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Sag mir nicht, dass dir das egal ist! Sag mir nicht, dass du noch immer diese Menschen betrügen willst! Der fünfzehnjährige Elias ist mit seinen Eltern neu in einen kleinen Ort gezogen. Nach der Schule bricht Kylie, das einzige Mädchen, mit dem er sich hat anfreunden können, allein in den Wald auf, ohne jemandem zu verraten, was sie dort sucht. Elias beschließt, ihr heimlich zu folgen und entdeckt den Zugang zu einer anderen Welt. Als Kylie etwas zustößt, kehrt Elias mit seinem Freund Mik in die fremde Welt zurück. Kaum dort angekommen, entdecken sie, dass ihnen die Rückkehr versperrt ist. Nun müssen sie sich den Gefahren der neuen Welt stellen, in der bluttrinkende Kreaturen die Nacht beherrschen. Gemeinsam mit zwei neuen Kameraden wollen sie in die untergegangene Stadt Isah aufbrechen, um dort einen geheimnisvollen Eiskristall zu finden, der die Kraft hat, Tote wieder zum Leben zu erwecken. Doch wie Elias verfolgen auch die beiden neuen Freunde ihre eigenen Ziele ...
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Seitenzahl: 617
Veröffentlichungsjahr: 2023
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PROLOG
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15
KAPITEL 16
KAPITEL 17
Ächzend zog ein Junge, dessen blondes Haar schweißnass in seinem Gesicht klebte, ein lebloses Bündel durch den verschlungenen Wald. Die Bäume standen eng beieinander und hatten dicke, kräftige Wurzeln, welche sich kreuzten und ineinander verschlangen. Die kahlen Äste wirkten in der Dämmerung wie krallenartige Hände, bereit, jederzeit zuzugreifen. Dieser Wald schien zwar unübersichtlich, doch bot er Schutz.
Markerschütterndes Knallen hallte durch die kalte Luft und hetzte den Jungen weiter, doch der kam mit der reglosen Gestalt kaum voran. Die Schüsse zerrissen die Luft und vertrieben allerhand Kreaturen. Vögel erhoben sich von den nackten Zweigen und suchten krächzend und jaulend das Weite. Der blonde Bursche schmiss achtlos Pfeil und Bogen von sich, um die Gestalt, die er mit sich zog, besser greifen zu können. Müdes Keuchen vermischte sich mit Schluchzen, als der knapp fünfzehnjährige Junge seinen ohnmächtigen Begleiter an einem Baum mit tiefer Baumhöhle ablegte. Mit zitternden Händen tastete er dessen Brust ab und hielt seine Hand vor dessen weißen Mund.
Ein Schrei erschütterte den von Blut beherrschten Wald. Bebend und die Tränen zurückhaltend, starrte der blonde Junge auf seine mit dem Blut seines Freundes befl eckten Hände. Seine dunkelgrünen Augen waren gefüllt mit Schmerz, doch vor allem mit Hass.
Sein Schrei hatte die Verfolger in seine Richtung geführt. Das Knallen der fürchterlichen Waff en war nun wieder ganz nah, die Angst ließ das Blut des Jungen gefrieren. Waffen, die einem aus meterweiter Entfernung binnen Sekunden spielend das Leben nehmen konnten. Eine grausame Waffe, die die Luft zerriss, als wäre sie nur ein Blatt im Wind. Eine Waffe, die seine ganze Welt zerstören könnte.
Nun waren auch wieder die rauen Stimmen zu vernehmen, die Befehle in fremder Sprache brüllten. Schweren Herzens strich der Junge das Haar aus dem Gesicht des Toten. In seiner Hand hielt er die blutverschmierte Eisenkugel, die seinem Freund das Leben genommen hatte. Eine kleine Kugel, die in einem Moment sein Fleisch durchschnitten hatte. Der Knabe selbst hatte die Kugel aus der Brust der Leiche geholt. Als Erinnerung an den, den er verloren hatte. Und an das, wofür er bestimmt war.
Erst als die mordlustigen Stimmen noch näher kamen, dass man schon fast den ätzenden Gestank ihrer Besitzer riechen konnte, lief der Blonde weiter. Er sprang über den wurzelverwachsenen Boden und versuchte immer zwischen den dicken Stämmen in Deckung zu bleiben. Wie Pfeile konnten die unnatürlichen Waffen nur auf gerader Linie töten. Doch auch ohne den Bogen und den Menschen, den er vorher mit sich getragen hatte, kam er nur langsam voran. Eine Wunde am Bein behinderte ihn, der stechende Schmerz ließ ihn vermuten, dass ihm ebenfalls noch eine Metallkugel im Fleisch steckte.
Donner grollte über den dunkelblauen Himmel, der schon bald komplett schwarz sein würde. Das wenige Licht, das ihm dann noch zur Verfügung stünde, musste reichen. Ein Blitz erhellte den Wald für einen kurzen Moment und ließ die Schatten der Bäume größer werden. Die dunklen Figuren schienen ihn zu belächeln. Er schlang beide Arme um seinen Körper, als würde er sich selbst umarmen. Die Geste spendete Trost, auch wenn sie nicht hilfreich war, um voranzukommen. Sie war das Einzige, was ihn im Hier und Jetzt hielt, das Einzige, was ihn nicht einfach wehrlos auf den Boden knallen ließ, um erschossen zu werden.
Mit aller Kraft kämpfte er gegen die aufkeimenden Schuldgefühle an, dass er die Leiche nicht mitgetragen hatte. Dass er seinen Begleiter nie begraben würde können.
Die Schüsse waren noch zu hören, doch für den Jungen unendlich weit entfernt. Als wolle sein Unterbewusstsein ihn von allem abkapseln, ihn mit seiner Angst, seinem Schmerz, seinen Schuldgefühlen und seiner Wut allein lassen.
Noch einmal schnellte ein Blitz aus dem Himmel und erhellte den Wald, von Weitem hörte man, wie er einschlug. Es zischte und wie bei einer kleinen Explosion leuchtete es an der Stelle auf. Der trockene Baum begann zu brennen, die Rufe hinter dem Jungen waren nun nicht mehr aggressiv, sie waren panisch. Doch er blickte nicht zurück, er lief weiter in Richtung seines Ziels, seine Arme noch immer um sich selbst geschlungen.
Von einem Moment auf den anderen begann es zu schütten wie aus Kübeln. Die Äste der Bäume schützten ihn kaum vor der Nässe. Seine Kleidung saugte sich mit Wasser voll, das Blut und der Schweiß wurden aus seinen lockigen Haaren gewaschen. An den wenigen Stellen, wo man zwischen den Wurzeln bis zum Boden sehen konnte, wuchs kein Gras. Tiefe Schlammpfützen bildeten sich dort, die der Junge nur mit großen Schritten oder gar Sprüngen überwinden konnte. Manchmal stolperte er doch, versank im brauen Schlamm und konnte sich nur ungeschickt wieder daraus befreien. Die großen Tropfen prasselten wie Hagel auf ihn und alles um ihn herum ein, immer wieder musste er seine Augen schützen, um überhaupt noch etwas sehen zu können. Der graue, viel zu große Mantel, den er um die Schultern gelegt hatte, schützte ihn nicht vor der Nässe. Schlaff und durchnässt hing er an ihm herunter, ohne Nutzen und Zweck.
Schon bald hörte man lautes Rauschen, was dem Jungen nur versicherte, dass er richtig war. Der Regen hatte seinen Nutzen, man würde die Tränen in seinem Gesicht nicht sehen. Trotzdem wischte sich der Knabe mit dem Ärmel über das Gesicht, seine Wangen waren von der Kälte rot geworden. Der Wald mit den dicken Bäumen und großen Wurzeln endete nach wenigen Schritten. Stolpernd gelangte er auf eine Wiese gegenüber einem Wasserfall, der dank des Regens noch lauter rauschte. Das donnernde Wasser übertönte nun selbst die Schüsse und das Gewitter. Das Tempo des Verfolgten wurde langsamer und sein Weg führte ihn direkt zum Wasserfall. Er folgte einem kleinen Trampelpfad, welcher nur knapp am Wasser vorbeiging, zu einer Tür, die zwar nicht direkt versteckt, aber auch nicht zu leicht zu entdecken war. Das rötliche Holz fiel bei Tageslicht und schönerem Wetter zwischen den grauen Felsen auf, doch war es schon alt und bemoost. Der Junge öffnete die Tür und betrat ein von Kerzen beleuchtetes Zimmer. Hinter ihm malten die zuckenden Blitze wieder Muster in den schwarzen Nachthimmel.
»Neyo. Ich wusste, du würdest derjenige sein, der es schafft«, sagte eine helle, aber von der Zeit gezeichnete Stimme.
Im beleuchteten Raum saß eine etwa sechzigjährige Frau im Schneidersitz. Ihr sanftmütiges Lächeln hatte etwas Geheucheltes.
Neyo schlug die Tür fest zu. Sein Blick war düster, aber in ihm brannte ein Feuer.
»Sie wussten es! Sie haben davon gewusst!«, schrie er wutentbrannt, seine Stimme und sein ganzer Körper gewannen wieder an Kraft. »Sie wussten, was dort auf uns warten würde! Sie sagten, wir würden es beide schaffen! Wir könnten …« Seine Stimme erstarb bei dem Gedanken.
Die alte Frau lächelte weiter. »Es musste sein. Der Stärkere von euch sollte das Amt bekommen. Außerdem sollte der, der zurückkommt, wissen, von welcher Wichtigkeit er ist. Du solltest sehen, dass diese Monster es verdient haben«, erklärte sie sanft, was Neyo noch mehr anstachelte.
»Nie, hören Sie, nie! Ich werde sie niemals hassen!«, bellte er aufgebracht. Sie war schuld am Tod seines Freundes, nicht diese Eindringlinge.
Er trat einen drohenden Schritt vor, dabei sandte die Wunde am Bein einen Schmerz durch seinen Körper, sodass er sich zusammenreißen musste, nicht zusammenzuzucken. Der Schmerz in seinem Herzen war größer. Das, was er verloren hatte, war größer. Um es zurückzubekommen, hätte er sich ein Bein abgeschlagen. Er hätte alles getan.
Der Junge namens Neyo fiel auf die Knie. Er drückte seine Fingernägel fest in die Handballen und kämpfte dagegen an, nicht auch noch zu weinen.
Er spürte Hände auf seinem Rücken, die sanft über seinen nassen Körper strichen. Die Frau hatte ihre Arme beruhigend um Neyo geschlungen. Er hörte ihren schwachen Atem und musste sich schaudernd zusammenkauern. Nur weil er nie jemanden hassen würde, hieß es nicht, dass er sie mögen musste.
»Nun bist du bereit, denn du bist auserwählt worden. Hast du dir das nicht schon immer gewünscht?«, fragte sie leise.
Ja, er hatte es sich immer gewünscht. Aber nicht so. Er hatte es sich nicht so vorgestellt. Er fühlte sich elend, nass und verwundbar auf den Knien. Mit schmerzenden Gliedern. Mit schmerzendem Herzen.
Beruhigend strich Lias’ Mutter über seine Schulter.
Sanft, aber bestimmt schob er ihre Hand weg. Er mochte es nicht, die ganze Zeit vor den Augen seines zukünftigen Lehrers getätschelt zu werden, schließlich war niemand gestorben. Es war ein einfacher Umzug, wie ihn viele Kinder schon einmal erlebt hatten. Manche sogar öfter. Noch dazu war er kein kleiner Junge mehr. Ein Zehnjähriger hätte vielleicht bei einem Tapetenwechsel wie diesem geweint. Aber Lias war fünfzehn und hätte sich kaum etwas Besseres vorstellen können. Es war nicht der Untergang, im Gegenteil, es war ein Neuanfang. Eine zweite Chance.
Was Lias vielmehr traf, war das gebrochene Versprechen seines Vaters. Sein Vater hatte ihm versprochen, er würde ihm am ersten Tag beistehen. Ihm gut zureden. Da sein. Doch das war er nicht, ein weiterer Tag, an dem er irgendwo auf einem anderen Kontinent seiner ach so wichtigen Arbeit nachging. Normalerweise machte es Lias nichts aus, er war stolz auf seinen Vater, der immer alles in seine Arbeit steckte. Es war auch okay, ihn nur manchmal zu sehen. Aber an diesem Tag hätte er ihn wirklich gebraucht. Seinen vernünftigen Vater, nicht seine aufbrausende Mutter. Auch wenn Lias’ Vater nicht der typische Vater war, mit dem man herumalberte, spielte er eine entscheidende Rolle in seinem Leben, und zwar mit seinen Werten. Werte, die andere Väter vielleicht nicht vertraten, Werte, die ihm seine Mutter nicht vermitteln konnte. Diese wollte er nicht missen. Seine Mutter gab ihm so viel, doch an die schützende Hand seines Vaters reichte sie einfach nicht heran.
Der blonde Lehrer füllte einen Zettel aus und setzte anschließend seine kurvige Unterschrift darunter. Dann sah er strahlend auf und sah Lias durch seine Brille an. Worte waren nicht nötig, Lias wusste, wie viel Mitleid in diesem Lächeln lag. Ein weiteres Mal dachte er darüber nach, dass ein Umzug kein Untergang war. Wieso taten alle so, als müsse er gerade innerlich zerbrechen? Sofort versuchte er den Augenkontakt zu kappen und tat so, als fände er plötzlich den Raum irrsinnig spannend und interessant. Er war altmodisch eingerichtet. Wie das ganze Schulgebäude. Nein, wie der ganze Ort. Die Wände waren grau und offensichtlich vor Kurzem gestrichen worden. Der Schreibtisch war aus sehr dunklem Holz und hatte Verzierungen in Form von Rosen, die an allen Seiten eingeschnitzt worden waren. An der Wand stand eine Kommode aus dem gleichen Holz und ebenfalls mit Schnitzereien verziert. Unterlagen und Papiere lagen darauf verstreut, sonst teilte nur ein Globus den Platz mit dieser Unordnung. Hinter seinem neuen Klassenvorstand befanden sich zwei große Fenster. Von dort aus konnte man auf die nur wenig befahrene Hauptstraße blicken. Grauer Teppich bedeckte den ganzen Boden und einzelne Bilder von geschichtlichen Personen waren über die Wände verteilt. Abgesehen von den Stühlen, auf denen der Lehrer, seine Mutter und er saßen, waren das alle Möbel. Nicht zu viel und nicht zu wenig, denn das Zimmer war zu klein, um noch irgendwas darin unterbringen zu können.
Das Geräusch eines weggeschobenen Stuhls zwang Lias dazu, wieder zum Klassenvorstand zu sehen. Dieser war aufgestanden und seine Mutter an seiner Seite tat es ihm gleich. Die Stille war endlich gebrochen.
»Ich bringe dich jetzt in deine Klasse, ja, Lias?«, sagte er mit freundlicher Stimme.
Seine Mutter hatte diesem Mann wahrscheinlich zugeflüstert, dass er ihn am besten bei seinem Spitznamen nannte. Jedoch wollte Lias nur so von Leuten genannt werden, die er kannte. Nicht von seinem verdammten Lehrer. Der junge Lehrer legte Lias eine Hand auf die Schulter und entführte ihn aus dem Büro auf den Gang. Seine Mutter folgte ihnen und warf ihm noch einen Kuss hinterher, bis sie dem Flur in die entgegengesetzte Richtung folgte. Damit ließ sie ihn mit dem jungen Lehrer allein, der ihn behutsam in Richtung seiner neuen Klassenkameraden schob.
Als das leise Klopfen an der Tür an die Ohren der Schüler drang, schraken sie hoch. Langsam wandte die Lehrerin ihren Kopf in Richtung des Klopfens, bis die Tür geöffnet wurde. Herein trat Lias mit dem Klassenvorstand.
Nur wenig Licht fiel in das stille Klassenzimmer durch die Rollladen. Die gelben Wände wirkten trotz der grellen Farbe fahl und bedrückend. Die Tafel war unbeschrieben. Vorne am Lehrerpult saß die Lehrerin mit auf dem Tisch übergeschlagenen Beinen. Trotz der schwarzen Strumpfhose konnte er die Behaarung der Frau erkennen. Das Kleid, das die Lehrerin gewählt hatte, sollte wohl streng und professionell wirken, dabei vermittelte die grelle rote Farbe, die dank des Materials leicht glänzte, einen anderen Eindruck. Ihre schwarzen Haare waren, verglichen mit dem geschmacklosen Kleid, überraschend modern geschnitten. Die Bobfrisur war kurz, glatt und mit einem Pony versehen. Sie glänzten beinahe genauso wie das Kleid, sodass man glauben könnte, die Frau wäre aus Plastik. Die Schminke lieferte sich ein Duell mit dem Kleid, was das Aussehen betraf. Das knallige Rot ihrer Lippen war das gleiche wie das des Kleides. Die Augen waren schwarz geschminkt und ihre Augenbrauen aus der Entfernung nicht zu erkennen. Das Schlimmste aber war, dass es den Anschein hatte, als ob die etwa vierzigjährige Frau sich darauf etwas einbildete. Ihre langen Nägel, Ton in Ton mit Kleid und Lippen, klackerten rhythmisch auf den Tisch.
»Entschuldigen Sie bitte die Störung«, setzte der Klassenvorstand an.
»Wir schreiben gerade einen Test. Kommen Sie bitte in der Pause wieder«, erwiderte seine Arbeitskollegin kühl wie ihre Augen selbst.
»Ich darf doch wohl bitten!« Er ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Das ist meine Klasse, die gerade einen Neuzugang bekommt. Lassen Sie mich ihn nur kurz vorstellen.«
Die Frau antwortete mit einem gleichgültigen Nicken.
Alle Blicke waren auf die Gestalt neben dem dünnen Lehrer gerichtet.
Lias wurde heiß, nervös trat er von einem Fuß auf den anderen.
Es blieb still. Sollte er etwas sagen? Doch es war zu spät, jemand anders übernahm das für ihn.
»Liebe Klasse, das hier ist eurer neuer Mitschüler Elias. Wie ich euch kenne, werdet ihr ihn warmen Herzens in eure Klassengemeinschaft aufnehmen«, sagte der Klassenvorstand und rückte seine Brille auf der Nase zurecht.
Wieder wurde es still. Wie in einem schlechten Film hörte man jemanden hüsteln.
Lias blickte in die Runde. Die Klasse war bunt wie jede andere auch. Es gab die Mädchen mit gewagter Kleidung, außergewöhnlichen Frisuren und Gesichtern voll mit Schminke.
Sie tuschelten bereits leise. Sie tuschelten über ihn.
Ein Kloß bildete sich in Lias’ Hals. Würde es hier wieder nicht besser werden? Waren denn alle Schulen auf der Welt gleich? Sein Blick glitt weiter, entdeckte groß gewachsene, sportlich aussehende Jungen, aber auch seltenere Stereotypen. Einen Jungen mit boshaftem Grinsen. Seine Frisur war wild und stand leicht vom Kopf ab. Dabei war nicht zu erkennen, ob es so gewollt war oder nicht. Die Augen waren dezent schwarz geschminkt. Außer diesem Jungen fiel ihm noch ein Mädchen auf. Sie war schlicht gekleidet mit einer zu großen gestreiften Jacke, die Haare sehr lang. Sie war die Einzige, die ihn nicht angeschaut hatte. Ihr Blick war in Richtung Fenster gerichtet, wo man durch die Lücken in den Rollladen den Wald erkennen konnte.
Lias wurde vom Klassenvorstand sanft zu einem Platz geführt, als wäre er ein verängstigtes Kind. Vielleicht hatte er etwas zu ihm gesagt, was Lias nicht gehört hatte. Wie, wo er sich hinsetzen sollte. Und er hat dabei weiterhin in die Runde geschaut, als sei er schwer von Begriff. Sein Platz war der neben dem abwesenden Mädchen, der einzig freie im ganzen Klassenzimmer. Lias beschloss, sie genauso zu ignorieren, wie sie es mit ihm tat. Doch das war leichter gesagt als getan. Aus den Augenwinkeln musterte er seine Sitznachbarin. Ihre einfache Kleidung, aber vor allem ihr Gesicht. Ihre Sommersprossen auf der ebenen Haut, die fast unnatürlich wirkenden hellgrünen Augen und zuletzt die langen braunen Haare.
Kaum saß er steif und nervös auf seinem Stuhl, läutete es auch schon zur Pause.
Die Lehrerin sprach leise Flüche aus, dass dank der Unterbrechung kaum einer der Schüler fertig geworden sei. Da erwarteten ihn wohl viele schöne Jahre mit einer Lehrerin, die ihm das nie vergessen würde.
Lias sah sich um. In kürzester Zeit erfüllte das stille Zimmer Lärm, bestehend aus lautem Gerede und Gelächter. Und seine Sitznachbarin? Sie war verschwunden. Lias wollte sich verwirrt nach ihr umsehen, doch dazu bekam er keine Chance mehr. Vor ihm stand der Junge mit den geschminkten Augen und drückte das Bleistiftende mit dem Radierer plötzlich gegen Lias’ Stirn. Lias starrte ihn perplex an, öffnete den Mund, doch der andere kam ihm zuvor.
»Wer bist du, Elias? Wie darf ich dich einschätzen?«, fragte sein Klassenkamerad abschätzig.
»Ich … na ja, ich mache gerne Sport in meiner Freizeit. Wandern …«, stammelte Lias überfordert.
»Sportler und schüchtern«, stellte der Schwarzhaarige fest. »Das passt irgendwie nicht ganz zusammen.«
»Und was bist du? Ein Emo?«, fragte Lias mutig. Er würde nicht schon wieder den Fehler machen und das Opfer der Schule werden.
»Nein! Wir leben im 21. Jahrhundert, Mann! Es sieht halt gut aus«, antwortete sein Gegenüber aufgebracht. Da hatte er wohl einen wunden Punkt getroffen.
»Trotzdem. Das ist doch nur eine Modeerscheinung. Und die trägst du eben.«
Sein Klassenkamerad hatte den Bleistift von seiner Stirn zu seinem Mund geführt, um ihn zum Schweigen zu bringen.
»Wenn es nur ein Stil ist, dann beschränk mich nicht drauf. Sonst beschränke ich dich auf einen Statisten im Hintergrund jedes Filmes.«
Er dachte daran zurück, wie er heute Morgen in seinem neuen Zimmer vor dem Spiegel stand. Wobei er sich seine Alltagsfrisur machte, indem er die vorderen Haare so mit Haargel bearbeitete, dass sie hochgestylt waren. Er trug einen einfachen Hoodie in Orange und eine noch schlichtere Jeans. Er sah nichtssagend aus. Kein Charakter spiegelte sich in der Kleidung wider. In einem Film wäre er, wie der Junge gesagt hatte, ein Statist gewesen. Oder der Junge, der gleich zu Beginn stirbt und dessen Name nie fällt. Lias schob das Bleistiftende von seinem Mund weg und lenkte es in Richtung seiner Sitznachbarin, die er gerade am Ende des Raumes vor den Fenstern entdeckt hatte.
»Was ist mit ihr? Welcher Typ ist sie?«
Der Emo zog angewidert die Nase kraus. »Kylie? Bestes Beispiel für einen Freak, wenn man wirklich in Schubladen denken will. Ihre ganze Familie besteht aus Freaks. Außerdem verbringt sie fast den ganzen Tag im Wald – ein paar Leute haben sie gesehen. Sie geht nach der Schule rein und nimmt am späten Abend den letzten Bus nach Hause. Mein Beileid, dass du neben der sitzen musst, ey.«
Lias war einfach aufgestanden und zu Kylie gegangen. Er stand neben ihr und folgte ihrem Blick. Es war nichts Bestimmtes, was sie ansah. Nur den Wald. Aber dann sah sie zum ersten Mal ihn an, zwar verwirrt und misstrauisch, doch es passierte.
»Hi. Kylie, oder?«
Als Antwort bekam er nur ein leichtes Nicken. Lias ließ sich seine Nervosität nicht anmerken und sah in die Ferne.
»Die Leute hier halten dich für einen Freak«, informierte er sie mit leicht gesenkter Stimme. »Ich dachte, du hättest das Recht, das zu wissen.«
»Das weiß ich längst. Und wenn du nicht auch so genannt werden willst, dann geh jetzt«, sagte sie nicht etwa kalt, sondern wie eine ernst gemeinte Warnung.
Er hielt inne. Endlich hatte er die Stimme zu dem hübschen Gesicht gehört. Und sie passte perfekt. Hell, sanft, leise.
»Das bin ich gewohnt, Kylie.« Er streckte ihr seine Hand hin. »Elias. Aber nenn mich bitte Lias.«
Kylie sah auf seine Hand herab und zögerte. War sie verwirrt, weil er blieb? Zögerlich und mit nur leichtem Griff nahm ihre Hand die seine.
»Ich weiß, wie du heißt«, meinte sie sanft und lächelte vorsichtig. Es war ein süßes Lächeln. Lias konnte beobachten, wie der Junge von vorhin mit seinen Freunden redete, vermutlich über ihn, da immer wieder Augenpaare zu ihm huschten. Aber es war in Ordnung, auch wenn es wahrscheinlich keine netten Worte waren. Eigentlich wollte Lias in seiner neuen Klasse einen Neuanfang wagen. Er wollte einer der Beliebten werden und hatte geplant, sich deswegen mit den bereits Beliebten zu befreunden. Aber er konnte einfach nicht. Es war okay. Eine Freundin, so beschloss er, würde ihm reichen. Solange diese eine Freundin sie war.
Lias erfuhr in dieser Pause nicht viel von ihr. Sie stellten sich gegenseitig die Standardfragen, wobei es Lias war, der am meisten redete. Noch dazu folgte auf jede Antwort immer ein kurzes peinliches Schweigen. Lias wusste, er war vielleicht nicht der sozialste Mensch, aber er war sich sicher, dieses unbeholfene Gespräch lag nicht an seiner sozialen Inkompetenz. Andauernd schwirrte ihm die Frage im Kopf, was sie wohl immer im Wald tat. Die Neugierde fraß ihn fast von innen auf. Aber es war schwer, von Fragen wie »Welche Filme siehst du gern?« auf dieses Thema zu kommen. Außerdem wüsste sie dann, dass er mit jemand anderem über sie geredet hat, was oft nicht gut ankam. Weil er erst seit ein paar Minuten Teil der Klasse war, wüsste sie ebenfalls, dass sie sein erstes Gesprächsthema gewesen war. Und so war es auch. Aber immer wieder musste er daran denken. Vielleicht konnte er den peinlichen Moment umgehen? Irgendwie die Frage gut formulieren oder das Gespräch in die Richtung treiben? Wieder herrschte diese Stille, wie schon zu oft im Laufe des Gesprächs. Kylies smaragdgrüne Augen zuckten wieder zum Waldrand, wo sie endgültig hängen blieben.
»Wieso siehst du immer zum Wald? Wieso zieht er dich so an?«, fragte Lias.
Diese Art, auf das Thema zu kommen, gefiel ihm. Es ließ ihn aufmerksam wirken, besorgt und vielleicht auch interessiert. Noch dazu musste er nicht zugeben, vorhin mit dem anderen Jungen über sie geredet zu haben.
Kylie sah ihn verwundert an. Lias merkte, wie sie immer kurz nachdachte, bevor sie etwas sagte. Sie war unglaublich vorsichtig mit ihren Worten, wahrscheinlich um niemanden zu verschrecken. Aber er hoffte, mit der Zeit würde sich das ändern. Wenn sie sich besser kennenlernten.
»Der Wald? Er zieht mich nicht an«, behauptete sie dann.
Er zog ungläubig eine Augenbraue hoch. Was sollte er denn jetzt erwidern? Dass er ihr nicht glaubte? Das ergäbe keinen Sinn, wenn er nicht zugeben wollte, dass er bereits wusste, dass sie ihre Freizeit dort verbrachte. Er beschloss, einfach damit herauszurücken. Die Neugierde war zu groß.
»Angeblich verbringst du da sehr viel Zeit. Was machst du dort so lange?«, fragte er direkt.
Das junge Mädchen schien damit überfordert und zuckte leicht zusammen. Die zierlichen Hände verschränkte sie, als würde sie frieren, sie neigte ihren Oberkörper, wobei ihr die Strähnen hinter den Ohren ins Gesicht fielen.
Lias legte seine Hand sanft auf ihre Schulter, um sie zu beruhigen.
»Entschuldige.«
»Lass mich. Das ist meine Sache, das … es geht dich nichts an. Bitte frag mich das nie wieder. Ich werde dir nämlich nicht antworten.« Sie hatte seine Hand weggeschlagen.
Wie schon zuvor war ihre Stimme leise, doch diesmal ernst. Jedoch kein Stück schroff.
Lias nahm seine Hand langsam zurück und war zuerst sprachlos. Das war direkter, als er von ihr erwartet hatte. Was verheimlichte das Mädchen vor ihm, was ihr so wichtig zu sein schien? Es war klar, dass es wohl kaum ein einfaches Unternehmen war, wie eine Waldhütte zu bauen oder Ähnliches. Aber was dann? In Lias kribbelte es, er wollte es unbedingt wissen, auch wenn er nicht wusste, wieso.
»Du kannst mir vertrauen. Ich bin wie du. Ich will dir doch nichts Böses. Ich weiß, wie es sich anfühlt, in der Schule nicht zu den Beliebtesten zu zählen.« Vielleicht hatte es damit zu tun, ein Versuch war es wert.
»Das hat doch damit nichts zu tun! Und selbst wenn, ich kenne dich nicht. Woher weiß ich, ob du mich nicht anlügst? Du hast vorher mit ihm geredet.« Sie sah zu dem Jungen, der noch immer mit dem Bleistift in der Hand spielte und bei seinen Freunden war. »Das spricht nicht für dich.«
Sie klang deutlich aufgebrachter, er hätte sie nicht noch weiter provozieren sollen. Er wusste genau, dass es unangemessen gewesen war, aber er fühlte sich wie ferngesteuert. Ihn interessierte es so sehr. Mehr als alles andere, was das Mädchen vor ihm von sich geben könnte.
Da Kylie lauter geworden war, sahen ein paar Schüler sie an. Anscheinend war es etwas Besonderes, dass sie mal die Stimme erhob. Die mit Sommersprossen gesprenkelten Wangen wurden leicht rot, auch wenn der kleine Ausbruch nicht zum Schämen war. Sie war dabei noch immer leiser gewesen als die meisten anderen, wenn sie in normaler Lautstärke redeten. Dadurch hatten es auch nur eine Handvoll Leute bemerkt, da der Krach der Schüler sie noch leicht hatte übertönen können. Trotzdem war das schüchterne Mädchen sehr verlegen.
»Er hatte mich angesprochen. Ich kenne hier niemanden«, verteidigte Lias sich zaghaft.
Im selben Maß, wie Kylie lauter geworden war, war er leiser geworden, als würde das irgendwas ausgleichen. Sie aber atmete nur tief ein, statt zu antworten, und wandte sich ab.
Lias sah ihr wortlos nach, dabei war er enttäuscht. Es war ein Fehler gewesen, sie darauf anzusprechen. Aber woher hätte er wissen sollen, dass es anscheinend ein empfindliches Thema war?
»Uuuuuuuunnnnd Koooooooorb!«, grölte einer der Jungs, mit denen er bislang noch keine Bekanntschaft gemacht hatte. Seine Freunde stimmten in das Grölen mit ein.
Es war erniedrigend. Aber Lias tat es mehr weh, dass es Kylie genauso traf. Das junge Mädchen beschleunigte mit gesenktem Blick ihre Schritte bis zur Tür der Klasse. Kaum hatte sie den Klassenraum verlassen, begann sie schon zu laufen. Er selbst machte sich nichts daraus, er wusste, dass die Jungen es sicher nur witzig fanden und niemanden beleidigen wollten. Nur ob es Kylie wusste, bezweifelte er. Trotzdem machte das alles die Klasse nicht wirklich sympathischer, weshalb er auch keine weiteren Gespräche mehr ansteuerte. Stattdessen setzte er sich wieder auf seinen Platz, die neugierigen Ohren widmeten sich anderen Gesprächen.
Lias seufzte leise, dann erregte etwas seine Aufmerksamkeit: Kylies Tasche. Daran war auf den ersten Blick nichts Besonderes. Und auch auf den zweiten und dritten nicht. Es war eine Standardtasche ohne irgendwelche Auffälligkeiten. Der Gedanke, der ihm kam, war vielleicht ein dummer, aber trotzdem: Was sollte schon schiefgehen? Vorsichtig nahm er die gräuliche Tasche mit dem schwarzen Reißverschluss unter dem Tisch an sich. Er öffnete sie und hoffte, sie würde interessante Fakten zu ihrem Geheimnis offenbaren. Überraschenderweise war der Rucksack ziemlich leer. Bis auf ein paar Stifte und einen Notizblock war nichts darin. Nicht mal ein Handy, auch nicht in den kleinen Seitentaschen. Hatte sie es dabei? Lias musste sich wohl mit dem Notizblock zufriedengeben.
Um nicht aufzufallen, blätterte er ihn unter dem Tisch durch. Auf den ersten Seiten waren noch Aufgaben aufgeschrieben, aber das änderte sich. Bald folgte Text anstelle von Zahlen. »Ich darf nicht vergessen. Ich darf nicht vergessen. Wo bin ich? Wo bin ich?« Es war eine ganze Seite geschrieben, immer diese zwei Sätze wiederholend.
Ein unangenehmes Gefühl breitete sich in ihm aus, ein Unwohlsein, ganz tief in ihm drin. Wieso schrieb sie so etwas? Er hatte bereits eine Vermutung. War das schüchterne Mädchen ohne Freunde, beschimpft als Freak, etwa depressiv? Oder anderweitig erkrankt? Etwas konnte nicht mit ihrer Psyche stimmen. Vielleicht hatte der Wald etwas damit zu tun. Aber was? Er musste es herausfinden. Irgendwas drängte ihn dazu. Er blätterte weiter, beunruhigt sah er immer wieder auf. Kylie und auch sonst keiner durfte ihn erwischen. Auch wenn andere Schüler nicht wussten, dass es nicht sein Notizbuch war, kannten sie Kylies Schultasche, die auf seinen Knien lag.
Es wurden Seiten ausgelassen. Dann folgten Zeichnungen. Zeichnungen von seltsamen Kreaturen, die man sich kaum ausdenken konnte. Das war weniger beunruhigend. Es bedeutete nur, dass sie ein kreativer Kopf war und gern zeichnete. Die Bilder waren unglaublich detailliert. Der ganze Block war schon fast voll damit. Einen Moment lang versank er in den Zeichnungen, die Abbildungen wurden vor seinem geistigen Auge lebendig, als würde er einen Roman lesen. Dann schrak er auf. Panisch, Kylie könnte bereits zurückgekommen sein, sah er sich um. Doch sie war weiterhin nirgends zu entdecken.
Bedacht steckte er den Notizblock wieder in die Tasche und stellte sie auf ihren Platz zurück, um sicherzugehen. Zu gerne hätte er ihn weiter durchgeblättert, aber hätte sie ihn erwischt, wäre alles vorbei gewesen. Sie war ein geheimnisvoller, verschlossener Mensch, wie ihm schien, und diese mochten es selten, wenn man schnüffelte. Die wenigsten überhaupt würden so etwas mögen. Verträumt dachte er weiterhin an die Fantasiegestalten mit Hörnern oder Geweihen, mit buschigem oder glattem Fell, mit Hufen oder Krallen, mit Flügeln oder Flossen, mit Flecken oder Streifen … Sie musste weiter daran arbeiten, diese Vorstellungskraft hatte etwas, dachte er sich. Doch wieder einmal konnte er sie nicht darauf ansprechen, da er im Prinzip gar nichts davon wissen konnte. Vielleicht war es das, was sie im Wald machte? Etwas Unspektakuläres wie Zeichnen, und sie schämte sich dafür? Vielleicht befand sie ihre Werke nicht als gut. Er beschloss, sie abermals darauf anzusprechen, diesmal aber nicht so direkt. Die Pause dauerte noch etwa zwei Minuten, dann läutete es und Ströme von Kindern, die alle zurück zu ihren Klassen wollten, füllten die Gänge. Auch Lias’ Klasse wurde langsam vollzählig. Kylie kam etwas später als die anderen und zog damit ungewollt die ganze Aufmerksamkeit auf sich. Die Lehrkraft war zwar noch nicht da, trotzdem saßen alle schon mehr oder weniger stumm auf ihren Plätzen. Lias beugte sich zu ihr, als sie sich setzte.
»Tut mir leid wegen vorhin. Bitte lass uns das vergessen, ich rede nicht mehr darüber«, schwor er und hoffte, er würde sich daran halten können.
»Schon in Ordnung. Für das Schlimmste warst du nicht verantwortlich. Im Gegenteil … Im Grunde genommen hat dieses Gespräch meinen Tag besser gemacht«, flüsterte sie.
»Wir können das fortsetzen, bis der Unterricht richtig beginnt«, schlug er vor und erwiderte das Lächeln zaghaft.
Es schien ihr wirklich etwas Kraft zurückzugeben. Dafür musste er sich aber mit einem halben Nicken als Antwort zufriedengeben.
»Was sind deine Hobbys? Ich persönlich liebe Sport. Besonders wandern und schwimmen.«
Kylie überlegte. »Ich … Ich glaub, ich geh auch gern wandern. Lange Spaziergänge über Wege und Felder, die ich noch nicht kenne.«
Lias biss sich leicht auf die Lippe, sonst ließ er sich nichts anmerken. Sie hatte sich seiner Meinung angepasst, ganz deutlich. Damit hätte er rechnen können, immerhin war das Mädchen recht schüchtern.
»Ich bin dafür echt ungeschickt, was künstlerische Arbeit angeht. Ich kann nicht zeichnen und meine Schrift ist grauenhaft«, versuchte er einen Vorstoß in die richtige Richtung.
Sie kicherte leise. »Ich tu es auch nicht gern.«
Das konnte nicht wahr sein. Log sie ihn an? Waren es vielleicht gar nicht ihre Zeichnungen? Er wusste es nicht und konnte es auch nicht wissen. Er würde sich damit begnügen müssen, denn noch mehr Fragen konnte er sich einfach nicht erlauben. Nicht nur, da es auffällig wäre, sondern auch, weil er sich komisch dabei vorkam. Er wollte Freunde finden und stattdessen fragte er einem Mädchen Löcher in den Bauch, stellte ihr Fragen, die sie nicht beantworten wollte. Er wusste auch nicht wieso, aber irgendetwas löste in ihm einen Reiz aus, wenn er sie sah. War es das, was Leute Verliebtsein nannten? Wollte er deswegen alles über sie wissen? Auch ihre streng gehüteten Geheimnisse? Anders konnte er sich das Gefühl im Bauch nicht erklären.
Ein älterer Lehrer betrat das Zimmer, aber Lias war in Gedanken woanders. Dieser Lehrer redete von Physik, aber er hörte nicht zu. Seine Gedanken tanzten. Sie tanzten zu seinem alten Leben vor ein paar Monaten. In einer anderen Klasse, mit anderen Lehrern, mit einem anderen Haus. Und die ganze Zeit hatte er nicht begriffen, dass das hier ein Neuanfang war. Er wusste es, aber begriffen hatte er es erst jetzt. Ihn erwartete eine womöglich schöne Schulzeit, wenn er sie gut gestaltete. Alle Wege standen ihm offen. Er hatte an seinem ersten Tag mit einer tollen Klassenkollegin Kontakt geknüpft.
Ein lauter Knall. Lias fiel fast vom Stuhl. Was war passiert? Wo war er? Was war das gewesen? Hektisch versuchte sein Kopf das zu verarbeiten, was seine Augen sahen. Kurz gewöhnten sie sich noch an das Licht, dann wurde das Bild schärfer und genauer. Er blinzelte. Vor ihm lag ein dickes Buch, welches knapp neben seinem Kopf auf den Tisch geknallt war.
»Junger Herr, sagen Sie mir nicht, Sie haben den ganzen Unterricht verschlafen! Was haben Sie denn auf Seite 35 gelesen?«
Ein grauhaariger Lehrer mit einer Stimme, die einen zum Einschlafen brachte, stand vor ihm. Sein faltiges Gesicht war vom Zorn verzerrt, während er auf eine Antwort wartete. Dabei konnte Lias jede einzelne schwarze Pore erkennen wie auch jede Warze und jedes Härchen in dem alten Gesicht, das viel zu nahe ihm gegenüber war. Sogar von dessen Mundgeruch wurde er nicht verschont. Es brauchte viel Willenskraft, um nicht vor Ekel zu zucken. Lias hatte nicht einmal das Buch aufgeschlagen.
Ein paar Schüler kicherten belustigt.
Lias räusperte sich und senkte den Blick. »Ich habe nichts gelesen, Herr Lehrer. Tut mir leid.« Seine Stimme war heiser, da er gerade erst aufgewacht war.
Er sah neben sich zu Kylie. Wieso hatte sie ihn nicht eher geweckt? Und jetzt wusste er, warum, denn sie war nicht da. Aber wo war sie?
»Das habe ich mir fast gedacht. Pass auf, Bursche, da du neu bist, drücke ich ein Auge zu. Aber das war kein guter Eindruck und zählt trotzdem zur Mitarbeit!« Damit wandte sich der Lehrer ab und begann, vor der mittlerweile komplett beschriebenen Tafel, weiter zu erklären.
Natürlich war es unangenehm und peinlich gewesen, doch zu verkraften. Ihm war schon Schlimmeres passiert und deshalb wollte er nicht weiter Gedanken daran verschwenden.
Das war mittlerweile schon der vierte Tag dieser Schulwoche und sie neigte sich endlich dem Ende zu. Mit seiner neuen Klasse war er nicht warm geworden und auch sein Image hatte er in der Zeit äußerst vernachlässigt. Da er aber niemanden als besonders interessant wahrnahm, störte ihn das kaum. Jeder fühlte sich wie eine Kopie von jemandem an, mit dem er schon mindestens einmal Bekanntschaft machen durfte. Einseitig. Nur eine hatte bisher ein starkes Interesse in ihm geweckt, und das nicht ohne Grund. Jeden Nachmittag konnte er bisher beobachten, wie seine Sitznachbarin im Wald statt im Bus verschwand. Auch hatte er es als recht schade empfunden, dass ihm die Gelegenheit entgangen war, mit ihr im Bus zur Schule zu fahren. Es sei ja seine erste Woche, so dachte seine Mutter, sie würde ihm etwas Gutes tun, wenn sie ihn mit ihrem Auto hin kutschierte.
Sein Blick fiel auf die Uhr. Diese hier war schon die vierte Stunde an dem Tag und die fünfte fiel seines Wissens aus. Das bedeutete, er würde bald gehen können.
Kylie kam leise wieder zurück in die Klasse. Der schlecht gelaunte Mann wandte sich zu ihr.
»Auch wieder zurück, Fräulein? Haben Sie denn die Toilette zu Hause besucht?«, fragte er scharf, ließ das Mädchen sich damit aber wieder setzen.
Kaum war endlich Ruhe eingekehrt, läutete es das letzte Mal an diesem Tag für diese Klasse. Ohne auf die letzten Worte des Professors zu achten, wurden Bücher entweder in die Fächer oder die Taschen geräumt, wurden Reißverschlüsse zugemacht, Stühle ordentlich hingestellt und Schultaschen geschultert. Gespräche begannen, Lacher erfüllten den hektischen Raum. Lias beeilte sich nicht. Der Bus würde erst in vierzig Minuten da sein, und anders kam er nicht nach Hause. Sich jetzt zu stressen und dann draußen zu langweilen, brachte ihm in seinen Augen wenig. Kylie sah dies offensichtlich anders, denn ihr Ziel war ein anderes. Schnell schmiss sie ihre Bücher in ihr Fach, ohne darauf zu achten, was sie brauchte. Sie war bei Weitem die Erste, die das Klassenzimmer und wahrscheinlich auch die Schule verließ.
Was war im Wald, das nicht warten konnte? Er merkte, wie er sich zu beeilen begann. Vielleicht könnte er wenigstens sehen, ob es denn wieder der gleiche Pfad war wie bisher. Zwar war er nicht der Zweite außerhalb der Schule, aber mit Sicherheit einer der Ersten.
Schnell ging er durch die Gänge, die er vor nicht allzu langer Zeit zum ersten Mal durchquert hatte. Es war ein großes Gebäude mit mehreren Schulen. Leise appellierte er an seinen Orientierungssinn, ihn nicht völlig im Stich zu lassen. Es wäre nicht das erste Mal, dass er sich hier verlief. Er folgte dem Gang weiter, rechter Hand beschriftete Türen wie Klasse oder was darin in der Regel unterrichtet wurde, linker Hand eine endlose Reihe an Fenstern mit Sicht auf den Innenhof. Nach gefühlt einer Ewigkeit kam er bei einer großen Treppe an. Schnell, schneller als er sollte, flitzte er die Treppe hinab und stieß dabei fast mit einer ihm unbekannten Lehrerin zusammen. Er ignorierte die lautstarken Beschwerden und dass die Frau sich wütend nach ihm umdrehte und lief weiter. Die Lärmpegel im Gebäude nahm zu, jede Menge Kinder strömten aus den verschiedenen offenen Türen, die zu Sälen oder Klassenräumen führten. Bei den Umkleideräumen in der Nähe des Ausgangs schlüpfte Lias in seine Schuhe, eine Jacke hatte er mit seinem Hoodie heute nicht gebraucht, selbst wenn es in den frühen Morgenstunden noch kalt gewesen war.
Dann lief er hinaus. Draußen war noch niemand bis auf … Er blieb vor der Glastür stehen und spähte hinaus. Ganz klar zu erkennen. Da ging sie. Mit ihrer schwarz-weiß gestreiften Jacke unverkennbar. Schwer atmend wartete er. Das Mädchen betrat den Weg zwischen mehreren Häusern vor dem Wald. Er war schmal und nicht asphaltiert. Trampelpfad würde es eher treffen, wenn auch nicht ganz. Kaum war sie hinter einer kleinen Biegung mit Zaun und Büschen verschwunden, öffnete er die Tür. Langsam und nachdenklich trat er ins Freie und atmete die frische warme Luft ein. Er genoss sie zwar, aber seine Konzentration galt etwas anderem. Er dachte daran, ihr zu folgen. Er wusste, dass das nicht in Ordnung war, aber etwas in ihm wollte es. Etwas in ihm kämpfte gegen seine Vernunft und seinen Respekt gegenüber ihrer Privatsphäre. Und dieses Etwas gewann den Kampf. Er ging los. Dabei ignorierte er die neugierigen Blicke, er blendete das Getuschel aus, welches er sich vielleicht nur einbildete, und er mied vor allem die Vernunft in seinem Kopf.
Achtsam betrat er den Pfad. Besser er würde ihr mit etwas Abstand folgen, um nicht von ihr entdeckt zu werden. Deshalb ging er langsam und mit vorsichtigen Schritten. Er achtete darauf, nicht auf trockene Blätter zu steigen, einen Stein den leichten Abhang hinabzutreten oder auch nur zu laut zu atmen. Selbst wenn sie dies alles auf ihre Entfernung wahrscheinlich nicht hören würde, wollte er es nicht riskieren. Auch wenn er vieles verdrängte, kamen ihm trotzdem Gedanken in den Kopf. Wie zum Beispiel die Folgen. Er würde erst viel später zu Hause sein. Seine Mutter würde sich Sorgen machen, aber er konnte sie ja schlecht anrufen. Zum einen könnte er sich dadurch verraten. Er wusste nicht, in welchem Abstand er seiner Mitschülerin folgte, da der Weg sehr verschlungen war und man selten weiter als zehn Meter sah. Deshalb blieb er auch manchmal kurz stehen, um auf Schritte zu lauschen. Manchmal waren da tatsächlich welche, aber weit genug weg. Zum anderen konnte er seine Mutter nicht kontaktieren, da er nicht mal wüsste, was er ihr sagen sollte. Sollte er etwa sagen, dass er einem noch ziemlich fremden Mädchen heimlich in den Wald gefolgt war? Es war das Beste, wenn er das Gespräch auf später verschob.
Wieder blieb Lias stehen, aber nicht einfach so. Die Schritte, die er zuerst immer nur leise vernommen hatte, waren lauter und deutlicher geworden. Panisch, aber auf der Hut sah er um die nächste Biegung. Nichts. Niemand. Die Strecke ging wieder nur ein paar Meter und dann …
Er hielt schlagartig die Luft an und drückte sich an den Erdwall rechts neben ihm. Der Weg war serpentinenartig aufgebaut, um Wanderer nicht geradeaus den Berg hinaufzujagen. Stattdessen ging man zwar etwas weiter, aber nicht steil bergauf, sondern immer nur mit geringer Steigung. Deshalb verlief der Weg geradewegs über der Stelle, wo Lias sich befand. Und Kylie war genau dort. Lias hoffte, dass sie nicht hinunterschaute und dass der Abhang, an den er sich drückte, ihn vor ihren Blicken schützen würde. Der Abhang war klein, aber etwas ausgehöhlt, sodass er sich darin verstecken konnte. Kylie ging vielleicht einen halben Meter über ihn hinweg. Er hatte sie viel zu sehr eingeholt. Während er verkrampft dahockte und wartete, bis Kylie weitergezogen war, dachte er daran, wie laut er aufgeatmet hatte. Wenn er ihre Schritte hören konnte, dann müsste sie auch das Luftschnappen vernommen haben. Er hoffte einfach, sie habe ihn für ein Tier gehalten, oder sie war zu sehr in Gedanken versunken, wie schon den ganzen Tag. Stehen geblieben war sie schon mal nicht. Und würde man das nicht, würde man verfolgt werden, wenn man ein Geheimnis verbarg? Er wartete weiter. Er wartete und wartete. Und traute sich nicht, sein Versteck zu verlassen. Auch wenn seine Position mehr als unangenehm war, fühlte er sich dort sicher. Und so knapp wollte er es nicht noch mal kommen lassen. Wartete er jedoch noch länger, bestand die Gefahr, ihre Spur zu verlieren. Also trat er seinen Weg nach ein paar Minuten wieder an. Er hörte sie nicht mehr. Das bedeutete, sie würde ihn auch nicht hören können. Aber wenn sie den Weg verließ oder es Abzweigungen gäbe, wüsste er nicht, wohin sie gegangen war. Und das hatte genauso wenig Sinn. Immer wieder spähte er über die mal kleinen, mal großen Abhänge. Glücklicherweise sah er sie tatsächlich manchmal, zwar nur den Kopf und in sicherer Entfernung, aber er sah sie. Lias war nicht wirklich hochgewachsen, das bedeutete, er musste sich bei den großen Abhängen immer an den Wurzeln und Steinen hochziehen wie ein Kind an der Theke, um etwas sehen zu können.
Während er weiter dem Weg folgte, fragte er sich, wo ihre Reise enden würde. Vielleicht hatte Kylie einen Freund, den sie geheim halten wollte? Er vermutete aber, dass es etwas mit den Zeichnungen zu tun hatte. Denn dazu hatte sie auch nicht die Wahrheit gesagt. Vielleicht hatte sie irgendwo im Wald ihren Platz, an den sie ging, wenn sie sich inspirieren lassen wollte. Dann zeichnete sie ihre Gedanken auf. Das war mit Sicherheit eine Beschäftigung, bei der man das Leben richtig spürte. Wenn man den Bleistift zum ersten Mal an dem Tag über das Blatt Papier zog, die kleinen und nur leichten Unebenheiten im Blatt spürte und das altbekannte Geräusch dazu. Das alles auf einem Hügel zwischen hohem Gras, die Landschaft zu Füßen liegend. Schmetterlinge und Bienen suchten in der Nähe nach Blumen, und das Summen der Bienen wurde begleitet vom Zwitschern der Vögel. Die warme Luft duftete nur so nach Leben, und nur ab und zu kam ein kühler Windhauch, der einen mit neuer Energie flutete. Dies war sicher einer der Momente, in dem man alle Sorgen vergaß, wo alle Sorgen nichtig waren.
Aber folgte er seiner Schulkollegin denn wirklich deswegen? Um ihr beim Zeichnen zuzuschauen? Nein. Wenn sich der Ausflug als so etwas entpuppte, wie es gerade wahrscheinlich war, würde er umkehren. Er wusste ganz genau, wie sinnlos dieses ganze Unterfangen war. Aber es wirkte so, es fühlte sich so an, als könnte er es nicht steuern. Etwas brachte ihn dazu, sagte, es sei wichtig, Kylies Geheimnis zu erfahren. So als wäre es seine Bestimmung. Sein Weg, den er einfach gehen musste, um glücklich zu werden. Lag es an Kylie? War sie seine Bestimmung, seine Zukunft? War es die Verbundenheit, die ihn zwang, noch mehr erfahren zu wollen? Er glaubte, es für Liebe zu halten. Oder besser gesagt verliebt zu sein. Sie machte ihn neugierig, gab ihm neue Kraft und ließ ihn etwas nervös werden. Es war ihm nicht mehr egal, wenn er etwas Unangemessenes ihr gegenüber getan oder gesagt hatte. Es war ihm nicht egal, was sie von ihm hielt. Früher hatte er immer gedacht, er wolle sich niemandem anpassen. Denn wenn jemand ihn nicht so mochte, wie er war, würde es keinen Sinn haben. Aber hier war es anders. Und er hielt Verstellen plötzlich nicht mehr für so schlimm. Es schimmerte noch immer sein Charakter hervor, genauso wie seine Interessen. Er wusste nicht, was er wegen ihr an sich veränderte, aber irgendetwas war da. Vielleicht seine Haltung, vielleicht seine Wortwahl. Er machte dies einfach unbewusst, und damit war er glücklich. Er fühlte sich nicht eingesperrt oder fremd in seinem Verhalten, wie er es sich vorgestellt hatte. Es war schön, für jemanden so zu empfinden. Lias war nicht introvertiert. Er war gern unter Leuten und hatte insgesamt kein Problem, zu reden. Aber er tat es einfach nicht. Er war ein ruhiger Mensch. Doch in ihrer Anwesenheit … da empfand er Schüchternheit. Es war genau das. Und er hoffte, sie durch diese eigenartige Aktion nicht zu verlieren.
Immer weiter gingen sie, und mit jedem Schritt taten seine Beine mehr weh. Er wanderte gerne. Aber nicht mit Turnschuhen, Hoodie, Jeans und Schultasche. Ohne Wasser, Essen oder Pause. Eine Pause war ja theoretisch möglich, dazu müsste aber Kylie auch eine machen. Und sie schien nicht mal daran zu denken. Wie besessen stieg sie immer weiter hinauf, ohne anzuhalten, dabei ein klares Ziel im Sinn. Sie waren schon lange unterwegs. Vielleicht eine halbe Stunde? Wenn es so weiterging, würden sie den Berg besteigen, der sich vor ihnen auftürmte. Dabei fühlte Lias bereits schon Anzeichen von Blasen, da seine Schuhe weniger dem Wandern und mehr der Optik dienten. Ohne anzuhalten, holte er seine Flasche aus seiner Tasche. Nur ein paar Schlucke waren noch darin, die er gierig trank. Das kalte Rinnsal floss seine Kehle hinunter und bestärkte ihn darin, weiterzugehen. Aber lange würde das nicht reichen. Er hoffte, sie würden wenigstens einen Bach antreffen. Ein nicht zu überhörendes Knacksen unterbrach die Stille. Lias sah sich um, er hatte sie doch wohl kaum schon wieder eingeholt? Er hatte sie entdeckt, zwar einige Meter von sich entfernt und mit dem Rücken ihm zugewandt, aber er sah sie. Das bedeutete, sie würde auch ihn sehen, wenn sie sich umdrehte. Aber das war nicht das einzige Problem: Sie hatte den Weg verlassen und ging nun geradewegs hinauf, während der Weg sich weiter nach rechts schlängelte. Ohne die Kurven war es zu gefährlich, ihr sofort zu folgen, aber woher sollte er später wissen, wo sie langgegangen war, ohne Weg? Er drückte sich gegen den Abhang wie schon zuvor und wollte warten. Im schlimmsten Fall gab er auf, er hatte hierbei nichts zu verlieren. Außerdem war das Ganze ohnehin töricht gewesen. Aber etwas in ihm ließ nicht locker, es war wichtig. Wichtig, noch nicht aufzugeben. Als er wieder befand, er habe genug gewartet, drückte er sich von der Erde ab und ging weiter.
Die Sonne kam unter den Laubblättern teils hervor, das grüne Licht und die Schatten waren schön anzuschauen, jedoch wollte er vermeiden, den kleinen Lichtstellen, die durch den Schutz des Blätterdachs hervortraten, zu begegnen. Es war ein heißer Tag. Im Schatten schwitzte man schon, aber in der Sonne war es unerträglich. Lias wischte sich über die Stirn und zog seinen Hoodie aus, darunter trug er ein graues Shirt.
Er musste leicht schmunzeln. Seine Mutter hatte einmal gemeint, sie hätte ihn noch nie in einem Shirt gesehen. Er trug immer einen Hoodie. Egal ob Winter, Sommer, Frühling oder Herbst. Egal ob heiß, kalt oder nass. Sogar zum Schlafen. Er hatte Hoodies in verschiedenen Farben, bedruckt oder mit Mustern, auch wenn er die fast nie trug. Er mochte es nun mal einfach, meistens einfarbig. Vögel waren zu hören. Der neue ›Weg‹, falls man ihn so nennen konnte, war um einiges schwieriger zu bewältigen. Die Steilhänge, die zuvor immer an der Wegseite waren, waren nun Barrieren. Er hatte sich bereits schwergetan, darüberzuschauen, jetzt musste er sie sogar überwinden. Um dies zu schaffen, nahm er sich immer hervorragende Steine aus dieser Wand zu Hilfe wie auch Wurzeln. Aber genau weil der Weg so schwer war, hatte er schon die Befürchtung, Kylie verloren zu haben. Wieso sollte sie so eine Art Weg freiwillig gehen? Sie und er waren ziemlich gleich groß, wobei Kylie zerbrechlicher und schwächer wirkte. Würde sie es überhaupt schaffen, sich über die Steilhänge zu ziehen? Schwer atmend zog er sich über einen weiteren Steilhang, den er überwunden hatte und ließ sich einfach in das darauffolgende Moos fallen.
Wie gern würde er nun schlafen. Einfach die Augen schließen und das alles aufgeben. Das Moos fühlte sich weicher und gemütlicher an als sonst, es war von der Sonne gewärmt. Eigentlich war er nicht auf Wärme aus, doch sie tat gut auf seinem schmerzenden Rücken und vor allem den Schultern. Dank der schweren Schultasche taten sie schon nach dieser verhältnismäßig kurzen Zeit recht weh. Er stöhnte müde und betastete eine Stelle an der Haut, die er sich beim Hinaufklettern aufgerieben hatte. Er sollte umkehren, unbedingt. Aber er konnte einfach nicht. Er blieb für eine kurze Weile dort liegen. Sah in den Himmel und beobachtete, wie Wolken an ihm vorbeizogen. Diese Wanderung war grundsätzlich machbar. Aber nicht so. Er glaubte, durch zu wenig Wasser gleich umzufallen, wobei seine Füße noch dazu dank der schlechten Schuhe brannten.
Mit aller Willensstärke, die er aufbringen konnte, erhob er sich und zog sich weiter bergauf. Die Natur war wunderschön, doch fehlte ihm die Kraft, sie zu bewundern. Alles um ihn herum war saftig grün und bildete einen starken Kontrast zu dem kräftigen Blau des Himmels. Das Moos war weich und gab unter jedem seiner Schritte etwas nach, wobei Fußabdrücke entstanden. Erst nach einer Zeit verformte sich das Moos wieder in seine ursprüngliche Form. Das war auch das Einzige, was Lias noch aufnahm. Starr hatte er seinen Blick auf seine Beine gerichtet, jeder Schritt wirkte klein, unbedeutend, war aber dafür doppelt so anstrengend. Er bewegte sich, als seien seine Glieder aus Blei, und allmählich verlor er die Motivation. Seine Atmung ging unregelmäßig und damit setzte auch Seitenstechen ein. Lias blieb stehen. Er genoss diesen kurzen Moment. Das Stechen ließ nach, im selben Maße wie seine Beine leichter wurden und seine Atmung leichter ging. Doch leider wusste er, dass dies nur von kurzer Dauer war. Lange betrachtete er das, was vor ihm lag. Ein ewig weitergehendes Bergauf zwischen Bäumen und Felsen. Aber das war nicht das Einzige. Zwischen diesen Bäumen, zwischen diesen Anhöhen und Felsen zog sich eine kleine Spur durchs Moos. Fußspuren. Etwa von Kylie? Die Größe müsste stimmen, und sie waren besser als überhaupt kein Anhaltspunkt. Mit schneller werdenden Schritten setzte er seine Wanderung fort, endlich nicht mehr blindlings bergauf.
Mit der Zeit wurden die Bäume und das Moos weniger und der Boden härter, bis er nur noch aus schroffem Stein bestand. Die Aussicht nahm zu, doch von keinem anderen Menschen war eine Spur zu sehen. Die Natur war unberührt, so unberührt, dass Lias selbst einen Weg finden musste. Oft ging es plötzlich einfach auf der Seite steil hinab, ein falscher Schritt und er fiele hinunter und wäre tot. Die Bergkiefern machten es ihm nicht leichter, voranzukommen, sie waren hartnäckig und stachen ihn teilweise. Und da kein Laubdach mehr zum Schutz da war, war Lias der Sonne komplett ausgeliefert. Mit aller Mühe konzentrierte er sich auf die schönen Dinge um ihn herum. Von Weitem entdeckte er an Felsen Gämsen, die ihn neugierig, wenn nicht gar perplex beobachteten. Später entdeckte er sogar einen Raubvogel, der über ihm seine Kreise zog, mit majestätischen Flügeln und nach Beute Ausschau haltend. Ein lautes Quieken, nicht allzu weit entfernt, entging Lias auch nicht. Er wusste nicht, ob die Murmeltiere mit diesen Rufen vor ihm oder vor dem Raubvogel warnen wollten, da Lias zu diesem Zeitpunkt den Vogel längst aus den Augen verloren hatte. Es war aber schön, die ganze Welt um sich herum voller Leben fast schon pulsieren zu sehen. Das war das, was ihm in der Stadt einfach zu oft gefehlt hatte.
Allmählich ließ er das Gestrüpp aus Bergkiefern hinter sich und trat auf eine freie Fläche. Er fühlte sich körperlich schlechter als zuvor, da er sicher schon zwei Stunden unterwegs war, wenn nicht länger. Während des Marsches war er tatsächlich einmal an einem Bach vorbeigekommen, aus dem er so viel getrunken hatte, wie er konnte. Es war eher ein Rinnsal als ein Bach und mit erdigem Aroma, aber es musste nun einmal als Wasserquelle herhalten und reichen, denn Besseres erwartete ihn nicht mehr. Und durch den starken Durst war ihm egal gewesen, wie unhygienisch es vielleicht war. Er wusste nur, dass er allein im Gebirge unterwegs war und nicht ohnmächtig werden sollte. Gut war, dass er wusste, nicht auf dem falschen Weg zu sein. Immer wieder entdeckte er Kylie bei der nächsten Anhöhe und sah sie dann hinter Pflanzen und Felsen verschwinden. Sie blickte nie zurück oder blieb stehen. Es war zwar seltsam, aber es half ihm, nicht von ihr entdeckt zu werden. Anfangs war es pure Neugierde gewesen, aber nun machte er sich etwas Sorgen um Kylie. Es konnte nicht gesund sein, jeden Tag unaufhörlich ohne Wasser oder Rast einen Berg hochzusteigen. Noch dazu konnte er diese eine vollgeschriebene Seite aus dem Notizbuch nicht vergessen. Was, wenn sie sich etwas antat? Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Dies war sein einziger Grund, hier zu wandern. Dieser und sein Bauchgefühl, ein Ruf, der ihn lockte.
Inzwischen war das Gelände schon etwas flacher geworden. Sie waren in der Nähe des Gipfels und nur noch wenige Höhen und Tiefen folgten, wie kleine sanfte Hügel aus Stein. Vor ihm baute sich einer dieser Hügel auf, er war schroffer, länger und höher als die anderen und wahrscheinlich der höchste Punkt. Er meinte, Kylie gesehen zu haben, wie sie ihn überwunden hatte. Und wenn nicht, würde er sie von dort aus mit Sicherheit entdecken. Zu seiner Überraschung stieß er auf einen Weg, zwar einer, der seine besten Tage schon hinter sich hatte und wahrlich nicht mehr als Wanderweg genutzt wurde, aber trotzdem war es ein Weg. Erleichterung kam bei diesem Fund auf, der Aufstieg hatte durch diese eigenartige Route einiges mehr Kraft gekostet, als Lias es gewohnt war.
Mit neuem Mut setzte er bedacht seine Schritte weiter. Da der Pfad lang nicht genutzt worden war, wusste Lias nicht, ob er sicher war. Es war sogar wahrscheinlich, dass einige etwas größere Felsen locker waren und er besser nicht darauf steigen sollte. Oft stützte er sich mit seinen Händen ab, da seine Beine schon so sehr zitterten, dass er das Gefühl hatte, sie würden gleich zerbrechen. Krampfhaft konzentrierte er sich auf sein Ziel und seine Umgebung, es dauerte gefühlt eine Ewigkeit, bis er am Gipfel ankam. Am höchsten Punkt. Alles um ihn herum wirkte kleiner, selbst die anderen Berge. Von hier aus konnte er auf das Dorf hinunterschauen, das er jetzt seine Heimat nennen durfte. Die kleinen Dächer und Häuser schienen unecht und wie Spielzeug. Der blaue Himmel umschloss ihn förmlich, so groß fühlte sich sein Anblick an. Wegen Momenten wie diesen liebte er das Wandern, wenn man am Ende dastand und wusste: Ich habe es geschafft. Man war den ganzen Weg selbständig hinaufgegangen. Ebenfalls spielte die unberührte Natur samt den Tieren eine Rolle, aber das Gefühl oben auf dem Gipfel war mit nichts zu vergleichen. Es war dann immer die Anstrengung, die Zeit und eventuell auch die Schmerzen Wert gewesen.
Vor Lias ging es wieder steil hinunter. Gerade noch konnte er Kylie entdecken. Sie ging weiter und verschwand im angrenzenden Bergkiefernwäldchen. Aber das war es nicht, was ihn beunruhigte.
Eine riesige Schlucht trennte den einen Berg von einem anderen. Sie war breit und extrem tief. Beim Anblick dieses kolossalen Risses blieb ihm die Luft weg. Dass es diese Schlucht überhaupt gab, war ihm nicht bekannt gewesen, und seine Mutter hatte sich genauestens über das Örtchen informiert und ihm immer davon berichtet. Könnte es sein, dass sie es nicht für wichtig erachtet hatte? Aber die wichtigere Frage war, was Kylie dort wollte. Es führte kein Weg an der Schlucht vorbei, jedenfalls kein kurzer. Was wollte sie dort? Schnell lief er los. Er stürzte den Abhang hinab. Um ihn herum fingen Steine an zu rollen, genau das, was er beim Hinaufgehen tunlichst zu vermeiden versucht hatte. Immer wieder verstieg er sich, knickte um oder rutschte ein Stück mit dem Schutt. Je schneller er lief, desto weniger hatte er sich unter Kontrolle. Bremsen und Richtungsänderungen waren nicht mehr möglich. Die Berge und die Schlucht verstärkten das Donnern des Gerölls. Lias verlor das Gleichgewicht und stürzte nach vorn, reflexartig streckte er seine Hände aus und landete auf den scharfkantigen Steinen. Für eine kurze Zeit verharrte er so an der Stelle, gekrümmt vor Schmerzen. Seine Hände brannten genau wie seine Knie, und er befürchtete, Blut zu sehen, wenn er seine Augen öffnete. Zitternd versuchte er die linke Hand zu schließen, dabei öffnete er langsam die Augen. Seine Hände waren unerwartet unverletzt im Gegensatz zum Knie. Dieses war aufgeschürft und blutete stark. Vorsichtig tupfte er sein Knie mit dem Ärmel des Hoodies ab und zuckte kurz zusammen, aber er hielt es aus. Mit dem Stoff holte er Kies, Kiefernnadeln und anderen Dreck aus der Wunde. Danach tupfte er die Verletzung nochmals ab und erhob sich zittrig. Alles drehte sich und wieder stand er kurz davor, vorwärts umzukippen. Gerade noch konnte er sich an einem größeren Felsen festhalten und abstützen. Er brauchte schnell etwas Wasser. Im schlimmsten Fall würde er Kylie einholen und darauf hoffen müssen, sie hätte etwas dabei. Mit einem Schlag fiel ihm wieder ein, wieso er gerannt war. Und zwar wegen seiner Vermutung, die die Schlucht gerade verstärkt hatte.
Langsamer als zuvor überwand er den Rest des Hügels und nahm dann wieder Geschwindigkeit auf. Er lief durch den Wald aus Bergkiefern, anfangs noch auf dem alten Weg, doch er war schon bald davon abgekommen. Hartnäckig arbeitete er sich zwischen den stachligen Ästen hindurch, immer wieder schlug er sie weg, doch waren sie nicht die einzigen Hindernisse. Andere Pflanzen wie Disteln hielten ihn ebenso auf.
Elias’ Füße wurden zunehmend wunder und er hatte jegliche Orientierung verloren. Der nahezu wolkenlose Himmel drehte sich, jede Pflanze, jeder Stein und jede Kiefer sahen gleich aus. Die Äste peitschten ihm teils ins Gesicht und die Steine ließen ihn stolpern. Am liebsten hätte er aus Frust geschrien, so laut er konnte. So laut, dass Vögel sich aus den Bäumen erhoben, dass man sein Rufen in und selbst weit hinter der Schlucht noch hörte. So laut, dass sich die Menschen im Dorf fragend umsehen würden, so laut, dass die Murmeltiere sich versteckten. Doch seine Kehle war trocken wie die Wüste. Er vermutete, wenn er schrie, dass er nur ein leises Röcheln zustande bringen würde. Niemand würde ihn hören. Alles in ihm wollte sich hinlegen, dennoch schlug er sich weiter durch das Wäldchen.
Stolpernd gelangte er auf eine Lichtung. Keine zehn Meter vor ihm lag die Schlucht. Und direkt davor eine Silhouette. Die eines Mädchens mit langen Haaren, die im Wind wehten und auf und ab wogten wie Wellen. Hier war sie tatsächlich.
Vorsichtig setzte er einen Fuß in ihre Richtung und streckte die Hand nach ihr aus. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, da sie ihm den Rücken zugewandt hatte, aber sein Rachen war noch immer trocken und seine Stimme heiser. Er brachte keinen Ton, geschweige denn ein Wort heraus. Noch einen weiteren Schritt näherte er sich ihr. Der Schatten ihres Abbilds trat ebenfalls einen Schritt voran, aber ins Nichts. Mit vor dem Körper ausgestreckten Händen sah er sie in die endlose Tiefe stürzen.
Für ihn geschah das alles wie in Zeitlupe. Er warf sich in ihre Richtung, ohne überhaupt die bewusste Entscheidung dafür getroffen zu haben. Seine Hand weiterhin ausgestreckt, um den weichen Stoff der Jacke zu packen. Doch zunächst war zwischen den Fingern nichts außer kaltem Wind. Im nächsten Moment tat sich der Abgrund vor ihm auf, blindlings tastete er in die Richtung, wo er seine Schulkameradin vermutete. Plötzlich hatte er Angst, dass Luft zwischen den Fingern bleiben würde, dass er ins Leere griff. Wieder stand er kurz davor, das Gleichgewicht zu verlieren, und er rechnete bereits damit, ebenfalls in die Schlucht zu stürzen.
Doch seine Hand bekam tatsächlich den schwarz-weißen Stoff zu fassen und hielt ihn fest. So fest, als hinge sein Leben davon ab. Nur dass es nicht sein Leben war, sondern Kylies.