen als private Cloud außerhalb der Cloud. Eine bequeme Lösung, ganz ohne dass er dafür auf den Cyberspace zurückgreifen musste.

Er hatte den Stick so programmiert, dass alle Daten gelöscht wurden, wenn jemand dreimal hintereinander ein falsches Passwort eingab. Selbst Jenna kannte das Passwort nicht. Leider, vermutete sie, würde jemand mit dem nötigen Kleingeld und der entsprechenden Entschlossenheit wohl Wege finden, um Nathans Sicherungen zu umgehen.

Das würde sie nicht riskieren. Nicht nach allem, was gerade geschehen war. Also stand als erster Punkt auf ihrer Liste, den Stick aus dem Versteck zu bergen. Später könnte sie ihn Spezialisten übergeben, die ebenfalls einen Weg finden würden, an die Daten zu kommen, und dann würde sie herausfinden, was daran so wichtig war – was Nathans Leben beendet und ihr eigenes zerstört hatte. Sie würde nicht ruhen, bis sie es wusste.

Kalifornien war noch immer in Dunkelheit getaucht, als sie ihr Haus erreichte – ihr gemeinsames Haus, vor wenigen Stunden noch der Ort, an dem sie freudig Wiedersehen gefeiert hatten, war jetzt nur noch eine schmerzliche Erinnerung an alles, was sie verloren hatte.

Sie ging ins Schlafzimmer und kämpfte wieder mit den Tränen. Auf Nathans Kommode stand ein Spielzeug, das man Newtonpendel nannte. Der nach dem unvergleichlichen Physiker benannte Apparat bestand aus fünf schimmernden Silberkugeln, die zwischen zwei Stangen herabhingen. Ein Physiker-Lieblingsstück, das den Impuls- und Energieerhaltungssatz illustrierte. Wenn man am einen Ende die Kugel anhob und wieder losließ, traf sie mit einem typischen Klicklaut auf die anderen Kugeln und gab ihre Energie an sie weiter, bis sie die letzte Kugel erreichte und sie hochschwingen ließ. Dann schwang diese zweite Kugel zurück, und das Ganze wiederholte sich in umgekehrter Richtung. Es ging so weiter, bis nach etlichen Wiederholungen schließlich Wärme und Reibung das Energiesystem zum Erliegen brachten.

Nathan hatte den Apparat so umgebaut, dass der Sockel einen USB-Stick aufnehmen konnte. Behutsam entfernte Jenna den kleinen Stick, er war kaum so groß wie ihr Daumen. Man hätte sie mittlerweile noch kleiner bauen können, aber je kleiner ein Objekt war, desto leichter ging es verloren, also hatte sich inzwischen diese Größe als Standard etabliert.

Rasch verließ Jenna das Schlafzimmer, tief in Gedanken verloren, und überlegte, was sie als Nächstes tun sollte. Aber nach zwei Schritten ins Wohnzimmer hinein blieb sie abrupt stehen und keuchte erschrocken auf.

Dort an der Haustür stand jemand und wartete geduldig auf ihre Rückkehr aus dem Schlafzimmer. Es war kein Polizist. Wie die anderen Eindringlinge in dieser Nacht war er schlank und verströmte eine Aura tödlicher Professionalität.

Entweder hatten die Eindringlinge von vorhin jemanden abgestellt, der das Haus bewachte, und er hatte sie kommen sehen. Oder einer der beiden Gegner in diesem Kampf war so geistesgegenwärtig gewesen, jemanden herzuschicken, nachdem feststand, dass sie entkommen war, nur für den Fall, dass sie zurückkehrte.

Wie die ersten drei Eindringlinge verschwendete auch dieser Mann keine Zeit damit, sie mit einer Waffe zu bedrohen. Beim Anblick des USB-Sticks in ihrer Hand riss er begeistert die Augen auf.

»Bingo«, sagte er fröhlich. »Geduld zahlt sich eben doch aus.«

»Was wollen Sie von mir?«, schrie Jenna, und die besonnene Ruhe, die sie mit solcher Mühe aufrechterhalten hatte, zersprang in tausend Stücke. »Lassen Sie mich in Ruhe!«

»Ich will nur den USB-Stick. Geben Sie ihn mir. Sobald ich sicher weiß, dass ich auf die Daten zugreifen kann, können Sie gehen. Ist er passwortgeschützt?«

Jenna nickte und atmete tief durch, kämpfte gegen Zorn und Trauer an; widerstreitende Gefühle, die sie in die Knie zu zwingen drohten.

»Kennen Sie das Passwort?«

Jenna blinzelte rasch, als hätte sie die Frage nicht verstanden.

»Ob Sie das Passwort kennen«, herrschte der Eindringling sie ungeduldig an.

»Natürlich«, log sie. Ihr Verstand funktionierte wieder … keine Sekunde zu früh.

Er streckte die Hand aus. »Her mit dem Stick. Und dem Passwort. Ich verspreche Ihnen, dass Sie dann Ihre Ruhe haben. Für immer.«

Einige Sekunden lang antwortete sie nicht und suchte fieberhaft nach einem Ausweg.

»Das ist das beste Angebot, das Sie bekommen werden, glauben Sie mir.«

Plötzlich hatte Jenna eine Idee. Es war ein verzweifelter Plan, ja, aber sie war nun einmal verzweifelt, und vermutlich war es ihre einzige Chance.

»Warum um alles in der Welt sollte ich Ihnen vertrauen?«, fragte sie und erkaufte sich mit dieser Ablenkung ein paar Sekunden.

Ehe der Eindringling antworten konnte, trat sie zum Tisch und schnappte sich den großen Weinkelch, den sie vor Stunden dort abgestellt hatte, kurz bevor Nathan einen Trommelwirbel abgespielt hatte. Ihre letzte schöne Erinnerung, ehe sie durch alle neun Höllenkreise geschleift worden war.

»Zurück!«, schrie sie und hielt den USB-Stick über den See aus roter Flüssigkeit, so dicht, dass er ihn fast berührte. »Wenn ich ihn da reintauche, sind die Daten hinüber. Das ist die letzte Kopie, und der einzige Mann, der weiß, was sich auf dem Stick befindet, ist tot.«

Das Gesicht des Eindringlings spiegelte seine Panik wider, als er das Objekt seiner Begierde gefährlich dicht über dem eleganten Kristallglas schweben sah.

Jenna sah in seinen Augen, dass ihm seine Lage vollkommen klar war. Er war übel ausmanövriert worden. Er hatte beschlossen, es sich leicht zu machen und von ihr das Passwort in Erfahrung zu bringen, statt sie einfach zu erschießen und den Stick an sich zu nehmen. Aber jetzt war er am Arsch. Sie hatte ihre eigene kleine Totmannschaltung geschaffen: Wenn er sie jetzt erschoss, fiel der Stick in den Wein, und die Daten wurden vernichtet.

In Wahrheit war sie sich da allerdings nicht ganz sicher. Soweit sie wusste, war das Ding wasserdicht. Aber selbst wenn – würde es auch Alkohol überleben? Sie wusste es nicht, und zum Glück schien der Eindringling ihren Semi-Bluff nicht zu hinterfragen.

»Waffe weg, und werfen Sie Ihre Wagenschlüssel her«, verlangte sie, um ihren momentanen Vorteil auszunutzen. »Sofort! Oder ich lasse das Ding fallen.« Sie deutete mit einem Nicken auf den kleinen Stick in ihrer rechten Hand. Ihre Linke, mit der sie den großen Weinkelch festhielt, zitterte ein wenig, und der Mann befürchtete sicher, dass der Wein hochspritzen und den Stick ruinieren könnte.

»Ich tu es«, warnte sie ihn.

»Hören Sie, geben Sie mir einfach den Stick«, sagte der Eindringling so ruhig wie möglich. »Wenn Sie ihn zerstören«, fügte er hinzu und zog die Oberlippe hoch, als würde er knurren, »töte ich Sie. Das versichere ich Ihnen.« Er hob die Waffe und richtete sie auf ihren Kopf, wie um seine Worte zu unterstreichen. »Aber wenn sie mir den Stick geben«, fuhr er so zuvorkommend wie möglich fort, »dann lasse ich Sie gehen. Ich tu Ihnen nichts. Versprochen.«

»Ihr Versprechen bedeutet mir gar nichts«, zischte Jenna durch zusammengebissene Zähne. »Nach allem, was ich heute Nacht erlebt habe, bin ich sicher, dass Sie mich sofort töten, sobald Sie das Ding haben. Also habe ich absolut nichts mehr zu verlieren.« Sie zog die Brauen hoch. »Können Sie das auch von sich behaupten?«

Der Mann wirkte unsicher.

Jennas Miene versteinerte noch mehr. »Sie haben dreißig Sekunden, um mir Ihre Schlüssel und die Waffe rüberzuwerfen. Wenn Sie das nicht tun, vernichte ich das, was Sie haben wollen, und dann können Sie Ihrem Boss ja gern erklären, was passiert ist.«

Seiner unglücklichen Miene entnahm sie, dass sie ihn hatte. Und er wandte keinen Augenblick lang den Blick von ihren Händen ab, die noch immer so sehr zitterten, dass er jede Sekunde einen Unfall befürchten musste.

»Jetzt sind es nur noch zwanzig Sekunden«, teilte sie ihm mit. »Ich mache es wirklich, auch wenn mir klar ist, dass Sie mich dann töten. Glauben Sie etwa, das macht mir Angst? Meine große Liebe wurde eben vor meinen Augen ermordet. Ich habe heute Nacht alles verloren! Eigentlich habe ich keinen Grund, um überhaupt weiterzuleben. Ich hoffe fast, dass Sie nicht tun, worum ich Sie bitte, damit ich diesen Stick vernichten kann und Sie mich von meinem Elend erlösen.«

Jenna sagte es mit so viel Überzeugungskraft, dass sie selbst nicht ganz sicher war, inwieweit es wirklich ein Bluff war und nicht die schlichte Wahrheit.

Sie wartete noch einen Augenblick. »Zehn«, sagte sie dann sachlich. »Neun. Acht. Sieben …«

»Stopp!«, sagte der Mann mit angstverzerrtem Gesicht. »Sagen wir, ich lasse Sie gehen. Woher weiß ich denn, dass Sie nicht doch die Daten vernichten, sobald Sie hier raus sind?«

»Das wissen Sie nicht«, sagte Jenna. »Sie müssen wohl einfach auf mein Wort vertrauen.«

»Geben Sie mir denn Ihr Wort darauf?«

Jenna nickte. »Tu ich. Ich will ebenso gern wissen wie Sie, was auf dem Stick gespeichert ist. Sie verlieren also diese Runde. Sie geben mir Ihren Wagenschlüssel und Ihre Waffe und lassen mich gehen. Aber die Information, hinter der Sie her sind, überlebt. Und wenn man bedenkt, wie findig Sie und ihre Verbrecherbande anscheinend sind, werden Sie mich ja sicher wieder einfangen und mir den Stick abnehmen, richtig?«

»Interessanter Vorschlag. Aber wenn ich Sie jetzt wirklich gehen lassen soll, müssen Sie mir noch eins versprechen. Bitte behalten Sie alles, was Sie eventuell auf diesem Stick finden, unter Verschluss. Sie dürfen nicht zulassen, dass es bekannt wird.«

»Weshalb nicht?«

»Halten Sie von mir, was immer Sie wollen, aber in diesem einen Punkt vertrauen Sie mir: Es wäre für alle übel. Und ich glaube ohnehin, dass nur die wenigsten Menschen verstehen dürften, worum es eigentlich geht. Trotzdem, behandeln Sie diese Informationen mit größtmöglicher Vorsicht, selbst wenn Sie keine Ahnung haben, was das alles bedeutet. Ganz so, als wäre es eine supereinfache Bauanleitung für eine Wasserstoffbombe.«

Jenna riss die Augen auf. »Geht es um einen hochgefährlichen Sprengstoff?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein. Nichts dergleichen. Aber vertrauen Sie mir, es wäre schlimm, wenn es an die Öffentlichkeit dringt. Glauben Sie mir das?«

Sie sah ihm eindringlich in die Augen, und aus irgendeinem Grund glaubte sie ihm tatsächlich. Womöglich wurde jetzt das Bild ein bisschen klarer. Beide Gruppen wollten Nathans Entdeckung für sich haben, aber sie würden alles tun, damit niemand sonst sie in die Finger bekam.

»Sagen Sie mir, was sich auf diesem Stick befindet«, verlangte sie.

Er schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht. Ich darf Ihnen keine Informationen geben. Eigentlich nicht einmal das, was ich Ihnen bereits erzählt habe. Das habe ich nur getan, weil Sie mich hier in eine Zwangslage gebracht haben und ich mich schnell entscheiden musste. Also versprechen Sie mir, dass Sie den Stick nicht zerstören und seinen Inhalt auf jeden Fall für sich behalten werden, und ich lasse Sie gehen. Setzen Sie mich weiter unter Druck, und ich zerstöre die Daten selbst.«

»Okay. Ich glaube Ihnen. Was immer sich hier auf dem Stick befindet, ist gefährlich, und ich werde vorsichtig sein. Ich werde die Daten behandeln, als würde es sich um die Bauanleitung für eine Bombe handeln. Wie Sie gesagt haben.«

Und das würde sie wirklich tun, begriff sie. Wenigstens so lange, bis sie genau wusste, was eigentlich los war. Dann würde sie selbst entscheiden, ob diese Entdeckung besser im vollkommenen Dunkel oder im hellsten Sonnenschein aufgehoben war.

Jenna stand viereinhalb Meter von ihm entfernt. Wortlos und ohne näher zu kommen warf er ihr vorsichtig Pistole und Schlüssel hin. Sie landeten ein Stück vor ihr auf dem weichen, cremefarbenen Teppich.

»Jetzt Ihr Handy«, sagte sie, als ihr klar wurde, dass sie es ihm nicht lassen konnte.

Wut zeichnete sich in seiner Miene ab, aber er warf ihr auch das Handy hin.

»Jetzt gehen Sie in den Kleiderschrank und schließen Sie die Tür, während ich das alles aufsammle«, befahl sie.

Ungläubig schüttelte er den Kopf und bedachte sie mit einem Blick, der Blei hätte schmelzen können. Offensichtlich war er es nicht gewohnt, dass ihn jemand herumkommandierte, der ihm unter normalen Umständen nichts hätte anhaben können. Die Situation war lächerlich, aber sie hatte keine Zeit, um zu würdigen, wie absurd es war, dass sie sich gerade einen ruchlosen Killer vom Hals hielt und ihn in ihren Sklaven verwandelte, und das nur mit einem Glas Wein bewaffnet.

»Schrank!«, wiederholte sie, und nachdem er sie noch einen Moment lang angestarrt hatte, tat er endlich, was sie sagte.

Jenna sammelte Waffe, Handy und Schlüssel ein und steckte alles in die Taschen.

»In der Küche gibt es eine Tür zur Garage«, rief sie laut genug, damit er sie im Schrank hören konnte. »Wir treffen uns dort in einer Minute. Wenn Sie in zwei Minuten nicht da sind, vernichte ich die Daten und fahre weg.«

Sie fand ihre Handtasche und schnappte sich ihr Portemonnaie. Dann hastete sie zur Garage und öffnete den leeren Kofferraum ihres viertürigen weißen Sedan, ein 2001 Acura Integra, mit dem Nathan sie erst vor wenigen Stunden vom Flughafen abgeholt hatte. Er mochte ja uralt sein, aber er hatte einen rundum generalüberholten Motor, und sie hatten ihn für einen Apfel und ein Ei bekommen. Und am allerbesten: Er stammte aus einer Zeit, als von innen zu betätigende Kofferraum-Öffner noch nicht Standard gewesen waren.

Als ihr ungeladener Gast in die Garage kam, kniete sie so weit vom Kofferraum entfernt wie möglich am Boden. Das Weinglas stand vor ihr, der USB-Stick schwebte dicht darüber.

»Steigen Sie in den Kofferraum und schließen Sie ihn von innen«, befahl sie ihm.

»Auf gar keinen Fall! Sie sind wohl verrückt geworden!«

»Ich glaube nicht. Denn ich habe jetzt Ihre Waffe. Also tun Sie, was ich Ihnen sage, sonst vernichte ich nicht nur die Daten, sondern durchlöchere Sie wie ein Sieb. Ich schieße seit meinem achten Lebensjahr«, log sie. »Mein Vater war Polizist.«

»Beten Sie darum, dass ich nicht derjenige bin, der Sie findet«, schäumte er, ehe er in den Kofferraum des Acura kletterte. Sobald er drin war, streckte er einen Arm nach oben und schloss die Klappe. Endlich hörte sie ein Klicken, das ihr verriet, dass das Schloss eingerastet war.

Jenna rannte nach draußen zu dem Wagen, den sie am Mount Palomar gestohlen hatte. Der Acura diente als Gefängnis, und selbst wenn es nicht so gewesen wäre, fühlte sie sich sicherer mit einem Wagen, den zumindest derzeit noch niemand mit ihr in Verbindung bringen würde.

Sie setzte sich auf den Fahrersitz, steckte den USB-Stick in die Tasche und kippte den Wein in einem Zug hinunter. Kurz wünschte sie sich, sie hätte die ganze Flasche dabei, um ihre blank liegenden Nerven zu beruhigen und ihre Sorgen darin zu ertränken.

6

Lee Cargill hatte blutunterlaufene Augen und war stinksauer. Mehr als stinksauer. Er kochte. Er raste förmlich vor Wut.

In dem höhlenartigen Raum, in dem überall schweres Arbeitsgerät stand, lief er auf und ab. Das Ganze war Teil einer geräumigen Anlage, die das Army Corps of Engineers während der Erbauung des Hale-Teleskops im Jahr 1935 unter dem Gipfel des Mount Palomar ausgehoben hatte, mitsamt Konferenzräumen und Unterkünften. Weil es zeitgleich mit dem Hale-Observatorium errichtet worden war, waren die Bauarbeiten weitestgehend unbemerkt geblieben.

Gottverdammt! Cargill schäumte vor Wut.