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Beschreibung

Ihre Gedichte sind Brücken aus Papier: Brücken zwischen Osteuropa und Amerika, Brücken in die Zeit vor der Shoah, Brücken aus der Tradition in die Moderne. Die vier Dichterinnen, deren Werke in diesem Band präsentiert sind, wurden Ende des 19. Jahrhunderts geboren. Sie wuchsen auf in der reichen Kultur des jiddischen Osteuropa und erlebten die turbulenten Jahrzehnte der Emanzipation als Frauen und als Jüdinnen. Sie wanderten aus in die Neue Welt und wurden durch die Shoah ihrer europäischen Wurzeln beraubt. Trotz dieser Gemeinsamkeiten hatten sie eine sehr unterschiedliche Sicht auf die Welt und fassten ihre Erfahrungen in Gedichte, die einen lyrischen Dialog ergeben, einen Austausch zwischen vier Frauen mit ähnlichem Hintergrund, aber sehr eigenen Persönlichkeiten. Ein faszinierender Blick in eine vergangene Welt, die in den Gedichten zu neuem Leben erwacht. Anna Margolin (1887–1952), Kadja Molodowsky (1894–1975), Malka Heifetz Tussman (1896–1987) und Rochl Korn (1898–1982) gelten im englischsprachigen Raum als die wichtigsten Vertreterinnen jiddischer Lyrik. Übersetzt und herausgegeben von Peter Comans, der bereits als Übersetzer Abraham Sutzkevers hervorgetreten ist, präsentiert der Band erstmals eine Auswahl ihrer Gedichte in deutscher Sprache.

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Seitenzahl: 359

Veröffentlichungsjahr: 2013

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Peter Comans (Hg.)

Splitter von Licht und Nacht

Jiddische Gedichte von:Anna Margolin, Kadja Molodowsky, Malka Heifetz Tussman und Rochl Korn

Übersetzt und herausgegeben von Peter Comans

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

»Ich spürte heute Nacht auf meinen Lippen ein Gedicht,es war wie eine Frucht, wie eine saftig-süße und doch herbe,jedoch zerrann es mir im Blut, kaum dass der Tag begann,und seither gehen mir noch nach sein Duft und seine Farbe.«

aus: »Heute Nacht«, Rochl Korn

Ihre Gedichte sind Brücken aus Papier: Brücken zwischen Osteuropa und Amerika, Brücken in die Zeit vor der Shoah, Brücken aus der Tradition in die Moderne. Die vier Dichterinnen, deren Werke in diesem Band präsentiert sind, wurden Ende des 19. Jahrhunderts geboren. Sie wuchsen auf in der reichen Kultur des jiddischen Osteuropa und erlebten die turbulenten Jahrzehnte der Emanzipation als Frauen und als Jüdinnen. Sie wanderten aus in die Neue Welt –durch die Shoah wurden sie ihrer europäischen Wurzeln beraubt. Trotz dieser Gemeinsamkeiten hatten sie eine sehr unterschiedliche Sicht auf die Welt und fassten ihre Erfahrungen in Gedichte, die einen lyrischen Dialog ergeben, einen Austausch zwischen vier Frauen mit ähnlichem Hintergrund, aber sehr eigenen Persönlichkeiten. Ein faszinierender Blick in eine vergangene Welt, die in den Gedichten zu neuem Leben erwacht.

Anna Margolin (1887–1952), Kadja Molodowsky (1894–1975), Malka Heifetz Tussman (1896–1987) und Rochl Korn (1898–1982) gelten im englischsprachigen Raum als die wichtigsten Vertreterinnen jiddischer Lyrik. Übersetzt und herausgegeben von Peter Comans, der bereits als Übersetzer Abraham Sutzkevers hervorgetreten ist, präsentiert der Band erstmals eine Auswahl ihrer Gedichte in deutscher Sprache.

Über den Herausgeber

Peter Comans ist Übersetzer von Geh über Wörter wie über ein Minenfeld, der umfangreichsten Auswahl aus der Lyrik und Prosa des jiddischen Dichters Abraham Sutzkever in deutscher Sprache. Das Buch erschien 2009 als Band 25 der Reihe »Campus Judiaca«.

Inhalt

Anna Margolin

Lider (Nju-Jork, 1929) / Gedichte (New York, 1929)

Ich bin gewen a mol a jingling

Ich war vor langer Zeit ein Jüngling

Portret

Porträt

Majn shtam redt

Mein Volk spricht

A shtot bajm jam

Eine Stadt am Meer

Majn hejm

Mein Zuhause

Langzam un lichtik

Langsam und lichthell

Wiolinen

Violinen

Ful mit nacht un gewejn

Erfüllt von Nacht und Weinen

»Gewen iz efsher dos majn glik …«

»Vielleicht war das mein Glück …«

»Nejn, gornit zogn …«

»Nein, gar nichts sagen …«

»Uralte merderin nacht …«

»Uralte Mörderin Nacht …«

»Ich hob nit gewust, majn liber …«

»Ich habe nicht gewusst, mein Lieber …«

Shlanke shifn

Schlanke Schiffe

Di nacht iz arajn in majn hojz

Die Nacht ist herein in mein Haus

Hart harts

Hartes Herz

Epitaf

Epitaph

Shejne werter fun marmor un gold

Schöne Wörter aus Marmor und Gold

Harbst

Herbst

Far nacht

Abend

Harbst

Herbst

Shnej

Schnee

Ades

Odessa

Mejdlech in Krotona Park

Mädchen im Crotona-Park

Finfte ewenju, far nacht

Fünfte Avenue, am Abend

Tojern

Tore

Dos shtoltse lid

Das stolze Gedicht

Tojt-mid fun der last fun a cholem

Zu Tode erschöpft von der Last eines Traumes

Blojz ejn lid

Nur ein einziges Lied

Tsu Frants Werfel

An Franz Werfel

Af a balkon

Auf einem Balkon

[1932]

Shiker fun bitern emes

Trunken von bitterer Wahrheit

Kadja Molodowsky

Cheshwndike necht (Wilne, 1927) / Cheshwn-Nächte (Wilna, 1927)

Frojen-lider

Frauengedichte

Opgeshite bleter

Abgefallne Blätter

In blojen baginen

In der blauen Morgendämmerung

Oreme wajber

Arme Frauen

Dzhike gas (Warshe, 1933) / Dzhike-Straße (Warschau, 1933)

Dzhike gas

Dzhike-Straße

Majn papirene brik

Meine papierene Brücke

Iz majn shtub den a shif

So ist mein Zimmer denn ein Schiff

Januar

Januar

fun: In grinem bojm ligt grojer ash

aus: Auf dem grünen Baum liegt graue Asche

A lid tsu majn klejder-shank

Ein Gedicht an meinen Kleiderschrank

Frejdke (Warshe, 1935) / Frejdke (Warschau, 1935)

Majn shlep-shif

Mein Schleppschiff

In land fun majn gebejn (Shikage, 1937) / Im Land meiner Gebeine (Chicago, 1937)

Un doch …

Und doch …

Wen kejner ruft mich nisht

Wenn niemand mich ruft

Der wajser karshnbojm

Der weiße Kirschbaum

Ojsjes

Schriftzeichen

A benkl awekgeshtelt tsukopns

Ein Schemel, an das Kopfende gestellt

Der mejlech Dowid alejn iz geblibn (Nju-Jork, 1946) / Der König David allein ist geblieben (New York, 1946)

Ejl chanun

Gnädiger Gott

A briw tsu Eljohu hanovi

Ein Brief an den Propheten Elijah

Briw fun geto

Briefe aus dem Ghetto

A lid wegn zich

Ein Gedicht über sich selbst

Tsu a kinds portret

An ein Kinderbild

Nacht

Nacht

Tojter shabes

Toter Schabbes

Der mejlech Dowid alejn iz geblibn

Der König David allein ist geblieben

Es kumen nit mer kejn briw

Es kommen keine Briefe mehr

A tfile

Ein Gebet

Majne kinder

Meine Kinder

In shtal fun lebn

Im Stall des Lebens

[1958]

Wen s’bliakewet majn ojg

Verliert einmal mein Auge seinen Glanz

Majne »foterlender«

Meine »Vaterländer«

Licht fun dornbojm (Buenos-Ajres, 1965) / Licht vom Dornbaum (Buenos Aires, 1965)

Af majn dorn blit a rojz

Auf meinem Dorn blüht eine Rose

On werter

Ohne Wörter

Mir zenen itst shojn wi tswej groje tojbn

Wir sind inzwischen wie zwei graue Tauben

Ajzerner cholem

Eisentraum

Majn shprach

Meine Sprache

Ich derrojcher majn sigaret

Ich rauche meine Zigarette

Libshaft

Liebe

Ich bin a widerkol

Ich bin ein Nachhall

Bletlech

Blätter

Malka Heifetz Tussman

Lider (Los Andzheles, 1949) / Gedichte (Los Angeles, 1949)

Mit tsejn in erd

Mit den Zähnen in der Erde

Mit dir, mentsh

Mit dir, Mensch

Wi zindik ich bin

Wie sündig ich bin

Zun un regn

Sonne und Regen

Wi azoj bistu klug geworn, mame

Wie bist du weise geworden, Mame?

Gebundn

Gebunden

Umetik un gut

Schwermütig und gut

Mild majn wild (Los Andzheles, 1958) / Mild mein Wild (Los Angeles, 1958)

Firiber

Störe

Knechtshaft

Knechtschaft

Erdtsiternish

Erdbeben

Klugshaft

Weisheit

Shotns fun gedenken (Tel-Aviv, 1965) / Schatten der Erinnerung (Tel Aviv, 1965)

Zolst lib hobn

Sollst lieben

Waser on loshn

Wasser ohne Sprache

A mum

Ein Makel

Wi dos shulechl

Wie die kleine Synagoge

Hachnoedike sho

Stunde der Demut

In a shprots af tog

In aller Frühe

Opnejg

Eskapade

Shotns fun gedenken

Schatten der Erinnerung

Bleter faln nit (Tel-Aviv, 1972) / Blätter fallen nicht (Tel Aviv, 1972)

Jisroel brojt

Israel-Brot

Dich gezen tswishn bejmer

Dich gesehen bei den Bäumen

Wen Brochele iz krank geworn

Als Brochele krank war

Duner majn bruder

Donner mein Bruder

Majn shwester

Meine Schwester

Cholile

Nein bloß nicht

Hert uf

Schluss damit

A naketer frimorgn

Ein nackter Morgen

Bleter

Blätter

Unter dajn tsejchn (Tel-Aviv, 1974) / Unter deinem Zeichen (Tel Aviv, 1974)

Efn di towlen

Öffne den Buchdeckel

Letster epl

Letzter Apfel

Tsu Jerusholaim

An Jerusalem

fun: Almoneshaft

aus: Witwenschaft

Werter-went

Wörter-Wände

Fun a briw tsu Marsha

Aus einem Brief an Marcia

Hajnt iz ejbik (Tel-Aviv, 1977) / Heut ist ewig (Tel Aviv, 1977)

Bahit

Steh mir bei

Tseloches

Zum Trotz

Arojs un arajn

Hinaus und herein

Majn mes-les

Mein Tageslauf

Tsu Rochl Korn

An Rochl Korn

Bloe blikn

Blaue Blicke

Shejn wi di welt

Schön wie die Welt

Nasturtsjes

›Nasturtsjes‹

[1981]

Biterbrojt

Bitterbrot

A briw un an entfer

Ein Brief und eine Antwort

Un ich shmejchl (1985, nit dershinen) / Und ich lächle (1985, unveröffentlicht)

Genarnitse

Schwindlerin

Rochl Korn

Dorf (Wilne, 1928) / Dorf (Wilna, 1928)

Ch’bin durchgewejkt mit dir

Ich bin durchtränkt mit dir

Shtikerajen

Stickereien

Lejwe

Lejwe

Berls ku

Berls Kuh

Di alte Hanke

Die alte Hanka

Rojter mon (Warshe, 1937) / Roter Mohn (Warschau, 1937)

A briw

Ein Brief

Wi berezes wajse –

Wie weiße Birken …

A lid fun nechtn

Ein Gedicht von gestern

fun: Farwjaneter friling

aus: Verwelkter Frühling

Majne hent

Meine Hände

Papirene rojzn

Papierne Rosen

Hejm un hejmlozikejt (Buenos-Ajres, 1948) / Heimat und Heimatlosigkeit (Buenos Aires, 1948)

In weg

Unterwegs

Majn mame dawnt hajnt

Heute betet meine Mutter

Pamirer berg

Pamirgebirge

Tsu majn tochter

Meiner Tochter

Ch’wil tsugejn a mol

Ich möchte manchmal hingehn

Bashertkejt (Montreal, 1949) / Schicksal (Montreal, 1949)

Af di treplech fun wagon

Auf dem Trittbrett des Wagons

A briw fun Uzbekistan

Ein Brief aus Usbekistan

Es iz majn hant-gelenk –

Mein Handgelenk

A naj klejd

Ein neues Kleid

Kejner wejst es nisht –

Keiner weiß es ja

Dojres

Generationen

Fun jener zajt lid (Tel-Aviv, 1962) / Jenseits des Gedichts (Tel Aviv, 1962)

Fun jener zajt lid

Jenseits des Gedichtes

Ch’hob hajnt bajnacht0

Heute Nacht

Pejsechdike nacht

Die Nacht vor Pejsech

Alts wos iz ejnzam

Alles was einsam ist

Durch der kargshaft fun gojrl

Die Kleinlichkeit des Schicksals

Di gnod fun wort (Tel-Aviv, 1968) / Die Gnade des Wortes (Tel Aviv, 1968)

Zog zich nisht op fun mir

Sag dich nicht los von mir

Di ershte shure fun a lid

Die erste Zeile eines Gedichtes

Shwajg mich arajn

Schweig mich hinein

Kalt iz mir, majn mame

Kalt ist mir, meine Mame

Fun danen biz ahin

Von hier nach dort

Artur Zigelbojm

Artur Ziegelboim

Bloe neplen

Blaue Nebel

Af der sharf fun a rege (Tel-Aviv, 1972) / Auf der Schneide eines Augenblickes (Tel Aviv, 1972)

Ale wistenishn

Alle Wüsten

A farnacht bajm jam

Ein Abend an der See

Harbstiker etjud

Herbstliche Etüde

Bagegenish

Begegnung

Ch’shrajb on a shure

Ich schreibe eine Zeile hin

Farbitene wor (Tel-Aviv, 1977) / Vertauschte Wirklichkeit (Tel Aviv, 1977)

Wi hostu mich farshemt

Wie hast Du mich beschämt

Ch’wel mitnemen

Mitnehmen will ich

Sag ganz laut: Ich! Ich bin! – Vier jiddische Dichterinnen

Anmerkungen zu den Gedichten

Zur Transkription aus dem Jiddischen

Dank

Bibliographie

Kapitel 1Anna Margolin

Als 1920 Gedichte einer gewissen Anna Margolin in der New Yorker jiddischen Presse abgedruckt wurden, entbrannte in den literarischen Zirkeln der Lower East Side eine Diskussion, wer sich hinter diesem Namen verberge und ob diese Verse nicht überhaupt von einem Mann verfasst sein müssten, da Frauen doch sentimental und eher dilettantisch schrieben. Diese Verse hingegen waren kraftvoll, intellektuell und provokant.

Tatsächlich war Anna Margolin1 ein neu aufgetauchtes Pseudonym, aber die Autorin in der New Yorker Szene eigentlich keine Unbekannte. Rosa Lebensbojm, wie sie in Wirklichkeit hieß, war geboren am 21. Januar 1887 in Brisk (Brest Litowsk), Weißrussland. Sie stammte aus einem wohlhabenden Elternhaus: Der Vater Menachem, ein Getreidehändler, hatte sich vom Chassidismus ab- und der jüdischen Aufklärung und dem Zionismus zugewendet und führte ein modernes, mondänes Leben. Sein Beruf brachte es mit sich, dass er monatelang getrennt von seiner Familie lebte, meist in Königsberg. Zeitweise nahm er aber auch seine Familie dorthin mit. Die Mutter Dwojre Leje war hingegen eine einfache Frau, traditionell orientiert, und empfand die rasch um sich greifenden Veränderungen in der jüdischen Lebenswelt als belastend und verstörend. Sehr früh schon ging ein Riss durch die Ehe.

Die Tochter Rosa, das einzige Kind, war aufgeweckt und intelligent, und so war es für den Vater eine Selbstverständlichkeit, dass sie an einem Gymnasium in Odessa, wo die Familie damals wohnte, eine gründliche russische und hebräische Bildung erhalten sollte. Nach der Trennung der Eltern ließ Rosa ihre Mutter in Brisk zurück und folgte dem von ihr vergötterten Vater nach Warschau. Hier blühte sie auf, lernte die Literaten der Stadt kennen und sympathisierte mit den Ideen der sozialistisch-territorialistischen Bewegung.2

Schon als Mädchen und junge Frau war Rosa eine beeindruckende Persönlichkeit: belesen und gebildet, dazu auffallend attraktiv, mit blauen Augen und einer musikalischen Stimme. Sie war sich ihrer Anziehungskraft sehr bewusst und stürzte sich nur zu gerne in Flirts und Liebschaften.

Als eine solche Beziehung in eine frühe Bindung zu münden schien, setzte der Vater sich mit seiner Schwester in Williamsburg bei New York in Verbindung, die einwilligte, die Nichte bei sich aufzunehmen. Rosa sollte sich dort auf ein Universitätsstudium vorbereiten. Sie zeigte sich einsichtig und reiste so 1906 zum ersten Mal nach Amerika. In New York jedoch tauchte sie lieber ein in das literarische jüdische Leben der Stadt. Binnen kurzem überwarf sie sich mit ihrer Tante, mietete sich in der East Side ein, versuchte als Fabrikarbeiterin ihren Lebensunterhalt zu verdienen und wurde schließlich Sekretärin des populären Philosophen Chaim Zhitlowsky und zeitweilig seine Geliebte. Später arbeitete sie, ebenfalls als Sekretärin, für die anarchistische jiddische Zeitung Fraje arbeter shtime und konnte dort unter dem Pseudonym Chawe Gros ihre ersten Erzählungen veröffentlichen.

Doch es zog sie nach Europa zurück. Ausgestattet mit Empfehlungsbriefen Zhitlowskys besuchte sie London und Paris, wo die junge Frau als intellektuelle Gesprächspartnerin bemerkenswerte Bekanntschaften schloss: In London war sie häufig Gast bei dem russischen Fürsten Pjotr Kropotkin, dem Theoretiker der anarchistischen Bewegung, in Paris lernte sie den Sozialisten und Revolutionär Wladimir Burzew kennen, der durch die Enttarnung zaristischer Agenten Berühmtheit erlangte. Rosa Lebensbojm schrieb darüber auch Artikel für den Forverts in New York.

Als sie endlich nach zwei Jahren Abwesenheit wieder in Warschau eintraf, fand sie Zugang zu dem berühmten Jitschok Lejb Perets (Peretz), aber auch zu der neuen Generation aufstrebender Schriftsteller um den Poeten und Journalisten Menachem Goldberg. In diesem Kreis lernte sie Mojshe Stavsky kennen und heiratete ihn. Zusammen wanderten sie um 1910 über Odessa und weiter auf einem russischen Schiff nach Palästina aus, zunächst nach Jaffa, dann ins gerade entstehende Tel Aviv. Sie war unglücklich in dieser Ehe, zudem gelangweilt vom geistig wenig anregenden Leben im provinziellen Palästina. Einige Monate nach der Geburt eines Sohnes, Naaman, am 28. November 1911 verließ sie Mann und Kind3 und kehrte völlig mittellos nach Warschau zurück. Bei ihrem Vater und dessen neuer Familie war sie jedoch nicht willkommen und wurde als Gast nur geduldet. Etwa ein dreiviertel Jahr später ging sie nach Krementschuk (Ukraine) zur Mutter, die ihr eine zweite Atlantiküberfahrt ermöglichte. Am 13. Mai 1914 traf sie zum zweiten Mal und endgültig in Amerika ein.

Sie fand Arbeit bei der im November 1914 neu gegründeten jiddischen Tageszeitung Der tog, wo sie unter ihrem eigenen Namen die wöchentliche Kolumne »In der frojen-welt« schrieb und bis 1920 zum Mitarbeiterstab gehörte. Unter den Pseudonymen Sofia Brandt und später Clara Levin schrieb sie journalistische Arbeiten, als Chane Barut verfasste sie Erzählungen, die in anderen Zeitungen und Zeitschriften New Yorks abgedruckt wurden.

In der Redaktion des Tog traf sie den fünf Jahre jüngeren Psychiater und Schriftsteller Hirsch Lejb Gordon, verliebte sich auf den ersten Blick und heiratete ihn, vermutlich 1915. Als Gordon später mit der Jüdischen Legion in Palästina gegen die Osmanen eingesetzt war, ging die Ehe auseinander. Während Rosa Lebensbojm noch als Frau Gordons in New Haven lebte, nahm sie 1919 eine Beziehung zu dem verheirateten jiddischen Schriftsteller Reuven Ajzland (Iceland) auf, der ebenfalls für den Tog arbeitete und sie ermutigte, Gedichte zu schreiben, und der durch den Austausch mit ihr zu eigenem lyrischen Schaffen angeregt wurde.4 Als Rosa Lebensbojm dann 1920 begann, ihre Gedichte in Di naje welt und Fraje arbeter shtime zu veröffentlichen, wählte sie dafür ein neues Pseudonym, das sie fortan überall statt ihres eigentlichen Namens verwendete: Anna Margolin. Monatelang gelang es ihr, sich hinter diesem Pseudonym zu verstecken. Ajzland tauschte mit ihr Briefe aus und hielt sie über die Diskussionen in den New Yorker Redaktionen und Cafes über »Anna Margolin« und ihre Gedichte auf dem Laufenden.

Als Anna Margolin und Reuven Ajzland eine feste Beziehung eingingen, entfremdete dieser sich von seinen Kindern und seiner Familie. Anna Margolin und er blieben Lebenspartner; es ist nicht klar, ob sie jemals heirateten.

In den 1920er Jahren richteten sich Anna Margolins Ambitionen mehr und mehr auf Lyrik. Sie veröffentlichte einzelne Gedichte in Naj-jidish, Inzich und Di tsukunft. Unzufrieden mit der Vernachlässigung anspruchsvoller Poesie durch die jiddischen Zeitschriften, gab sie 1923 privat eine Anthologie heraus, Dos jidishe lid in Amerike. Diese sollte wohl jährlich erscheinen, es blieb aber bei einer einzigen Ausgabe.

Als 1929 Anna Margolins Buch Lider erschien, das 80 ihrer Gedichte enthielt, war die Resonanz in New York eher verhalten. Ganz anders als beispielsweise in Warschau, wo Aaron Zeitlin, Melech Rawitsh und Ber Horowitz sich begeistert äußerten. Dutzende anerkennende Briefe von Schriftstellerkollegen trafen ein, darunter zu Anna Margolins Freude auch ein Lob von Chaim Nachman Bialik, dem führenden hebräischen Dichter.

Was der Auftakt zu einer glanzvollen Karriere als Lyrikerin hätte sein können, wurde ihr Schlusspunkt. Anna Margolin schrieb zwischen 1929 und 1934 noch etwa zwanzig Gedichte, dazu Entwürfe und Fragmente, aber sie veröffentlichte nur noch eine Handvoll davon in Zeitschriften, die letzten 1932. Die Gründe für ihr Verstummen als Lyrikerin sind unklar, selbst Reuven Ajzland musste diese Frage offen lassen. Aus seiner Sicht waren die Ursachen vielschichtig, hatten aber auf jeden Fall damit zu tun, dass Margolin trotz der positiven Kritiken für ihr Buch wohl enttäuscht war, weil es nicht die von ihr erhoffte breite Leserschaft erreicht hatte. Das ist tragisch, hat es ihr doch in der jiddischen Literaturgeschichte einen festen Platz gesichert.

Sie schrieb weiterhin unter dem Namen Clara Levin als Journalistin für den Tog, schloss sich jedoch mehr und mehr von der Außenwelt ab. Nach 1944 litt sie immer stärker unter Depressionen, Schuld- und Schamgefühlen, Angstzuständen, Bluthochdruck und einer ganzen Reihe Krankheiten. Sie lebte schließlich völlig zurückgezogen neben Reuven Ajzland. Sämtliche Versuche der Außenwelt, auch von guten Freunden und Kollegen, mit ihr Kontakt aufzunehmen, scheiterten. Als beispielsweise der von ihr so sehr verehrte jiddische Dichter Itsik Manger 1951 nach New York zog und anfragte, ob er ihr einen Besuch abstatten dürfe, sah sie sich außer Stande ihn zu empfangen.

Sie blieb aber weiterhin lebhaft interessiert an Lyrik: Paul Verlaine, Dylan Thomas, Itsik Manger und Abraham Sutzkever waren zuletzt ihre Favoriten. Trotz ihrer Selbsteinschätzung, sie habe ihr Leben und ihr Talent vergeudet, hielt sie aber auch an ihrem eigenen poetischen Werk fest. Noch in ihrer letzten Lebensphase schickte sie dem Kritiker Shea Tenenbojm einen Brief mit Bemerkungen zu seiner in einem Aufsatz geäußerten Einschätzung ihrer dichterischen Persönlichkeit, und sie fügte auch ein Exemplar von Lider hinzu, in dem sie etliche Gedichte eigens mit handschriftlichen Verbesserungen versehen hatte.5

In ihren letzten Jahren verließ sie kaum noch das Haus. Sie hatte, wie Reuven Ajzland sich ausdrückte, keinen einzigen guten Tag mehr. Nach ihrem Tod am 29. Juni 1952 in New York entsprach er ihrem Wunsch und vernichtete ihre unveröffentlichten literarischen Manuskripte.

*

Anna Margolin scheut sich nicht, die Leserschaft mit ihrer Lyrik zu irritieren, ja zu provozieren. Wer den Band Lider (1929) aufschlug und romantische Bekenntnisse eines weiblichen Gemütes erwartete, musste nach der Lektüre des eröffnenden Gedichtes »Ich war vor langer Zeit ein Jüngling« ratlos dastehen: Sie sei nicht nur dieser Jüngling gewesen, sondern später ebenso eine Cäsarengestalt, aus der heidnischen griechisch-römischen Welt, philosophisch-elitär, hedonistisch, dekadent, homoerotisch und inzestuös, voller Spott für die am Horizont aufziehende jüdisch-christliche Welt.6 Dies läuft auf eine Verweigerung gegenüber jeder Erwartung an ein lyrisches Ich in der romantischen Tradition hinaus und wirkt um einiges schroffer, weil eine Frau spricht. Es sind offenkundig aufgesetzte Identitäten, Posen, Masken, die die Gestalt der Dichterin verbergen sollen, ihr Gelegenheit bieten, mit einer Vielfalt an Rollen zu spielen. Auch wenn die zwölf Zeilen dieses Gedichtes in ihrer Radikalität nicht für das gesamte Buch stehen können, war der Autorin offensichtlich an dieser Geste gelegen.7

Wenige Seiten später identifiziert das Gedicht »Mein Volk spricht« die Sprecherin mit einer verzweigten jüdischen Tradition, mit archaischen und modernen Elementen, zwischen inniger Frömmigkeit und bürgerlichem ennui, und doch bleibt ihr am Schluss die individuelle Stimme versagt:

Sie alle, mein Volk,

Blut von meinem Blut

und Glut von meiner Glut,

tot und lebend gemischt,

traurig, grotesk und groß,

stampfen durch mich wie durch ein dunkles Haus.

Stampfen mit Beten und Fluchen und Klage,

stoßen mein Herz an wie eine Kupferglocke,

und meine Zunge wirft sich hin und her,

ich erkenn nicht die eigene Stimme –

Mein Volk spricht.

Anna Margolin baut gerne ein immer wieder neues Spannungsfeld auf zwischen dem autobiographischen Ich und der Sprecherin, verbirgt und erfindet und verkompliziert Identitäten, mischt Einblicke in die Seele der Rosa Lebensbojm mit psychologischen Gegenentwürfen.8 Wie soll man das Liebes- und Hassgedicht »Uralte Mörderin Nacht …« auffassen? Lotet es verdrängte Potenziale der eigenen Seele aus?

Uralte Mörderin Nacht, schwarze Mutter in der Not, steh mir bei!

Betör ihn, umspinn ihn, verschling ihn, bring ihm den Tod!

Das Gedicht »Porträt«, vorgeblich der Blick in einen Spiegel und damit eine traditionelle Chiffre für Selbstprüfung und Selbstfindung, schließt mit der Vermeidung jedes für den Leser oder Betrachter erschließbaren emotionalen Ausdrucks. Es lässt die Sprecherin allein mit sich selbst, ganz auf ihre äußere Rolle fixiert und reduziert, statuesk und unnahbar wie eine Infantin. Und dennoch tut sich in den Schlusszeilen ein Abgrund auf: »Ein wüster, heißer Irrsinn / erstickt ganz zärtlich ihren Hals.«

»Porträt« zeigt außerdem eine für Margolin charakteristische Bildlichkeit: Das Motiv der »Maske« beziehungsweise der »skulpturhaften Schönheit«, die eine innerlich lodernde Leidenschaft verbergen, durchzieht ihr gesamtes Buch.9 In dieser Auswahl kehrt es wieder in den Gedichten »Schöne Wörter aus Marmor und Gold«, Herbst [Die Trauer des Vergehens…], »Tore« und »An Franz Werfel«.

Das Motiv entspricht einem der poetologischen Ideale Margolins. Laut schriftlich erhaltenen, leider nur stichworthaften Äußerungen zu ihrem dichterischen Konzept strebt Margolin nach Härte, einer prosaischen Diktion, einem Abstrahieren von der eigenen Zeit und Herkunft, eher nach Musik als nach Malerei, nach raren Bildern und Ironie und niemals nach dem schönen Wort auf Kosten der Wahrheit.10

Aber Margolins Texte enthalten oft genug auch eine gegenläufige Tendenz: eine Neigung harte Konturen aufzulösen, Zartheit und Sanftheit zum Ausdruck zu bringen, in impressionistischer Manier Stimmungsbilder zu schaffen. Bezeichnenderweise verwendet Margolin mit Vorliebe Metaphern des Liquiden: Wasser, Regen, Tränen, Wellen, Strömen, Trinken, Schwimmen,11 so in »Eine Stadt am Meer« und »Mein Zuhause«.

Das programmatische Gedicht »Hartes Herz« lässt sogar darauf schließen, dass nur eine Aufhebung des Gegensatzes zwischen der hier als negativ empfundenen Härte des lyrischen Ich und der »leuchtenden Welle« der Welt in ihrer Vielfältigkeit für die Dichterin eine Erlösung aus der allzu prinzipienfixierten Starre bewirken kann, sie durch und zur Empathie befreit:12

Hartes, verachtendes Herz,

lass ein die leuchtende Woge

aus Dirnen, Müttern und Kindern,

Bettlern, Krüppeln und Tänzern

und alten Leuten aus der Stadt,

nur bleib nicht bei dir und bei Gott,

hartes Herz,

entflieh zu den Menschen vor Gott.

Anna Margolin lehnt jede poetische Sentimentalität ab oder, so sollte man es vielleicht eher ausdrücken, es widerstrebt ihr im Prinzip, diese beim Ausdruck von Gefühlen zuzulassen. Doch viele ihrer Gedichte schwelgen in Sinneseindrücken, enthalten emotionale oder eben doch ins Sentimentale spielende Passagen. Über »Odessa« schreibt die Dichterin selbst: »Außer der zweiten Strophe und einer Zeile gegen Schluss über die Boulevards ist das Ganze sentimentale Banalität«.13

Besonders Margolins Liebes- oder Beziehungsgedichte setzen gern mit einem sehr persönlichen, romantischen Ton ein, verwenden erlesen schöne, gelegentlich artifizielle Bilder. In den folgenden Zeilen bringt die Autorin dann zum Beispiel ein Motiv der Ernüchterung oder existenziellen Angst ein und lässt das Gedicht in einer Ambiguität enden, ohne dass der Tonfall sich in entsprechendem Maße verändert hätte. Beispiele sind »Vielleicht war das mein Glück«, »Schlanke Schiffe« und »Die Nacht ist herein in mein Haus«. So werden Margolins Gedichte nicht selten Wege ins Ungewisse, in einen Zwiespalt, lassen Fragen offen oder in der Schwebe, zeigen ein ganz anderes lyrisches Ich.14

Ein wichtiger Zug von Margolins Poesie ist ihr Wechsel zwischen Reimlosigkeit und Reimen, dazu ihr Experimentieren mit Reimen und Halbreimen, auch mit dem aus dem Hebräischen und slawischen Sprachen stammenden lexikalischen Bestand des Jiddischen.15 Sie verwendet außerdem ungewöhnlich viele Germanismen und gelegentlich Anglizismen und erweitert so das Spektrum ihrer Ausdrucksmittel.

Aufgrund der bislang angeführten Merkmale lässt Anna Margolins Dichtung sich nur schwer in die Strömungen der zeitgenössischen jiddischen Literatur einordnen. Vom Lebensalter her könnte die Autorin zur Dichtergruppe Di junge zählen, ihre ersten gedruckten Gedichte erscheinen aber im selben Jahr 1920, in dem erstmals die Gruppe der sogenannten Inzichistn mit ihrer eigenen Zeitschrift an die Öffentlichkeit trat.

Di junge, die etwa seit der Mitte der ersten Dekade des Jahrhunderts in New York publizierten, als Gruppe aber nur locker verbunden waren, standen für ein neoromantisches ästhetisches Programm, auch mit einem Hang zu Heinescher Ironie, und sie stellten die individuelle schöpferische Freiheit des Dichters in den Mittelpunkt: Kunst müsse Selbstzweck sein, dürfe nicht nach gesellschaftlichem Nutzen oder politischer Zweckmäßigkeit streben. Sie zogen eine jüdische Bescheidenheit und einen moderaten, volkstümlichen Tonfall einer hochfliegenden Rhetorik vor. Ihre Vorbilder sahen sie nicht in den amerikanischen, sondern in den europäischen Dichtern, z.B. Brjussow und Blok, Rilke und Hofmannsthal, Baudelaire und Verlaine, deren Texte sie mit Vorliebe auch übersetzten. Die führenden Köpfe von Di junge waren Mani Lejb, Zishe Landau und Reuven Ajzland. Um 1920 war die Kohärenz dieser Gruppe allerdings nicht mehr stark, die einzelnen Vertreter – Mani Lejb, aber auch Dichter mit ohnehin lockeren Bindungen an die Gruppe, beispielsweise H. Leivick und Mojsche-Lejb Halpern, gingen eigene Wege.16

Die Inzichistn hingegen, deren Sprachrohr, die Zeitschrift In zich (später Inzich) vom Januar 1920 bis 1940 regelmäßig erschien, waren modernistisch und intellektueller ausgerichtet als Di junge. Sie lehnten deren Schönklang, romantische Weichheit und metrische Konventionalität ab. Sie wollten die im Bewusstsein wahrgenommene Realität darstellen und nicht die Außenwelt schlicht abbilden. Dementsprechend galt ihr nachdrückliches Interesse der Psychoanalyse. Der Name Inzichistn verweist auf diese introspektive Tendenz und sollte vom Expressionismus abgrenzen, obwohl die Gruppe mit letzterem durchaus Gemeinsamkeiten hatte. Die Inzichistn bevorzugten die formale Freiheit: den freien Vers und den Verzicht auf Reime. Hauptvertreter der Richtung waren Jankev Glatschtejn, Aaron Glantz-Leyeles und Nahum Baruch Minkoff. Überzeugt, dass die jiddische Sprache reif und ausdrucksstark genug für einen Platz in der Weltliteratur sei, suchten sie Anschluss an die universalen Tendenzen der zeitgenössischen Literatur in Europa und Amerika. Verbunden fühlten sie sich mit amerikanischen Autoren wie Ezra Pound, T.S. Eliot, Marianne Moore und Wallace Stevens, aber auch mit den russischen Akmeisten.17

Anna Margolin hätte beinahe in der ersten Nummer der Zeitschrift In zich debütiert, aber Aaron Glantz-Leyeles als Herausgeber entschied sich, obwohl die vorgelegten Verse recht gut ins dichterische Programm gepasst hätten, wegen der Unklarheit über die Identität von »Anna Margolin« gegen den Abdruck. Erst später gehörte sie zu den regelmäßig vertretenen Autoren. Die Reaktion der New Yorker Szene auf Margolins erste Gedichtveröffentlichungen sind bezeichnend: Wie Reuven Ajzland ihr berichtete, fanden sie große Anererkennung bei Mani Lejb (mit Einschränkung wegen der verwendeten Halbreime), während die Inzichistn sie verrissen.18

Die Art, wie Anna Margolin in ihrer Poesie Atmosphäre schafft, die romantischen Anklänge ihrer Bildlichkeit, das bekenntnishafte Auftreten ihres lyrischen Ich, auch die Neigung zum Grotesken, das alles passt zur Dichtergruppe Di junge.

Trotzdem, und obwohl ihr Lebenspartner Reuven Ajzland führend in der Gruppe war, grenzt sich Margolin, wie die oben angeführten poetologischen Äußerungen nahelegen, mit einigem Grund ausdrücklich ab gegen diese Strömung – und damit gegen ihren wichtigsten Gesprächspartner in Sachen Dichtung. Noch 1951 schreibt sie an den Kritiker Shea Tenenbojm: »Meine Gedichte sind nicht nur Gemurmel, Aroma, Spinngeweb. Ein großer Teil von ihnen ist: in texture19 – massiv, im Rhythmus – breit, im Inhalt – dramatisch. Ich bin kein ›Kind von Di junge‹, auch keine Enkelin oder Zeitgenossin (bezogen auf die schriftstellerischen Jahre, nicht die Lebensjahre). Mein Gedicht ist nicht ›hervorgetreten zur gleichen Zeit wie Di junge‹ […]. Es ist ein Sprung von ganzen 15 Jahren. Ich habe zum ersten Mal 1920 Gedichte veröffentlicht, einige Monate früher zum ersten Mal Gedichte geschrieben. Ich bin nicht in ihre Schule gegangen.«20

Anna Margolins Thematisierung von Seelenzuständen, ihre dramatischen Monologe und ihr weitgehender Verzicht auf jüdische Themen rücken sie in die Nähe der Inzichisten, doch bleibt sie eine eigenständige, an persönlichen poetischen Vorstellungen orientierte Dichterin, die literarische Anregungen aufzugreifen und zu etwas Neuem, Unverwechselbaren zu verschmelzen verstand. Mit Recht gilt Anna Margolin heute als die führende modernistische Dichterin in der Blütezeit der jiddischen Literatur in Amerika. Mit all seiner Dramatik, mit all seinem Oszillieren zwischen Schönem und Groteskem, Glücksgefühl und Angst, Liebe und Hass, Glut und Kälte, Emotion und Kalkül bildet ihr lyrisches Werk die innere Zerrissenheit und Widersprüchlichkeit ihrer Persönlichkeit ab, ihr rastloses und kompromissloses Leben, das alles der Berufung zur Poesie zu opfern bereit war. Sie selbst wünschte sich für ihren Grabstein Zeilen, die ihr Leben und ihr poetisches Talent als weggeworfen und verloren abtaten, und so kann man es auch auf ihrem Grabstein in Brooklyn in New York lesen. Was sie für die jiddische Literatur unsterblich macht, drücken mit mehr Sympathie und angemessener einige Zeilen aus ihrem Gedicht »Epitaph« aus:21

Erzähl, dass sie bis in den Tod

getreu beschützte mit der bloßen Hand

das Feuer, das ihr anvertraut,

und dass im selben Feuer sie gebrannt.

Lider (Nju-Jork, 1929) / Gedichte (New York, 1929)

Ich bin gewen a mol a jingling

Ich bin gewen a mol a jingling,

gehert in portikos Sokratn,

es hot majn buzemfrajnd, majn libling,

gehat dem shenstn tors in Aten.

Gewen Tsezar. Un a hele welt

gebojt fun marmor, ich der letster,

un far a wajb mir ojsderwejlt

majn shtoltse shwester.

In rojznkrants bajm wajn biz shpet

gehert in hojchmutikn fridn

wegn shwachling fun Nazaret

un wilde majses wegn jidn.

Ich war vor langer Zeit ein Jüngling

Ich war vor langer Zeit ein Jüngling,

hab bei den Säulen Sokrates gehört.

Hab meinen Busenfreund und Liebling,

den schönsten Torso von Athen begehrt.

War Cäsar. Und hab eine helle Welt

gebaut aus Marmor, war ihr letzter

und hab zum Weibe auserwählt

mir meine stolze Schwester.

Bekränzt mit Rosen und beim Wein bis spät

hab ich gehört in hochmütigem Frieden

von jemand Schwächlichem aus Nazareth

und wilde Rede über Juden.

Portret

A. Lejelesn

Wajl shpot un umglik hobn durchgeglit ir lebn,

hot zi getrogn azoj shtolts dem kop,

wi s’wolt zi Got gehejmnishful derhojbn.

In lern hojz, in shpigl zich gezen wi durch a regn.

Un wi es woltn alts ir nachgekukt bakante,

iz zi fajerlech gegangen zich antkegn,

wi men gejt antkegn an infante.

Gerut, gerut. Gesesn glajch un shtajf.

Un nit fartrojt ir maske ojch der einzamkejt,

wen s’hobn gute owntike shoen

jomerndik genejgt zich iber ir un iber alts.

Un nor gefilt: Wister, flamiker shigoen

drikt tsertlech ir tsunojf dem haldz.

Porträt

für A. Leyeles

Weil es durchglüht von Spott und Unglück war, ihr Leben,

hat sie den Kopf so stolz getragen,

als habe Gott sie auf geheimnisvolle Art erhoben.

Im leeren Haus gespiegelt sich gesehen wie durch Regen.

Und als ob ihr ständig Augen folgten von Bekannten,

ging sie feierlich sich selbst entgegen,

wie man entgegengeht einer Infantin.

Ganz ruhig, ruhig. Dagesessen, förmlich, steif.

Und nie die Maske offenbart, auch nicht der Einsamkeit,

wenn gute abendliche Stunden

sich klagend neigten über sie und über alles.

Und nur gespürt: Ein wüster, heißer Irrsinn

erstickt ganz zärtlich ihren Hals.

Majn shtam redt

Majn shtam:

Mener in atles un samet,

penemer lang un blejch zajdn,

farchaleshte glutike lipn.

Di dine hent tsertlen fargelte foljantn.

Zej redn in tifer nacht mit Got.

Un sochrim fun Lajpsk un fun Dansk.

Blanke manketn. Ejdeler sigarn-rojch.

Gmore-witsn. Dajtshe heflechkejtn.

Der blik iz klug un mat,

klug un iberzat.

Don-Zhuanen, hendler un zucher fun Got.

A shiker,

a por meshumodim in Kiew.

Majn shtam:

Frojen wi getsn batsirt mit briljantn,

fartunklt rojt fun terkishe ticher,

shwere faldn fun satin-de-Lion.

Ober dos lajb iz a wejnendike werbe,

ober wi trukene blumen di finger in shojs,

un in di welke farshlejerte ojgn

tojte lust.

Un grand-damen in tsits un in lajwnt,

brejtbejnik un shtark, un baweglech,

mitn farachtlechn lajchtn gelechter,

mit ruike rejd un umhejmlechn shwajgn.

Far nacht bajm fentster fun oremen hojz

waksn zej wi statuen ojs.

Un es tsukt durch di demerende ojgn

grojzame lust.

Un a por,

mit welche ich shem zich.

Zej ale, majn shtam,

blut fun majn blut

un flam fun majn flam,

tojt un lebedik ojsgemisht,

trojerik, grotesk un grojs

tramplen durch mir wi durch a tunkl hojz.

Tramplen mit tfiles un kloles un klog,

trejslen majn harts wi a kupernem glok,

es warft zich majn tsung,

ich derken nit majn kol –

majn shtam redt.

Mein Volk spricht

Mein Volk:

Männer in Satin und Samt,

Gesichter lang und seidig bleich,

sehnsüchtige, glühende Lippen.

Die dünnen Hände streicheln vergilbte Folianten.

Sie reden tief in der Nacht mit Gott.

Und Kaufleute aus Leipzig und Danzig.

Blanke Manschettenknöpfe. Edler Zigarrenrauch.

Talmud-Scharfsinn. Deutsche Höflichkeiten.

Der Blick ist klug und matt,

klug und übersatt.

Don Juans, Händler und Goldsucher.

Ein Trunkenbold,

ein paar Getaufte in Kiew.

Mein Volk:

Frauen wie Götzenbilder geschmückt mit Brillanten,

rötlich verdunkelt in türkischen Tüchern,

schwere Falten von Satin-de-Lyon.

Aber der Leib ist eine Trauerweide,

und die Hände wie trockene Blumen im Schoß,

und in den welken, verschleierten Augen

tote Lust.

Und grande dames in Calico und in Leinen,

grobknochig und stark, und beweglich,

mit verächtlichem, leichtem Gelächter,

mit ruhiger Rede und unheimlichem Schweigen.

Abends am Fenster des ärmlichen Hauses

wachsen sie wie Statuen so groß.

Und die dämmernden Augen durchzuckt

grausame Lust.

Und ein paar,

deretwegen ich mich schäme.

Sie alle, mein Volk,

Blut von meinem Blut

und Glut von meiner Glut,

tot und lebend gemischt,

traurig, grotesk und groß,

stampfen durch mich wie durch ein dunkles Haus.

Stampfen mit Beten und Fluchen und Klage,

stoßen mein Herz an wie eine Kupferglocke,

und meine Zunge wirft sich hin und her,

ich erkenn nicht die eigene Stimme –

Mein Volk spricht.

A shtot bajm jam

Wen iz es gewen? Ich ken zich nit dermonen.

Es gejt mir noch wi a fargesener refren:

A shtot bajm jam, noktjurnen fun Shopen

un ajzerne liljen fun balkonen.

Far nacht. Tswej shwester mit di shmole finger

fartrojmte rirn on dem shotndikn shtrom

fun zichrojnes in altmodishn albom.

Di alte bilder wern langzam jinger.

In tir halb ofener, dort tswishn di wazonen,

farchalesht shwimen porlech in a lashtshendikn wals.

O, tojte jugnt! O, der letster wals!

Di tentser shwimen un farshwindn wi fantomen …

Es iz gewen, gewen … Ich ken zich nit dermonen.

Eine Stadt am Meer

Wann es gewesen ist? Ich kann mich nicht entsinnen.

Es geht mir nach wie ein vergessener Refrain:

Die Stadt am Meer, Nocturne-Klang von Chopin,

und Lilien von Eisen an Balkonen.

Es wird Nacht. Zwei Schwestern, ihre schlanken Finger

berühren träumerisch den Strom aus Schatten

der Erinnerung auf altmodischen Albumblättern.

Die alten Bilder werden langsam jünger.

Die Tür halb offen, zwischen Pflanzenschmuck dort drinnen

schwimmen Paare, weltentrückt, in einem schmeichlerischen Walzer.

Ach, tote Jugend! Ach, der letzte Walzer!

Die Tänzer, schemenhaft, sie schwimmen und entschwinden …

Es war, es war … Ich kann mich nicht entsinnen.

Majn hejm

Hajzer wign zich un shwimen lichtik-groj

mit fajchte gertner, zilber-hele gasn,

un mentshn baj shweln fun tirn

nejgn zich, shmejchlen, farblasn,

wern un nit-wern

durchn regn-bojgn fun trern.

A kind zitst bajm fentster.

In lewone-shajn shtromen di hor wi tunkeler regn.

Farakshnt un lichtik zuchn di ojgn

wi durch a wald

di ejgene wajte geshtalt.

O, wos tsiterstu, kind,

wen ich kum dir antkegn?

Mein Zuhause

Häuser wiegen sich und schwimmen, leuchtend grau

von feuchten Gärten, silberhellen Gassen,

und Menschen auf Schwellen von Türen

verneigen sich, lächeln, verblassen,

entstehen und vergehen

in einem Regenbogen aus Tränen.

Ein Kind sitzt am Fenster.

Im Mondschein strömen die Haare dunkel wie Regen.

Unbeirrbar und hell suchen die Augen

wie in einem Wald

die eigene ferne Gestalt.

Oh, was zitterst du, Kind,

wenn ich komme, dir entgegen?

Langzam un lichtik

Langzam un lichtik

hostu dajn shwere shtern tsugebojgn tsu majn shtern,

bistu farzunken mit dajn shwartsn fajer

in majn blojen fajer.

Un majn tsimer iz geworn ful mit zumer,

un majn tsimer iz geworn ful mit nacht.

Hob ich majn lojchtnike wejnendike ojgn tzugemacht,

hob ich gewejnt shtil in majn shpetn zumer.

Langsam und lichthell

Langsam und lichthell

hast du deine schwere Stirn geneigt zu meiner Stirn,

bist versunken du mit deinem schwarzen Feuer

in meinem blauen Feuer.

Und mein Zimmer ward erfüllt von Sommer,

und mein Zimmer ward erfüllt von Nacht.

Da hab ich meine Augen, leuchtend, weinend, zugemacht

hab still geweint in meinem späten Sommer.

Wiolinen

Der blojer trojm fun wiolinen.

Ich un du,

azelche wajze,

azelche wajze,

un s’wejs nit kejner,

az mir krajzn

in goldene ringen,

wi shmeterlingen,

in der blojer nacht fun wiolinen.

Du majn ru,

undzer nacht,

un mich, un dich

shpiln di bloje wiolinen.

Violinen

Der blaue Traum der Violinen.

Ich und du,

solch eine Weise,

solch eine Weise,

und es weiß keiner,

dass wir kreisen

in goldenen Ringen,

gleich Schmetterlingen,

in der blauen Nacht der Violinen.

Du meine Ruh,

unsere Nacht,

und mich und dich

spielen die blauen Violinen.

Ful mit nacht un gewejn

A shwajgn plutsem un tif

tswishn undz bejdn,

wi a tsetumlter briw

mitn onzog fun shejdn.

Wi a zinkende shif.

A shwajgn on a blik, on a rir.

Ful mit nacht un gewejn

tswishn undz bejdn,

wi mir woltn alejn

tsu a ganejdn

farshlisn di tir.

Erfüllt von Nacht und Weinen

Ein Schweigen, plötzlich und tief,

zwischen uns beiden,

wie ein verwirrender Brief,

wir müssten bald scheiden.

Wie ein sinkendes Schiff.

Ein Schweigen, erstarrt, ohne Blick,

erfüllt von Nacht und Weinen,

zwischen uns beiden,

als wollten wir von alleine

verschließen das Tor

zum Garten-Eden-Glück.

*

Gewen iz efsher dos majn glik:

Filn wi dajne ojgn

hobn zich far mir gebojgn.

Nejn, gewen iz dos majn glik:

Gejn shwajgndik hin un her

mit dir ibern skwer.

Nejn, nit dos, nit dos. Nor her:

Wen iber undzer frejd

flegt shmejchlendik zich ajnbejgn der tojt.

Un ale teg zajnen gewen purpurn,

un ale shwer.

*

Vielleicht war das mein Glück:

Fühlen wie sich deine Augen

vor mir zum Boden beugten.

Nein, das war mein Glück:

Gehen, schweigend, hin und her

mit dir zusammen auf dem Square.

Nein, nicht das, nicht das. Doch hör:

Als über unsre Freud

gebeugt mit einem Lächeln stand der Tod.

Und alle Tage waren purpurn,

und alle schwer.

*

Nejn, gornit zogn.

Nor in lichtikejt,

in lojter frejdikejt

zich aropbojgn

tsu dem tser in dajne ojgn,

tsu der shuld in dajne ojgn

un dir zogn …

nejn, gornit zogn.

*

Nein, gar nichts sagen.

Nur in lauter Helle,

in lauter Freude

sich hinunterbeugen

zu dem Schmerz in deinen Augen,

zu der Schuld in deinen Augen

und dir sagen …

Nein, gar nichts sagen.

*

Uralte merderin nacht, shwartse muter in nojt, helf mir!

Farnar im, farshpin im, farshling im, dershlog im tsum tojt!

Un ich,

wos trern zajnen gewen majn getrank,

un shand majn brojt,

wel trinken farchalesht,

girik un lang,

wi a libes-gezang,

zajn wajbs gewejn,

dos shwajgn fun kinder,

dos flistern fun frajnd

noch zajn gebejn.

Wel ojfshtejn wi ejne, wos iz lang gewen krank,

a shwarts geshpenst in morgnrojt,

wel zich bukn tsu ale fir ekn fun rojm

un zingen, un zingen, un zingen tsum lebn

a lojb farn tojt.

*

Uralte Mörderin Nacht, schwarze Mutter in der Not, steh mir bei!

Betör ihn, umspinn ihn, verschling ihn, bring ihm den Tod!

Und ich

– waren doch Tränen mein Trank

und Schande mein Brot –,

trinken werd ich, kaum bei Sinnen,

gierig und lang,

wie einen Liebesgesang,

seines Weibes Gewein,

das Schweigen der Kinder,

das Flüstern der Freunde

über seinem Gebein.

Aufstehen werd ich wie eine, die lange krank darniederlag,

ein schwarzes Gespenst im Morgenrot,

mich verbeugen vor allen vier Ecken im Raum

und singen und singen und singen dem Leben

ein Lob auf den Tod.

*

Ich hob nit gewust, majn liber,

az mit langzame benkendike finger

krits ich dich ajn in majne lider.

Itst hobn zej dem shwern glants

fun dajne ojgn, di sharfe linje

fun dajn mojl, fun dajn

akshonesdiker hant.

Dos wunder,

wen majn ejgn wort

barirt mich mit dajn hant.

Wen nont, o nont wakstu arojs

fun shtrengn lichtikn akord.

Dos wunder …

*

Ich habe nicht gewusst, mein Lieber,

dass ich mit langsamen und sehnsuchtsvollen Fingern

dich eingravier in meine Verse.

Nun haben sie den selben schweren Glanz

wie deine Augen, diese selbe scharfe Linie

wie dein Mund, wie deine

unwillige Hand.

Das Wunder,

wenn mein eignes Wort

mit deiner Hand mich anrührt.

Wenn nah, so nah du auftauchst

aus strengem, leuchtendem Akkord.

Das Wunder …

Shlanke shifn

Shlanke shifn drimlen afn geshwoln grinem waser,

shwartse shotns shlofn afn kaltn harts fun waser.

Ale wintn zajnen shtil.

Chmares rukn zich geshpenstik in der nacht der shtumer.

Blejch un ruik wart di erd af blits un duner.

Ich wel zajn shtil.

Schlanke Schiffe

Schlanke Schiffe schlummern auf den grünen Wasserfluten,

schwarze Schatten schlafen auf dem kalten Wasserherzen.

Alle Winde ruhen still.

Wolken schieben sich gespenstisch durch die Nacht, die stumme.

Bleich und ruhig liegt die Erde, harrt auf Blitz und Donner.

Bald bin ich still.

Di nacht iz arajn in majn hojz

Di nacht iz arajn in majn hojz

mitn gebrum fun shtern, wasern, fligl,

mitn shajn fun zumpn, shliachn, tumanen.

Ich bin gelegn shtar un fintster.

Bejmer zajnen arajn in majn hojz,

gerukt zich rizik mit wortslen un shtamen

un urtife blikn fun bleter.

Un wolkns ojsterlish-grojs

zajnen gekumen mit duner un lachn,

wi tunkele kep fun di geter.

Un ale hobn zej gedrejt zich shwer, un wild, un wist.

Un ale hobn zej gerojsht: »Du bist, du bist, du bist«.

Ich bin gelegn shtar un fintster.

Die Nacht ist herein in mein Haus

Die Nacht ist herein in mein Haus

mit dem Gerausche von Sternen, Fluten, Flügeln,

mit dem Glänzen von Sümpfen, Landstraßen, Nebeln.

Ich lag starr und finster.

Bäume sind herein in mein Haus,

ruckten riesenhaft mit Wurzeln und Stämmen

und urtiefen Blicken von Blättern.

Und Wolken, merkwürdig groß,

kamen mit Donner und Lachen,

wie die dunklen Häupter von Göttern.

Und alle drehten sie sich, schwer und wild und wüst.

Und alle lärmten sie: »Du bist, du bist, du bist.«

Ich lag starr und finster.

Hart harts

Hart farachtndik harts,

loz arajn di lichtike chwalje

fun zojnes, muters un kinder,

betlers, kripls un tentsers

un alte lajt fun der shtot,

nor blajb nit mit zich un mit Got.

Hart harts,

antlojf tsu mentshn fun Got.

Hartes Herz

Hartes, verachtendes Herz,

lass ein die leuchtende Woge

aus Dirnen, Müttern und Kindern,

Bettlern, Krüppeln und Tänzern

und alten Leuten aus der Stadt,

nur bleib nicht bei dir und bei Gott.

Hartes Herz,

entflieh zu den Menschen vor Gott.

Epitaf

Dertsejl es im: Zi hot fargebn

zich nit gekent ir trojerik gemit,

iz zi gegangen durchn lebn

mit zich antshuldiknde trit.

Dertsejl, az zi hot bizn tojt

geshitst getraj mit hojle hent

dos fajer, wos iz ir gewen fartrojt

un in ejgenem fajer gebrent.

Un wi in shoen fun ibermut

hot zi mit Got zich shwer gewert,

wi tif gezungen hot dos blut,

wi tswergn hobn zi tseshtert.

Epitaph

Erzähl es ihm: Nie konnt sie sich vergeben

ihr eignes, trauriges Gemüt,

und deshalb ging sie durch das Leben

mit sich entschuldigendem Schritt.

Erzähl, dass sie bis in den Tod

getreu beschützte mit der bloßen Hand

das Feuer, das ihr anvertraut,

und dass im selben Feuer sie gebrannt.

Und wie in Stunden voller Übermut

sie sich nach Kräften gegen Gott gewehrt,

und wie gesungen, tief in ihr, das Blut,

wie Zwerge sie zerstört.

Shejne werter fun marmor un gold

Shejne werter fun marmor un gold,

nit ajch, nit ajch hob ich gewolt.

Far wor, ich hob di lider nit gewolt.

Nor andere – wi fajer un wi frejlecher shturem,

wos tserajsn impetik dem durchzichtikn furem.

Tsu shpet.

Un ich wolt weln zajn andersh tzu mentshn.

Nor ojch itst bin ich nit grejt

lib tsu hobn kind un kejt.

Ober wen ich wolt kenen fargebn

majn farpajnikt lebn

un tsugejn tsu dem un tsu jenem,

di shlechte, di shejne, di fun cholem getsundn,

welt-farlirer, welt-wagabundn,

un zogn: »Ich will zich ajch gebn.

Ich will zich farshwendn,

wi hejlike in legendn.

Zol majn gutskejt ufgejn iber ajch

shajnendik un rajch …«

Tsu shpet.

Ich her oft umhejmleche trit.

Ich tracht oft wegn letstn exit

un ich shwer

baj Elze Lasker Shiler, Rilke un Bodler,

az ich wel shtumen, nit klogn.

Di letste balejdikung fun lajb wel ich wirdik fartrogn.

Wel in jene shoen efsher cholemen, efsher waksn,