Sprachliche Höflichkeit -  - E-Book

Sprachliche Höflichkeit E-Book

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Beschreibung

Sprachliche Höflichkeit ist ein breit diskutiertes Thema in Wissenschaft und Öffentlichkeit. Oft wird ein Mangel an Höflichkeit oder gar deren Verfall beklagt. Neue Medien und die zunehmende Interkulturalität scheinen das Problem zu verschärfen. In der Sprachwissenschaft greifen zahlreiche Ansätze solche Fragen auf und versuchen eine wissenschaftliche Klärung und Einordnung in neuere theoretische und methodische Entwicklungen. Der Band dokumentiert ausgewählte Beiträge einer internationalen Fachkonferenz. Er präsentiert aktuelle Entwicklungen in der deutschen Sprache und neue Ansätze in der Höflichkeitsforschung, auch in kontrastiver Perspektive und in verschiedenen Anwendungsfeldern. Kulturhistorische Einschätzungen über Ursprung und Entwicklung von Höflichkeitskonventionen sowie Ausblicke auf künftige Herausforderungen runden den Band ab.

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Seitenzahl: 598

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Sprachliche Höflichkeit

Historische, aktuelle und künftige Perspektiven

Claus Ehrhardt / Eva Neuland

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

 

 

© 2017 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.francke.de • [email protected]

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

 

ePub-ISBN 978-3-8233-0069-4

Inhalt

EinleitungSprachliche Höflichkeit. Historische, aktuelle und künftige PerspektivenDie Unhöflichkeit der VerhältnisseKulturhistorische DimensionenHöflichkeitsdissonanzen. Zum Gebrauch unterschiedlicher Höflichkeitsformen in historischen Texten und Gesprächen1. Höflichkeitskonstruktionen und kultureller Kontext2. Höflichkeitsentwicklung am Beispiel. Vom Kompliment zur Aggression3. Regional und sozial bedingte Differenzen von Höflichkeitsstilen4. Mögliche Höflichkeitsdissonanzen In AnstandsbüchernLiteraturVerbale Höflichkeit in der Übersetzung1. Theodor Fontane als Sprachvirtuose2. Höflichkeit und Übersetzbarkeit3. Beziehungsgestaltung in der Übersetzung4. FazitLiteraturAktuelle TendenzenDer face-Begriff im Schnittpunkt zwischen politeness und facework. Paradigmatische ÜberlegungenLiteraturInterpersonale Pragmatik und (Un)Höflichkeitsforschung1. Einführung2. Das Themenspektrum der Höflichkeitsforschung3. Methodenmix und Anleihen bei anderen Disziplinen4. Abschließende BemerkungenLiteraturÜber HöflichkeitLiteraturZur Höflichkeitsrelevanz von vielleicht und eigentlich in mündlicher Alltagskommunikation1. Zur Einleitung2. Zur Wortklassenzugehörigkeit von vielleicht und eigentlich3. Beschreibungen von vielleicht und eigentlich4. Empirische Beispiele von Muttersprachlern5. Lernersprachliches Material6. FazitLiteraturHöflichkeit und ihre Kehrseite1. Einleitung2. Theoretische Vorüberlegungen3. Todai Waho4. Zwischenruf und Blogeintrag5. Hate speech6. AusblickLiteraturIst Höflichkeit angeboren?1. Zwei Fragestellungen und ein Erkenntnisinteresse – ein begriffliches Präludium2. Kulturelle Ressourcen und kulturelles Reservoir3. Stephen Pinker und die universelle Grammatik der Kultur4. Leon Talmy und das ’Cognitive Culture System’5. Stephen Levinson und die ‚interaction engine‘6. Anna Wierzbickas natural semantic metalanguage7. FazitLiteraturKompliment und Komplimentieren. Begriffs- und Handlungsbestimmungen1. Einleitung2. Ein Beispiel3. KOMPLIMENT als SprechaktRegel des propositionalen Gehalts4. Das Kompliment in der Interaktion5. Kompliment und HöflichkeitLiteraturKontrastive AnalysenMöglichkeiten und Grenzen eines Wörterbuches der Höflichkeitsausdrücke für die Entwicklung fremdsprachlicher Höflichkeitskompetenz1. Problemstellung2. Muttersprachliche und fremdsprachliche Höflichkeitskompetenz3. Die lexikographischen Projekte4. Äquivalenzprobleme5. SchlussfolgerungenLiteraturSprachliche Höflichkeit in „Treppenhaustexten“1. Motivation für die Beschäftigung mit einer kaum beachteten Textsorte2. „Treppenhaustexte“ – was ist das?3. Meine Empirie4. Merkmale der Ad-hoc-Treppenhaustexte5. Vergleich der beiden TextkorporaLiteraturIntensivierungs- und Abschwächungsmechanismen in Talkshows: kontrastive Analyse Deutsch / Spanisch1. Einleitung2. Theoretischer Hintergrund3. Datenanalyse4. Ausgewählte Ergebnisse5. FazitLiteraturEntschuldigungen im Deutschen und Türkischen1. Einleitung2. Wesen der Höflichkeit3. Höfliches Verhalten unter interkulturellem Aspekt4. Entschuldigungen als BeispielfallFazitLiteraturverzeichnisDeutschland ist ein sauberes Land und das soll es auch bleiben! Sprachliche Höflichkeit in deutschen Flüchtlings-Kniggen1. Einleitung2. Eine Orientierungshilfe für das Leben in Deutschland3. „Willkommen in Deutschland: Wegweisung für muslimische Migranten zu einem gelingenden Miteinander in Deutschland“4. Ergebnisse: Flüchtlingsratgeber zwischen Imagebedrohung und Imageförderung5. Fazit und AusblickLiteraturAkademische Höflichkeit: eine historische Perspektive1. Vorbemerkungen2. Sprachliche Höflichkeit aus historischer Perspektive3. Zum Begriff ‚Akademische Höflichkeit‘4. Zum Korpus5. Akademische Höflichkeit im Kontext6. ZusammenfassungLiteraturInterkulturelle Besonderheiten im Gebrauch nominaler Anredeformen (am Beispiel des Deutschen und Ukrainischen)1. Einführung2. Empirische Daten3. Die Variabilität des Anredesystems4. Variation der Anredeformen in den öffentlichen Redesituationen im Parlament5. Einige inter- und intrakulturelle Unterschiede im Gebrauch nominaler Anreden an Unbekannte6. FazitLiteratur:Kontrastive Aspekte der Dankesforschung (am Beispiel des multilingualen Mikroblogging-Dienstes Twitter)LiteraturAngewandte StudienZum Umgang mit (Un)Höflichkeit in generationeller Perspektive1. Zur Relevanz des Faktors Generation2. Schnittstellen der Jugendsprachforschung und der Höflichkeitsforschung3. Wuppertaler Forschungsprojekt zu Gebrauchs- und Verständnisweisen sprachlicher Höflichkeit bei Jugendlichen4. Ausgewählte Befunde zu Höflichkeit und Unhöflichkeit5. AusblickLiteraturBeziehungsgestaltung in schulischen Sprechstunden1. Zu den LehrerIn-Eltern-Sprechstunden2. Höflichkeit, „face work“ und Beziehungsgestaltung3. (In)formalität4. Die Gesprächseröffnungen5. Typologie der Gesprächseinstiege6. Zwischenfazit7. Gesprächsbeendigungen zusammengefasst8. SchlussLiteraturLoben und Kritisieren bzw. was sich dahinter versteckt1. Einleitung2. Unterrichtskommunikation und sprachliche Höflichkeit3. Realisierung sprachlicher Höflichkeit am Beispiel des Ausdrucks von Kritik und Lob in der Lehrersprache von Fremdsprachenlehrenden4. Loben und Kritisieren in der Lehrersprache ungarischer DaF- Lehrender. Ergebnisse eines PilotprojektsFazitLiteraturDer Ton macht die Musik: Zur Behandlung von Höflichkeit im Lehrwerk studio [21]1. Einleitung2. Interkulturelle Höflichkeitskompetenz3. Lehrwerkanalyse4. FazitLiteraturSprachliche Höflichkeit in der Laienliteraturkritik1. Einleitung3. Laienliteraturkritik online4. Unhöfliche Rezensionen5. ‚Höfliche‘ Rezensionen6. FazitLiteraturPolitische Korrektheit und sprachliche Höflichkeit als komplexitätsreduzierende Rituale der Wirtschaftskommunikation1. Einleitung2. Zwischen Verhüllung und Verschleierung3. AusblickLiteraturAutorenverzeichnisSachregister

Einleitung

Sprachliche Höflichkeit. Historische, aktuelle und künftige Perspektiven

Vorwort

Claus Ehrhardt/Eva Neuland

Sprachliche Höflichkeit ist seit einiger Zeit wieder ein aktuelles Thema in der Öffentlichkeit geworden: Klagen über mangelnde Höflichkeit bis hin zu einem „Verfall“ von Sitten und Ausdrucksweisen finden sich mit sprachpflegerischem Tenor in der Presse und auf dem kulturkritischen Buchmarkt. Verantwortlich gemacht werden Politiker, Fernsehmoderatoren und vor allem Jugendliche, ihre Eltern und Lehrkräfte. Die wachsende Bedeutung neuer Medien und die zunehmenden Sprach- und Kulturkontakte in vielen Lebensbereichen sowie die erforderliche interkulturelle Kommunikation scheinen das Problem noch zu verschärfen und Klärungen zum „richtigen“ Umgang mit Höflichkeit zu verlangen.

Das lebhafte öffentliche Interesse und die z.T. kontroversen Diskussionen (vgl. z.B. den Beitrag von Roth in diesem Band) lassen es wünschenswert erscheinen, das Thema „Höflichkeit“ auch aus wissenschaftlicher Sicht neu zu beleuchten und den öffentlichen Diskurs durch den Verweis auf aktuelle wissenschaftliche Beschreibungs- und Erklärungsmodelle der sprachlichen Höflichkeit, ihrer Ausdrucks- und Wirkungsformen im kulturellen Wandel zu bereichern. Darüber hinaus bietet die Aktualität und gesellschaftliche Relevanz des Themas auch die Chance, die wissenschaftliche Theoriebildung an die gesellschaftliche Realität anzunähern, die eigene Empirie zu vertiefen und Methoden der Beschreibung und Analyse zu erweitern bzw. zu verfeinern. Sprachliche Höflichkeit hat sich in diesem Sinne in den letzten Jahren als ein zentrales Thema in den Sprach- und Kulturwissenschaften, der linguistischen Pragmatik, der Soziolinguistik und der interkulturellen Kommunikationsforschung herauskristallisiert und etabliert. Sowohl in theoretischer und empirischer als auch anwendungsorientierter Perspektive bietet das Thema überdies zahlreiche interdisziplinäre Facetten.

Einige dieser Themen sind in den vergangenen Jahren auf internationalen Konferenzen diskutiert, klassische Modelle der Gesichtsarbeit modifiziert und empirische Zugänge differenziert worden. Dies dokumentieren u.a. zwei von den Herausgebern dieses Sammelbandes vorgelegte Publikationen aus den Jahren 2009 und 20111. Der Präsentation des aktuellen Forschungsstandes, verbunden mit historischen und künftigen Perspektiven, widmete sich eine jüngste internationale Fachkonferenz, die die beiden Herausgeber im Herbst 2016 an der Bergischen Universität Wuppertal mit Unterstützung der DFG durchführen konnten. Der vorliegende Sammelband dokumentiert die Ergebnisse.

Experten aus 15 Nationen stellen ihre Forschungsergebnisse in Forschungstheorie und -praxis zur Diskussion und informieren über aktuelle Entwicklungstendenzen der Höflichkeit im Deutschen in ausgewählten Anwendungsfeldern des beruflichen wie privaten Alltags, interkulturellen Begegnungen und kritischen Kommunikationssituationen. Die Beiträge thematisieren kulturhistorische Dimensionen, erörtern aktuelle Tendenzen der Theoriebildung, Ergebnisse kontrastiver Analysen und stellen Erscheinungsweisen in neuen Medien, in Werbung und im Schulalltag vor. Sie vermitteln Erkenntnisfortschritte und Impulse für die künftige Forschung und Anregungen für Sprachbildung und Sprachunterricht, auch für Deutsch als Fremdsprache.

Die Herausgeber bedanken sich bei allen Kollegen, die an der Tagung teilgenommen und an dieser Publikation mitgewirkt haben. Der DFG, dem DAAD, der Bergischen Universität Wuppertal und der Università di Urbino sei die finanzielle Unterstützung gedankt, die eine Beteiligung von zahlreichen Wissenschaftlern aus dem In- und Ausland und den produktiven Austausch ermöglicht hat.

 

Eva Neuland, Claus Ehrhardt

Wuppertal, Urbino im Oktober 2017

Die Unhöflichkeit der Verhältnisse

Jürgen Roth

Höflichkeit ist ein in unserem Alltag allgegenwärtiges Phänomen, das sich nicht nur in unserem nichtsprachlichen Verhalten äußert, sondern auch in unserer mündlichen und schriftlichen Kommunikation. In der Regel ist sprachliche Höflichkeit mit der jeweiligen Kommunikationssituation und Textfunktion vereinbar.

Deutsche Sprache – Zeitschrift für Theorie Praxis Dokumentation 2/2003

 

Die Sprache verkommt, und das Leben verkommt auch, die feinen Unterschiede verschwinden, der grobe Keil wird getrieben, bald gibt es keine Höflichkeitsform, keinen Irrealis mehr, weder in der Grammatik noch im Umgang der Menschen untereinander.

Ludwig Harig, Die Zeit, 11. Juli 1986

 

Angesichts der allbekannten nahezu allseitigen, beinahe epidemischen VerrohungVerrohung und Verwüstung der alltäglichen Kommunikation in den sogenannten sozialen Medien und in den Kommentarspalten im Internet – sowie, möchte ich ergänzen, denn auch dies ist ex negativo eine elementare Frage sprachlicher Höflichkeit, in Anbetracht der Erosion des Sprachbewußtseins, des Stils, des Ausdrucks, der Flexionsformen und der Orthographie – „warnte“ der Bayerische Lehrerverband BLLV laut taz vom 8. September 2016 „vor der Auswirkung haßerfüllter Sprache auf Kinder“. In einem Manifest mit dem Titel „Haltung zählt“ ließ er verlauten: „Wir beobachten mit größter Sorge, wie sich die Stimmung in den sozialen Netzwerken und die alltäglichen Umgangsformen in unserer Gesellschaft verändern“, und man nehme eine „zunehmende Aggressivität gegenüber Andersdenkenden, Ausländern und Flüchtlingen wahr“.

Auch der Kulturwissenschaftler Thomas Mießgang diagnostizierte in seinem 2013 erschienenen Buch Scheiß drauf – Die Kultur der Unhöflichkeit (Berlin) eine „Zunahme (einen Tsunami?) an Grobheit, an Aggressivität, an schlechten oder gar keinen Manieren in den urbanen Räumen und den medialen Phantasmagorien, die die sozialen Milieus überformen“. „Die moderne Gesellschaft hat kein Konzept mehr für Würde, Wert oder Anerkennung“, heißt es an anderer Stelle. „Die Arbeitswelt […] hat sich seit den prosperierenden Nachkriegsjahrzehnten mit ihren deutlichen Verbesserungen der Bedingungen für Arbeitnehmer in der Krisenepoche in ein Schlachtfeld verwandelt, auf dem ein permanenter Psychokrieg ausgefochten wird“, die soziale Interaktion gleiche einem „Eliminationsspiel“, dem selbstredend alles Spielerische fehlt, und auf den „sozialen Plattformen“ seien derart viele „innovative Formen der niederträchtigen Beleidigung und der perfiden Bloßstellung von Mitmenschen“ zu besichtigen, daß man „ein Horrorpanorama der prä- oder, wenn man so will, postzivilisatorischen Niedertracht“ gewahre.

Der, zum dritten, Soziologe Colin Crouch, Autor des Standardwerks Post-Democracy, beschreibt in Le Monde diplomatique vom August 2015, wie im Zuge der neoliberalneoliberalen Kolonisation öffentlicher Dienstleistungssektoren und ihrer Verwandlung in angeblich so weise wie effiziente Märkte der Begriff und das Konzept des Bürgers entsorgt und durch den allgegenwärtigen „KundenKunden“ ersetzt wurde – eine lexikalische Verschiebung, in der sich – verschleiert – nicht allein der Verlust oder die intendierte Zerstörung von Dezenz und Rücksichtnahme ausdrückt.

„Was bedeutet es, wenn im Bahnhof heute statt ‚Passengers for Manchester please change at Birmingham‘ die Durchsage ‚Customers for Manchester …‘ erklingt?“ fragt Crouch und fährt fort: „Eine durchaus zweifelhafte Formulierung, da man annehmen könnte, daß die ‚customers for Manchester‘ die Stadt nicht bereisen, sondern kaufen wollen. Soll die Umbenennung dazu führen, daß das Bahnpersonal die vormaligen Fahrgäste respektvoller behandelt? Das allerdings ließe sich auch erreichen, indem man den Mitarbeitern im Zuge ihrer Ausbildung beibringt, daß Fahrgäste keine Objekte, sondern Bürger sind“ – die eben nun, als KundenKunden, nicht mehr als Gäste, denen man zuvorkommend begegnet, nach Belieben und aufdringlich angeduzt und gegängelt, entrechtet, überwacht, gegeneinander ausgespielt und ausgenommen werden können. Das Wort „KundeKunde“, der einer Legende zufolge König sei, also ist eine klassische AntiphraseAntiphrase. „Erst ihre Verwandlung in KundenKunden“, so Crouch, „macht sie [die vormaligen Bürger] tatsächlich zu Ausbeutungsobjekten.“

Soweit ich es einzuschätzen vermag, ist der Terminus „face-threatening acts“ oder „FTAs“ von Brown und Levinson (1987) in der linguistischen Höflichkeitsforschung in gewisser Weise kanonisch geworden. Umgekehrt „bezeichnet Höflichkeit ein Verhalten, bei dem das Gesicht des Gegenübers gewahrt wird. Dieser Respekt vor dem anderen befriedigt zwei grundlegende Bedürfnisse: zum einen das Verlangen nach Ungestörtheit und Handlungsfreiheit, zum anderen das nach Anerkennung“ (Bild der Wissenschaft 1/2013).

Zu kurz kommen bei der formalpragmatischen Herangehensweise und zumal in Browns und Levinsons harmonistischer Perspektive allerdings zahlreiche kontext- und milieubedingte Aspekte von Unmanierlichkeit, Ausgrenzung, Diskriminierung und, vice versa, Achtsamkeit, Freundlichkeit, Zuwendung.

Beispielsweise werden unter Jugendlichen deviante, ironisch entstellte Höflichkeits- und Unhöflichkeitsvorstellungen gepflegt. „Eine Bitte“, legt Susanne Donner in Bild der Wissenschaft dar, „verstehen die Jugendlichen als Herausforderung, den Wunsch dem Bittsteller so lange wie möglich auszuschlagen. Er wird ignoriert, oder die Jugendlichen erfinden fiktive Gegenargumente. Je unterhaltsamer diese sind, sprich: je mehr es zu lachen gibt, um so besser. […] Nach Brown und Levinson ist jede ausgeschlagene Bitte eine massive Gesichtsverletzung. Doch: ‚Die Jugendlichen empfinden das Gefrotzel untereinander nicht als unhöflich‘, weiß [Martin] Hartung [vom Mannheimer Institut für Gesprächsforschung]. ‚Es ist ihre Form der alltäglichen Kommunikation.‘ Und sie wissen sehr wohl, daß sie nur in der Clique so miteinander umspringen können.“

Oder ein anderes Beispiel. Regional und dialektal begrenzt finden sich rüdeste Schmähungen, die das Gegenteil dessen bedeuten, was mit den Gepflogenheiten nicht Vertraute verstehen. Im fränkischen Sprachraum etwa gelten zahlreiche Invektiven keineswegs als Beleidigungen. In einer Familie, die ich gut kenne, ist die Anrede „Arschlöchlein!“ die höchste Form der verbalen Liebkosung – ein Paradeexempel für die „kosende Schelte“ (Friedrich Kur: How to use Dirty Words – Schimpfwörter und Beleidigungen, Frankfurt/Main 1997).

Gewiß, es gibt Wörter und Wendungen „von unüberbietbarer Brutalität und Gemeinheit“ (Kur), das vor nicht allzulanger Zeit kurrente „Du Scheißopfer!“ läßt einen schaudern. Solch „sprachliches Verhalten oder Handeln im Affekt“ (Kur) will treffen, verletzen, schädigen, bisweilen vernichten, obwohl „schimpfen“ ursprünglich „Scherz treiben, spielen, verspotten“ bedeutet hat, das Schimpfen diente der Kurzweil.

„Das Schimpfen gehört ganz gewiß zur ‚Grundausstattung‘ des animal loquens“, heißt es bei Friedrich Kur, der betont, daß Kraftwörter aus „Frust, Wut, Enttäuschung, Liebeskummer und zur Selbstbehauptung in allen möglichen Widrigkeiten des Lebens hilfreich sein können“. Sie entlasten und vermögen dem berechtigten Widerstand gegen Zumutungen und Übergriffe aller Art Ausdruck zu verleihen (Mießgang stuft Unhöflichkeit „auch [als] eine Form des symbolischen Klassenkampfes“ ein), und es ist kaum von der Hand zu weisen, „daß die strategischen Gründe für Unhöflichkeit eines erwischten Parksünders andere sind als die eines Militärausbilders“ (Gesprächsforschung Online – Zeitschrift zur verbalen Interaktion, Nummer 12, 2011). Gezielte verbale Verletzungen wären somit hinsichtlich der jeweiligen sozialen Rollen, der Machtgefüge und -gefälle, der institutionellen Rahmenbedingungen, nicht zuletzt hinsichtlich der situativen Variabilität zu betrachten – Wolfgang Frühwald nennt als Kriterien „Mimik, Gestik, Körperhaltung und Sprachmelodie“ (Forschung und Lehre 6/2010); genauso wie, ohne Dialektik kommt man schwerlich aus, Höflichkeit, bereits Knigge monierte es, reine Heuchelei oder eine Demütigung sein kann. Es gebe, schrieb er, „eine Art von Herablassung, die wahrhaftig kränkend ist, wobei der leidende Teil offenbar fühlt, daß man ihm nur ein mildtätiges Almosen der Höflichkeit darreicht. Endlich gibt es eine abgeschmackte Art von Höflichkeit, wenn man nämlich mit Leuten von geringerm Stande eine Sprache redet, die sie gar nicht verstehen, die unter Personen von der Klasse gar nicht üblich ist, wenn man das konventionelle Gewäsche von Untertänigkeit, Gnade, Ehre, Entzücken und so ferner bei Personen anbringt, die an solche starken Gewürze gar nicht gewöhnt sind. Dies ist der gemeine Fehler der Hofleute.“ Und im Grünen Heinrich von Gottfried Keller stoßen wir auf folgende Passage: „Schon die Sprache, welche der große Haufen in Deutschland führt, war ihnen unverständlich und beklemmend; die tausend und abertausend „Entschuldigen Sie gefälligst, Erlauben Sie gütigst, Wenn ich bitten darf, Bitt‘ um Entschuldigung“, welche die Luft durchschwirrten und bei den nichtssagendsten Anlässen unaufhörlich verwendet wurden, hatten sie in ihrem Leben nie und in keiner anderen Sprache gehört, selbst das ‚Pardon Monsieur‘ der höflichen Franzosen schien ihnen zehnmal kürzer und stolzer, wie es auch nur in dem zehnten Falle gebraucht wird, wo der Deutsche jedesmal um Verzeihung bittet. Aber durch den dünnen Flor dieser Höflichkeit brachen nur zu oft die harten Ecken einer inneren Grobheit und Taktlosigkeit, welche ebenfalls ihren eigentümlichen Ausdruck hatten.“

Um die Konfusion weiter zu vergrößern: Das Bemühen um politische KorrektheitKorrektheit (und damit Höflichkeit), um die Ächtung gesellschaftlicher Exklusion und denunziatorischer respektive diskriminierender Sprechakte, ist nicht selten selbst hochgradig deplaziert, restringierend, herrisch und narzißtisch. Da wird sehr rasch vielerlei übersehen und verdrängt. „Ist die schwarze Community […] unter sich“, führt Thomas Mießgang aus, „kann das N-Wort durchaus zu einer kameradschaftlich-freundlichen Begrüßungsformel umsemantiert werden, zu einem wohlwollend-grobianischen Schulterklopfen, das vom geteilten Wissen über den Rassismus genauso erzählt wie von der Überwindung diskriminierender Diskurse in der ironischen Sprachverdrehung. Eine als Beleidigung intendierte Geste oder Wortprägung wird also dem Aggressor entrissen […] und von den Insultierten als positiv besetzte Kommunikationsformel verwendet oder gelegentlich sogar als Kampfwerkzeug gegen die Beleidiger eingesetzt.“

Hinzu kommt, daß durch die Bestrebungen, das öffentliche Sprechen nach Maßgaben der Political Correctness zu reinigen – und ich wähle bewußt das Wort „reinigen“ –, „bei nicht wenigen jungen Menschen das Verständnis von Ambivalenz und Ironie in Mitleidenschaft gezogen wird; daß die bloßstellende und befreiende Gewalt des uneigentlichen Sprechens und die Freuden der Disziplinlosigkeit einer ständigen, irgendwie protestantischen Selbstüberprüfung zum Opfer fallen, kurz: daß dem Lachen mißtraut wird“ (Titanic 6/2016). Verloren geht die Möglichkeit der Selbstreflexion und -relativierung qua Spaß und Sprachspiel, sauertöpfische Besserwisserei, die zum eliminatorischen Furor ausarten kann, gewinnt die Oberhand.

Wenig zu lachen haben mittlerweile auch einige Verfechter der akademischen Lehre in Freiheit. Unter der Überschrift „Gefühlte Argumente“ berichtete der Schriftsteller Ilija Trojanow am 27. April 2016 in der taz von einem „Kampf […], der inzwischen auf fast jedem Campus der USA entbrannt ist“. Geführt werde er „unter dem nichtssagenden Titel der ‚politischen KorrektheitKorrektheit‘“. „Immer öfter wird Sprachkritik zur Wortpolizei und diskursive Vielfalt zur dogmatischen Einfalt“, so Trojanow.

Und er erzählte von folgendem Vorfall: „Landesweit bekannt wurde ein Fall an der renommierten Yale University vom letzten Herbst. Die universitäre Verwaltung hatte vor Halloween in einem Rundbrief die StudentInnen aufgefordert, auf potentiell beleidigende Kostüme zu verzichten (das bezog sich konkret auf das ‚blackfacing‘, bei dem sich Weiße das Gesicht schwarz anmalen). Eine Dozentin verfaßte daraufhin eine Mail, in der sie mehr Lockerheit anregte, die Fahne der freien Meinungsäußerung schwenkte und die Sorge äußerte, daß Colleges zu Horten der ‚Zensur und Entmündigung‘ würden. ‚Gibt es keinen Platz mehr für einen jungen Menschen, ein wenig anstößig zu sein?‘ Daraufhin tobte ein Shitstorm, und die Frau sowie ihr Ehemann, Professor an derselben Universität, sahen sich heftigsten Angriffen ausgesetzt.“

Äußerst aggressiv sei die Forderung erhoben worden, „das Ehepaar zu entlassen“. Und das sei beileibe kein Einzelfall gewesen. „Es gibt eine Reihe von Dozenten“, erläuterte Trojanow, „deren Verträge wegen ähnlich gelagerter Fälle nicht verlängert wurden.“

Dieser erschreckende Wutwille der Entrüsteten zur Säuberung der sprachlichen und sozialen Welt pulverisiere, schlußfolgerte Trojanow, „Analyse und Urteilskraft“. Im näheren: „Gerade die Politik der eigenen Identität bedient sich der Gefühle als entscheidender Filter. Was als verletzend empfunden wird, ist anstößig. Und dagegen ist kein Argument gewachsen. Selbst die hehrsten Absichten zerschellen an den Klippen der Empfindsamkeit. Das gilt inzwischen für alle Gruppen, selbst für konservative Weiße. […] Es kann also jeder im Saft der eigenen Überempfindlichkeit schmoren.“ Die Konsequenzen für Lehrinhalte und -gegenstände sind verheerend: „Wenn StudentInnen sich erfolgreich beschweren können, daß ihnen ‚anstößige‘ Texte von Mark Twain und Edward Said (ein Beispiel von vielen) vorgesetzt worden seien, werden vorsichtige, karrierebewußte DozentInnen all jene Texte aussondern, die provozieren, verwirren und irritieren.“

Und das haben andere ja auch schon mal angeordnet.

„Die Sklaverei der deutschen Sprache ist in den Höflichkeitsformeln bis zum kriechendsten Unsinn gesunken und hat bloß dadurch die mehrsten Abstufungen des Knechtsinns gewonnen“, schimpfte Johann Gottfried Seume. Heute führt die Unterwerfung unter dekontextualisierende, outrierte, nicht selten fanatisch eingeklagte sprachliche Umgangsnormen zu erheblichen Einschränkungen von Entfaltungsmöglichkeiten. Der Blogger und Datenschutzaktivist Felix von Leitner, der entschieden für „mehr Empathie und eine Rückkehr zum Solidargedanken“, für „mehr Zusammenarbeit und weniger Kämpfen, mehr Respekt voreinander“ eintritt, beklagt sich in einem Interview auf nachdenkseiten.de (20. September 2016) über eine Kampagne der Amadeu-Antonio-Stiftung gegen „Hate-Speech“, die in Kooperation mit dem Bundesfamilienministerium initiiert wurde. „Unter dem Label der Bekämpfung von ‚Hate-Speech‘ wird jetzt eine moralische Grundlage für das Unterdrücken von unerwünschten Meinungen im Internet geschaffen“, legt er dar. „Zensur ist ein inhaltlich neutrales Machterhaltungsinstrument, das den Eliten dient, um den Rest der Bevölkerung daran zu hindern, sich darüber auszutauschen, was das Problem ist, daß es überhaupt ein Problem gibt und man nicht der einzige ist, der sich das fragt – und was hiergegen getan werden muß. […] Für eine Zensurinfrastruktur reicht es in diesem Sinne bereits aus, wenn Menschen sich nicht mehr trauen, bestimmte Themen zu diskutieren oder bestimmte Thesen zu diskutieren, weil sie mit einem öffentlichen Pranger rechnen müssen, wie ihn die Amadeu-Antonio-Stiftung nicht nur vorgeschlagen, sondern bereits betrieben hat.“

Den Meistermotzer und Eristiker Schopenhauer, der die Polemik ad personam und an die Adresse ganzer Gruppen von Menschen mit Wollust auf die Spitze trieb, würde man aus der Zunft der Philosophen ausschließen. Ebensowenig sähe der unbestechliche Herbert Wehner, der langjährige Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, in diesen Tagen der leeren, pflaumenweichen Politrhetorik der „Lächelmasken“ (Mießgang) noch Land. Er pflegte zu einer Zeit, als auf der Agora Konflikte mit politischen Kontrahenten mit notfalls erheblicher Schärfe, indes zivilisiert austragen wurden, die Kunst der Verbalinjurie, des gezielten Aktes verbaler Gewalt, wie kein zweiter. Wehners Schimpfattacken und -kanonaden, stets institutionell gerahmt, sind legendär, seine mit einer Rekordserie von Ordnungsrufen prämierten Schmähzwischenrufe sind Legion. Jeder Malediktologe hätte an Wehners Kreationen seine helle Freude: „Einstudierter Pharisäer!“ – „Wir können ja nicht auch noch die Dummheit verstaatlichen, die Sie verkörpern!“ – „Staatszwerg!“ – „Wenn man Sie sieht, vergeht einem die Lust am Kinderkriegen!“ – „Schämen Sie sich, Sie Frühstücksverleumder!“ – „Geistiges Eintopfgericht!“ – „Sie Salatöl!“

Verschwunden oder im Verschwinden begriffen also ist in bestimmten Bereichen der einerseits medial deformierten, andererseits medial uniformen Öffentlichkeit die klärende, konfrontative, bisweilen anarchische Intervention. Dafür nimmt sich in der alltäglichen Interaktion, scheint’s, jeder überall zu jedem Zeitpunkt die Freiheit, der plansten und niedersten Gesinnung freien Lauf zu lassen. Thomas Mießgang konstatiert, daß in dem Maße, in dem der „strategische GrobianismusGrobianismus“ zurückgedrängt wurde (und wird), „die Erosion des Sittengesetzes“ sich fortsetzt, „sich das Vulgäre ausbreitet“ und sich der „Verfall der Umgangsformen“ beschleunigt. „Die Struktur menschlicher Affekte und ihrer Kontrolle“ (Norbert Elias) scheint vielerorts zu zerbröseln.

Kaum noch jemand kann sich zum Beispiel in einer Lautstärke unterhalten, die aus dem Homo sapiens einen zivilisierten Menschen macht. An nahezu jedem Nebentisch in nahezu jedem Café sitzt eine Ansammlung von Peinfiguren, die ihre unmaßgeblichen Meinungen akustisch derart ostentativ ausbreiten, daß man sich die ridikülen Schweigekreise der achtziger Jahre zurückwünscht.

Die Verrottung der Lebensumstände, sie schreitet offenbar unaufhaltsam voran. Die Unerträglichkeit namens öffentliches Leben, das nur mehr „Gesellschaftswiderwillen“ (Peter Handke) auslöst: Es ist der permanente monadenhafte, egozentrische Aufruhr, der sinn- wie ziellose Krawall, das unentwegte Affekt- und Affektiergehabe. Jürgen Kaube erkennt darin – bei aller Gleichförmigkeit solcher Aufspreizungen, bei aller Homogenität solcher „Selbstverwirklichungs“-Hampeleien, die nichts mit fröhlicher Pluralität gemein haben – das „Recht zur Normalabweichung“: „Individualität heißt also nicht Originalität und schon gar nicht, daß es möglich wäre, ein Leben diesseits gesellschaftlicher Prägungen zu führen.“ Denn all diese angeblichen Individualisten sind durch und durch nichts anderes als begeistert Angepaßte. Sie gehorchen ausschließlich dem unausgesprochenen Zwang zur Exaltation, konformistische „Identitätspflege“ (derselbe) ist Pflicht.

Es ist aber nicht bloß das „Erlebnisvolk“ (Stefan Rose), das gewissermaßen als Autistenmasse auf jeden Anflug von Empathie pfeift; es sind nicht bloß die durch die Werbeindustrie, Aufpeitschermedien und andere soziopathisch-ideologische Apparate angestachelten und seelisch amputierten Unterklassen- und Randgruppenexistenzen, die durch die Welt ramentern, als gebe es weder Nachbarn noch Mitmenschen. Die spätkapitalistische Verelendung der Sitten und die Depravation der Gemüter, das insinuierte Naturgesetz befolgend, zu (über-)leben habe nur verdient, wer sich im Dauerkonkurrenzkampf lauter, härter, ungestümer, gemeiner und brutaler geriert als der Nächstbeste, machen vor keiner Schicht halt. Im Juste milieu, in den sogenannten bürgerlich-gebildeten Kreisen, sieht es keinen Deut besser aus.

Die Schriftstellerin Kathrin Röggla spricht in ihrem Essay „Reden in Zeiten der VerrohungVerrohung“ (Le Monde diplomatique, Mai 2016) von der ubiquitären Zerstörung der „Würde der Rede“ (Frühwald), der überall erlebbaren „Aufkündigung des Gesprächs“ und den zahlreichen „VerrohungVerrohungskampagnen“ (eines ihrer Beispiele: Innenminister de Maizières Satz, „man dürfe sich nicht von Kinderaugen erpressen lassen und müsse diese Bilder eben aushalten“), und sie erzählt folgendes: „Meine Irritation setzte im letzten Jahr auch oft genug beim bürgerlichen Kulturpublikum an. Was ist mit dem Publikum los? fragte ich mich da. Denn plötzlich pöbeln sie, und auch wenn man mir zum Beispiel in der Akademie der Künste sagte, sie haben da immer schon etwas gepöbelt, pöbeln sie jetzt anders, irgendwie lauter. Sie, die kulturinteressierten Bürger, unterbrechen die Leute, die zu hören sie ja gekommen waren. Sie sagen nicht immer zu einem iranischen Pianisten: ‚Reden Sie gefälligst deutsch, wenn Sie in Deutschland spielen!‘ – wie im März in der Kölner Philharmonie, als dieser sich in englischen Worten ans Publikum wandte –, aber oft muß man sie daran erinnern, daß eine Podiumsdiskussion erst mal etwas ist, wo Statements auf dem Podium ausgeführt werden, die dann in einem zweiten Schritt diskutiert werden. […] Für mich stellt gerade die vermeintliche Harmlosigkeit dieser zunehmenden Pöbeleien einen Indikator dar, einen Indikator für eine gewaltige Schieflage in der öffentlichen Kommunikation. Warum kündigen diese Leute die Veranstaltungskonventionen auf? Geht es ihnen um verstärkte Sichtbarkeit, wollen sie mehr gesehen und nicht übersehen werden?“

In der Cafeteria des geisteswissenschaftlichen Zweiges der Universität Frankfurt ist mir folgende Unterhaltung zu Ohren gekommen (die drei Frauen waren nicht zu überhören): „Diese Hartz-IV-Penner sollen das Maul halten.“ – „Es ist unglaublich, wie die sich aufführen.“ – „Die gehören in Zwangsarbeit gesteckt.“ Am nächsten Tag auf der Terrasse einer Speisegaststätte; zwei höhere Bahnangestellte, beide ungefähr Mitte dreißig; des einen Freundin ruft an; er: „Wieso bist du immer noch nicht da?! Dich mach’ ich rund, du Schlampe!“; und so weiter; nach dem Telephonat beginnt er gegenüber seinem Arbeitskollegen zu prahlen: „Wie ich die Alte heute fertiggemacht hab’, als es um den Posten 23 ging! Hat die losgeheult! Mann, war das geil!“

Folgenden Tags treffe ich einen Freund, der ebenfalls bei der Bahn beschäftigt ist. „So sind sie“, sagt er. „Heute kann sich jeder aufführen wie offene Hose.“ Das Niedermachen anderer sei üblich, sogenannte „Führungskurse“ brächten nichts. „Lustgewinn aus Demütigung, verstehst? Und nachher scheißfreundlich. Die Heuchelei ist Grundprinzip. Wie heißt’s? Anstand ist eine Zier, aber weiter kommt man ohne ihr.“

Die Folgen des vom Soziologen Wilhelm Heitmeyer in zahllosen empirischen Details beschriebenen „rabiaten Klassenkampfes von oben“, der vor Jahren angezettelt worden ist, sind allenthalben zu gewahren – bei den Auftritten der, mit Karl Kraus zu reden, „elektrisch beleuchteten Barbaren“ in Scripted-Reality-Shows und in den Schlangen im Supermarkt und auf der Post und in den Chefetagen und sonstwo.

Es scheine „mit der Angst vor dem Abstieg auch die Bereitschaft zu wachsen, sich im Verteilungskampf mit härteren Bandagen Vorteile zu verschaffen“, liest man auf der Website des WDR. Die Deregulierung des Sozialen ist weit vorangeschritten. Große Teile der Gesellschaft befinden sich im oder fürchten den „ständigen Abstiegskampf“ (ein winziger Teil organisiert ihn), sagt Oliver Nachtwey vom Frankfurter Institut für Sozialforschung (Spiegel Online, 14. August 2016). Der „gesteigerte Wettbewerb“ sei, erläutert er, „heute so schwer als solcher erkennbar, gerade weil er im Namen der Selbstentfaltung stattfindet“. Man denke etwa „an die sogenannten Helikoptereltern. Die sagen häufig, sie schicken ihr Kind schon mit vier Jahren zum Mandarinlernen, damit es gebildet ist. In Wirklichkeit wollen sie aber auch, daß es in Zukunft, wenn es noch viel härter wird da draußen, der Konkurrenz standhalten kann. Gerade in linken, liberalen Milieus findet sich diese Lebenslüge: Man ist ja immer für soziale Integration auf allen Ebenen – aber nicht mehr, wenn es um den eigenen Nachwuchs geht.“

Man ist geneigt, den „allgemeinen Kompetitionslärm“ (Joseph Vogl) soziolinguistisch auf den Begriff zu bringen. Bei Valentin Volosinov (Marxismus und Sprachwissenschaft – Grundlegende Probleme der soziologischen Methode in der Sprachwissenschaft, 1929) gilt das Wort (oder Wortzeichen), das „empfindsam die feinsten Veränderungen des gesellschaftlichen Seins“ wiedergibt, als multidimensionales, mehrfach gebrochenes „ideologisches Zeichen“. In ihm kollidieren die heterogenen Ziele und Weltansichten, es artikuliert „die Überschneidung unterschiedlich orientierter gesellschaftlicher Interessen innerhalb einer Zeichengemeinschaft“. Das Wort, eine Art Akzentuierungsagent der Konfrontation, der Text, die Rede, die „ideologische Kommunikation“ werden somit „zur Arena des Klassenkampfes“.

Für Brecht war Freundlichkeit eine politische Kategorie, eine erlernbare Haltung, und „wo Freundlichkeit nicht geübt werden kann, wegen der Härte der Klassenauseinandersetzungen, leben wir in finsteren Zeiten“ (Christian Semler).

Adorno notierte in den Minima Moralia, „daß in der repressiven Gesellschaft Freiheit und Unverschämtheit aufs gleiche hinauslaufen“ (§ 72). Und Richard Sennett hielt in Verfall und Ende des öffentlichen Lebens – Die Tyrannei der Intimität (Frankfurt/Main 1983) fest, Zivilisiertheit bedeute, daß man „nicht das eigene Selbst zu einer Last für andere macht“. – „Zivilisiertheit ist ein Verhalten, das die Menschen voreinander schützt und es ihnen zugleich ermöglicht, an der Gesellschaft anderer Gefallen zu finden.“

Mir scheint, davon sind wir weiter denn je entfernt.

Kulturhistorische Dimensionen

Höflichkeitsdissonanzen. Zum Gebrauch unterschiedlicher Höflichkeitsformen in historischen Texten und Gesprächen

Dieter Cherubim

Politeness may be reconstructed as a means of controlling social distance, depending on the evaluation of situations and cultural factors. In managing politeness the communicative behaviour need not be symmetrical but can be complementary or even dissonant. Two examples from 19th century literary texts (Karl May, Thomas Mann) are used to illustrate how this was achieved and also commented in poetic contexts. Some examples from an Austrian guide for polite behaviour (so-called Complimentirbuch) of the early 19th century (Rittler 1834) are quoted to illustrate ways of resolving social conflicts without losing composure.

1.Höflichkeitskonstruktionen und kultureller Kontext

Höflichkeit ist ein soziales Konstrukt zur Steuerung von menschlichen Interaktionen, das im Kern auf Variationen von Distanz oder Respekt beruht und sich in unterschiedlichen, u.a. auch sprachlichen Formen äußern kann (Cherubim 2011, 4ff.). Dabei stellt das Höflichkeitsverhalten, das sich notwendig kommunikativen Akten und deren Wahrnehmung und Interpretation bei den Beteiligten verdankt, eine „mittlere“ Stufe von Beziehungssteuerung zwischen den Interaktanten dar: zwischen Formen eines „kalten“, feindseligen oder aggressiven Verhaltens auf der einen Seite und Formen eines „warmen“, freundschaftlichen oder sogar liebevollen Verhaltens auf der anderen Seite, und es ist janusartig beiden Extremen zugewandt (vgl. Schema 1). Denn feindseliges Verhalten kann aus pragmatischen Gründen auf ein distanziertes Verhalten reduziert werden und aus Respekt kann sich mit der Zeit und bei entsprechenden Bedingungen ein freundschaftliches Verhältnis entwickeln, seltener auch wieder umgekehrt.

Schema 1

Was Höflichkeit ist oder als höfliches Verhalten verstanden wird, ist so nicht nur variabel und instabil, sondern auch sprach- und kulturabhängigkulturabhängig, wie man es sich schon am klassischen Beispiel der Anredepronomina verdeutlichen kann: In engen, relativ geschlossenen Gemeinschaften braucht man im allgemeinen keine unnötigen Komplikationen mit mehreren situationsspezifischen Alternativen oder setzt sie, falls doch vorhanden, gerne durch Zusatzregeln („Ab 2000 m Höhe / unter Wasser wird geduzt!“) außer Kraft. Entwickelte Gesellschaften mit ihren Differenzierungen und komplizierten Übergängen zwischen einzelnen Bereichen oder Sphären tendieren dagegen zur Ausprägung mehrerer Möglichkeiten, die in der Sozialisation von Kindern oder bei der Integration von Fremden erst mühsam erlernt werden müssen; und dies gilt vor allem, wenn sie mit anderen Möglichkeiten wie z.B. dem Gebrauch von Eigennamen gekoppelt sind. Im Deutschen ist etwa die Anrede mit dem VornamenVornamen meist mit dem Duzen verbunden, während das Siezen die Anrede mit dem Familiennamen (plus vorangestellten Titeln) verlangt; Ausnahmen davon sind aber in bestimmten Berufsfeldern (Kaufhaus) oder engeren Arbeitsgemeinschaften (auch in der Wissenschaft) möglich (Heringer 2009). Im Standardchinesischen gibt es hingegen nur eine Anredeform, die aber nicht mit dem Gebrauch des Vornamens verbunden werden darf; eine dem Siezen vergleichbare Form der Anrede ist (wie auch im Schwedischen) nur für wenige honorative Anreden reserviert (Liang 2009). Auch für das Englische gibt es bekanntlich nur die eine Möglichkeit des you, und selbst das in älteren Texten oder in religiösen Zusammenhängen noch verwendete thou fällt nicht aus diesem Rahmen, sodass soziale oder situative Differenzierungen auf andere formelle Techniken zurückgreifen müssen. Höflichkeitskonzepte sind also stets Antworten auf zivilisatorische Prozesse, die dann ihre eigene, durchaus ambivalente Kraft (z.B. Differenzierung, Identifikation und soziale Kontrolle) entfalten können. Selbst der deutsche Ausdruck Höflichkeit zeigt noch diese historische Relativität, insofern die Kultivierung des guten Geschmacks bzw. der „feinen“ Unterschiede durchaus mit der Institution der Höfe bzw. der höfischen Gesellschafthöfischen Gesellschaft in der Frühen Neuzeit zu tun hatte.1

Der konstruktive Charakter von Höflichkeit ergibt sich daraus, dass entsprechende Verhaltensweisen eben nicht absolut, sondern erst im Zusammenhang oder als Ergebnis interaktiver Akte als mehr oder weniger höflich, nicht-höflich oder sogar als unhöflich bestimmt werden können und dass sie eine Verarbeitung unterschiedlicher Faktoren voraussetzen: vor allem von Intentionen, die dabei verfolgt werden, von Höflichkeitsregeln, die in verschiedener Form (z.B. durch kommunikative Praxis oder Regelbücher) vermittelt werden, und von Situationseinschätzungen, die selbst wieder komplexer Natur sind (Bayer 1977). Dabei wird oft davon ausgegangen, dass der Gebrauch von höflichen Verhaltensweisen eine Art SymmetrieSymmetrie, d.h. den Bezug auf gleiche oder wenigstens vergleichbare Höflichkeitskonzepte beinhalte, sodass Höflichkeit und Unhöflichkeit den gleichen Maßstäben unterliegen. Dies ist aber eine kontrafaktische Annahme, die nicht der vielseitigen Realität des Höflichkeitsmanagements in kommunikativen Zusammenhängen und damit auch nicht unseren Erfahrungen damit entspricht.

2.Höflichkeitsentwicklung am Beispiel. Vom Kompliment zur Aggression

Wie Höflichkeitskonstruktionen in kommunikativen Akten entstehen, kann man sich modellhaft (und das heißt: vereinfachend) wie folgt vorstellen:

Schema 2

Eine Aktion eines Kommunikanten A verfolgt hinsichtlich eines Kommunikanten B eine bestimmte (bewusste oder unbewusste) Intention (z.B. jd. geneigt zu machen / jd. zu etwas veranlassen) und versucht diese Intention höflich, d.h. mit Distanz oder Respekt an B zu vermitteln. Dabei orientiert sich A an geltenden Normen oder erfahrungsgestützten Regeln der Höflichkeit (z.B. jdm. nicht zu nahe treten) und wählt nach Einschätzung der aktuellen Kommunikationssituation (z.B. soziales Gefälle, formell vs. informell) diejenigen Ausdrucksmittel sprachlicher und / oder nichtsprachlicher Qualität aus, von denen er glaubt, dass er damit erfolgreich ist, ohne damit die vorausgesetzte Beziehung zwischen A und B (hier: Distanz / Respekt) in Frage zu stellen. Das Verhalten von A erzeugt dann, wenn adäquat wahrgenommen und verstanden, bei B einen Eindruck nicht nur von dem, was A von ihm will, sondern auch von dessen Höflichkeitskompetenz, Situationseinschätzung und dem vorausgesetzten Beziehungsverhältnis, das nicht in Frage gestellt werden soll. Die daraus abgeleitete Reaktion von B kann dann die gesamte Konstellation bestätigen, aber auch partiell oder im Ganzen korrigieren, was wiederum von A zu verarbeiten ist und so in folgenden kommunikativen Schritten zu weiteren Aktionen und Reaktionen bzw. entsprechenden, eventuell modifizierten Interpretationen auf beiden Seiten Anlass geben kann. Vieles von diesen rekursiv anwendbaren Prozessen wird dabei nicht sichtbar gemacht, sondern nur aus bestimmten Anzeichen (z.B. Tonfall, Gebrauch von Modalpartikeln) erschlossen; aber es ist natürlich auch möglich und keineswegs selten, dass Divergenzen durch metakommunikative Thematisierung sichtbar gemacht und verhandelt werden.

Ich wähle ein literarisches Beispiel des späten 19. Jahrhunderts, das ich in anderen Zusammenhängen schon ausführlicher diskutiert habe: den Beginn des Romans „Am Rio de la Plata“ von Karl May (1894).1 Die dort in Form einer Ich-Erzählung dargestellte, relativ abgeschlossene Szene umfasst drei Schritte:

Besuch eines Unbekannten im Hotel des Erzählers mit auffällig übertriebener („überhöflicher“) Begrüßung und Unterbreitung eines noch unbestimmten Angebots, das sich letztlich als delikat (Waffenhandel, Bestechung) erweisen sollte:

Eben setzte ich den Hut auf, als es an meine Tür klopfte. Ich rief herein, und zu meinem großen Erstaunen trat ein fein nach französischer Mode gekleideter Herr ein. Er trug eine schwarze Hose, eben solchen Frack, weiße Weste, weißes Halstuch, Lackstiefel und hielt einen schwarzen Zylinderhut in der Hand, um welchen ein weißseidenes Band geschlungen war. Dieses Band, von welchem zwei breite Schleifen herabhingen, brachte mich unerfahrenen Menschen auf die famose Idee, einen Kindstauf- oder Hochzeitsbitter vor mir zu haben. Er machte mir eine tiefe, ja ehrerbietige Verneigung und grüßte:

„Ich bringe Ihnen meine Verbeugung, Herr Oberst!“

Er wiederholte seinen tiefen Bückling noch zweimal in demonstrativ hochachtungsvoller Weise. Wozu dieser militärische Titel? Hatte man hier in Uruquay vielleicht dieselbe Gepflogenheit wie im lieben Österreich, wo die Kellner jeden dicken Gast ‚Herr Baron‘, jeden Brillentragenden ‚Herr Professor‘ und jeden Inhaber eines kräftigen Schnurrbartes ‚Herr Major‘ nennen? Der Mann hatte so ein eigenartiges Gesicht. Er gefiel mir nicht. Darum antwortete ich kurz:

„Danke! Was wollen Sie?“

Er schwenkte zweimal den Hut hin und her und erklärte:

„Ich komme, mich Ihnen mit allem, was ich bin und habe, zur geneigten Verfügung zu stellen.“

Prüfung des Angebots durch den von Beginn an misstrauischen Erzähler und Versuch einer Klärung der Situation:

Dabei richtete sich sein Auge von seitwärts mit einem scharf forschenden Blick auf mich. Er hatte keine ehrlichen Augen.

Darum fragte ich: „Mit allem, was Sie sind und haben? So sagen Sie mir zunächst gefälligst, wer und was Sie sind.“

„Ich bin Señor Esquilo Anibal Andaro, Besitzer einer bedeutenden Estanzia bei San Fructuoso. Euer Gnaden werden von mir gehört haben.“

Es kommt zuweilen vor, daß der Name eines Menschen bezeichnend für den Charakter desselben ist. Ins Deutsche übersetzt, lautete derjenige meines Besuches Äschylus Hannibal Schleicher. Das war gar nicht empfehlend.

„Ich muß gestehen, daß ich noch nie von Ihnen gehört habe“, bemerkte ich. „Da Sie mir gesagt haben, wer und was Sie sind, darf ich wohl auch erfahren, was Sie haben, das heißt natürlich, was Sie besitzen?“

„Ich besitze erstens Geld und zweitens Einfluß.“

Er machte vor den beiden Worten, um sie besser ins Gehör zu bringen, eine Pause und sprach sie mit scharfer Betonung aus. Dann sah er mich mit einem pfiffigen, erwartungsvollen Augenblinzeln von der Seite an. Sein Gesicht war jetzt ganz dasjenige eines dummlistigen, dreisten Menschen.

Die Klärung der Situation (Verwechslung) führt dann zu einer tendenziell aggressiven Haltung (Erregung) beim Besucher, der wiederum der Erzähler mit „kalter“ Höflichkeit begegnet:

Da rief er zornig: „So hole Sie der Teufel! Warum sagten Sie das nicht sogleich?“

„Weil Sie nicht fragten. Ihr Auftreten ließ mit Sicherheit schließen, daß Sie mich kennen. Erst als Sie von den Gewehren sprachen, erkannte ich, wie die Sache stand. Dann habe ich Sie sofort auf Ihren Irrtum aufmerksam gemacht, was Sie mir hoffentlich bestätigen werden.“

„Nichts bestätige ich, gar nichts! Sie hatten mir nach meinem Eintritt bei Ihnen sofort und augenblicklich zu sagen, wer Sie sind!“

Er wurde grob. Darum antwortete ich in sehr gemessenem Ton:

Ich ersuche Sie um diejenige Höflichkeit, welche jedermann von jedermann verlangen kann! Ich bin nicht gewöhnt, mir in das Gesicht sagen zu lassen, daß mich der Teufel holen sollte […].

 

Die so entwickelte AggressivitätAggressivität auf beiden Seiten führt dann zur Artikulation verdeckter und offener Vorwürfe (Unterstellung von Heuchelei) und zum Abgang des Besuchers nach Austausch von intentional gesichtswahrenden Drohungen und Gegendrohungen.

Die literarische Form des Textes macht es hierbei möglich, die sich wandelnde Situationseinschätzung wenigstens des Erzählers fortlaufend miteinzuarbeiten. Interessant ist auch, wie stark dabei nonverbale und paraverbale Höflichkeitstechniken (Kleidung, Gestik, Mimik, Betonung) neben klassischen sprachlichen Mitteln (Titulaturen, performative Formeln wie geneigt u.ä.) eingesetzt werden2 und wie dann die schrittweise Veränderung der sozialen Beziehungen, die vor allem vom Erzähler und von dessen durch Skepsis bestimmten, wenig entgegenkommenden (eher unhöflichen) Reaktionen ausgeht, durch entsprechende Interpretationen (ehrerbietig, eigenartig, [nicht] ehrlich, dummlistig, dreist / vertraulich, erstaunt, ernst, verlegen, zornig, grob) signalisiert und gesteuert wird. Höflichkeit und UnhöflichkeitUnhöflichkeit bzw. GrobheitGrobheit als gemeinsam konstruierte Beziehungskonzepte werden zudem in ihrer Ambivalenz sichtbar gemacht: Höflichkeit kann darauf abzielen, einen persönlichen Zugang zu öffnen, aber auch (so im Beschluss der Szene durch den Erzähler), jemand kalt „abfahren“ zu lassen; Unhöflichkeit kann zunächst noch positiv als List der Verstellung verstanden werden, dient aber letztlich dazu, die Illusion einer freundlichen Beziehung zu zerstören und AggressivitätAggressivität zu entfalten.

3.Regional und sozial bedingte Differenzen von Höflichkeitsstilen

Höflichkeitskonzepte und ihre Umsetzung im kommunikativen Alltag dienen also primär der Beziehungssteuerung zwischen den Beteiligten auf einem bestimmten Niveau und orientieren sich dabei an anthropologischen und kulturhistorischen Voraussetzungen, die durch praktische Erfahrungen bestätigt und sekundär durch fixierte Regeln kontrolliert werden können. Nicht immer wird jedoch Höflichkeit im sozialen Handeln benötigt. So kann Höflichkeit z.B. bei der Abwehr von drohenden Gefahren, wenn schnelles Handeln nötig ist, eher hinderlich sein und ist deswegen auch in manchen institutionellen Kontexten (z.B. beim Militär) explizit ausgeschlossen oder wird durch hochgradig rituelles Verhaltenrituelles Verhalten ersetzt. Ebenso fehl am Platz erscheint sie auch in ganz persönlichen Situationen (z.B. bei Liebeserklärungen); hier kann sie sogar kontraproduktiv wirken.1

Wie Höflichkeit aktuell konstruiert bzw. fortlaufend rekonstruiert wird, ist so ein Akt der BalanceBalance, bei dem Intentionen und Situationseinschätzungen der Beteiligten miteinander verarbeitet und die dabei mehr oder weniger bewusst unterstellten Höflichkeitsregeln auf ihre Anwendbarkeit und Geltung hin überprüft werden müssen. Dabei erwecken Anstandsbücher bei ihren Demonstrationen von gesellschaftlich relevantem Höflichkeitsverhalten (der „feinen Art“, wie es früher gern hieß) oft den Eindruck, als gäbe es nur die Alternative zwischen regelkonformem („höflichen“) und regelabweichendem („unhöflichen“) Verhalten, während in der Realität, z.B. bei unterschiedlichen sozialen Konstellationen eine größere Bandbreite von Möglichkeiten des Einsatzes von Höflichkeitstechniken oder Höflichkeitsverstößen beobachtbar ist. Darüber hinaus wird leicht der Eindruck vermittelt, gute Höflichkeit erfordere eine gewisse Kooperativität zwischen den Beteiligten, die sich u.a. in Symmetrien oder der Reziprozität des Verhaltens zeige. Tatsächlich dürften sich aber den beobachtbaren Konsonanzen ebenso häufig Dissonanzen, z.T. als bloß fakultative Varianzen, z.T. als Konfliktmarkierungen an die Seite stellen lassen. Nehmen wir wieder ein Beispiel aus dem Alltag.

Der in so vielen Sprachen und Kulturen beliebte Tageszeitgruß (Guten Tag!), der meist nur noch als reduzierte Wunschformel verstanden wird oder sogar bloß noch ein semantisch leerer HöflichkeitsmarkerHöflichkeitsmarker ist, wird im Normalfall mit einem symmetrischen Respons (_guten Tag!) verbunden. Abweichungen von dieser Praxis z.B. in der Umgangssprache sind aber sehr häufig und aus verschiedenen Gründen beliebt: So werden als Reaktionen gerne verkürzte Varianten (’n Tag! bzw. Tach!) eingesetzt, die je nach Tonfall positive (Kollegialität, Vertrautheit) oder negative Bedeutungen (Desinteresse, Abwehr) signalisieren können. Durch Aufwertung mit Diminutiv (Tachchen!) kann dabei eine negative Funktion der Verkürzung wieder aufgefangen werden. Die Neutralität des Standards (Guten Tag!) kann durch Nutzung regionaler Varianten (z.B. Moin in Norddeutschland, Grüß Gott! im Süden) oder ein Hallo als Lockerungsübung), weiterhin durch fremdsprachige Alternativen (Hey! Salus!) korrigiert und mit zusätzlicher Bedeutung aufgeladen werden, wobei das bei unterschiedlichen Situationseinschätzungen aber auch falsch (z.B. als Aufdringlichkeit oder Affektiertheit) verstanden werden kann. Eine pointierende, silbenbetonende Aussprache wird eher als Anzeichen größerer Formalität, eventuell sogar konfliktindizierend gedeutet; das gilt auch für Erweiterungen der Grußformel durch Titel und Namen. Nur die Grußformel zu benutzen kann darauf hinweisen, dass kein Gesprächskontakt möglich (Eile) oder erwünscht ist (Vermeidung); wird er jedoch gewünscht, folgen häufig Fragen nach dem Wohlbefinden, bei der wiederum eine minimale (lakonische) Replikation (gut!) wiederum kontraproduktiv wäre. Wie dies alles aber im konkreten Fall im Sinne einer Höflichkeitsgestaltung interpretiert und eingesetzt wird, muss jeweils Schritt für Schritt von den Beteiligten unter Nutzung verschiedener Informationen rekonstruiert und im Fortgang der Interaktion überprüft werden.

Während dissonante Höflichkeitsgestaltung dieser Art sich nur auf einzelne sprachliche Mittel bezieht und Fehlinterpretationen dabei leichter durch Korrekturen, notfalls auch durch metakommunikative Vergewisserungen repariert werden können, macht der Gebrauch unterschiedlicher Höflichkeitsstile erheblich mehr Schwierigkeiten. Das kann z.B. generational (Jugendliche vs. Erwachsene), sozial (Unterschicht vs. Mittelschicht) oder regional (Dialekt vs. Standardsprache) bedingt sein, kann aber auch mehrdimensional (z.B. Dialekt- vs. Schicht- vs. Generationenkontraste) fungieren. Ein besonders schönes Beispiel dafür hat Thomas Mann mit einer Szene in den „Buddenbrooks“ (1894) geliefert, wo der Münchner Permaneder nach Lübeck kommt, um bei der Familie des Senators um die Hand der Schwester Toni anzuhalten. Da ich auch diese literarische Szene ebenfalls schon an anderer Stelle in ihrem Ablauf genauer behandelt habe (vgl. Cherubim 2009, 106ff.), kann ich mich hier auf die Verdeutlichung einiger DissonanzenDissonanzen und ihrer Folgen für die Höflichkeitsgestaltung im ersten Gespräch beschränken.

Die Szene (Teil VI, Kap. 4), die ja ebenso durch charakterisierende Hinweise des Erzählers oder der Figuren interpretativ abgesichert wird, lebt vor allem vom Gegensatz zwischen zwei Welten, was primär am Sprachverhalten verdeutlicht, aber ebenso auf anderen damit verbundenen Ebenen sichtbar gemacht wird. Dabei wird der Unterschied zwischen süddeutschem (bair.) Dialekt und norddeutscher Umgangssprache2 gerade auch als soziale Differenz zwischen einer groben, direkten Sprechweise des Besuchers, die weniger Rücksicht auf die Adressaten nimmt als darauf abgestellt ist, die eigene Befindlichkeit zu artikulieren, und einer „feineren“, beherrschten Sprechweise der alten Konsulin, die Verbindlichkeit intendiert, notfalls aber auch ins Unverbindliche ausweicht, dargestellt. Für das Dienstmädchen mit seiner einfacheren Weltsicht ist es sogar eine Differenz zwischen „deutsch“ (dütsch) und „nichtdeutsch“. Die Grobheit der Sprechweise des Besuchers wird paraverbal durch Merkmale wie „laut“, „(starke) Betonung“, „knorrig“ gekennzeichnet; ihrer als unkultiviert3 und aufdringlich empfundenen Wirkung entsprechen Erscheinung und Bekleidung des Gastes ebenso wie seine Mimik und Gestik (vertrauliches Blinzeln, unruhige Handbewegungen). Vor allem aber sind es die durchgängige Neigung zu direkten Gefühlsausbrüchen (Äußerungen des Unbehagens, der Freude) und vereinnahmende dialogische Formeln wie gelten’s, die das Selbstbild der um Beherrschung ringenden Konsulin mehrfach in Frage stellen:

 

Die Konsulin hatte sich nun völlig erhoben und trat mit seitwärts geneigtem Kopf und ausgestreckten Händen auf ihn zu …

„Herr Permaneder! Sie sind es? Gewiß hat meine Tochter uns von Ihnen erzählt. Ich weiß, wie sehr Sie dazu beigetragen haben, ihr den Aufenthalt in München angenehm und unterhaltend zu machen … Und Sie sind in unsere Stadt verschlagen worden?“

„Geltn’s, da schaun’s!“ sagte Herr Permaneder, indem er sich bei der Konsulin in einen Lehnsessel niederließ, auf den sie mit vornehmer Bewegung gedeutet hatte, und begann, mit beiden Händen behaglich seine kurzen und runden Oberschenkel zu reiben …

„Wie beliebt?“ fragte die Konsulin …

„Geltn’s, da spitzen’s!“ antwortete Herr Permaneder, indem er aufhörte, seine Knie zu reiben.

„Nett!“ sagte die Konsulin verständnislos und lehnte sich vor, die Hände im Schoß, mit erheuchelter Befriedigung zurück. Aber Herr Permaneder merkte das; er beugte sich vor, beschrieb, Gott weiß, warum, mit der Hand Kreise in der Luft und sagte mit großer Kraftanstrengung:

„Da tun sich die gnädige Frau halt … wundern!“

„Ja, ja, mein lieber Herr Permaneder, das ist wahr!“ erwiderte die Konsulin freudig, und nachdem dies erledigt war, trat eine Pause ein. Um aber diese Pause auszufüllen, sagte Herr Permaneder mit einem ächzenden Seufzer:

„Es is halt a Kreiz!“

„Hm … wie beliebt?“ fragte die Konsulin, indem sie ihre hellen Augen ein wenig beiseite gleiten ließ …

„A Kreiz is!“ wiederholte Herr Permaneder außerordentlich laut und grob.

„Nett“, sagte die Konsulin begütigend, und somit war auch dieser Punkt abgetan.

 

Auch andere Seiten dialektal geprägter Direktheit, z.B. eine brüske Reaktion auf ein höflich gemeintes Kompliment der Konsulin („Is scho recht. Davon is koa Red“), später noch die anbiedernde Anrede (Herr Nachbohr) und die unverstellte Demonstration bäuerlicher Schläue („ungewöhnlich hurtiger Blick“) gegenüber dem jungen Konsul kommen hier zum Zuge. Kein Wunder also, dass dies von der Familie beim späteren „Nachverbrennen“ als Stilwidrigkeit und fehlende Weltläufigkeit (Provinzialität) eingeschätzt wird, mit der man im Höflichkeitsmanagement schwer zu Recht kommt, sich bisweilen auf Unverbindlichkeiten zurückziehen muss wie die alte Konsulin („ein angenehmer Mann“) oder über die man sich (hinterher) arrogant „moquieren“ kann.

4.Mögliche Höflichkeitsdissonanzen In Anstandsbüchern

Während man für die Rekonstruktion des HöflichkeitsmanagementsHöflichkeitsmanagements in aktuell aufgezeichneten Gesprächen, gerade auch bei unübersehbaren oder sogar thematisierten Dissonanzen,1 seine eigenen kommunikativen Erfahrungen, eventuell auch noch begrenzt historische Erfahrungen aus dem Umgang mit älteren Generationen einsetzen kann, ist man für die Vergangenheit auf schriftlich aufgezeichnete Texte angewiesen, die nur annähernde Sinndeutungen von Mustern erlauben, wenn zusätzliche Informationen, z.B. in Form von eingearbeiteten Interpretationen (vor allem bei literarischen Texten) oder in Form von Musterbüchern, zur Verfügung stehen (Linke 1996, 41ff.). So kommen für solche Rekonstruktionen auch nur wenige Textsorten in Frage: Literarische Texte, wie sie auch hier benutzt wurden, wenn sie sich einem -freilich selektiven und poetisch überformten – Realismus verpflichtet fühlen und daher auf musterhafte Erfahrungen ihrer Zeit in vergleichbaren anderen Texten beziehen lassen; Protokolltexte z.B. von Verhandlungen juristischer oder geschäftlicher Art, die allerdings auch eigenen Gestaltungs- und Selektionsprinzipien folgen;2 Lebenserinnerungen in Form von Tagebüchern oder Autobiographien, bei denen ebenfalls mit subjektiven Verkürzungen oder sogar Umdeutungen des realen Geschehens zu rechnen ist.

Zweifellos am interessantesten, aber nicht unproblematisch3 sind die sog. AnstandsbücherAnstandsbücher, die nicht nur mehr oder weniger begründete Standards höflichen Verhaltens liefern, welche in der einschlägigen Literatur (vgl. auch Krumrey 1984) in verschiedenen Varianten existieren können, sondern die auch anhand von krisenhaften Begegnungen mögliche DissonanzenDissonanzen zwischen verschiedenartigen Agenten (alt vs. jung, Damen vs. Herren, Vorgesetzte vs. Untergebene, Adlige vs. Bürger vs. „einfache Leute“) thematisieren oder sogar Entwicklungstendenzen andeuten. Als exemplarischen Fall möchte ich hier ein Anstands- bzw. „Complimentierbuch“ herausgreifen, das in einschlägigen Bibliothekskatalogen kaum nachzuweisen ist und auch in der umfangreichen Literaturliste von Linke (1996, 329ff.) nicht vorkommt: Der Titel lautet:

 

Echter / Anstand, guter Ton und feine Sitte, / als / bewährte Wegweiser durch das gesellige Leben; / oder / (zur allgemeinen Verständlichkeit) / Neuestes / Wiener-Complimentirbuch, / für Personen beiderlei Geschlechtes, / die sich in allen Verhältnissen des Umgangs mit ihren Neben- / menschen, wahrhaft angenehm und liebenswürdig zu benehmen wünschen.

 

Verfasser ist ein gewisser Franz Rittler, das Buch ist im Verlag Mayer und Compagnie, Wien 1834 erschienen.4

Die Intention dieses sich ausdrücklich in der Nachfolge Knigges sehenden Buches (mit 17 Kapiteln auf 276 gez. Seiten) richtet sich, wie es schon der Titel formuliert, vorrangig auf die „positive“ Höflichkeit als Vermögen, durch sein Verhalten einen guten, d.h. angenehmen und liebenswürdigen Eindruck auf andere Menschen zu machen, enthält aber auch reichlich Hinweise, wie man Menschen im geselligen Umgang den nötigen Respekt entgegenbringen oder die Achtung ihrer Persönlichkeit sicherstellen kann. Dementsprechend wird zunächst beschrieben und immer wieder an angeblich selbst erlebten „Scenen“ demonstriert,5 wie man durch Aussehen (Physiognomie), Körperhaltung und Kleidung („Tracht“) [Einleitung], dann durch das Sprachverhalten allgemein (Orientierung an der Standardsprache) und im Besonderen (mündlicher und schriftlicher Vortrag, Briefe) einen guten Eindruck bei anderen Menschen erzeugen kann [1. Abschnitt, Kapitel 1–5]. Der Unterstützung bzw. Sicherung dieses guten Eindrucks dienen dann Regeln zur äußeren Gestaltung bzw. „Belebung“ einer prototypischen gesellschaftlichen Situation, wie einer Abendeinladung; hier kommen dann Fertigkeiten wie das „Tafel-Arrangement“, die Technik des Tranchierens, Verhalten bei Spielen (Kartenspiel, Billard) und die Unterhaltung durch Kunstfertigkeiten zur Sprache [2. Abschnitt, Kapitel 6–10].

Für die hier angesprochene Dissonanzproblematik ist besonders der 3. Abschnitt des Buches [Kap. 11–17] ergiebig, denn nun geht es um den Umgang mit „verschiedenen Menschenklassen im Allgemeinen, in steter Berücksichtigung der mancherlei Verhältnisse“. U.a. werden dabei folgende potentiell krisenhaften Abstimmungen zwischen Beteiligten einschlägiger Interaktionen ins Auge gefasst: das Benehmen gegenüber Frauenzimmern, das heikle Verhalten bei der Applikation von Handküssen, die Auswahl von Menschen, mit denen man sich (nicht) umgeben soll, das problemorientierte Verhalten zwischen Schuldnern und Gläubigern und die Behandlung von Untergebenen.

Generell gründet sich das Idealbild eines Menschen „von echtem Anstand, gutem Ton und feiner Sitte“ auf Geistesbildung und bestimmten Grundtugenden (Bescheidenheit, Freundlichkeit […], Billigkeit […] und Wahrheitsliebe: S. 92ff.) die dann zu einer „gesetzten Denkungsart“ (S. 96) und einem ungezwungenen (natürlichen) Verhalten führen, das dazu befähigt, auch mit dissonantem Verhalten (Abgeschmacktheit, linkisches Wesen, Unverschämtheit) fertig zu werden, ohne die höherwertigen „Vorschriften der Wohlanständigkeit“ aufzugeben.6 In der Praxis des (ständisch gegliederten) Alltags ist jedoch diese harmonistische Konzeptionharmonistische Konzeption durch Rücksichten auf besondere Umstände zu modifizieren (S. 230f.):

 

Ein artiges und höfliches Betragen wird zwar jeder gesittete Mensch stets gegen einen Andern beobachten; er hat aber auch zugleich, gewisse Rücksichten auf das Alter und den Stand der Person, mit welcher er es zu thun hat und auf die unter ihnen gegenseitig bestehenden Verhältnisse zu nehmen. Aufmerksamer, zuvorkommender und submisser wird er in der Wahl seiner Ausdrücke, sogar in der Haltung des Körpers, gegen einen hohen Vorgesetzten, als gegen Seinesgleichen, vertraute Freunde und gute Bekannte, ganz anders gegen diese, als gegen Unbekannte, oder gegen Niedere und Untergebene seyn.

 

Zum Exempel:

 

Weit gegründetere Ansprüche auf Achtung und nachgiebige Bescheidenheit hat das, unter Erfahrungen aller Art, mit Ehren ergraute Haar des Alters, als der, die kostbarsten Wohlgerüche verduftende Lockenkopf einer vorlauten, gern alles meisternden Jugend. – Es gibt sogar gewisse Stände in der bürgerlichen Gesellschaft: z.B. alte Militäre, Seefahrer, Personen in früheren Hofdiensten und im Lehrfache ergraute Philologen, die im Allgemeinen, mit einer ganz eigenen Schmiegsamkeit in ihre Denkungsart und angenommene Lebensweise behandelt seyn müsssen, was bei Letzteren besonders durch jenen, bisweilen von Kindheit an genährten Glauben, an die Infallibität [Untrüglichkeit, D.Ch.] ihrer Kathederweisheit, noch um vieles vermehrt wird.

 

Modifizierende Anpassungen also ja, aber nicht um jeden Preis: Im Falle krasser Differenzen können Zumutungen an die „Contenance“ durchaus deutlich markiert und energisch abgewehrt werden:

Nicht weniger Vorsicht zur Vermeidung unangenehmer Reibungen, heischt das Benehmen gegen Künstler überhaupt, besonders Schauspieler, gegen abstracte Stubengelehrte und nur von sich selbst anerkannte Schöngeister, ganz vorzüglich aber gegen die Kaste der Recensenten und Kritiker von Profession, die, wie in Falten versteckte Wanzen, überall juckende Blasen beißen und nach Verdienst abgefertigt, noch aus Rache wenigstens – stinken.

Und anderer Stelle wird der Verfasser noch deutlicher:

Welch ein unaussprechlich süßer Genuß muss es für einen sellbständigen, sich seiner Vorzüge bewußten, independenten und edlen Mann seyn, ein solches Klotz [hier: einen ungebildeten Parvenu] durchaus in keinem Falle, nach einem anderen Maßstabe, als dem seines eigenen Benehmens zu behandeln und ihm dadurch den thörichten Irrthum seiner Voraussetzung, mit männlicher Energie radicaliter zu benehmen, ohne dabei die Grenzen des, nie außer Augen zu setzenden Anstandes zu überschreiten (S. 235).

Wen würde es auf dem Hintergrund solcher Reflexionen und Beispiele nicht reizen, literarische Darstellungen wie die Beschreibung des Verlaufs der heterogen zusammengesetzten Abendgesellschaft und ihrer Plaudereien in Fontanes „Frau Jenny Treibel“ (1892) neu zu lesen?

Literatur

Augst, Gerhard (1977). Zur Syntax der Höflichkeit. In: Ders. (Hrsg.) Sprachnorm und Sprachwandel. Vier Projekte zu diachroner Sprachbetrachtung.: Wiesbaden: Athenaion, 13–60.

Bayer, Klaus (1977). Sprechen und Situation. Aspekte einer Theorie sprachlicher Interaktion. Tübingen: Niemeyer.

Cherubim, Dieter (1999). Aggressive Höflichkeit. In: Eggers, Eckhard u.a. (Hrsg.) Florilegium Linguisticum. Festschrift für Wolfgang P. Schmid zum 70. Geburtstag. Frankfurt am Main etc.: Peter Lang, 35–54.

Cherubim, Dieter (2009). Höflichkeitsbalancen. Am Material literarischer Dialoge. In: Ehrhardt/Neuland (2009), 97–113.

Cherubim, Dieter (2011). Höflichkeitskonstruktionen. Der Deutschunterricht 2/2011, 2–12.

Cherubim, Dieter (2016). Historische Sprachvariation: Das Werden der Sprache im Sprachgebrauch. Sprachreport 32/3, 24–33.

Ehrhardt, Claus/Neuland, Eva (Hrsg.) (2009). Sprachliche Höflichkeit in interkultureller Kommunikation und im DaF-Unterricht. Frankfurt am Main: Peter Lang.

Gerdes, Joachim (2011). Konzeptionelle Unhöflichkeit – Loben und Kritisieren in der deutschen Jugendsprache. In: Ehrhardt, Claus/Neuland;Eva/Yamashita,Hitoasi (Hrsg.) Sprachliche Höflichkeit zwischen Etikette und kommunikativer Kompetenz. Frankfurt am Main: Peter Lang, 175–188.

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Verbale Höflichkeit in der Übersetzung

Literarische Beispiele aus dem 19. Jahrhundert

Heinz-Helmut Lüger

Verbal politeness normally entails certain aspects of relationship handling. A communicative exchange requires not only anticipation of the constellations between the partners involved, but also strategies in order to influence or to make clear the image of the interlocutors. The contribution deals with fundamental functions of face-work and seeks to illustrate this through literary dialogues taken from novels of Theodor Fontane. The analysis focusses, above all, on problems that may arise from translations into French, and offers information on how polite behaviour is influenced by social and cultural factors during the period in question.

1.Theodor Fontane als Sprachvirtuose

Die Übersetzung literarischer Texte erfordert in der Regel mehr als nur eine wortgetreue Übertragung von Ausgangstexten. Dies gilt vor allem dann, wenn sich die gegebenen Äußerungen nicht auf einen reinen Informationstransfer beschränken lassen, sondern auch Merkmale emotionaler Befindlichkeit, sozialer und regionaler Herkunft oder altersmäßiger Gruppenzugehörigkeit aufweisen. Weitere Schwierigkeiten können sich insofern ergeben, als bestimmte sprachstilistische Besonderheiten oder Verweise auf kulturspezifische Realien eine entsprechende Wiedergabe in der Zielsprache erschweren bzw. ausschließen. Übersetzen geht also meist über ein einfaches Umkodieren hinaus, im Falle literarischer Texte dürfte dies sogar die Regel sein. Es kann im wesentlichen nur darum gehen, zwischen ausgangs- und zielsprachlichen Äußerungen jeweils eine Art kommunikativer Gleichwertigkeit herzustellen, und zwar auf der Ebene der betreffenden Texte insgesamt (und nicht auf der Ebene der sprachlichen Mittel). Wichtig ist dabei, das soziale und kulturelle Umfeld, in dem ein Text erstellt wurde, und die Bedingungen, unter denen sprachlich gehandelt wird, von vornherein mitzureflektieren und auf diese Weise eine – wie Coseriu (1981: 43) es schlagwortartig nennt – „Invarianz des Textinhalts“ anzustreben.1

Mit Blick auf Theodor Fontane erhalten diese Bemerkungen zusätzliches Gewicht, da es sich hier um einen Autor handelt, für den die Thematisierung von Sprache und Sprachverhalten eine zentrale Rolle spielt. Dies gilt ebenfalls für seine Romane. Ganz generell dienen sprachliche Verhaltensweisen sowohl der Charakterisierung einzelner Protagonisten als auch der Darstellung und Abgrenzung verschiedener gesellschaftlicher Milieus, als Zeichen für Kultiviertheit, Bildung, Kreativität oder aber als Indiz für Überheblichkeit und peinliche Niveaulosigkeit. Einige Figuren sind mit einer markanten Sensibilität für Sprachliches ausgestattet. Nicht selten werden Handlungsabläufe unterbrochen, um metakommunikativen Kommentaren mit Problematisierungen des sprachlichen Ausdrucks Raum zu geben. Sprache und Stil rücken somit nicht nur in der Figurenrede, sondern ebenso im Erzählertext immer wieder in den Vordergrund.2

Fontane gehört bekanntlich zu den Autoren, die sich um eine starke Annäherung an den alltäglichen Sprachgebrauch bemühen. Dies zeigt sich vor allem in den gesprochenen Passagen der Protagonisten, wo z.B. mit dialektalen Ausdrücken, Registerwechseln oder mit verschiedenen syntaktischen Mitteln ein möglichst realistisches, d.h. zeit-, schicht- und situationsspezifisches Bild vom mündlichen Sprachverhalten erzeugt werden soll. Das Gespräch wird gleichsam, so Preisendanz (1984: 473), zum „beherrschenden Medium der Wirklichkeitsmodellierung“. Trotz eines solchen Bestrebens bleibt jedoch festzuhalten: Die in den Romanen vorgestellte Mündlichkeit ist immer nur eine fingierte bzw. simulierte. Eine auch nur annähernd komplette Wiedergabe alltagsweltlicher Gesprächsstrukturen (etwa mit simultanem Sprechem, Rückmeldepartikeln oder Selbst- und Fremdkorrekturen) würde für literarische Texte als unangemessen gelten; andererseits schafft die zugrundeliegende fiktionale Bezugswelt auch Freiräume für Verbalisierungsmöglichkeiten jenseits zweckrationaler Handlungsbedingungen.

In diesem Rahmen ist nun ebenfalls der Ausdruck sprachlicher Höflichkeit anzusiedeln. Wie bringen die Kommunikationsbeteiligten ihre Beziehung zueinander zum Ausdruck, wie regulieren sie diesbezügliche Veränderungen? In welcher Form wird wechselseitige Respektbezeugung signalisiert? Welche Verfahren kommen in Frage, um Gesichts- oder Imagebedrohungen zu vermeiden oder abzumildern, wie wird auf Gesichtsverletzungen reagiert? Mit welchen Mitteln lassen sich Erwartungen an das Partnerimage bestätigen, wie können Sprecher das Gewähren von Freiraum und Distanz bestätigen oder einschränken?3 Für all diese Fragen und den Einsatz von Höflichkeitsstrategien kommen in den Fontane-Romanen vor allem die folgenden Bereiche in Betracht (vgl. Abb. 1):

Abb. 1: Simulierte Mündlichkeit und Bereiche verbaler Höflichkeit

Sprechstile

Mit dem Einsatz dialektaler Elemente und der Kontrastierung zum Hochdeutschen wird nicht nur Lokalkolorit vermittelt; oft handelt es sich auch um ein Verfahren zur Herstellung kommunikativer Nähe, zur Markierung von Schichtzugehörigkeit, von Überlegenheit oder Unterlegenheit. Ebenso kann der Rückgriff auf vorgeprägtes Sprachgut, auf floskelhafte Ausdrücke unter bestimmten Bedingungen einen Imageverlust oder eine soziale Herabstufung zur Folge haben.

Dissens-Regulierung

Ein geradezu privilegiertes Feld höflichkeitsrelevanter Kommunikation stellt die Aushandlung kontroverser Positionen dar; hier ist die Beziehung zwischen den Partnern fast immer mit im Spiel, ein Umstand, der im allgemeinen das Vorkommen abschwächender oder zurückweisender Maßnahmen zum Schutz des positiven Gesichts wahrscheinlich macht. Beispiele für den entgegengesetzten Fall der Selbstdemontage sind seltener.

Phraseme, Zitate