Spracherwerb und Sprachenlernen -  - E-Book

Spracherwerb und Sprachenlernen E-Book

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Beschreibung

Mehrsprachigkeit begegnet uns im Klassenzimmer in unterschiedlichen Formen und wer heute selbst eine Sprache neu erlernt oder Lernende beim Sprachenlernen begleitet, kann beobachten, wie sehr ungesteuerter und gesteuerter Spracherwerb ineinandergreifen. Aus dem Vergleich der beiden Zugänge lassen sich wichtige Folgerungen für die institutionelle Sprachvermittlung ziehen, wobei auch der Blick in mehrsprachige Regionen Aufschlüsse über Erwerbs- und Aneignungsprozesse liefert. Wissen über die unterschiedlichen Aneignungsprozesse sowie über die Entwicklung lingua-kultureller Kompetenzen von Lernenden in gesteuerten und ungesteuerten Kontexten kann Lehrpersonen in ihrem Unterrichtshandeln unterstützen. Dabei sollen auch Erkenntnisse aus Neurolinguistik, Kognitionswissenschaften, Soziolinguistik und Lernersprachenanalyse berücksichtigt sowie in einem weiteren Schritt die didaktischen und curricularen Folgerungen in der institutionellen Vermittlung dargestellt werden. INHALT EDITORIAL Ursula Esterl, Annemarie Saxalber: Zum Zusammenhang von ungesteuertem und gesteuertem Spracherwerb im Unterricht SERVICE Anna Kriegl: Spracherwerb und Sprachenlernen heute. Bibliographische Notizen MAGAZIN Kommentar: Dagmar Unterköfler-Klatzer: Sommerschule 2020 ide empfiehlt: Peter Ernst: Rudolf de Cillia, Jutta Ransmayr (2019): Österreichisches Deutsch macht Schule Neu im Regal GESTEUERTER UND UNGESTEUERTER SPRACHERWERB IN ZWEIT- UND FREMDSPRACHE Dietmar Rösler: Das Verhältnis von gesteuertem und ungesteuertem Zweit- und Fremdsprachenlernen Anja Wildemann: Spracherwerb und Sprachenlernen. Implizite Lerngelegenheiten und explizite Lernangebote SPRACHERWERB UND SPRACHENLERNEN: DIDAKTISCHE IMPLIKATIONEN Klaus-Börge Boeckmann, Stephan Schicker: Spracherwerb und Sprachenlernen in der Sekundarstufe I. Theoretische Zugänge, curriculare Vorgaben und didaktische Schlussfolgerungen Tabea Becker, Tina Otten: Vorstellungen und Bewusstsein von sprachlichen Normen bei ein- und mehrsprachigen SekundarstufenschülerInnen Kevin Rudolf Perner: Die "Abwendung von Missverständnissen" und das Dialekt-Standard-Kontinuum VON DER SPRACHDIAGNOSE ZUR SPRACHFÖRDERUNG Manuela Glaboniat: MIKA-D. Eine Betrachtung aus testtheoretischer Perspektive Marion Döll, Sabine Guldenschuh: Nutzung sprachdiagnostischer Daten zum Deutschen als Zweitsprache in der Sprachbildungsplanung. Ergebnisse einer qualitativen Pilotstudie Jana Gamper, Dorotheé Steinbock: Wer ist bereit für die Regelklasse? Diagnostische Potenziale und Grenzen des Deutschen Sprachdiploms (DSD I) am Übergang von der Vorbereitungs- in die Regelklasse DAS ZUSAMMENSPIEL VON SPRACHERWERB UND SPRACHENLERNEN IM KLASSENZIMMER Luca Melchior: Translanguaging-Zugänge für das sprachliche und kulturelle Lernen im Unterricht. Ein Vorschlag Barbara Hoch: Mehrsprachigkeit, sprachliche Normen und die interaktive Verhandlung sozialer Positionierungen. Unterricht als sprachlicher Markt Sabine Schmölzer-Eibinger, Muhammed Akbulut, Christopher Ebner: Sind wir allein im Universum? Förderung wissenschaftlicher Textkompetenz anhand von Kontroversenreferaten zu naturwissenschaftlichen Themen im fächerübergreifenden Unterricht in mehrsprachigen Klassen Gabriele Ribis: Besser gemeinsam lesen lernen. Ein integratives Konzept der Sprachförderung

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Seitenzahl: 274

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Editorial

URSULA ESTERL,ANNEMARIE SAXALBER:Zum Zusammenhang vonungesteuertem und gesteuertemSpracherwerb im Unterricht . . . . .

 

Service

ANNA KRIEGL:Spracherwerb undSprachenlernen heute.Bibliographische Notizen

Magazin

KommentarDAGMAR UNTERKÖFLER-KLATZER:Sommerschule 2020

ide empfiehltPETER ERNST:Rudolf de Cillia,Jutta Ransmayr (2019):Österreichisches Deutsch macht Schule

Neu im Regal

Gesteuerter und ungesteuerter Spracherwerb in Zweit- und Fremdsprache

DIETMAR RÖSLER: Das Verhältnis von gesteuertem und ungesteuertem Zweit- und Fremdsprachenlernen

ANJA WILDEMANN: Spracherwerb und Sprachenlernen. Implizite Lerngelegenheiten und explizite Lernangebote

Spracherwerb und Sprachenlernen: Didaktische Implikationen

KLAUS-BÖRGE BOECKMANN, STEPHAN SCHICKER: Spracherwerb und Sprachenlernen in der Sekundarstufe I. Theoretische Zugänge, curriculare Vorgaben und didaktische Schlussfolgerungen

TABEA BECKER, TINA OTTEN: Vorstellungen und Bewusstsein von sprachlichen Normen bei ein- und mehrsprachigen SekundarstufenschülerInnen

KEVIN RUDOLF PERNER: Die »Abwendung von Missverständnissen« und das Dialekt-Standard-Kontinuum

Von der Sprachdiagnose zur Sprachförderung

MANUELA GLABONIAT: MIKA-D.Eine Betrachtung aus testtheoretischer Perspektive

MARION DÖLL, SABINE GULDENSCHUH: Nutzung sprachdiagnostischer Daten zum Deutschen als Zweitsprache in der Sprachbildungsplanung. Ergebnisse einer qualitativen Pilotstudie

JANA GAMPER, DOROTHEÉ STEINBOCK: Wer ist bereit für die Regelklasse? Diagnostische Potenziale und Grenzen des Deutschen Sprachdiploms (DSD I) am Übergang von der Vorbereitungs- in die Regelklasse

Das Zusammenspiel von Spracherwerb und Sprachenlernen im Klassenzimmer

LUCA MELCHIOR: Translanguaging-Zugänge für das sprachliche und kulturelle Lernen im Unterricht. Ein Vorschlag

BARBARA HOCH: Mehrsprachigkeit, sprachliche Normen und die interaktive Verhandlung sozialer Positionierungen. Unterricht als sprachlicher Markt

SABINE SCHMÖLZER-EIBINGER, MUHAMMED AKBULUT, CHRISTOPHER EBNER: Sind wir allein im Universum? Förderung wissenschaftlicher Textkompetenz anhand von Kontroversenreferaten zu naturwissenschaftlichen Themen im fächerübergreifenden Unterricht in mehrsprachigen Klassen

GABRIELE RIBIS: Besser gemeinsam lesen lernen.Ein integratives Konzept der Sprachförderung

 

»Spracherwerb und Sprachenlernen« in anderen ide-Heften

ide 2-2019

Verbalisieren. Zur Sprache kommen

ide 4-2018

Normen und Variation

ide 1-2017

»Menschen gehen«. Flucht und Ankommen.

ide 4-2015

Sprachliche Bildung im Kontext von Mehrsprachigkeit

ide 3-2008

Mehrsprachigkeit und Deutschunterricht

ide 2-2005

Sprachbegegnungen

ide 3-2002

Sprachaufmerksamkeit

 

Das nächste ide-Heft

ide 1-2021

Interpretierenerscheint im März 2021

 

Vorschau

ide 2-2021

Wald

ide 3-2021

Sprachbewusstsein

 

https://ide.aau.at

 

Besuchen Sie die ide-Webseite! Sie finden dort den Inhalt aller ide-Hefte seit 1988 sowie »Kostproben« aus den letzten Heften. Sie können die ide auch online bestellen.

 

www.aau.at/germanistik/fachdidaktik

 

Besuchen Sie auch die Webseite des Instituts für GermanistikAECC, Abteilung für Fachdidaktik an der AAU Klagenfurt: Informationen, Ansätze, Orientierungen.

Zum Zusammenhang von ungesteuertem und gesteuertem Spracherwerb im Unterricht

Das vorliegende Heft erscheint am Ende eines Jahres, das Lehrende und Lernende vor große Herausforderungen gestellt hat und immer noch stellt. Die COVID 19-Pandemie führte zu veränderten schulischen Lehr- und Lernbedingungen und insbesondere die Umstellung auf Homeschooling und Distance Learning verstärkt(e) die Bildungsbenachteiligung jener Kinder und Jugendlichen, die Unterstützung beim Spracherwerb und beim Sprachenlernen am dringendsten brauchen. Sie sind – und damit sind nicht nur Kinder mit Deutsch als Zweitsprache gemeint – auf die Förderung in der Schule und die Interaktion im Klassenzimmer besonders angewiesen.

Die Beiträge in diesem Heft können auf die besondere aktuelle Lehr- und Lernsituation noch nicht mit direkten Forschungsergebnissen reagieren, bieten jedoch Orientierung zu Voraussetzungen und Gelingensbedingungen des gesteuerten und ungesteuerten Spracherwerbs im Unterricht, unter Berücksichtigung unterschiedlicher sprach- und lernbezogenen Ausgangslagen der Schüler_innen und spannen einen weiten Bogen von theoretischen und forschungsgeleiteten Zugängen zu didaktischen Implikationen und methodischen Anregungen zur Gestaltung eines sprachförderlichen Unterrichts für alle Schüler_innen.

Das Heft eröffnet für Forscher_innen wie für Lehrer_innen die Möglichkeit zur Klärung und Diskussion von Begrifflichkeiten, die unter der diachronen oder synchronen Optik gesehen werden, wobei auch scheinbar unumstößlich festgeschriebene Dichotomien wie gesteuert/ungesteuert, explizit/implizit, Spracherwerb/Sprachlernen, DaZ/DaF hinterfragt werden.

Die beiden einleitenden Beiträge führen in das Thema ein und setzen sich kritisch und reflektiert mit den verschwimmenden Grenzen zwischen Spracherwerb und Sprachenlernen auseinander. Das Verhältnis von gesteuertem und ungesteuertem Zweitund Fremdsprachenlernen und dessen vielfältige Varianten innerhalb und außerhalb des deutschen Sprachraums lotet Dietmar Rösler aus und zeigt anhand ausgewählter Sprachbiographien Grenzfälle auf. Mit Blick auf die historische Entwicklung der Spracherwerbsforschung und darauf basierend auf die Frage nach der Bedeutung der Erkenntnisse zum natürlichen Spracherwerb für den Unterricht streicht er die Bedeutung einer differenzierten Beschreibung sowie gezielter Steuerungsprozesse in Bildungsinstitutionen hervor, um unangemessene Interventionen im Unterricht zu verhindern. Für die Zukunft sieht er durch die Digitalisierung und den Trend zum informellen Lernen eine stärkere Annäherung und Vermischung von gesteuertem und ungesteuertem Lernen, was sich auch auf die Organisation von Unterricht und die Rolle der Lehrkräfte auswirken wird.

Die kindliche Sprachentwicklung und das Zusammenspiel von Spracherwerb und Sprachenlernen und im Zusammenhang damit von impliziten Lerngelegenheiten und expliziten Lernangeboten nimmt Anja Wildemann in den Blick. Sie hebt die Bedeutung der Berücksichtigung der individuellen Bedingungen eines Kindes und seiner Sprachentwicklung hervor, um ein Verständnis für dessen Sprachvermögen und Sprachhandlungen zu entwickeln und davon ausgehend gezielte sprachförderliche Maßnahmen setzen zu können. Dabei gilt es, Sprachdiagnose und Sprachbildung miteinander zu verzahnen, Erkenntnisse zu reflektieren und daraus Schlussfolgerungen für den Unterricht abzuleiten. Das im Text vorgestellte Fünf-Phasen-Modell legt anschaulich dar, wie die explizite Thematisierung von Sprache und Sprachen für den Unterricht fruchtbar gemacht werden kann.

Der daran anschließende zweite Teil des Heftes lenkt die Aufmerksamkeit auf Möglichkeiten der didaktischen Implikationen und nimmt dabei schulische Curricula, Sprachvorstellungen und Normbewusstsein von Sekundarstufenschüler_innen, aber auch die außerschulische Sprachaneignung von mehrsprachigen Lehrlingen im innersprachlichen Variationsraum zwischen Dialekt und Standard in den Blick.

Klaus-Börge Boeckmann und Stephan Schicker spannen den Bogen von theoretischen Darstellungen historischer und aktueller Perspektiven auf das Lernen und Erwerben im Sprach(en)unterricht zu den curricularen Vorgaben für die Unterrichtsfächer Deutsch und Lebende Fremdsprache(n) sowie für die Unterrichtsgegenstände der Deutschförderklassen in heute geltenden Lehrplänen für die Sekundarstufen in Österreich. Auch sie konstatieren, dass heute nicht mehr streng dichotom zwischen gesteuert und ungesteuert, explizit und implizit, intentional und inzidentell oder deklarativem und produktivem Lernen bzw. Wissen unterschieden werden kann. Implizite und explizite Sprachlernprozesse können sowohl innerhalb als auch außerhalb des Unterrichts stattfinden, was sich positiv auf den Lernerfolg auswirkt und bei der Gestaltung von Lernprozessen berücksichtigt werden sollte.

Ausgehend von der Überlegung, dass die Fähigkeit, Wissensbestände zu versprachlichen und sprachliche Phänomene erklären zu können, maßgeblich zum Bildungserfolg beiträgt, rücken Tabea Becker und Tina Otten das metasprachliche Wissen von Lerner_innen in den Fokus. Im Zuge einer empirischen Studie in Niedersachsen wurden die Wissenszugänge und Verbalisierungsstrategien ein- und mehrsprachiger Schüler_innen unterschiedlicher Schulformen in Bezug auf grammatische Normen untersucht. Dabei zeigen sich deutliche Unterschiede nach Alter, aber auch nach Schulform der Schüler_innen.

Der letzte Beitrag in diesem Kapitel thematisiert die DaZ-Aneignung jugendlicher Seiteneinsteiger_innen in ihrer Fachausbildung außerhalb der Schule. Kevin Rudolf Perner analysiert den Sprachgebrauch der Ausbildner aus Oberösterreich im Rahmen der »dualen Ausbildung« unter Berücksichtigung des Dialekt-Standard- Kontinuum-Modells. Die Analyse der sprachlichen Varietäten, mit denen Zweitsprachlernende dabei konfrontiert sind, und darauf basierend ein Bewusstsein zu schaffen für die damit verbundenen Herausforderungen für Sprachlernende, aber auch für Berufsausbildende ist Ziel des Beitrags.

Ein Themenkomplex, dessen Bedeutung für den Schulkontext und insbesondere für die Bildungslaufbahn der betroffenen Kinder und Jugendlichen nicht zu unterschätzen ist, sind Diagnose-, Mess- und Testverfahren zur Erhebung des Sprachstands von Kindern mit nicht deutscher Erstsprache. Unterschiedliche Aspekte und Fragestellungen werden daher in einem eigenen Kapitel in diesem Heft verhandelt.

Einleitend unterzieht Manuela Glaboniat das in Österreich verpflichtend eingesetzte Messinstrument zur Kompetenzanalyse – Deutsch (MIKAD) für die Primar- und Sekundarstufe I einer kritischen Betrachtung. Da dieser Test als Selektionsmittel eingesetzt wird und über den Status des Kindes im Unterricht, über seine Aufnahme in die Regelklasse oder seine Zuordnung zu einer Sprachförderklasse entscheidet, ist die Einhaltung grundlegender Qualitätsstandards unerlässlich. Eine Analyse des Testverfahrens zeigt noch einige Schwachstellen auf und regt zu einer reflektierten Überprüfung des Testkonstrukts an.

Marion Döll und Sabine Guldenschuh möchten mit ihrem Beitrag eine Forschungslücke füllen, indem sie die Nutzung sprachdiagnostischer Daten für Sprachbildungsprogramme in den Blick nehmen. Mit ihrer 2018 in Sachsen durchgeführten Pilotstudie wollten sie erste Einblicke in die Frage, wie Lehrkräfte individualdiagnostische Daten in Form eines Sprachkompetenzmodells nutzen können, gewinnen. Erkenntnisse aus diesem Projekt könnten in der Schule in zwei Handlungsfeldern herangezogen werden, einerseits für den DaZ-Unterricht, wie beispielsweise in Vorbereitungs- und Deutschförderklassen und im Rahmen der additiven Deutschförderung, aber auch im sprachbewussten Unterricht, in dem Spracherwerbsprozesse das fachinhaltliche Lernen unterstützen und Aneignungsstände im Lernprozess und bei der Beurteilung von fachlichen Leistungen berücksichtigt werden können.

Die Herausforderungen für Lehrende und Lernende beim Übergang von Vorbereitungs- in Regelklassen sind der Ausgangspunkt des Beitrags von Jana Gamper und Dorotheé Steinbock. Das ursprünglich für Auslandsschulen konzipierte Deutsche Sprachdiplom (DSD I) wird hinsichtlich seiner sprachentwicklungsbezogenen und förderdiagnostischen Eignung einer kritischen Prüfung unterzogen. Auf Basis ihrer Erkenntnisse formulieren die beiden Autorinnen Vorschläge zur Modifikation des DSD I für den Einsatz im Kontext von Übergängen bei der Beschulung neu Zugewanderter.

Dass die Grenze zwischen gesteuertem und ungesteuertem Spracherwerb in einer zunehmend mobilen und sprachlich-kulturell vielfältigen Migrationsgesellschaft von heute nicht mehr so klar zu ziehen ist wie früher angenommen, wird bei jedem Blick in ein Klassenzimmer von heute deutlich. Kinder und Jugendliche bringen unterschiedliche inner- und außersprachliche Voraussetzungen mit bzw. sind in ihrem Alltag damit konfrontiert. Dies kann zum Gegenstand unterrichtlichen Handelns bei der Entwicklung von Sprachwissen und Sprachkönnen, beim Aufbau von Bildungssprache oder auch bei der Vorbereitung der jungen Menschen auf die Teilhabe an gesellschaftlichen Aufgaben werden. Die Beiträge in Teil 4, die einen Blick auf die Schulpraxis werfen, tragen dem Rechnung und ermöglichen interessierten Lehrer_innen das Herabbrechen von wissenschaftlichen Forschungsmethoden für den Schulalltag, um sich dort gemeinsam mit der Klasse oder Leistungsgruppe forschend den Themen eigenes und fremdes Sprachverhalten, Verbalisieren von sprachlichen Prozessen und Strukturen u. Ä. m. anzunähern.

Luca Melchior unterstreicht die Bedeutung des Konzepts des Translanguaging, um die Sprachenvielfalt im Klassenzimmer konstruktiv aufzugreifen und Linguizismus sowie die Ausgrenzung aufgrund von (zugeschriebener) sprachlicher Zugehörigkeit zu überwinden. Dabei sollen alle den Lernenden zur Verfügung stehenden sprachlich-kommunikativen Ressourcen ausgeschöpft und das individuelle Sprachenrepertoire jedes_jeder Einzelnen zum Lernen genutzt werden. Auf Basis theoretischer Überlegungen werden Vorschläge für multimodale Translanguaging-geleitete didaktische Aktivitäten vorgestellt, die den sprachlichen und kulturellen Reichtum einer Klasse sichtbar machen und zur Reflexion über Sprache(n) und zur Entwicklung von Language Awareness bei Schüler_innen, aber auch bei Lehrpersonen beitragen sollen.

Unterricht als sprachlicher Markt, auf dem Mehrsprachigkeit und sprachliche Normen und damit verbundene soziale Positionierungen interaktiv verhandelt werden, steht im Zentrum des Beitrags von Barbara Hoch. Anhand von zwei Grundschulklassen wird die Perspektive von Lehrkräften und Schüler_innen auf schulischen Sprachgebrauch illustriert. Der Blick auf eine weitere Klasse thematisiert die Verhandlung sprachlicher Normen in der Unterrichtsinteraktion; dabei ist es unabdingbar, dass sich Lehrkräfte ihrer Vorbildwirkung bewusst sind.

Die Förderung wissenschaftlicher Textkompetenz anhand von Kontroversenreferaten zu naturwissenschaftlichen Themen im fächerübergreifenden Unterricht in mehrsprachigen Klassen stehen im Fokus des Beitrags von Sabine Schmölzer-Eibinger, Muhammed Akbulut und Christopher Ebner. Dabei wird ein didaktisches Modell präsentiert, das das Kontroversenreferat als probates Mittel zur Entwicklung von wissenschaftlicher Textkompetenz bei Schüler_innen einsetzt. Im Rahmen einer didaktischen Intervention konnten sich Schüler_innen der 10. Schulstufe mit der fachlichinhaltlichen Dimension von Kontroversen, aber auch mit wissenschaftlichen Anforderungen und Texthandlungen auseinandersetzen und dadurch auch ihr sprachliches Lernen weiterentwickeln. Materialien zu diesem und zum folgenden Beitrag stehen zum kostenlosen Download auf der ide-Website zur Verfügung.

Ein integratives Konzept zur Sprachund Leseförderung stellt abschließend Gabriele Ribis vor. Ausgehend von der bei internationalen Leistungsüberprüfungen festgestellten mangelnden Lesefähigkeit österreichischer Schüler_innen hat sie ein mehrstufiges handlungsorientiertes Trainingsprogramm zur Förderung der Lesekompetenz entwickelt, das unterschiedliche Ausgangsvoraussetzungen in heterogenen Klassenstrukturen, wie sie insbesondere an Mittelschulen zu finden sind, berücksichtigt.

So aktuell unser Heftthema auch ist, durch die Schnelligkeit der gesellschaftlichen Umwälzung sind die Spracherwerbs- und Sprachlernprozesse in einer zunehmend heterogenen und mobilen Gesellschaft und einer durch die Möglichkeiten der Digitalisierung veränderten Lehr- und Lernlandschaft ständigem Wandel unterzogen. Zukunftsweisende Themen mit Blick auf sprachliches Lernen wären eine Analyse der Vor- und Nachteile des Fernunterrichts, die Entwicklung neuer Blended Learning-Modelle, die die Verbindung von Präsenzlehre und digitalem Lernen in den Blick nehmen, das sich verändernde Zusammenspiel von selbstorganisiertem und angeleitetem Lernen und nicht zuletzt die erforderliche Adaption von Schulbüchern und anderen Arbeitsmaterialien an neue Lernanforderungen – so manches davon wird bereits in den Beiträgen zu diesem Themenheft vorbereitet.

Der Serviceteil bietet weiterführende Informationen und rundet das Thema in gewohnter Weise ab. Anna Kriegl hat eine umfassende Bibliographie mit ausgewählten Publikationen zu Theorie, Empirie, Didaktik und Methodik rund um das Thema Spracherwerb und Spachenlernen erstellt. Ein Resümee über das Sprachlernen und -lehren in den 2020 erstmals in Österreich für Schüler_innen mit Sprachförderbedarf durchgeführten Sommerschulen zieht Dagmar Unterköfler-Klatzer in ihrem Kommentar. In der Rubrik ide-empfiehlt präsentiert Peter Ernst die Publikation Österreichisches Deutsch macht Schule (2019) von Rudolf de Cillia und Jutta Ransmayr, abschließend stellt Ursula Esterl ausgewählte Publikationen zum Thema des Heftes vor.

Unser besonderer Dank gilt Ariane Ouschan für die Gestaltung des Covers. In ihrem Engramm betitelten Aquarell folgt sie den Spuren, die der Kontakt mit Sprache(n) und den damit verbundenen Reizen im Gedächtnis der Lernenden hinterlässt.

Die in diesem Heft versammelten Zugänge zu Spracherwerb und Sprachenlernen sind vielfältig und können dennoch nur einen ersten Einblick in dieses umfassende und facettenreiche Thema gewähren, dem noch weitere folgen sollen.

Wir wünschen eine anregende Lektüre!

URSULA ESTERLANNEMARIE SAXALBER

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URSULA ESTERL ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für GermanistikAECC der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt und Mitherausgeberin der Zeitschrift ide. Arbeitsschwerpunkte: Deutsch als Zweit- und Fremdsprache und Mehrsprachigkeit. E-Mail: [email protected]

ANNEMARIE SAXALBER ist Univ.-Prof. i. R. für Deutsche Sprache und ihre Didaktik an der Freien Universität Bozen (I) und zur Zeit Lehrbeauftragte an der Universität Innsbruck (A). Forschungsschwerpunkte: Sprachdidaktische Fragestellungen zu Sprachförderung in regionalen Räumen mit innerer und äußerer Mehrsprachigkeit; Forschung zu Schreibdidaktik. E-Mail: [email protected]

Dietmar Rösler

Das Verhältnis von gesteuertem und ungesteuertem Zweit- und Fremdsprachenlernen

In diesem Aufsatz werden die vielfältigen Varianten des Lernens des Deutschen als Zweit- und als Fremdsprache beschrieben, das gesteuert und ungesteuert sowie innerhalb und außerhalb des deutschsprachigen Raums stattfinden kann. Gezeigt wird, dass ein Fehlen differenzierter Beschreibungen zu unangemessenen Interventionen im Unterricht führen kann. Ausführlich behandelt wird dabei die Frage, ob und wie die Progression im Unterricht dem natürlichen Erwerb folgen kann oder soll. Diskutiert wird außerdem, ob und wie die durch die Digitalisierung vorangetriebene Tendenz zum Anwachsen des informellen Lernens im Bereich des Zweit- und Fremdsprachenlernens zu stärkeren Annäherungen und Vermischungen von gesteuertem und ungesteuertem Lernen führt und welche Auswirkungen das auf die Organisation von Unterricht und die Rolle von Lehrkräften haben könnte.

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1. Klare Fälle?

Person A hat an einem Gymnasium in Asien vier Stunden pro Woche Deutschunterricht. Sie arbeiten dort mit einem Lehrwerk. Außerdem macht sie dazu zu Hause viele Übungen am Computer. Person A war noch nie in Deutschland und hat auch keinen Kontakt mit Deutschen. Person B kam ohne vorherige Deutschkenntnisse als Erwachsener nach Deutschland, arbeitete dort in der IT-Branche, hatte viel Kontakt mit Deutschen und lernte Deutsch aus dem Kontakt mit diesen. Inzwischen spricht sie sehr gut Deutsch, wenn auch mit einigen »Fehlern«.

Bei Person A redet man von einem Lerner bzw. einer Lernerin des Deutschen als Fremdsprache (DaF), sie lernt Deutsch gesteuert in einer Bildungsinstitution außerhalb des deutschsprachigen Raums. Person B würde man zumeist als Lerner des Deutschen als Zweitsprache (DaZ) bezeichnen, sie lernt Deutsch ungesteuert und ohne Besuch einer Bildungsinstitution innerhalb des deutschsprachigen Raums.

Zwei prototypische Fälle, doch der Alltag des Lernens einer weiteren Sprache nach der ersten ist meist weniger eindeutig. Person B hatte vielleicht nach einer ersten Phase des schnellen Wortschatzerwerbs das Bedürfnis, mehr über die Grammatik des Deutschen zu erfahren und kaufte sich deshalb eine Grammatik oder ein Selbstlernwerk, besuchte einen Kurs an der Volkshochschule oder nervte ihre deutschsprachige Umgebung mit einer Vielfalt von Fragen zur deutschen Grammatik. Auch Menschen wie Person A werden nicht immer ohne Kontakt sein, sie treffen vielleicht Touristen aus dem deutschsprachigen Raum, halten bei Themen, die sie interessieren, über soziale Medien Kontakt mit Deutschen usw.

2. Deutsch als Zweit- und Fremdsprache

Gegensatzpaare wie »Lernen innerhalb und außerhalb des zielsprachlichen Raums« und »gesteuertes und ungesteuertes Lernen« werden häufig herangezogen, um DaF und DaZ zu unterscheiden. Beim Gegensatzpaar »Lernen innerhalb und außerhalb des zielsprachlichen Raums« würde es sich um DaZ handeln, wenn das Lernen innerhalb des zielsprachlichen Raums stattfindet, und um DaF dann, wenn dies außerhalb des zielsprachlichen Raums geschieht. Das wird häufig zutreffen, aber Person A aus dem obigen Beispiel wird nicht plötzlich zur Zweitsprachlerin, wenn sie ein Stipendium für einen vierwöchigen Kurs an einem Goethe-Institut in Deutschland erhält und dort zeitlich begrenzt in Kursen und Ausflügen ihre Kenntnisse der deutschen Sprache und Kultur voranbringt. Sie lernt weiterhin Deutsch als Fremdsprache, und dieses Lernen findet zeitweilig im deutschsprachigen Raum statt.

Dass die Unterscheidung von gesteuertem und ungesteuertem Lernen ebenfalls herangezogen wurde, um das Lernen einer Fremd- und einer Zweitsprache zu unterscheiden, ist hingegen bedenklich: Ungesteuertes Lernen als Hauptmerkmal von DaZ mag für die erste Generation von Migrant_innen, die sogenannten Gastarbeiter_innen, in den ersten Jahren ihres Aufenthalts noch eine angemessene Beschreibung gewesen sein – Personen kommen für einige Jahre in ein Land, dessen Sprache sie nicht kennen, und erwerben diese nur durch die Interaktion am Arbeitsplatz. Aber spätestens ab dem Zeitpunkt, wo diese Migrant_innen im Land blieben, Kinder bekamen, die in Kindergärten, Schulen usw. gingen, war diese Zuordnung nicht mehr sinnvoll: Die Herausforderung für das Fach DaZ besteht ja gerade darin, den ungesteuerten Spracherwerb, der in der deutschsprachigen Umgebung per Interaktion möglich ist und der, wie jede Lehrkraft aus leidvoller Erfahrung weiß, höchst unterschiedlich verlaufen kann, mit Interventionsmaßnahmen in Kindergärten und Schulen zu verbinden, damit beide zusammen zu einem Spracherwerb führen, der es erlaubt, dass diese Personen uneingeschränkt an der Gesellschaft teilhaben und ihre Bildungschancen nutzen können.

Wenn man versucht, DaF und DaZ mit Gegensatzpaaren wie »gesteuert und ungesteuert« und »innerhalb und außerhalb des deutschsprachigen Raums« voneinander abzugrenzen, dann nicht dadurch, dass man eine Seite dieser Gegensatzpaare Deutsch als Zweit- und die andere Deutsch als Fremdsprache zuordnet, sondern dadurch, dass man sie kombiniert: DaF findet überwiegend außerhalb des deutschsprachigen Raums und gesteuert in Bildungsinstitutionen statt, die deutsche Sprache ist für die Lernenden meist nicht alltagsrelevant. DaZ findet überwiegend innerhalb des deutschsprachigen Raums statt, sowohl gesteuert als auch ungesteuert, und ist alltagsrelevant. Das bedeutet weder, dass es nicht Deutsch als Fremdsprache innerhalb des deutschsprachigen Raums gibt, wie das Beispiel des Stipendiums für einen Kurs am Goethe-Institut zeigt, noch, dass es DaZ nicht auch außerhalb des deutschsprachigen Raums geben kann, wenn zum Beispiel eine in Deutschland als Zweitsprachlernerin Aufgewachsene mit ihrer binationalen Familie in das Land ihrer Großeltern remigriert, die Familiensprache aber Deutsch bleibt.

3. Grenzfälle

Wie schwierig in konkreten Fällen Abgrenzungen sind, sei an zwei ganz unterschiedlichen Lernergruppen gezeigt, an den im Ausland Germanistik Studierenden, die ihr sog. Auslandsjahr im deutschsprachigen Raum verbringen, und an den geflüchteten Jugendlichen, die ab 2015 plötzlich in das Schulsystem integriert werden mussten.1 Wenn eine irische Germanistikstudentin ein Jahr im deutschsprachigen Raum verbringt, dort ihre Zeit zusammen mit Germanistik Studierenden aus Australien, den USA und Großbritannien verbringt, die deutsche Kneipenund Theaterkultur erkundet, viel im Land herumreist, aber durchgehend in einem englischsprachigen Umfeld lebt, ist sie dann während ihres Auslandsjahres von einer Fremdsprachlerin zu einer Zweitsprachlerin geworden? Oder ist sie das nur, wenn sie das Jahr viel mit deutschen Kommiliton_innen verbringt, sich in der Kirchengemeinde, in einer Theatergruppe, im Sportverein usw. engagiert und sich vielleicht auch noch in eine deutschsprachige Person verliebt?

Als nach 2015 geflüchtete Jugendliche ins deutsche Schulsystem integriert werden mussten, stellte sich die Frage, was die richtige Unterstützung für ihren Deutscherwerb ist. Sie waren im deutschsprachigen Raum, sollten sie also so unterstützt werden wie die Kinder mit Migrationshintergrund, die im deutschsprachigen Raum aufgewachsen sind? Oder sollten sie, da sie zunächst kaum Kontakt mit dem sie umgebenden deutschsprachigen Raum und als Jugendliche auch keinen ungesteuerten kindlichen Spracherwerb durchlaufen hatten, nicht eher wie Fremdsprachenlerner_innen unterstützt werden, allerdings mit dem Ziel, aus diesen Fremdsprachenlerner_innen durch die Intensivierung von Kontakten mit der deutschsprachigen Umgebung so schnell wie möglich Zweitsprachler_innen zu machen?

Derartige Versuche, DaF und DaZ begrifflich voneinander zu trennen und gleichzeitig ihre Gemeinsamkeiten auszuloten, sind keine akademische Haarspalterei. Sie signalisieren, wie wichtig es ist, dass man für jede Gruppe von Lernenden sehr genau überlegen muss, bei welchen Merkmalen wann welche Art von Unterstützung des Lernens durch Bildungsinstitutionen sinnvoll ist, damit es nicht zu Vorgehensweisen und Lehrmaterialien kommt, die für die konkreten, sehr unterschiedlichen2 Lernergruppen nicht angemessen sind.

4. Gesteuertes und ungesteuertes Lernen des Deutschen als Zweitsprache

Frühe DaZ-Aktivitäten bezogen sich auf außerschulische Lernorte wie Wohnort oder Arbeitsplatz. Die Anfänge der Arbeit im Bereich DaZ liegen also zunächst in politisch engagierten Aktivitäten von Gewerkschaftlern und Frauengruppen und befassen sich mit Vermittlungsfragen (vgl. Barkowski/Harnisch/Kumm 1980). In der Forschung entwickelte sich hingegen ein Fokus auf den ungesteuerten, den natürlichen, Erwerb. In den 1970er Jahren liefen zwei Entwicklungen parallel, die Deutsch als Zweit- und Fremdsprache häufig weniger mit- und stärker nebeneinander agieren und sogar Hierarchiekämpfe austragen3 ließen. Die Fremdsprachenforschung emanzipierte sich von der Idee, Entwicklungen im Fremdsprachenunterricht seien durch Entwicklungen in Linguistik und Psychologie angeleitet und die Fremdsprachendidaktik sei lediglich »angewandte Linguistik«.4

Parallel dazu beflügelte eine Umorientierung innerhalb der Linguistik die Spracherwerbsforschung: 1965 postulierte Chomsky in seiner Begründung der generativen Transformationsgrammatik einen angeborenen Spracherwerbsmechanismus, der eine Vielzahl von psycholinguistischen Forschungen anstieß. In der frühen Diskussion um den natürlichen Spracherwerb spielte die sogenannte kritische Periode eine dominante Rolle, insbesondere die Frage, ob mit Anbruch der Pubertät natürlicher Spracherwerb noch möglich sei. In ihrer starken Variante, die besagt, dass der Spracherwerbsmechanismus mit der Pubertät tatsächlich endet, ist diese Hypothese obsolet, interessant ist die schwache Variante, die besagt, dass der Spracherwerbsmechanismus mit Beginn der Pubertät an Einfluss verliert.

Doppelter Erstspracherwerb und früher Zweitspracherwerb erfolgt innerhalb einer reichen sprachlichen Umgebung durch Interaktion. Die Titelfrage ihres Buches Wie Kinder Sprachen lernen beantwortete Rosemarie Tracy mit: »systematisch, treffsicher und beharrlich – wenn man sie denn lässt und ihnen die Bedingungen bietet, unter denen sich ihr Spracherwerbstalent entfalten und immer wieder herausgefordert fühlen kann« (Tracy 2007, S. 153). Und die Frage, wie die kindlichen Lernenden dabei unterstützt werden können, erhält die Antwort: Man muss »für ein anregungsreiches, ›unordentliches‹, sprich: variations- und kontrastreiches, Sprachangebot in natürlichen Situationen – den Input –, den Kinder dann nach Herzenslust ›aufräumen‹ und in ein komplexes vielschichtiges System sprachlichen Wissens verwandeln können,« (ebd.) sorgen.

Die sprachlich reiche Umgebung mit vielfältigen Interaktionsmöglichkeiten führt wie beim einfachen Erstspracherwerb auch beim doppelten Erstspracherwerb und frühen Zweitspracherwerb zu erfolgreichem Spracherwerb; Belege für erfolgreichen Bilingualismus, unabhängig davon, ob es sich bei den Umgebungen um Bezugspersonen aus zwei Sprachen oder die Variante »Bezugspersonen eine Sprache, außerfamiliäre Welt die andere Sprache« handelt, gibt es in großer Menge.5 Die Geschichte des Spracherwerbs in Migrationskontexten im deutschsprachigen Raum zeigt aber auch, dass Misserfolge vorhanden sind: Bildungsinstitutionen müssen sich vor ihren Interventionen durch diagnostische Maßnahmen deshalb zuerst mit der Frage befassen, ob sie einen erfolgreichen natürlichen Spracherwerb, einen Spracherwerb, der nur wenig, oder einen, der vielleicht fast gar nicht ungesteuert stattfindet, begleiten. Das institutionelle Begleiten von Zweitspracherwerb trifft also auf Personen, die gleichen Alters und gleicher Herkunftssprache sein können und einen gleichen Zeitraum im deutschsprachigen Raum verbracht haben und die dennoch mit höchst unterschiedlichen Sprachständen den Klassenraum betreten. Die Bedeutung des deutschsprachigen Raums für den Spracherwerb liegt darin, dass alltägliche Interaktion möglich ist, sie liegt nicht in seiner Geographie: Wenn keine Interaktion mit Personen, die Deutsch sprechen, erfolgt, kann man auch nichts aus Interaktionen lernen, dann nützt die physische Präsenz im deutschsprachigen Raum nichts.

5. Kann/Soll/Muss Unterricht dem ungesteuerten Erwerb folgen?

Diese große Breite von Sprachständen hat weitreichende Konsequenzen für die Organisation von Unterricht. So ist es kaum möglich, für eine größere Gruppe von Lernenden ein für alle passendes gemeinsames Lehrwerk zu finden. Weitreichende Konsequenzen hat auch die Antwort auf die Frage, inwieweit die Interventionen in Bildungsinstitutionen dem natürlichen Spracherwerb folgen müssen. Selbstverständlich wird jeder gute Unterricht auf dem aufbauen, was die Lernenden schon an Kenntnissen mitbringen, also den bisherigen Erwerb von Wortschatz, Grammatik, pragmatischen und landeskundlichen Kenntnissen usw. berücksichtigen. Die durch die Entwicklung der Spracherwerbsforschung an die Organisation von Unterricht herangetragene Frage geht jedoch weiter: Pienemanns (1989 und 1998) Processability- und Teachability-Hypothese6 wirft die Frage auf, inwieweit Stadien des natürlichen Erwerbs, die die Spracherwerbsforschung festgestellt hat, die Basis für die Organisation von Unterricht sein können, sollen oder gar müssen.

Aus der Erstspracherwerbsforschung ist seit langem bekannt: Es nützt nichts, Kinder beim Erwerb bestimmter Phänomene zu »coachen«, wenn sie für diese Phänomene noch nicht bereit sind. Auch Pienemann geht davon aus, dass erfolgreicher Unterricht die nächste Entwicklungsstufe anvisieren muss und nicht zu weit über dem Entwicklungsstand der Lernenden liegen darf, um einen positiven Effekt zu haben. Das ist als allgemeine Aussage sehr nachvollziehbar und wird wohl auch das unterrichtliche Handeln vieler Lehrkräfte leiten. Interessant wird diese Frage erst, wenn es konkret wird. Ist es tatsächlich sinnlos, bestimmte Phänomene zu einem bestimmten Zeitpunkt unterrichten zu wollen? Diese Frage kann man natürlich eindeutig positiv beantworten, indem man zum Beispiel sagt, dass man im Anfängerunterricht weder Konjunktiv II noch erweiterte Partizipialattribute behandeln sollte. Aber das tut ja auch keiner. Relevant wird diese Frage erst dort, wo Progressionen im Unterricht für bestimmte Lernergruppen und Lernziele nicht mehr im Hinblick auf deren Funktionalität für den Lernprozess dieser Lernergruppe für ihre Lernziele diskutiert werden, sondern wo mit Berufung auf natürliche Erwerbsprozesse bestimmte Abfolgen als absolut gesetzt werden.

Übertragbar ist diese Hypothese also auf den frühen Zweitspracherwerb und den doppelten Erstspracherwerb, kritisch zu diskutieren ist sie im Hinblick auf ihre Relevanz für jugendliche und erwachsene Lernergruppen, die mit 15 Jahren oder später in den Erstkontakt mit der deutschen Sprache kommen, auf Personen also, die kognitiv und durch ihre Sprachbewusstheit in der Lage sind, über Sprache und Spracherwerb zu reflektieren, metakognitive Strategien anzuwenden und Kategorien aus bereits gelernten Sprachen zur Auseinandersetzung mit den neuen unbekannten Schallwellen und Graphemketten heranzuziehen.

Dass das gesteuerte Lernen den Erwerbssequenzen des ungesteuerten Lernens folgen muss, um erfolgreich zu sein, ist als allgemeine Hypothese für jede Art des gesteuerten Lernens sicher nicht haltbar: Der im nächsten Abschnitt skizzierte Spezialfall eines Lesekurses für Geisteswissenschaftler_innen darf ihr nicht folgen, wenn er erfolgreich sein will. Und jeder schulische Fremdsprachenunterricht außerhalb des deutschsprachigen Raums leitet Lernende dazu an, beim Wortschatzerwerb für jedes deutsche Substantiv sowohl die Pluralendung als auch das Genus gleich mitzulernen. Im natürlichen Erwerb ist die Herausbildung der Beherrschung der deutschen Pluralformen eine komplexe Angelegenheit, und eine erwachsene Migrantin, die das Deutsche aus der Interaktion mit ihren Arbeitskolleginnen lernt, ist vollauf damit beschäftigt, zunächst lexikalische Elemente »aufzuschnappen«, die ihr helfen, Bedeutung zu transportieren: Adjektive, Substantive, Verben. Dass vor den Substantiven dabei noch irgendwelche Geräusche zu hören sind, die man später als Artikel kennenlernt, spielt zunächst keine Rolle; aus ungesteuerter mündlicher Interaktion wird der Erwerb von Artikeln später erfolgen als im Klassenzimmer. Aber auch wenn Unterricht nicht den Sequenzen des Spracherwerbs folgen muss, tut er doch sehr gut daran, sehr genau zu verfolgen, was die Spracherwerbsforschung über Erwerbssequenzen zutage fördert. Gerade für den Unterricht im Bereich DaZ, der soweit möglich versuchen muss, außerschulischen Erwerb aufzunehmen und zu unterstützen, ist dies von besonderer Bedeutung.

Das Fach DaZ muss sich also intensiv mit Steuerungsprozessen in Bildungsinstitutionen befassen, aber zum Teil anders als die Fremdsprachendidaktik. Es muss damit umgehen, dass Lernende zu verschiedenen Zeitpunkten ihres Lebens in den zielsprachlichen Raum eingewandert sind, dass sie dort unterschiedlich erfolgreich die deutsche Sprache ungesteuert erworben haben und dass »Lernen innerhalb des deutschsprachigen Raums« kein klarer Faktor für die Vorhersage von erfolgreichem Spracherwerb ist: Lernende wie Person B im Beispiel zu Beginn dieses Artikels können durch ihre Interaktion mit Sprechern und Sprecherinnen des Deutschen große Fortschritte beim Deutscherwerb machen, Lernen innerhalb des deutschsprachigen Raums kann aber auch bedeuten, dass Personen zwar physisch im zielsprachlichen Raum anwesend sind, ihre ganze Kommunikation, medial ebenso wie interpersonell, aber fast ohne Bezug zur deutschen Sprache und Kultur stattfindet.

6. Gesteuertes Lernen des Deutschen als Fremdsprache außerhalb des deutschsprachigen Raums

Weltweit lernen ca. 15,4 Millionen Menschen DaF (Auswärtiges Amt 2020). Der überwiegende Teil der Lernenden – 11,2 Millionen – befindet sich in Europa und der Russischen Föderation. Beim Blick auf einzelne Länder lassen sich sowohl starke Zuwächse7 als auch Rückgänge8 feststellen. In der überwiegenden Zahl der Länder ist Deutsch nicht die erste Fremdsprache, was für das Fach DaF bedeutet, dass es sich mit der Frage beschäftigen muss, wie man das zumeist als erste Fremdsprache gelernte Englisch für das Deutschlernen nutzen kann, sowohl im Hinblick auf sprachliche Lerngegenstände als auch auf die Frage, inwieweit bereits vorhandene Fremdsprachenlernerfahrungen genutzt werden können (vgl. z. B. Chaudhuri 2009 und Hufeisen/Marx 2007).

Wer DaF in einer Bildungsinstitution lernt, tut dies eventuell unfreiwillig, wenn er zum Beispiel in eine Schule geht, in der die Fremdsprache Deutsch ein Pflichtfach ist. Oder er tut dies aus einer Reihe sehr unterschiedlicher Gründe freiwillig. So gibt es zum Beispiel Besonderheiten wie ein nur auf die Fertigkeit Lesen spezialisiertes Angebot für Wissenschaftler_innen, die die deutsche Sprache nicht für Interaktionen mit anderen Menschen lernen, sondern weil sie bestimmte Texte lesen möchten. So ein Kurs unterscheidet sich sehr stark vom Aufbau eines allgemeinsprachlichen Kurses.9 Das Lernen in Bildungsinstitutionen kann sich sehr stark im Hinblick auf den als Lernziel festgesetzten Grad von Korrektheit unterscheiden. Ein Kurs, der Deutsch für einen touristischen oder sozialen Aufenthalt im deutschsprachigen Raum überwiegend als mündliche Sprache vermittelt, wird sich weitaus weniger mit den Fallstricken der deutschen Nominalphrase befassen als ein Kurs, der schriftsprachliche Normen vermitteln muss, weil es ein Ziel der Lernenden ist, später an einer Universität in einem deutschsprachigen Land zu studieren.

Im letzten Jahrzehnt hat besonders die Diskussion um berufsbezogenen Unterricht zugenommen, im Gegensatz zu frühen Diskussionen zum Fachsprachenunterricht, bei denen man meinte, Lernende müssten zuerst einen allgemeinsprachlichen Kurs absolvieren und sollten dann den jeweiligen Fachwortschatz erlernen, versucht man heute, die berufsbezogenen Inhalte und speziellen Kommunikationsweisen so schnell wie möglich in den Unterricht zu integrieren. Ein starker Fokus ist in letzter Zeit im Hinblick auf den Bereich Pflegekräfte zu erkennen, aber auch für speziellere Gruppen wie zum Beispiel Ärzte oder Priester lassen sich Publikationen finden (vgl. Schön 2014 oder Kiefer 2014).

Diese kurze Aufzählung sehr unterschiedlicher Lernergruppen und Lernziele zeigt, dass es für DaF weltweit keine allgemein geeignete Methode, kein bestes Lehrwerk und auch keine allgemein festlegbaren Reihenfolgen der zu behandelnden sprachlichen Phänomene gibt. Auf diese Vielfalt angemessen reagieren kann man nur, wenn man akzeptiert, dass nur bezogen auf konkrete Lernergruppen mit ihren Sprachlernerfahrungen und sonstigen Eigenschaften und mit ihren Lernzielen sinnvolle Aussagen über das jeweilige Vorgehen gemacht werden können.

7. Annäherungen von gesteuertem und ungesteuertem Lernen im Kontext der Digitalisierung

So unterschiedlich die Gruppen weltweit Lernender auch sind, von Kindern an der Schule bis zu Senior_innen in der Erwachsenenbildung, von speziellen fertigkeitsbezogenen Kursen bis zu allgemeinsprachlichen und berufsbezogenen Kursen, von der Motivation, anschließend als Tourist_in oder als Student_in nach Deutschland zu fahren oder im eigenen Land zu bleiben und dort die deutsche Sprache kulturell oder geschäftlich zu verwenden, gemeinsam ist ihnen allen, dass sie im Unterricht so tun als ob. Das Deutsch im Klassenzimmer ist für die Aktivitäten in der eigenen Welt zunächst nicht notwendig, ein Lernen aus Interaktionen, wie es beim Zweitspracherwerb innerhalb des deutschsprachigen Raums möglich ist, erfolgt überwiegend nicht. Die Geschichte der Fremdsprachendidaktik der letzten 50 Jahre mit ihren Versuchen, durch immer komplexere Aufgaben und die Projektorientierung Lernende dazu zu bringen, mit Sprache zu handeln, ist nichts anderes als der Versuch, innerhalb des Rahmens der Künstlichkeit der Kommunikation im Klassenzimmer Räume zu schaffen, die es den Lernenden ermöglichen, so intensiv und inhaltlich selbstbestimmt wie möglich die neue Sprache in Interaktionen zu verwenden.

Diese scheinbar unhintergehbare Künstlichkeit des Klassenzimmers, die Lernende im Fremdsprachenunterricht dazu bringt, auf Vorrat für die Bewältigung kommunikativer Situationen zu lernen, hat im Kontext der Digitalisierung zumindest langfristig die Chance, zu einem Lernen bei der Bewältigung kommunikativer Situationen zu werden, sich also dem ungesteuerten Lernen anzunähern. Wenn Lernende ab Niveaustufe A1, unterstützt durch die Verwendung von Sprachassistenzsystemen (vgl. Würffel 2019), in sozialen Medien mit anderen Personen auf Deutsch über Themen kommunizieren, die sie tatsächlich interessieren, dann besteht die Möglichkeit, dass Lernende außerhalb des zielsprachlichen Raums zumindest teilweise nicht mehr nur so tun als ob, sondern tatsächlich Kommunikationssituationen bewältigen. Das hätte ernsthafte Konsequenzen für die Gestaltung eines sich dann eher als Unterstützung dieses kommunikativen Handelns verstehenden Unterrichts, dessen klassische Progressionsideen dann nicht mehr haltbar wären, es hätte Konsequenzen für das Selbstbild von Lehrkräften, die dann die Bereitschaft brauchen, bei diesem offenen Konzept damit zu leben, dass Gegenstände und Fragen das Klassenzimmer betreten, die für sie unbekannt sind (vgl. Rösler 2020).

Im Bereich Deutsch als Zweitsprache werden die Nutzung von Sprachassistenzsystemen, von Erklärvideos im Internet zu Grammatik und Landeskunde und die stärkere Modularisierung von Lernmaterialangeboten Lernende des Deutschen als Zweitsprache, die überwiegend ungesteuert lernen, in die Lage versetzen, Elemente des klassischen Selbstlernens hinzuzuziehen, die ihren natürlichen ungesteuerten Lernprozess unterstützen und beschleunigen. In beiden Fällen, sowohl bei der Unterstützung selbstgesteuerter Zweitsprachenlerner_innen als auch bei der Steigerung des Anteils von echter Kommunikation im Fremdsprachenunterricht, wird man es mit einem Anstieg informellen Lernens zu tun haben, und Lehrkräfte werden stärker als bisher im Bereich der Sprach- und Sprachlernberatung engagiert sein.

Literatur

AKS (2019): Deutsch und andere Sprachen für Geflüchtete. Fremdsprachen und Hochschule