Sprachendidaktik - Johannes Wild - E-Book

Sprachendidaktik E-Book

Johannes Wild

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Beschreibung

Das Buch stellt wichtige Themenbereiche der Erst- und Zweitsprachdidaktik übersichtlich und einsteigerfreundlich dar, bietet aber auch vertiefende Informationen. Es eignet sich damit hervorragend für Studium, Examensvorbereitung, Referendariat und Schulpraxis. Die Kapitel des Buches berücksichtigen durchgängig die Perspektive von DaZ-Lernenden und gehen auf wichtige Voraussetzungen sowie auf mögliche Stolpersteine beim Erwerb des Deutschen ein. Potenziell unbekannte Fachausdrücke werden durch so genannte Infokästen erklärt und mit weiterführenden Informationen vernetzt.

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Johannes Wild / Alfred Wildfeuer

Sprachendidaktik

Eine Ein- und Weiterführung zur Erst- und Zweitsprachdidaktik des Deutschen

Mit Beiträgen von Nicole Eller-Wildfeuer, Sebastian Franz, Christian Gegner, Martina Goldenstein, Christina Knott, Sarah Pieles, Anita Schilcher, Johannes Wild und Alfred Wildfeuer

A. Francke Verlag Tübingen

 

 

© 2019 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.francke.de • [email protected]

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

 

ePub-ISBN 978-3-8233-0139-4

Inhalt

1 Vorwort2 Sprachkompetenz entwickeln2.1 „Broccoli oder was?“ Ergebnisse der Hirnforschung zur Sprachverarbeitung2.2 Zwei- und Mehrsprachigkeit: Was hat man davon?2.3 Ein Stück vom „Kuchen“ abbekommen2.4 Kompetenzen und Kompetenzniveaus2.5 Kompetenzorientiert Unterrichten3 Sprache als System beschreiben: Linguistische Grundlagen3.1 Zu den Beschreibungsmodellen der Grammatik3.2 Grammatikmodelle3.2.1 Traditionelle Schulgrammatik3.2.2 Valenz- und Dependenzgrammatik (VDG)3.2.3 Feldermodell (FM)3.2.4 Konstruktionsgrammatik (KG)3.2.5 Weitere Beschreibungsmodelle4 Sprache untersuchen und reflektieren4.1 Deskriptive und präskriptive Grammatikbeschreibung4.2 Grammatik hat Variation4.3 Ist Grammatikunterricht überhaupt nötig?4.4 Konzeptionen des Grammatikunterrichts und der -vermittlung4.4.1 Formal versus funktional4.4.2 Systematisch versus situationsorientiert (situativ)4.4.3 Deduktiv versus induktiv4.4.4 Integrativer Grammatikunterricht4.4.5 Grammatik-Werkstatt4.5 Grammatikvermittlung im Unterricht4.5.1 Grammatische Progression4.5.2 Scaffolding4.6 Zur Diagnose: Grießhabers Profilanalyse4.7 Stolpersteine der deutschen Grammatik4.7.1 Satzbau (Syntax)4.7.2 Wortbildung und Wortbedeutung4.8 Exemplarische Unterrichtskonzepte5 Bildungssprache erkennen und fördern5.1 Woher kommt unsere Bildungssprache?5.2 Die Sprache der Bildung und der ‚Gebildeten‘5.3 „Non vitae, sed scholae discimus“ – also doch?5.3.1 Vokabeln für die Muttersprache – Wortschatzarbeit als Grundlage jeden Sprachunterrichts5.3.2 Umgang mit unseren „Wortschätzen“5.3.3 Bildungswortschatz bilden5.4 Exemplarische Unterrichtskonzepte6 Frühkindliche Sprachentwicklung beschreiben6.1 Mündliche Sprachentwicklung6.1.1 Die phonologisch-prosodische Kompetenz6.1.2 Die linguistisch-lexikalische Kompetenz6.1.3 Die linguistisch-syntaktische Kompetenz6.1.4 Die pragmatische Kompetenz6.1.5 Welche Modelle liegen der Entwicklung der sprachlichen Basiskompetenzen zugrunde?6.2 Schriftspracherwerb6.2.1 Entwicklungsstufen des Schriftspracherwerbs6.2.2 Besonderheiten des Schriftspracherwerbs bei Deutsch als Zweitsprache6.3 Exemplarische Unterrichtskonzepte7 Sprechen, Gespräche führen und Zuhören7.1 Was ist Mündliche Kompetenz?7.2 Basale Kompetenzen entwickeln7.2.1 Beschreibungsebenen der mündlichen Kommunikation7.2.2 Entstehung nonverbalen Verhaltens7.2.3 Zur Wirkung nonverbalen Verhaltens7.2.4 Der verbale Bereich: Sprachproduktion und Sprechdenken7.2.5 Hören und Hörverstehen7.2.6 Basale Kompetenzen entwickeln und fördern7.3 Komplexe mündliche Kompetenzen: Rede – Gespräch – ästhetisch gestaltendes Sprechen7.3.1 Kommunikationsfunktionen und Kommunikationssituationen7.3.2 Monologische Gesprächsformen7.3.3 Dialogische Gesprächsformen7.3.4 Szenisch Spielen im Rahmen ästhetischer Kommunikation7.4 Stimm- und Sprechstörungen7.5 Exemplarische Unterrichtskonzepte8 Texte verfassen8.1 Was ist Schreibkompetenz?8.1.1. Kognitive Teilfähigkeiten und -fertigkeiten8.1.2 Kognitive Problemlöseprozesse: Schreibprozess8.1.3 Individuelle Dispositionen8.1.4 Novizen vs. Experten: Schreibsozialisation & Schreibentwicklung8.2 Text, Textsorte, Textmuster8.3 Schulische Textmuster8.3.1 Beschreiben8.3.2 Erzählen8.3.3 Berichten8.3.4 Argumentieren8.4 Schreibaufgaben8.5 Bewerten und Beurteilen8.6 Exemplarische Unterrichtskonzepte9 Rechtschreiben lernen9.1 Die Stadt kennen und anderen den Weg erklären9.2 Mehr als Sightseeing: Rechtschreibkompetenz9.2.1 Phonologisch-phonetisches Prinzip9.2.2 Morphologisches Prinzip (Stammprinzip, Schemaschreibung)9.2.3 Silbisches Prinzip (syllabisches Prinzip)9.2.4 Wortübergreifendes (grammatisches) Prinzip9.3 Stadtplanung: (gängige) Konzeptionen des Rechtschreibunterrichts9.3.1 Wortbildorientiert (WBO)9.3.2 Grundwortschatzorientiert (GWO)9.3.3 Lesen durch Schreiben (LdS)9.3.4 Silbische Orientierung (SiO)9.3.5 Regelorientiert (RO)9.3.6 Strategieorientiert (SO)9.3.7 Gegen das Vergessen9.4 Didaktik ≠ Diktate: Rechtschreiben bewerten und beurteilen9.5 Lese-Rechtschreibschwächen, -störungen und Analphabetismus9.6 Exemplarische Unterrichtskonzepte10 Mehrsprachigkeit fördern und sprachliche Identität konstruieren10.1 Umgang mit ‚identitätsfördernder Mehrsprachigkeit‘ – ein Aufgabenfeld des Deutschunterrichts10.2 Identität10.2.1 Unterscheidung von persönlicher und kollektiver Identität10.2.2 Sprache als persönliche und kollektive Identitätsmarkierung10.2.3 Sprachen- und Varietätenwechsel als Anzeiger von Identitätsnuancen?10.2.4 Formen mehrsprachigen Sprechens: Transferenzen und Code-Switching10.2.5 Auswirkungen von Mehrsprachigkeit auf Sprecherinnen und Sprecher10.2.6 Varietäten und Sprachen als Teil unserer Identität – mehrsprachige Identitäten10.3 Im Unterricht mit Mehrsprachigkeit umgehen und sprachliche Identität fördern10.4 Mehrsprachige Identitätsförderung im Deutsch- und DaZ-Unterricht10.5 Praxisideen für den Deutschunterricht, den DaZ- und den DaF-Unterricht10.5.1 Sprachverwendungstagebuch und ‚anonyme Lesung‘10.5.2 Umschreibeaufgabe mit Authentizitätsprobe10.5.3 Mehrsprachigkeitsteppich weben10.5.4 Positionierung im Raum mit Kurzreflexionsphasen11 Sprachkompetenz empirisch erforschen11.1 Von der Forschungsidee zur empirischen Studie11.2 Planungsphase11.2.1 Wie formuliert man die Forschungsfrage bzw. Hypothese?11.2.2 Welche methodischen Überlegungen müssen angestellt werden?11.3 Durchführungsphase11.4 Auswertungsphase11.4.1 Wie wertet man erhobene Daten aus? (Datenaufbereitung und -analyse)11.4.2 Was macht man mit den Analyseergebnissen?11.4.3 Welche Aspekte müssen diskutiert werden? (Leitfragen zur Diskussion)11.5 Datenpräsentation11.6 Ausblick11.7 Zeitliche Planungsskizze (für eine sechsmonatige Studie)LiteraturAutoren

1Vorwort

Betrachtet man Studien zum Professionswissen von Lehrkräften (z.B. COACTIV oder FALKO), zeigen sich immer wieder starke Zusammenhänge zwischen Fachwissen und fachdidaktischem Wissen. Während sich die Sprachwissenschaft primär mit der deutschen Sprache als System auseinandersetzt, betrachtet die Sprachdidaktik dieses System unter dem Aspekt der Vermittlung und des Gebrauchs im institutionellen Kontext. Um bei Schülerinnen und Schülern Sprachkompetenz aufzubauen, muss eine Lehrkraft also nicht nur über entsprechendes linguistisches Wissen verfügen, sondern auch Forschungsergebnisse, Theorien und Modelle zum Erwerb des Deutschen kennen und reflektieren können (vgl. Ossner 2008, 14).

Ein bedeutender Teil der Lehrkräfte, insbesondere an Grund- und Mittelschulen, hat allerdings Deutsch nicht oder nicht vertieft studiert und verfügt insofern häufiger über eigentlich nicht ausreichende Kenntnisse in diesem Bereich (vgl. Klieme et al. 2006, 30). Besonders Einsteiger, aber auch fachfremd Unterrichtende, wie es aktuell gerade im Bereich Deutsch als Zweitsprache regelmäßig vorkommt, benötigen aus diesen Gründen eine Darstellung, die den schulischen Unterricht und Schwerpunkte desselben in den Fokus nimmt, gleichzeitig aber leicht zugänglich ist und systematisch linguistische Grundlagen und Vermittlungskompetenzen darlegt und aufbaut. Als roter Faden zieht sich deshalb eine einsteigerfreundliche Gestaltung und Aufbereitung durch das Buch, ohne dabei Inhalte nur in vereinfachter Form darzustellen. Durch die Verbindung mit kognitiv aktivierenden Aufgaben werden die Leser in den einzelnen Kapiteln außerdem angehalten, sich auch mit komplexen fachlichen Inhalten auseinanderzusetzen und selbstreguliert Kompetenzen (Wissen und Können) zu erwerben. Hierzu ist ein Fokus auf konkrete Unterrichtssituationen nötig, den dieses Lehrbuch ebenfalls leistet.

Derzeitige Veränderungen in der gesellschaftlichen Struktur bringen es mit sich, dass Unterricht nicht nur die Lernprozesse der muttersprachlichen Schülerinnen und Schüler berücksichtigen soll, sondern zunehmend auch Besonderheiten beim Erlernen des Deutschen als Zweitsprache (DaZ) und Aspekte der Mehrsprachigkeit beachtet werden müssen: Von den derzeit über elf Millionen Schülerinnen und Schülern (Schuljahr 2016/17) verfügen ca. 30 % über einen Migrationshintergrund (vgl. BiD 2016, 166). Bei ihnen wird besonders häufig Sprachförderbedarf diagnostiziert und ihre Chance auf Bildungserfolg ist nicht zuletzt deshalb geringer (vgl. BiD 2016, 173f).

Das vorliegende Lehrbuch berücksichtigt daher in jedem Kapitel durchgängig auch die Perspektive der DaZ-Lerner und weist explizit auf wichtige Aspekte bei der Steuerung von Lernprozessen sowie auf mögliche Stolpersteine hin. Die jedem Kapitel vorangestellten Lernziele erleichtern es dem Leser dabei einerseits, die Inhalte zu strukturieren, andererseits aber auch, sich vor der Lektüre selbst einzuschätzen bzw. das Lernergebnis zu bewerten. Einsteiger werden während des Lesens durch regelmäßig eingefügte „Infokästen“ entlastet. Sie klären eventuell unbekannte Fachausdrücke oder liefern weiterführende Informationen zu einem Thema. In den Text integrierte Aufgaben dienen der Anwendung und Erarbeitung sowie gleichzeitig der Überprüfung des eigenen Textverständnisses. Die Aufgaben sind so konstruiert, dass sie i.d.R. hohen Praxisbezug aufweisen, damit transferfähiges Wissen aufgebaut werden kann. Sie sollen die Leserinnen und Leser befähigen, Schülerinnen und Schüler nach ihrem jeweiligen Sprachstand effektiv zu fördern. Fehlt entsprechendes Professionswissen auf Seiten einer Lehrkraft, wird das sprachliche Niveau von Schülerinnen und Schülern falsch diagnostiziert und diese werden unzureichend gefördert. Hier möchte der Band ansetzen und dazu beitragen, grundlegende fachliche und didaktische Kompetenzen aufzubauen und weiterzuentwickeln.

2Sprachkompetenz entwickeln

Alfred Wildfeuer, Johannes Wild

Lernziele

In diesem Kapitel lernen Sie, …

welche Areale unseres Gehirns für Sprache zuständig sind.

welche Vorteile Mehrsprachigkeit hat.

ob es einen Unterschied macht, ob zwei oder mehr Sprachen in früheren Lebensjahren erworben werden.

welche Erwartungen wir an „Sprachkompetenz“ haben.

wie man sich dem Begriff „Sprachkompetenz“ nähern kann und welche Teilaspekte davon die Sprachendidaktik in den Blick nimmt.

wie Ideologien unsere Bewertung von Sprache prägen können.

Sprache ist zentraler Gegenstand und Medium von Bildung (vgl. Feilke 2012, 4): Das sprachliche Universum ist, auch nach dem postulierten Ende des Buchzeitalters (vgl. McLuhan 2011, 362), Gegenstand des Deutschunterrichts. Doch wie funktioniert Sprache eigentlich in unserem Kopf? Was bedeutet es, (k)ein kompetenter Sprecher zu sein? Schon diese beiden Fragen zeigen, dass verschiedene Disziplinen (hier z.B. kognitive Linguistik, Bildungsforschung) unterschiedliche Fragestellungen und Forschungsinteressen verfolgen, wenn sie sich mit Sprachkompetenz auseinandersetzen. Eine einheitliche Definition dieses Begriffs liegt bislang noch nicht vor (vgl. Jude 2008, 10f).

Trotz unterschiedlicher Erkenntnisinteressen und einer heterogenen Datenlage steht (immerhin) fest, dass es sich beim Erwerb von Sprachkompetenz um einen lebenslangen Lernprozess handelt, in dem sich Individuen die Charakteristika von Sprache(n) aneignen (vgl. Jude 2008, 10). Die Redewendung „man lernt nie aus“ trifft also auch auf Sprache zu. Was wir unter Sprachkompetenz verstehen, zeigen für das Deutsche dieses und die folgenden Kapitel.

Erwerb bedeutet (die häufig ungesteuerte) Sprachaneignung durch „modellhafte Sprachverwendung in möglichst authentischen und für die Schüler/innen bedeutsamen Situationen […], in denen sprachliche Strategien und Mittel für die Lösung konkreter Aufgaben eingesetzt werden“ (Vollmer & Thürmann 2013, 51). Lernen dagegen bedeutet das systematische und reflektierte Einüben, die gesteuerte Sprachaneignung. Beides – Erwerb und Lernen – sind zentral für den Aufbau von Sprachkompetenz.

Nähern wir uns dem Ausdruck Sprachkompetenz zunächst aus entwicklungsbiologischer Sicht: Um eine Sprache zu erwerben oder zu lernen – im Folgenden werden wir diesbezüglich nicht unterscheiden –, müssen wir Erfahrungen machen (zum Verlauf des Spracherwerbs vgl. Kapitel 06), auf deren Grundlage wir uns sprachliche Kenntnisse aneignen, wie zum Beispiel, dass Sessel im Deutschen ein spezifisches Möbelstück benennt, im Englischen aber dafür chair steht.

Wie in Saussures bilateralem Zeichenmodell werden Wortform (Signifikant) und Wortbedeutung (Signifikat) im Gedächtnis zwar getrennt gespeichert, sind jedoch vernetzt. Ein gutes Beispiel hierfür ist, wenn uns etwas „auf der Zunge liegt“: Hier haben wir Zugriff auf die Bedeutung (Inhalt), aber uns fehlt die entsprechende Form, um den Inhalt auszudrücken (vgl. Schwarz 2008, 106). Lesenswert zur Beziehung von Bedeutung und Form ist zudem Peter Bichsels Geschichte „Ein Tisch ist ein Tisch“.

Abb. 2.1:

Ferdinand de Saussures Zeichenmodell. Ein sprachliches Zeichen besteht aus der arbiträren Verknüpfung von Signifikant (Ausdruck/Bezeichnendes) und Signifikat (Konzept/Bezeichnetes)

Zudem eignen wir uns abstrakte (Regel-)Systeme an, wie zum Beispiel die Phoneme oder die Grammatik einer Sprache. Sprachenlerner bauen ihre Kompetenz dahingehend aus, dass sie Sätze wie er lachte als richtig, Sätze wie *sie gehte als falsch bewerten können (vgl. Kapitel 04).

Erwerben wir diese Kenntnisse nicht, sind wir nicht in der Lage, an der Kommunikation und Kultur einer Sprachgemeinschaft teilzunehmen.

Einerseits referiert der Begriff [Sprachkompetenz also] auf Sprachkönnen in dem Sinne, dass eine bestimmte Sprache verwendet werden kann, andererseits kann Sprachkompetenz auch als Voraussetzung und Instrumentarium zur Aneignung von neuem Wissen angesehen werden (Jude & Klieme 2007, 11).

Sprachkompetenz umfasst, was von einem kompetenten Sprecher erwartet wird und welche Abweichungen davon akzeptiert werden können: Ist Gib mir mal den Butter! in Ihren Augen akzeptabel? Wenn nicht, warum? Wenn ja, in welchem Kontext? Wie sieht es mit Lassma Viktoriapark gehen, Lan! aus? Wie begründen Sie Ihre Meinung? Auch wenn Sie vielleicht Zweifel hegen: Beide Äußerungen sind in verschiedenen Sprachgemeinschaften des Deutschen alltäglich und angemessen. In Teilen Süddeutschlands und Österreichs kommt Millionen von Sprecherinnen und Sprechern nur derButter auf die Breze (vgl. Möller & Elspaß 2008), im Ethnolekt Kiezdeutsch deutscher Großstädte sind lassma und Lan weit verbreitete und akzeptierte Ausdrücke (vgl. Wiese 2010). Damit wird deutlich: Nicht nur die Erwartungen an einen kompetenten Sprecher sind von der sprachlichen Umgebung, von der jeweiligen Sprachgemeinschaft abhängig, sondern auch der Erwerb von Kompetenzen; denn das Datenmaterial, an dem wir Kompetenzen erwerben, ist die Sprache, die uns umgibt: Es ist das „Sprachmaterial“, mit dem wir alltäglich konfrontiert werden. Vor allem mittels sprachstatistischer Lernmechanismen wird es analysiert, abstrahiert, systematisiert und im Gedächtnis verankert (vgl. Schwarz 2008, 143; vgl. Kapitel 03 und 06). Vorausgesetzt, wir bringen das biologische Vermögen dafür mit, Sprache wahrzunehmen und zu produzieren.

Theoretisch könnten wir wohl auch (wie es z.B. Hunde und Katzen tun) über Düfte o.Ä. kommunizieren. Allerdings wären wir so vermutlich etwas schweigsam! Die biologischen Voraussetzungen bringen wir nämlich nicht ausreichend mit: Unser Geruchssinn ist viel zu schlecht.

Sprachkompetenz ermöglicht es uns darüber hinaus, mit unvollständigem Sprachmaterial umgehen zu können. Stellen Sie sich vor, Sie gehen zu Ihrem Obst- und Gemüsehändler. Weil Sie vielleicht ein wortkarger (oder sagen wir sprachökonomischer) Mensch sind, sagen Sie nur: Fünf rote Äpfel! Nun geschieht etwas ganz Wunderbares: Sie müssen nicht die Äpfel selbst entnehmen, abwiegen, mit einem Preis versehen etc., sondern all das macht der Verkäufer für Sie. Warum ist das möglich? Sie haben nicht nur eine Äußerung von sich gegeben, sondern eine komplexe sprachliche Handlung, einen Sprechakt vollzogen. Der Verkäufer hat daraufhin nicht nur den physikalisch hör- und messbaren Lautstrom analysiert und fehlende Elemente (z.B. Ich hätte gerne) gedanklich ergänzt, sondern auch aufgrund des Kontextes (hier: Einkauf) interpretiert: Er ist davon ausgegangen, dass Sie ihm nicht einfach sagen wollten, dass dort fünf rote Äpfel liegen, sondern dass Sie diese erwerben möchten (Verkaufe mir bitte fünf rote Äpfel!) (Beispiel n. Schlobinski 2014, 69; vgl. auch Kapitel 07).

Zweifellos sind Sprachkompetenz und ihre Teilkompetenzen der Schlüssel zu schulischem und außerschulischem Lernen, sie „sind grundlegend für Lernprozesse, sie beeinflussen in Form von Lese-, Schreib- und Gesprächsfähigkeiten Bildungsprozesse im Allgemeinen“ (Schilcher 2015, 6).

2.1„Broccoli oder was?“ Ergebnisse der Hirnforschung zur Sprachverarbeitung

Neben unseren Sprechwerkzeugen, die der Erzeugung von Lauten dienen, ist vor allem unser Gehirn dafür zuständig, dass wir sprechen und schreiben bzw. zuhören und lesen können. Die linke und rechte Hälfte unseres Gehirns haben sich im Verlauf der Evolution spezialisiert: Die rechte Seite ist in der Regel v.a. für bildlich-räumliche Aspekte zuständig (vgl. Schwarz 2008, 83ff), die linke Hemisphäre steuert alle „wesentlichen Aspekte des Sprachvermögens“ (Schwarz 2008, 85).

Dort liegen auf der Hirnrinde sowohl das sogenannte Broca- als auch das Wernicke-Areal. Sie sind die Hauptverantwortlichen für die Sprachproduktion (z.B. Satzbau und weitere grammatische Bereiche) bzw. für die Rezeption sprachlicher Elemente. Die Arbeitsteilung der beiden Areale gestaltet sich dabei folgendermaßen (vgl. Schwarz 2008, 95): „Das Broca-Areal produziert Wörter und Sätze, die Wernicke-Region erhält Informationen über akustisch wahrgenommene Sprache von der primären Hörrinde zur weiteren Verarbeitung“ (Friederici 2003, 45). Beispielsweise erkennen Sie Da flockte das glumpsende Toro reck als grammatikalisch korrekten deutschen Satz, auch wenn er keinen Sinn ergibt. D. h. Ihr Gehirn hat erkannt, dass das Beispiel dem Muster eines typischen deutschen Satzes entspricht.

Wie kommt man zu diesen Ergebnissen? Untersuchungen von Patienten haben gezeigt, dass eine Schädigung (Aphasie) der Broca-Region dafür verantwortlich sein kann, dass sich Menschen nicht mehr oder nur schlecht artikulieren können (typisch ist z. B: ein „Telegrammstil“). Das Verstehen von Äußerungen ist ihnen noch möglich. Ist das Wernicke-Areal geschädigt (Wernicke-Aphasie), ist das mentale Lexikon betroffen. Die Betroffenen können sich zwar flüssig artikulieren, jedoch ergibt die Äußerung keinen Sinn (vgl. Schwarz 2008, 85ff).

Diese Hirnregionen sind beim Lernen mehrerer Sprachen aktiv. Mitentscheidend für die Entwicklung von Sprachkompetenz ist der Zeitpunkt des Erwerbs: Wird eine Sprache (wir nennen sie Language 1, L1) früh und (nahezu) gleichzeitig mit einer anderen Sprache (die Language 2, L2) erworben, entwickelt das Broca-Areal ein einziges Nervenzellennetz, das für beide Sprachen verantwortlich ist. Man spricht in diesem Fall von einem simultanen Spracherwerb. Da beide Sprachen in der gleichen Region mobilisiert werden, kann es zwischenzeitlich zur Dominanz einer Sprache kommen (vgl. Jeuck 2015, 16). Bei Spätlernern ist dies nicht der Fall: Sie entwickeln separate Netze für jede Sprache (vgl. Kramer 2003). Man spricht dann von einem sukzessiven Spracherwerb. Der Vorteil des simultanen Spracherwerbs erklärt sich folgendermaßen: Muss für jede Sprache ein neues Netz mit neuen Regeln etc. konstruiert werden, ohne auf vorhandene Strukturen zurückgreifen zu können, werden mehr Ressourcen benötigt. Trotzdem können auch Spätlerner neue Sprachen auf einem sehr hohen Niveau erlernen, jedoch fällt ihnen dies schwerer (vgl. Myers 2008, 453). Faktoren wie Motivation, sprachlicher Input, Sprachlernerfahrungen und individuelle Begabung haben hier einen deutlichen Einfluss (vgl. Rösch 2011, 178).

Abb. 2.2:

schematische CT-Aufnahme. Beim frühen Zweitsprachlernen (links) wird für beide Sprachen ein Gehirnareal aktiviert, während beim späten Lernen (rechts) mehrere Areale aktiviert werden (hell- bzw. dunkelgrau).

2.2Zwei- und Mehrsprachigkeit: Was hat man davon?

Zwei- und Mehrsprachigkeit ist folglich kein Nachteil, der die sprachliche Entwicklung bremst. Ganz im Gegenteil: Mehrsprachigkeit erleichtert langfristig sprachliches Lernen, indem neu zu erlernende Sprachen in bereits bestehende multifunktionale Netze integriert und vorhandene Ressourcen und bestehende Lernerfahrungen beim Lernen der neuen Sprache genutzt werden. Ähnlich wie bei einer Person, die z.B. bereits zwei Musikinstrumente beherrscht und ein drittes dadurch leichter erlernt. Der Erwerb von Sprache hinterlässt ebenso Spuren in unserem Gehirn.

Bezüglich der Vorteile von Zwei- bzw. Mehrsprachigkeit zeichnet die Forschung ein eindeutiges Bild (vgl. z.B. Riehl 2014; Hochholzer 2015; Schweizer et al. 2012):

Die sprachliche und soziale Entwicklung wird positiv beeinflusst.

Mehrsprachigkeit führt zu Sprachbewusstheit.

Frühe Mehrsprachigkeit begünstigt die Entwicklung des Sprachzentrums im Gehirn.

Weitere kognitive Fähigkeiten, z.B. im Bereich der Mathematik und im kreativen Problemlösen, entwickeln sich positiv.

Bereits in den frühen Lebensjahren lassen sich bei mehrsprachigen Kindern Vorteile feststellen. Sie zeigen z.B. kürzere Reaktionszeiten bei Aufmerksamkeitstests und auch bei Aufgaben zur Anwendung von möglichst kreativen Lösungen (vgl. im Detail Riehl 2014, 55–61). Zudem ist eine frühe Mehrsprachigkeit eine gute Basis für das Lernen weiterer Sprachen. Im Übrigen gelten diese Vorteile auch bei einer inneren Mehrsprachigkeit, also dem Beherrschen von mindestens zwei unterschiedlichen Sprachvarietäten. Es ist für Kinder somit ein Vorteil, wenn sie z.B. mit einem Dialekt und mit einer Standardsprache aufwachsen.

Innere Mehrsprachigkeit bedeutet das Beherrschen von zwei oder mehreren Varietäten einer Sprache. Beispielsweise ist nach diesem Konzept jemand mehrsprachig, der neben der Standardsprache z.B. Niederdeutsch spricht. Äußere Mehrsprachigkeit bedeutet das Beherrschen verschiedener, eigenständiger Normsprachen. Beispielsweise ist nach diesem Konzept jemand mehrsprachig, der Deutsch und Tschechisch spricht.

Prägnant wurde dies in einer neueren Publikation des Bayerischen Kultusministeriums folgendermaßen zusammengefasst:

Nach dem gegenwärtigen Stand der Spracherwerbsforschung spricht vieles dafür, dass eine mehrsprachige Erziehung (und dies trifft sowohl für die innere wie für die äußere Mehrsprachigkeit zu) die sprachliche, kognitive und soziale Entwicklung der Kinder positiv beeinflusst. Besonders von Vorteil ist das durch aktive Mehrsprachigkeit zwangsläufig ausgeprägte Sprachbewusstsein. In Hinblick auf das weiter zusammenwachsende Europa ist dieses Sprachbewusstsein […] eine wichtige Grundlage für die muttersprachliche Sprachkompetenz, aber auch für das Erlernen von Fremdsprachen (Hochholzer 2015, 85).

Greift man den Aspekt des sprachlichen Lernens heraus, ist es „vorwiegend das Vorhandensein eines zweiten Systems von Sprache […], das die Sprachaufmerksamkeit und die Entwicklung von Sprachbewusstheit anstößt“ (Oomen-Welke 1999, 17). Erwerben wir weitere Sprachen, werden wir auf die Besonderheiten einer Sprache aufmerksam. Das Kontrastieren bewirkt ein Aufmerksamwerden auf Unterschiedliches und Gemeinsames und kann somit die Entwicklung von Sprachbewusstheit und Sprachreflexion anbahnen. Dieses „Heben“ von Unterschieden zwischen Sprachen auf die individuelle Bewusstseinsebene kann für das weitere Erlernen von Sprachen genutzt werden, indem der Fokus z.B. auf sprachliche Strukturen, auf Besonderheiten in der Grammatik gelenkt und daran gearbeitet bzw. geübt wird. Erwirbt man z.B. Deutsch und Russisch, dann wird man bemerken, dass die eine Sprache mit, die andere ohne Artikel auskommt (selbst wenn eine entsprechende Benennungskompetenz in Bezug auf die Wortart noch gar nicht entwickelt ist).

Kanadische Forscher haben nachgewiesen, dass sich Mehrsprachigkeit sogar bei der Entstehung von Alzheimer-Erkrankungen und auf deren Symptome auswirkt: Mehrsprachige verfügen bei gleichem pathologischen Befund in Bezug auf Alzheimer über mehr kognitive Reserven als einsprachige Testpersonen (vgl. Schweizer et al. 2012). Die durch die Verarbeitung von zwei- oder mehreren Sprachen aufgebauten kognitiven „Reserven“ können helfen, die geistigen Fähigkeiten länger aufrechtzuerhalten.

Die Vorteile sowohl einer inneren als auch einer äußeren Mehrsprachigkeit werden inzwischen auch vermehrt in der didaktischen und linguistischen Forschung vertreten (z.B. Roche 2013). Nicht zuletzt waren diese beiden Konzepte wiederholt prüfungsrelevante Themen in den schriftlichen Staatsexamensprüfungen in Bayern. So lautete ein Prüfungsthema im Fach Didaktik Deutsch als Zweitsprache aus dem Jahr 2017 folgendermaßen:

Der Sprachvergleich ist eine wichtige Lern- und Vermittlungsstrategie für das Sprachenlernen. Begründen Sie dies und legen Sie unter Zugrundelegung der Unterscheidung zwischen äußerer und innerer Mehrsprachigkeit dar, welche didaktisch-methodischen Ansätze zum Sprachvergleich genutzt werden können! (Staatsexamen Didaktik Deutsch als Zweitsprache, Herbst 2017)

Die Themenstellung zum bayerischen Staatsexamen ist progressiv und modern. Man hat zweierlei erkannt: Die heutige Schülerschaft ist mehrsprachig geprägt. Auch wenn nicht jede Schülerin bzw. jeder Schüler in einer Klasse zweisprachig aufwächst, so ist er/sie durch mediale und persönliche Kommunikation damit regelmäßig konfrontiert. Ein Großteil der Schülerinnen und Schüler dürfte sowieso mindestens eine Zweisprachigkeit mitbringen. Nach Auskunft des statistischen Bundesamts hat ein Fünftel der Bevölkerung einen Migrationshintergrund und hält sich damit zumindest teilweise in einem mehrsprachigen Umfeld auf. Ähnliches gilt für Kinder und Jugendliche z.B. im ländlichen süddeutschen Raum, wo regionale Varietäten noch Alltagssprache sind. Eine Lehrerbildung, die wie bisher einseitig auf das „monolinguale Klassenzimmer“ (Kniffka & Siebert-Ott 2012, 26) ausgerichtet ist, geht an der Realität völlig vorbei und ist nicht mehr angemessen. Der „monolinguale Habitus der multilingualen Schule“ (Gogolin 2008), ja des ganzen deutschen Bildungswesens, ist überholt und inzwischen Teil der didaktischen Mottenkiste.

Im Zusammenhang mit dem gerade skizzierten Konzept von innerer und äußerer Mehrsprachigkeit ist auch der Ausdruck Bildungssprache zu thematisieren. Er ist die „Leitvokabel im aktuellen bildungspolitischen und pädagogischen Diskurs“ (Feilke 2012, 4). Im Gegensatz zu anderen Varietäten des Deutschen (z.B. Kölsch, Bairisch oder Kiezdeutsch) ist Bildungssprache nicht regional, sondern durch ein Inventar sprachlicher Mittel definiert, das überregional in spezifischen Verwendungskontexten (Bildungsinstitutionen Schule, Uni etc.) relevant ist. Die lexikalischen, syntaktischen, grammatikalischen etc. Erwartungen an dieses Register sind „kommunikativ auf vorwiegend schriftliche Situationen bezogen, auch wenn es zugleich medial mündlich in Gebrauch ist“ (Feilke 2012, 6). Da die Bildungssprache als Teil des Varietätenspektrums des Deutschen in ihrer sprachlichen Struktur bisher kaum systematisch und überzeugend beschrieben wurde, haben wir hierzu ein eigenes Kapitel integriert (vgl. Kapitel 05). Bildungssprache dürfte die Varietät darstellen, der bisher von sprachwissenschaftlicher Seite am wenigsten Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Dies ist insofern sehr verwunderlich, ja problematisch, als der Ausdruck einen festen Platz im didaktischen und schulischen Bereich hat, gleichzeitig jedoch inhaltlich nicht ausreichend definiert ist.

Häufig wird Bildungssprache mit dem Konzept der Cognitive Academic Language Proficiency (CALP) nach Jim Cummins (2008) gleichgesetzt. Cummins führte dieses Konzept in die Zweitsprachdidaktik ein und grenzt es von den Basic Interpersonal Communicative Skills (BICS) ab. Die Deutsch als Zweitsprache-Didaktik sieht unter anderem in der Erreichung von CALP zurecht ein bedeutendes Lernziel. Genaueres zu BICS und CALP erfahren Sie in Kapitel 05.

2.3Ein Stück vom „Kuchen“ abbekommen

Die kognitiven Grundfähigkeiten („Intelligenz“) spielen – von Störungen abgesehen – bei der Entwicklung kommunikativer Kompetenzen eine eher geringe Rolle (vgl. Jude 2008, 26). Entscheidend dafür, ob wir als kompetente Sprecher wahrgenommen werden, sind die Erwartungen an uns und wie wir ihnen gerecht werden. Seit den Forschungen des amerikanischen Linguisten Noam Chomsky unterscheidet man deshalb zwischen dem, was ein Subjekt (können) kann (Kompetenz), und dem tatsächlich gezeigten Verhalten (Performanz). Die Konsequenz daraus ist bis heute, dass Kompetenz selbst nicht messbar ist. Wir können nur auf sie schließen, z.B. durch Tests. Dieser nur indirekte Zugang zur Ermittlung von Kompetenz zeigt sich im Übrigen auch bei der Formulierung von Lernzielen, die Lernergebnisse (beobachtbare Produkte) beschreiben.

Überspitzt gesagt: Wenn ich nie spreche (Performanz), werde ich sicher nicht als kompetenter Sprecher wahrgenommen. Auch wenn ich vielleicht ein guter Sprecher wäre, also die entsprechende Kompetenz mitbringe. Die Sprachhandlungsfähigkeit erweist sich damit als wesentliches Ziel des Deutschunterrichts, sie soll über „die bloße Befähigung zur sprachlichen Bewältigung von Lebenssituationen“ (Budde et al. 2012, 47) hinausgehen. Schüler sollen beispielsweise nicht nur eine Breze oder eine Fahrkarte kaufen können, sondern sich auch mit der ästhetischen Qualität von Sprache auseinandersetzen, indem sie z.B. Gedichte daraufhin analysieren.

In der aktuellen Kompetenzdiskussion hat sich v.a. Weinerts allgemeine und fachübergreifende Definition als einflussreich erwiesen. Er definiert Kompetenz als

die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können (Weinert 2001, 27; Herv. v. Verf.).

Versuchen wir Weinerts Definition zu sezieren: Vordergründig geht es zunächst einmal um das Problemlösen. Im Deutschunterricht lösen wir, je nach Medium und Konzeption, verschiedene Probleme: Warum schreibe ich rennen mit <nn>? (Rechtschreibung). Warum heißt es nicht *nach rannte er ihm? (Grammatik). Wie strukturiere ich meinen Text (Textlinguistik)? Stellen Sie sich diese Problembereiche der Sprache wie eine Torte mit mehreren Tortenstücken vor. Wir können die Teilbereiche des Deutschunterrichts als solche Tortenstücke begreifen. Sie bilden gemeinsam die Sprachkompetenz als Ganzes.

Die Teilbereiche des Deutschunterrichts sind Sprache untersuchen (Grammatik), Lesen, literarisches Lernen (inkl. Kinder- und Jugendliteratur), Medien, Rechtschreiben, Texte verfassen, Sprechen, Gespräche führen und Zuhören. In diesem Buch werden Lesen, Literatur und Medien nicht behandelt. Sie sind traditionell Gegenstand der Literatur- und Mediendidaktik, nicht der Sprachdidaktik.

In jeder dieser Dimensionen können sprachliche Probleme, die wir z.B. durch die Analyse eines schulischen Schreibauftrags erkannt haben, auf unterschiedlichen Ebenen auftreten. Es handelt sich bei ihnen zunächst immer um kognitive Aspekte: Sie können beim Individuum bereits verfügbar (gelernt) oder zumindest potentiell (künftig) erlernbar sein. Es handelt sich also um Wissen, das erworben wurde/wird. Dieses Wissen soll den Kern unseres Modells bilden. Übrigens: Ist Ihnen aufgefallen, dass hier der Performanzaspekt, also die Anwendung des Wissens, noch fehlt? Das Gedächtnis ist damit zentral für den ersten Teil dieser Kompetenzdefinition.

Die Definition Weinerts weist darüber hinaus eine Zweiteilung auf („sowie“): Kompetenz wird zwar einerseits als kognitive Problemlösefähigkeit verstanden, andererseits, betont Weinert, ist sie von weiteren Bedingungen abhängig, die im Subjekt oder in der Umwelt verankert sein können. Sie bilden die zwei weiteren Ebenen des Konstrukts und beeinflussen die Performanz, also die Sprachverwendung in konkreten, variablen Situationen.

Modelle für alle Lernbereiche, die nach Weinerts Konzept erstellt wurden und jeweils die einschlägigen Grundlagen vereinen, finden sich bei Schilcher (2018).

In Analogie zu anderen Modellen (vgl. insbesondere Rosebrock & Nix 2014 zum Lesen; Lischeid 2014 zu Grammatik) schlagen wir daher eine Erweiterung und Dreiteilung des Konzepts der Sprachkompetenz vor, die sich durch alle Teilbereiche (Dimensionen) des Faches zieht. Die Teilbereiche beeinflussen sich gegenseitig.

Abb. 2.3:

Dimensionen von Kompetenz

Den inneren Kern unseres Modells bildet also die kognitive Ebene. Sie umfasst implizite und explizite, d.h. unbewusste bzw. bewusstseinsfähige, Wissensbestände:

Viele deklarative (= Faktenwissen) und prozedurale (= Handlungswissen) Wissensbestände liegen in Hinblick auf Sprachproduktion und Rezeption implizit vor. Wir können auf Sie automatisiert zugreifen, ohne uns jedes Mal die Regelhaftigkeiten und Abläufe bewusst machen zu müssen. Müssen Sie nachdenken, wie man ein <u> schreibt? Wohl nicht. Ein Schreibanfänger dagegen schon. Gleiches gilt für das Wissen und Können, das sprachreflexive Akte betrifft. Wir bezeichnen diese Wissensbestände im Alltag häufig als „Sprachgefühl“. Tatsächlich handelt es sich dabei aber um Mechanismen, die Sprache zum Gegenstand machen (Sprachbewusstheit) und das Nachdenken über verschiedene Aspekte (Reflexion i. e. S.) erlauben. Erinnern Sie sich an obenstehende Beispiele zum Kiezdeutschen und zum Bairischen? Lassma den Butter, Lan (oder so ähnlich). Wie haben Sie Ihre Entscheidung begründet? Sprachbewusstheit ist eine zentrale Kategorie von Sprachunterricht, da sie die Aufmerksamkeit auf sprachliche Phänomene richtet. Budde et al. (2012, 32) betonen außerdem das rekursive Verhältnis von Sprachreflexion und Sprachbewusstheit: „Sprachbewusstheit stellt eine wesentliche Voraussetzung für sprachreflexive Tätigkeiten dar, ist jedoch zugleich auch das Ergebnis von Sprachreflexion.“ Diese Tätigkeiten sind auch Voraussetzung für eine Reflexionsfähigkeit über die Sprache als System und über den Sprachgebrauch an sich, z.B. in Form von Sprachkritik.

Hinzu kommt explizites Wissen, das systematisch und deklarativ über Sprache und ihren Gebrauch gespeichert ist: „Ein Grundprinzip der Rechtschreibung ist die Phonem-Graphem-Korrespondenz“, „ich spreche meinen Chef nicht mit Hey Du an“ usw. Es bezeichnet im Wesentlichen Sachverhaltswissen (z.B. Ich weiß, dass man eine Kuh mit Kuh bezeichnet) und entsteht durch das Lernen von Fakten wie z.B. Vokabeln oder Rechtschreibregeln (vgl. Gerrig & Zimbardo 2008, 234). Es liefert in dieser Form allerdings keine Strategien, um sprachliche Probleme zu lösen, sondern nur „Bausteine“ dazu (vgl. Ossner 2008, 45).

Als Folge der Outcome-Orientierung, also der Orientierung an Sprachproduktion im Rahmen der Kompetenzdiskussion der letzten Jahre, fokussieren viele Kompetenzmodelle (z.B. Ossner 2008) diese kognitive Ebene, da ihre Facetten im Gegensatz zu den anderen Ebenen in der Regel gut messbar sind. Sie werden in den entsprechenden Kapiteln dieses Buches dargestellt.

Ossner (2008) unterscheidet im Wesentlichen drei Wissensarten: Prozess-, Problemlöse- und das Reflexionswissen, das jeweils (implizit oder explizit) zur En- und Dekodierung von Sprache benötigt wird. Sie können jeweils hierarchieniedrigere (basale) oder -hohe Aspekte betreffen. Prozesswissen (Prozedurales Wissen) bezeichnet das Können, das automatisierte Beherrschen von Fertigkeiten oder Methoden (z.B. Kuh schreibt man K-u-h). Es „bezieht sich auf die Art und Weise, wie Sie behalten, wie Dinge getan werden. Es wird genutzt, um sich perzeptuelle, kognitive und motorische Fertigkeiten anzueignen, sie aufrechtzuerhalten und sie anzuwenden.“ (Gerrig & Zimbardo 2008, 234). Problemlösewissen heißt, dass jemand über „Strategien zur Bewältigung von Problemsituationen“ (Ossner 2008, 32) verfügt (z.B. Ich kann die Schreibweise von Kuh im Wörterbuch nachschlagen). Reflexionswissen, auch Metakognitives Wissen („Wissen über Wissen“), umfasst Erfahrungen, die aufgrund unseres sprachlichen Handelns gemacht werden (z.B. ich vergesse bei Kuh oft das <h>) und steuert die Anwendung der bzw. Aufmerksamkeit für die anderen Wissensarten.

Die sprachlichen Erfahrungen, die wir sammeln und abspeichern, haben Auswirkungen auf das Subjekt als solches. Die zweite Ebene unseres Modells bildet daher eine Subjektebene. Sie umfasst alle affektiv-personalen Aspekte. Wer schon einmal in der Schule unterrichtet hat, weiß, dass der Habitus (am ehesten wohl mit ‚Einstellungen, Gewohnheiten’ übersetzbar) und die Motivation der Schülerinnen und Schüler eine wesentliche Rolle für die Bereitschaft spielen, sich mit Lerngegenständen auseinanderzusetzen. Der Habitus resultiert aus einer Vielzahl von Lernerfahrungen (und dem damit verbundenen Selbstwirksamkeitserleben), die sich zu Gewohnheiten des Denkens, Fühlens und Handelns verfestigen.

Gerade im DaZ-Bereich spielt die Gelegenheit, positive sprachliche Erfahrungen in der L2 zu machen, eine wichtige Rolle. Jeuck (2015, 38) zufolge betrifft dies „die zur Verfügung stehende Zeit und Energie, die Kommunikations- und Kontaktmöglichkeiten, die Qualität der Kommunikationsbedingungen, die Konzeption und Qualität des Unterrichts“. Fehlen solche Gelegenheiten, kann es zu einer negativen Einstellung gegenüber der Zielsprache kommen. Motivation, Interessen, Leistungsbereitschaft etc. sind wesentliche Faktoren, um die Schwelle zum „Jetzt-geht’s-los“ zu überschreiten und sich mit Sprache zu beschäftigen (vgl. Jeuck 2015, 38f; Hayes 2012, 372). Dabei ist „Motivation […] der allgemeine Begriff für alle Prozesse, die der Initiierung, der Richtungsgebung und der Aufrechterhaltung physischer und psychischer Aktivitäten dienen“ (Gerrig & Zimbardo 2008, 414; Herv. v. Verf.). Sie kann extrinsisch („von außen gesteuert“) oder intrinsisch („von innen heraus“) vorliegen. Die Motivation, sich mit Sprache auseinanderzusetzen, kann zudem je nach Dimension variieren. Sie ist aber immer notwendig, um sprachliche Phänomene (auch aus ästhetischer Sicht) wahrzunehmen und sich mit ihnen (sei es gesteuert oder ungesteuert) auseinanderzusetzen.

Vergleichen Sie die beiden folgenden Aussagen. Welche ist eher intrinsisch, welche eher extrinsisch: Ich möchte eine gute Note im Rechtschreiben vs. Ich möchte weniger Fehler bei der Großschreibung machen. Es dürfte offensichtlich sein, welche Art der Motivation langfristig zu den günstigeren Lernprozessen führt: Eine intrinsische Motivation führt dazu, den „Stoff“ beherrschen zu wollen und damit idealiter zu einer internalen stabilen Attribution. Nach Köhnen (2011, 33) lässt sich deshalb Lern- und Leistungsmotivation im Sprachunterricht v.a. dadurch fördern, indem man ein realistisches Anspruchsniveau setzt, bei der Erklärung von Misserfolg/Erfolg günstige Attributionsmuster sowie eine positive Selbstwertbilanz anstrebt (Freude über Erfolg > Ärger über Misserfolg).

In allen Kontexten von Lernen suchen wir Gründe für Erfolge bzw. Misserfolge. Sie werden durch das Individuum selbst (= internal) oder durch Außenfaktoren (= external) beschrieben. Nach Holodynski & Oerter (2008, 548) erklären wir Leistungen entweder durch unsere Fähigkeiten (internal-stabil), durch besondere Anstrengung (internal-variabel), durch die Schwierigkeit der Aufgabe (external-stabil) oder Glück bzw. Pech (external-variabel). Anzustreben sind internal-stabile Attributionen.

Die Entwicklung eines bestimmten Habitus (z.B. „Ich bin ein guter Schreiber“) ist davon abhängig, in welcher Funktion wir uns jeweils mit Sprache auseinandersetzen bzw. diese gebrauchen: Zum Wissenserwerb, zur Unterhaltung, zur (ästhetisch-kulturellen) Bildung. Dadurch geraten unterschiedliche Aspekte von Sprache in den Blick. Domänenspezifisch können daher Unterschiede bestehen: Lesen Sie z.B. lieber Sachtexte oder Romane?

Die soziale Ebene bildet den äußersten Kreis unseres Modells. Hierbei handelt es sich v.a. um die sozialen Beziehungen, in denen Kommunikation (mit und über Sprache) stattfindet sowie die damit verbundenen Kontexte. Das Spektrum reicht von eher informellen Situationen (Familie, Freunde, Bekannte), institutionellen (Schule, Universität etc.) bis hin zu öffentlichen Situationen (Zeitung, Zeitschrift, Theater, Radio etc.). Eine Teilkompetenz stellt hier die Fähigkeit und Fertigkeit dar, das entsprechende sprachliche Register zu wählen (vgl. Kapitel 10). Also z.B. die Beantwortung der Frage, ob die Varietät Kiezdeutsch bei einem Referat in der Schule angemessen sein kann. Bereits zuvor haben wir angesprochen, dass auch der Spracherwerb an den Kontext gebunden ist. Folgendes Beispiel (nach Jeuck 2015, 16) illustriert dies. Stellen Sie sich vor, ein Kind spricht mit seinen Eltern nur Türkisch. Wenn das Kind mit seinen Eltern beispielsweise Eisenbahn spielt, erwirbt es spezifischen Wortschatz; wenn es aber nicht auch in einem deutschsprachigen Kontext Eisenbahn spielt, wird es keinen deutschen Wortschatz für diesen Bereich erwerben. Dies kann dazu führen, dass das Kind sich in der L2 dazu kaum äußert, Objekte als Ding benennt oder dafür Wörter aus dem Türkischen entlehnt (vgl. Jeuck 2015, 16).

In die soziale Ebene lässt sich auch das Modell der Sprachdynamik integrieren (vgl. Schmidt & Herrgen 2011). Dieses Modell geht davon aus, dass Sprecher ihr Sprachverhalten gegenüber ihren Kommunikationspartnern variieren und den entsprechenden Kontexten jeweils anpassen (vgl. Schmidt & Herrgen 2011, 29). Dieses Modell spricht in so einem Fall von einer Mikrosynchronisierung, wenn es eine Einzelsituation zwischen zwei Kommunikationspartnern betrifft. Eine Schülerin, die mit einem Mitschüler spricht, wird ihre Sprache in eine andere Richtung synchronisieren (z.B. in Richtung Jugendsprache) als bei einem Gespräch mit der Schulleiterin, wo eventuell eine gegenseitige Synchronisation in Richtung einer standardnahen Varietät erfolgt. Solche „Anpassungsvorgänge“, die nicht nur in der mündlichen, sondern auch in der schriftlichen Kommunikation erfolgen können, sind als Kompetenzen auf der sozialen und auf der kognitiven Ebene zu verorten. Schmidt & Herrgen (2011) gehen in ihrem Sprachdynamikmodell über die Synchronisierung auf der Mikroebene hinaus. Wichtige Bausteine ihrer Theorie sind weitere Synchronisierungsakte, die als Meso- und Makrosynchronisierungen bezeichnet werden. Mesosynchronisierungen verstehen sie als „Herausbildung gruppen- und situationsspezifischer sprachlicher Konventionen“ (Schmidt & Herrgen 2011, 31). Sie beziehen sich auf Sprachgemeinschaften innerhalb von Gruppen wie Klassenverband oder Peergroup. Makrosynchronisierungen sind „Synchronisierungsakte, mit denen Mitglieder einer Sprachgemeinschaft sich an einer gemeinsamen Norm ausrichten“ (Schmidt & Herrgen 2011, 32). Eine Norm bildet dabei die standardsprachliche Schriftsprache. Es sind jedoch auch weitere Normen denkbar, die im Fokus einer Makrosynchronisierung stehen können, wie z.B. Formen eines regionalen Standards.

Ein weiterer Aspekt von Sprachkompetenz soll hier ebenfalls erwähnt werden. Er ist als „Außenperspektive“ sowohl auf der kognitiven als auch auf der sozialen Ebene zu verorten: Wie bewerten wir sprachliche Äußerungen? Sind wir als Sprecher durch sprachliche Ideologien „voreingenommen“? Bedeutsam für unsere Überlegungen ist vor allem die Ideologie der Homogenität einer Sprache (vgl. Maitz & Elspaß 2013, 35–36). Sie geht davon aus, dass eine Sprache tendenziell homogen, eher frei von Einflüssen anderer Sprachen und eigener Dialekte sein soll. Vorstellungen, die hiermit verbunden sind, äußern sich in Form von Attributen wie reine, schöne oder unverfälschte Sprache. Sprachliche Variation, generell eine Vielfalt in Äußerungen wird bei einem solchen „Glaubensgrundsatz“ als eher unerwünscht, ja teilweise als sprachbedrohend wahrgenommen. Zieht man jedoch beispielsweise die Karten des online verfügbaren Atlas zur deutschen Alltagssprache (AdA, Elspaß & Möller 2003) heran, wird schnell klar, dass sprachliche Variation auch in der gesprochenen Standardsprache völlig normal ist.

Um zu unserem bereits am Beginn dieses Kapitels präsentierten Wort der/die Butter zurückzukommen, empfiehlt sich folgende Karte des AdA: http://www.atlas-alltagssprache.de/runde-5/f15a-f/

Eine Auseinandersetzung mit der verbreiteten, jedoch falschen Annahme, dass eine Sprache möglichst homogen sein sollte, kann im Unterricht unter anderem mit den Karten des AdA angeregt werden. Aber auch verschiedene im Internet verfügbare Videos, die die vermeintliche Reinheit der deutschen Sprache thematisieren, können eine Diskussion im Klassenzimmer anregen. Hierzu bieten sich die folgenden Videos an. Das erste setzt sich mit der Bewertung von Jugendsprache, das zweite mit Kiezdeutsch auseinander.

„Jugendsprache – Wandel statt Verfall?“ (13.11. 2018):

https://www.youtube.com/watch?v=Rwcsry3mXvQ

„Guckst du Beitrag über Sprache!“ (13.11.2018):

https://www.youtube.com/watch?v=DL4XS4FOw_s

Einen differenzierten, wertneutralen Blick auf die Gesamtheit einer Sprache, inklusive ihrer alten und neuen Varietäten und Varianten, ihrer Heterogenität also, sehen wir als Teil der Sprachkompetenz auf der sozialen Ebene an. Dies ist vor allem deshalb relevant, um der Diskriminierung aufgrund einer heterogenen Sprachverwendung entgegenzuwirken, die im deutschsprachigen Raum eine lange Geschichte aufweist: Viele Generationen von Dialektsprechern haben z.B. in der Schule wiederholt eine Abwertung ihrer L1 erfahren müssen (zu den verschiedenen Facetten sprachlicher Diskriminierung siehe z.B. König 2015). Genauere Vorschläge zur Didaktik und Methodik in Bezug auf sprachliche Ideologien und deren Behandlung im Deutschunterricht finden sich in Eller-Wildfeuer & Wildfeuer 2018.

Vollmer & Thürmann (2013, 47f) weisen darauf hin, dass auch der Fachunterricht z. T. hohe sprachliche Anforderungen stellt, die sich auf den Lernerfolg auswirken. Sie sind maßgeblich von drei Dimensionen abhängig:

Welche Inhalte und Methoden werden gelernt?

Welche Zeichensysteme, Genres, Modalitäten müssen erworben werden (z.B. Symbole in der Mathematik: plötzlich schreibt man das <R> leicht anders und es auch hat eine andere Bedeutung)?

Welche kognitiv-sprachlichen Funktion müssen in Hinblick auf den Diskurs beherrscht werden?

Sie kommen zu den allgemeinsprachlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten hinzu bzw. sind in diese eingebettet. Eng damit hängt daher die Textkompetenz und Diskursfähigkeit zusammen, d. h. die Fähigkeit, (domänenspezifisch) Textualität herzustellen und diesbezüglich über verschiedene Strategien zu verfügen, verbunden mit einem entsprechenden Repertoire sprachlicher Mittel (vgl. Kapitel 07 und 08).

2.4Kompetenzen und Kompetenzniveaus

Für den schulischen Kontext ist es wichtig, dass Schülerinnen und Schüler über Fähigkeiten und Fertigkeiten unterschiedlichen Niveaus verfügen. Die zur Lösung eines bestimmten komplexen oder weniger komplexen Problems benötigten Fähigkeiten und Fertigkeiten lassen sich entsprechend in Niveaustufen einteilen. Die Schulleistungsstudie PISA definierte für die Lesekompetenz z.B. fünf Stufen. Höhere Niveaustufen schließen dabei i. d. R. die darunterliegenden mit ein.

Abb. 2.4:

Kompetenzniveaus

Die gleiche Idee findet sich in den schulischen Curricula. Kompetenzen sollen in der Reihenfolge gelernt und vertieft werden, in der sie aufeinander aufbauen. Darum beginnt man z.B. in der Grundschule mit dem Schriftspracherwerb und nicht mit dem Schreiben komplexer Argumentationen.

Den Zielzustand, also die Kompetenzen, die zu bestimmten Zeitpunkten der Bildungslaufbahn beherrscht werden sollen, definieren für Deutschland die sogenannten Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz (KMK). Sie sind online oder gedruckt erhältlich, vgl. hierzu das Literaturverzeichnis. Die Bildungsstandards lassen sich – wie auch die Lehrplaninhalte – im Hinblick auf Jahres- oder Sequenzpläne weiter zerlegen und für Einzelstunden operationalisieren

Übrigens: Einen Lehrplan für Deutsch als Zweitsprache für Bayern finden Sie auf den Internetseiten des Staatsinstituts für Schulqualität und Bildungsforschung (ISB).

2.5Kompetenzorientiert Unterrichten

Was ist nun die Aufgabe einer Lehrkraft in diesem Zusammenhang? Unterrichtsqualität kann im Sinne Helmkes (2014, 70ff) als ein Angebot-Nutzungs-Modell beschrieben werden. Das Angebot – der Unterricht – wird v.a. durch die Lehrkraft (Professionswissen, diagnostische Kompetenz, Erwartungen/Ziele etc.) und den schulischen Kontext (gesellschaftliche Rahmenbedingungen, Schulform, Klassenzusammensetzung und -klima etc.) bestimmt. Welche Lernaktivitäten stattfinden, d.h. welchen Nutzen Schüler daraus ziehen können, hängt einerseits davon ab, wie der Unterricht wahrgenommen und interpretiert wird („bringt mir das überhaupt etwas?“), andererseits davon, welche Lernpotentiale bei den Kindern vorliegen (Vorkenntnisse, Sprachenrepertoire, Interessen etc.). Natürlich spielen Kontext, aktive schulische und außerschulische Lernzeit hier ebenfalls eine Rolle.

Abb. 2.5:

Angebot-Nutzungsmodell (Helmke 2014, 71)

Das heißt für den Erst- und Zweitsprachunterricht: Er muss die Sprache als solche thematisieren, mit ihr auf vielfältige Weise operieren und zur Sprachreflexion anregen, um Sprachbewusstheit aufzubauen. Zudem sollte er Ideologien zur Sprachverwendung thematisieren und somit sprachlicher Diskriminierung entgegenwirken.

Sprechen über Sprache setzt Metasprache voraus. Dies bezeichnet die Sprachverwendung, durch die Sprache aus einer distanzierten, dekontextualisierten und deautomatisierten Perspektive heraus beschrieben werden kann (vgl. Bußmann 2008, 436; Bredel 2013, 22f).

Auf Basis fachlich fundierter Kompetenzmodelle muss daher diagnostiziert werden, was Schüler bereits wissen bzw. können, um den Ausgangspunkt einer effektiven Förderung festzustellen und diese konstruktiv unterstützen zu können (vgl. Kunter & Trautwein 2013, 76f). Dazu müssen wir als Lehrkräfte auch wissen, welche Kompetenzen sich wie entwickeln! Ansonsten über- oder unterfordern wir die Lernenden. Beides wirkt sich negativ auf den Erwerb von Kompetenz aus. Möglichkeiten, den individuellen Lernstand von Schülern zu erfassen, sind in den entsprechenden Kapiteln beschrieben.

Die Ziele, d.h. was die Schülerinnen und Schüler langfristig wissen bzw. können sollen, können wir einerseits aus den Bildungsstandards und darauf basierenden Lehrplänen ablesen, andererseits aus Kompetenzmodellen. Die einzelnen Stunden einer thematischen Unterrichtseinheit bilden die Trittsteine von der zuvor festgestellten Ausgangslage bis hin zu dem angestrebten Ziel. Das Sprachmaterial, mit dem wir arbeiten, wird nach dieser Funktion ausgewählt, z.B. mit Fragen wie „Kann die Funktion von Adjektiven mit einem Auszug aus einem Schülertext untersucht werden?“. Kognitiv aktivierende Aufgaben (vgl. Kunter & Trautwein 2013, 76f) dienen dabei als „Transmissionsriemen“ zur Entdeckung sprachlicher Phänomene, Strukturen, Strategien o.Ä. (Vgl. Abb. 2.6.)

Abb. 2.6:

Aspekte der Unterrichtsplanung (aus dem Mitgliederbrief SDD11/2005; Ossner 2005, 2)

Kniffka & Siebert-Ott (2012, 94f) betonen insbesondere für L2-Lerner sechs Prinzipien für den Unterricht.

Erstens sollten die Lernenden im Unterricht die Möglichkeit haben, sprachlich zu handeln. Sie sollten Sprache in unterschiedlichen Kontexten und mit unterschiedlichen Strategien einsetzen, Systematiken, Bedeutungen und Verstehen aushandeln.

Diese Kommunikationsanlässe (sei es schriftlich oder mündlich) sollten zweitens nach Möglichkeit authentisch und bedeutsam sein, der Sprachgebrauch der Kommunikationssituation angemessen (niemand erwartet z.B., dass sich Schüler gegenseitig mit Guten Tag oder Grüß Gott begrüßen). Ist dies nicht möglich, bieten sich Simulationen an oder man ermöglicht authentische Sprachverwendung durch den Besuch von außerschulischen Lernorten. Produktion und Rezeption sollten dabei den gleichen Stellenwert besitzen.

Drittens sollten sich die Schüler Systematiken durch kognitiv anregende Aufgaben selbst erschließen können. Lernergebnisse sind so nachhaltiger verankert.

Die Lehrenden treten viertens in diesem Unterricht zurück: Sie haben die Aufgabe, entsprechende Lernangebote (s.o.) zu schaffen und die Lernenden in ihrem Lernprozess zu unterstützen.

Grammatik hat fünftens, wie auch andere Teilbereiche, dienende Funktion: Sie wird nicht als Selbstzweck vermittelt, sondern hilft sprachliche Probleme zu lösen und Metasprache aufzubauen.

Sechstens ist eine „systematische didaktische Einbeziehung der Herkunftssprache (als Gegenstand und Medium des Unterrichts)“ (Ossner 2008, 59) nicht nur sinnvoll, sondern oftmals nötig. Die Didaktik und Methodik hat sich dabei auch an den mehrsprachigen Verhältnissen und Ressourcen der Schüler zu orientieren.

3Sprache als System beschreiben: Linguistische Grundlagen

Alfred Wildfeuer

Lernziele

In diesem Kapitel lernen Sie (,) …

dass die interne Grammatik (das in unserem Gehirn abgelegte Regelsystem) und die externe Grammatik (z.B. abgedruckt in einem Regelwerk) nicht identisch sind.

dass verschiedene Modelle zur Beschreibung der Grammatik existieren.

welche Grammatikmodelle im Unterricht verwendet werden.

mehr zu den wichtigsten Inhalten der Valenz- und Dependenzgrammatik, des Feldermodells und der Konstruktionsgrammatik.

weitere Grundbegriffe aus dem Bereich der Sprachbeschreibung kennen.

In diesem Kapitel lernen Sie nicht …

ausführlich ein oder mehrere grammatische Beschreibungsmodelle kennen. Hierzu gibt es zahlreiche aktuelle Literatur.

Ziel des Deutschunterrichts ist es, Schülerinnen und Schüler sowohl mit Deutsch als Erst- als auch Deutsch als Zweitsprache beim Erwerb und beim Erlernen einer Sprachkompetenz zu unterstützen. Die Auseinandersetzung mit dem Regelsystem Grammatik und den entsprechenden Beschreibungsmodellen ist für die Lehrkraft ein essentieller Aspekt. Lehrerinnen und Lehrer werden als Sprachexperten wahrgenommen und sollen es tatsächlich auch sein. Eine grundlegende Beschreibungs- und Erklärungskompetenz in Bezug auf das deutsche Sprachsystem – und idealerweise auch in Bezug auf weitere Sprachen – gehört zu den Basiskompetenzen einer Lehrkraft und ist Teil der Professionalität dieser Berufsgruppe. So wie wir von einem Automechaniker erwarten, dass er Ahnung vom Funktionieren einer Bremse hat, oder von einem Kardiologen, dass er den Unterschied zwischen linker und rechter Herzkammer erklären kann, so wird an Lehrkräfte die berechtigte Forderung herangetragen, Wissen zur Struktur von Sprache zu besitzen. Dies ist im Übrigen seit der COACTIV-Studie auch empirisch – zumindest für den Mathematikunterricht – sehr gut belegt: Schüler, die von fachlich kompetenten Lehrerinnen und Lehrern unterrichtet werden, schneiden in Tests besser ab. Sollte Ihnen also im Referendariat eine Deutschlehrkraft erzählen, auch sie wäre ohne Wissen zum Aufbau von Sprache gut im Unterrichten: Haben Sie große Zweifel an einer solchen oder ähnlichen Aussage.

 

Lesen Sie sich den folgenden Text durch. Überlegen und erklären Sie, wie im Deutschen Sätze aufgebaut werden. Erläutern Sie den Unterschied zwischen Wort und Satzglied.

GEO WISSEN Nr. 40 „Das Geheimnis der Sprache“ – Seite 56–57 „Dornenreich und Kinderleicht“; Grafik: © illuteam.de

Sprachfördernder Unterricht ist auf der Grundlage von fachlich fundierten Modellen zu planen und mit Blick auf aktuelle Erkenntnisse in der Sprachwissenschaft zu reflektieren. Als Teil des Arbeitsbereichs Sprache und Sprachgebrauch untersuchen der nationalen Bildungsstandards ist der Umgang mit Grammatik bzw. die Berücksichtigung von Grammatikmodellen fester Bestandteil des Unterrichts. So steht in den Bildungsstandards im Fach Deutsch für den Primarunterricht (KMK2004, 9), dass die Schülerinnen und Schüler „über ein Grundwissen an grammatischen Strukturen, [über] einen Grundbestand an Begriffen und Verfahren zum Untersuchen von Sprache“ verfügen. Schülerinnen und Schüler sollen darüber hinaus „Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Sprachen entdecken“ (KMK2004, 13) und „grundlegende sprachliche Strukturen und Begriffe erkennen und verwenden“ (KMK2004, 13).

Welche Kompetenzen Schülerinnen und Schüler im Rahmen des Arbeitsbereichs Sprache und Sprachgebrauch untersuchen erwerben sollen, erfahren Sie genauer in Kapitel 04.

3.1Zu den Beschreibungsmodellen der Grammatik

Sprache ist die Infrastruktur im Land des Denkens

(Rainer Kohlmayer (aus aviso 2/2016, 28))

In diesem Zitat ist die Aussage inkludiert, dass wir über eine Infrastruktur im Gehirn verfügen, die mit Sprache und Denken zu tun hat. Sicher ist, dass wir im Laufe des Spracherwerbs Strukturen aufgebaut haben, die uns – als kompetente Sprecher – die Produktion und Rezeption korrekter, situationsangemessener sprachlicher Äußerungen ermöglichen. Diese Struktur lässt sich als interne Grammatik bezeichnen oder als implizite Fähigkeit. Wie genau dies im Gehirn modelliert ist, entzieht sich bis heute unseren Kenntnissen, wenngleich inzwischen die beteiligten Gehirnareale feststehen. Seit Jahrtausenden versucht man jedoch, diesen internen Regeln durch externe Beschreibungen – durch explizite Grammatiken – näher zu kommen, ohne bisher zu einer Sprachbeschreibung gelangt zu sein, die alle internen Regeln des Sprach(en)gefüges eines Individuums umfassend darstellen kann.

Damit kommen wir zu einem alltagssprachlichen Verständnis von Grammatik als eine auf einer Grammatiktheorie (und davon gibt es zahlreiche) basierenden Sammlung von Grammatikregeln, die in Regelwerken – z.B. der DUDEN-GRAMMATIK (2016) – dargestellt sind. Wichtig ist jedoch, sich bewusst zu sein, dass diese Regelsammlungen nur Versuche sind, unsere interne, im Gehirn abgelegte Grammatik näherungsweise zu beschreiben. Um einer Denkweise vorzubeugen, dass eine modellhafte Beschreibung mit der internen Grammatik identisch ist – d.h. der Wirklichkeit entspricht – sollen im Folgenden knapp einige unterschiedliche Beschreibungsmodelle vorgestellt und dabei die Modelle näher betrachtet werden, die entweder derzeit in der universitären Deutschlehrerausbildung am weitesten verbreitet sind und für den unterrichtlichen Einsatz als geeignet erscheinen oder vielleicht zukünftig weitere Verbreitung finden werden. Für die überblicksartige Darstellung sind Grammatikmodelle ausgewählt, die nach Granzow-Emden (2013, 40) folgende Forderung erfüllen: „Sie müssen als Modelle die Wirklichkeit angemessen abbilden.“

Bevor wir uns einzelnen Modellen widmen, soll abschließend zu diesen wenigen Vorüberlegungen ebenfalls durch ein Zitat von Granzow-Emden (2013, 38) der Unterschied zwischen Original (interner Grammatik) und Modell (externer Grammatik) prägnant dargestellt werden:

Modelle erfüllen nie die gleiche Funktion wie das Original – ein Flugzeugmodell muss weder fliegen noch Personen befördern können. Auch eine Grammatik als Modell der Sprache hat niemals den Anspruch, genau das zu leisten, was das Original – also die Sprache selbst – leistet. Modelle können sich unterscheiden – je nachdem, welchen Benutzerkreis sie im Auge haben, und Modelle stehen immer in der Gefahr, die Wirklichkeit falsch wiederzugeben.

3.2Grammatikmodelle

Bei der Anordnung der folgenden Grammatikmodelle beginnen wir mit jenen, die uns aus der Perspektive der Lehrkraft oder der Studierenden am dringlichsten erscheinen, weil sie sowohl Teil des schulischen als auch häufig des universitären Unterrichts sind. Weitere einflussreiche Modelle schließen sich an, vor allem auch, um – wie oben bereits angesprochen – dem Eindruck entgegenzuwirken, dass es die eine immer passende Beschreibung gäbe. Dem ist nicht so. Alle Modelle haben ihre Stärken und Schwächen und sind nur eine Annäherung an die Wirklichkeit. Man könnte überspitzt sagen, dass sie nur eine sehr unscharfe Kopie des mentalen Originals darstellen. So wie eine Landschaftsfotografie mal schärfer, mal weniger scharf die Wirklichkeit abbildet, aber nicht die Wirklichkeit, also die Landschaft selbst ist.

Wenn Sie sich für ein Modell als Handwerkszeug für Ihre Grammatikbeschreibung entschieden haben (oder Ihnen eine Dozentin oder Seminarlehrer diese Entscheidung abgenommen hat), dann geht die Arbeit für Sie erst los. Für eine gründliche Einarbeitung in die Thematik empfehlen wir Ihnen einen ausführlichen Blick in die angegebene Literatur. Da es nicht das eine perfekte Buch gibt, die „eierlegende Wollmilchsau“ der Grammatikbeschreibung erst noch geschrieben werden muss (falls dies jemals möglich sein wird), empfehlen wir nachdrücklich, sich in mehrere Publikationen einzulesen. Mit weniger geht es nicht, um die nötige Professionalität als Deutschlehrkraft zu erreichen.

Um dieses Kapitel konzise zu halten, werden wir uns bei den folgenden Modellen ausschließlich dem Satzbau zuwenden. Einerseits lassen sich die einzelnen Grammatikbeschreibungen hier gut vergleichen, andererseits ist die Auseinandersetzung mit dem Satzbau z.B. in Form von Satzglieduntersuchungen seit den Forschungen von Hans Glinz in den 1950er Jahren bis heute fester Bestandteil des Deutschunterrichts.

3.2.1Traditionelle Schulgrammatik

Ein Blick in aktuelle Deutschlehrwerke für den Erst- und Zweitsprachunterricht zeigt die anhaltende Dominanz eines Grammatikmodells, das nicht explizit für das Deutsche entwickelt, sondern aus der Beschreibung der lateinischen Sprache adaptiert wurde. Doch nicht nur schulische Lehrwerke halten daran fest. Auch die bis heute als wichtiges Nachschlagewerk häufig an den Universitäten und an Schulen benutzte Duden-Grammatik ist als in dieser Traditionslinie stehend zu begreifen – zumindest was die Terminologie betrifft, auch wenn sie die Bindung der einzelnen Bausteine eines Satzes (die Satzglieder) durch das Verb gesteuert betrachtet und diesbezüglich in der Theorie der weiter unten besprochenen Valenz- und Dependenzgrammatik (im Folgenden VDG) verortet ist. Damit schlägt die Duden-Grammatik eine Brücke zu der unten dargestellten VDG.

Zentral für die traditionelle Schulgrammatik ist einerseits die Terminologie für die einzelnen Bausteine eines Satzes (Subjekt, Prädikat, Objekt, Adverbiale), andererseits die zentrale Rolle des Subjekts, das in einem Kongruenzverhältnis zum Verb (bzw. zum finiten Verb) steht. Kongruenz bedeutet, dass das Subjekt mit dem Verb in Person und Numerus übereinstimmt, wie folgende Beispiele illustrieren:

Mike spielt mit seinen Puppen.

Anette und Senem spielen Fußball.

Kongruenz bezeichnet beispielsweise das Kongruieren, d.h. die Übereinstimmung des Subjekts mit dem Prädikat. Das Prädikat kongruiert mit dem Subjekt in Person (1., 2., 3. Person) und Numerus (Singular und Plural).

Die Termini Objekt, Subjekt und Prädikat fanden ihren Weg aus Beschreibungen der lateinischen Sprache in Beschreibungen des Deutschen im 17. und 18. Jahrhundert (Pfeifer 1993; Elsen 2014). Bis heute sind diese Termini in schulorientierten Grammatiktheorien präsent. Die wichtigsten zentralen Bausteine des Satzes (Satzglieder) sind in der traditionellen Grammatik Subjekt, Prädikat, Akkusativobjekt, Dativobjekt, Genitivobjekt, Präpositionalobjekt, Adverbiale. Die häufig als Nachschlagewerk verwendete Duden-Grammatik bedient sich dieser Bezeichnungen, auch wenn sie die VDG als Erklärungsmodell zugrunde legt. Andere Grammatikmodelle versuchen seit dem 20. Jahrhundert, sich davon zu distanzieren und beschreibungsadäquatere Bezeichnungen zu finden. Dazu mehr im folgenden Abschnitt zur VDG.

Unter Satzglied versteht man einen Satzbaustein, der aus einem oder mehreren Bestandteilen besteht und der einen inneren Zusammenhalt aufweist. Dieser innere Zusammenhalt zeigt sich darin, dass diese Bausteine – von Ausnahmen abgesehen – nur als Gesamtheit im Satz verschoben werden können. Weitere Nachweismöglichkeiten für Satzglieder sind, dass sie in ihrer Gesamtheit ersetzbar und erfragbar sind. Im Deutschunterricht sind diese Analyseverfahren als sogenannte Glinz’sche Proben bekannt und bereits Lerninhalt des Grundschulunterrichts.

An der traditionellen Grammatikbeschreibung des Deutschen ist zu kritisieren, dass sie nicht eindeutig beschreiben bzw. vorhersagen kann, welche Satzglieder in einem Satz repräsentiert sein müssen, damit er vollständig und akzeptabel ist. Diesen Makel beseitigt die VDG, indem sie die zentrale Funktion des Prädikats bei der Festlegung von notwendigen Satzgliedern betont.