Spring dich frei - Malaika Mihambo - E-Book
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Spring dich frei E-Book

Malaika Mihambo

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Beschreibung

Unbeirrt hat sich die Leichtathletin Malaika Mihambo nach oben gekämpft, zäh und mit dem unbedingten Willen zum Erfolg. Nach zwei Weltmeister-Titeln und ihrem Olympiasieg im Weitsprung erkennt sie, dass sie alle Ziele erreicht hat, sich all ihr sportlichen Träume erfüllt haben. Nicht nur das, ihr wird bewusst, warum sie mit dem Leistungssport angefangen, nur für ihn gelebt, ihm alles untergeordnet hatte. Jeder Sieg setzte für einen Moment die Abwertung aus, die sie immer wieder erfahren musste und gab ihr das Selbstvertrauen zurück, das sie durch eine schwere Kindheit verloren hatte.

Um ihre Leidenschaft für den Sport neu zu entfachen, ging sie einen ungewöhnlichen Weg: Sie reiste um die Welt, engagierte sich sozial, erfuhr über die Meditation neueGedanken, erforschte sich selbst und stellte sich komplett neu auf.

Weit über den engen Horizont eines Stadions hinaus erzählt Malaika Mihambo offen, worauf es ihr im Leben und an der Sprunggrube ankommt. In „Spring dich frei“ teilt sie die Erfahrungen, die sie geprägt haben, und die Einsichten, die sie daraus gewann. Spannende Impulse rund um Achtsamkeit, Resilienz oder Stressbewältigung liefert auch Christoph Steinbach, Malaikas Mentor vom Olympia-Stützpunkt Rhein-Neckar, der sie seit Jahren in ihrer Persönlichkeitsentwicklung begleitet.

Ein bewegendes und sehr persönliches Buch über die Selbstfindung mit vielen schmerzlichen Erfahrungen.



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Seitenzahl: 327

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Malaika Mihambo

Spring DICH frei

Mein Weg zu Achtsamkeit und innerer Stärke

Impressum

Alle in diesem Buch veröffentlichten Aussagen und Ratschläge wurden von der Autorin und vom Verlag sorgfältig erwogen und geprüft. Eine Garantie kann jedoch nicht übernommen werden, ebenso ist die Haftung der Autorin bzw. des Verlags und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ausgeschlossen.

Für die Inhalte der in dieser Publikation enthaltenen Links auf die Webseiten Dritter übernehmen wir keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die Ereignisse in diesem Buch sind so geschehen, wie hier wiedergegeben. Aus Gründen des Personenschutzes sind jedoch einige Namen geändert worden.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.

echtEMF ist eine Marke der Edition Michael Fischer

1. Auflage

Originalausgabe

© 2023 Edition Michael Fischer GmbH, Donnersbergstr. 7, 86859 Igling

Covergestaltung: Alexandra Wolf, unter Verwendung eines Motivs von © Fabian Hensel

Text: Regina Carstensen

Redaktion: Doreen Fröhlich, Alina Rothmeier

Layout und Satz: Alexandra Wolf

Herstellung: Anne-Katrin Brode

ISBN 978-3-7459-1833-5

www.emf-verlag.de

Inhalt

Vorwort: Vom Glück, einen Rucksack zu haben, den man auspacken kann

Bewegen, immer nur will ich mich bewegen

Meine vielleicht nicht ganz gewöhnliche Familie

Wenn man anders aussieht - ohne es zu wissen

Mit sich selbst im Wettbewerb sein

Umgang mit Niederlagen

Auf einmal verletzt

Meditation - oder: Zufrieden werden ist gar nicht so schwer

Allein nach Indien - Stille und Mitgefühl

Das Dilemma mit den sich selbst erfüllenden Prophezeiungen

Bodenständig und idealistisch, aber nicht familien­orientiert

Wofür brenne ich noch?

Angst ist auch keine Lösung

Experimente mit Kälte und Schlaf

Tauchen in Thailand

Mit 36 Huskys durch die Weiten Lapplands

Ferne Kulturen und warum der Amazonas-Dschungel auch für uns so wichtig ist

Durch ein Füreinander zu einem Miteinander

Essen - ein Schlüssel zur eigenen Gesundheit

Druck, den man nach und nach abbauen kann

Am Rande der Europameisterschaft in München

Abschied von meiner Grossmutter

Auf der Suche nach meinem Platz

Dank

Quellen

Vorwort

Vom Glück, einen Rucksack zu haben, den man auspacken kann

Schon in sehr jungen Jahren habe ich einen großen Rucksack auf meinen Rücken geladen bekommen, eine enorme Last, die auch heute noch immer mal wieder präsent ist. Doch mit dem Älterwerden habe ich gelernt, mich von diesem Ballast und meinen schlechten Erfahrungen, über die ich auch in diesem Buch sprechen möchte, freizumachen. Mich sowohl als Leichtathletin als auch als Mensch im wahrsten Sinne freizuspringen. Es ist mir gelungen, den Rucksack, den ich so lange Zeit mit mir herumgetragen habe, nicht noch mehr vollzustopfen, sodass ich am Ende womöglich gar nicht mehr hätte gehen können. Er hat mich nicht in die Knie gezwungen, ich habe immer wieder aufstehen und auf die Beine kommen können, auch nach der schlimmsten Niederlage, weil ich irgendwann lernte, mir selbst und meinen Bedürfnissen mehr Raum zu geben und auf meine eigene, tief in mir verborgene Stimme zu hören.

Für mich war es eine positive Erfahrung, mich von allem, das mich zurückgehalten, das an mir gezerrt und gezurrt hatte, zu befreien. Und ich denke, dass vielleicht auch andere von meinen Gedanken und Reflexionen profitieren können – aus diesem Grund habe ich dieses Buch geschrieben. Dabei ist mir wichtig zu sagen, dass ich nur über die Steine sprechen kann, die das Leben mir persönlich in den Weg gelegt hat – meine Geschichte ist also, wie jede Geschichte, sehr individuell. Spring dich frei ist demnach nicht als Sammlung von Ratschlägen zu verstehen, sondern vielmehr möchte ich mit meinen Erzählungen inspirieren, Denkanstöße und Impulse liefern, sich mit dem eigenen unnötigen und manchmal auch notwendigen Gepäck, den eigenen Ängsten, Träumen und Sehnsüchten auseinanderzusetzen, um herauszufinden, was man wirklich im Leben will.

Um sich freizuspringen, muss man nicht eine traumatische Kindheit gehabt haben oder mit einer schweren, problematischen Situation konfrontiert sein, einen Unfall oder die Krankheit einer nahestehenden Person erlebt haben. Was ich gelernt habe in den 29 Jahren, die ich auf dieser Welt bin, ist besonders eines: Wir alle machen unangenehme, schmerzhafte, lebensverändernde Erfahrungen. Wie man mit ihnen umgeht, das muss jede und jeder selbst entscheiden. Aber wer etwas Positives aus ihnen mitnehmen möchte, wer Heilung oder Veränderung anstrebt, wird alte Muster aufbrechen und an der eigenen Persönlichkeit arbeiten müssen. Es ist immer schwer, neue Gewohnheiten zu etablieren. Aus einem Teufelskreislauf herauszukommen ist kein Neujahrsvorsatz – meist scheitern diese im Alltag. Dennoch lohnt es sich, neue Ziele anzugehen. Ich habe durch Meditation, das Ein- und Abtauchen in fremde Kulturen während meiner Reisen sowie professionelle Unterstützung meine ausgetretenen Pfade verlassen und viel für mich entdecken und erreichen können.

Eine weitere Erkenntnis: Schnell ließ ich mich in eine Schublade stecken, und war ich erst einmal in einer solchen drin, kam ich nur schwer wieder aus ihr heraus. Jede und jeder wird das kennen. Der Grund dafür ist, dass man am Ende selbst daran glaubt, dieser bestimmten Schublade zu entsprechen, und es sich darin gemütlich macht. Lange Zeit traute ich mich nicht, anders zu sein, ich zu sein.

Doch als ich endlich lernte, mich so anzunehmen, dass es mich glücklich machte, mit meiner Vergangenheit, meinem Rucksack, mit meinen Ansprüchen an mich selbst, begann ein neues, ein viel freieres Leben für mich.

Inzwischen habe ich nicht mehr das Gefühl, Erwartungen von anderen erfüllen zu müssen, genauso wenig muss ich nicht mehr den Erwartungen meines eigenes Schubladendenkens gerecht werden. Aus welchen Schubladen ich mich befreite, davon werde ich auch in diesem Buch erzählen.

Meinen eigenen Weg zu gehen und selbst zu schauen, was sich richtig anfühlt – das wurde zu meiner Devise. Dadurch bin ich mir mein größter Halt geworden. Nicht mein Partner, nicht der Sport, sondern allein ich.

Es hat einige Jahre gedauert, bis ich mir diese innere Freiheit erkämpft habe. Und ich kann nur jeder oder jedem empfehlen, sich ebenfalls mehr zuzutrauen. Einen Versuch ist es allemal wert – es lohnt sich immer, mal abseits der gewohnten Pfade unterwegs zu sein. Das Bekannte bewusst zu verlassen, Anlauf zu nehmen – und den Sprung zu wagen.

Kapitel 1

Bewegen, immer nur will ich mich bewegen

Malaika, den Vornamen hat mir meine Mutter gegeben, bedeutet auf Suaheli „Engel“. Und da Engel ständig unterwegs sind, sich mit Flügeln zwischen Himmel und Erde fortbewegen, passte mein Vorname irgendwie. Ich wollte auch permanent „on tour“ sein.

Schon früh war mein Bewegungsdrang erkennbar und wohl auch ungewöhnlich ausgeprägt. Mit neun Monaten konnte ich nicht nur krabbeln, mich am Sofa hochziehen und für einen Moment glückstrahlend alleine stehen bleiben, nein, ich konnte auch schon, ohne mich irgendwo abstützen zu müssen, frei herumlaufen. Ich erinnere mich natürlich nicht daran, ich weiß es nur, weil meine Mutter mir davon erzählt hat, weiß es von Fotos, die sie mir zeigte, auf denen sie meine einzelnen motorischen Fähigkeiten festgehalten hat. Immer mit leuchtenden Augen und einem verschmitzten Lächeln, weil ich es geschafft hatte, mich selbstständig durch die Welt zu bewegen, und mir so selbst völlig neue Perspektiven eröffnete, viel größer und aufregender als in der doch eher langweiligen Sitzposition. Auf zwei Beinen aufrecht zu stehen und mich mit ihnen in diese oder jene Richtung zu bewegen war Ausdruck meiner großen Lauffreude, nicht eine Minute wollte ich wieder zurückkehren in den unbeweglichen Stillstand.

Noch bevor ich laufen konnte, schob ich schon Stühle durch die Gegend, um auf Regale zu klettern und die Welt zu erforschen. Motorische Entwicklungsschritte nach dem allgemeinen Baby-Fahrplan übersprang ich, ich zog ein eigenes Tempo vor, offenbar wollte ich mit dem Lauftraining so schnell wie möglich beginnen. Schon im Bauch meiner Mutter hatte ich ordentlich mit den Beinen getreten. Auf dem Wickeltisch war ich auch nicht das ruhigste Baby, meine Mutter musste höllisch aufpassen, dass ich nicht herunterfiel; ständig strampelte ich wild umher. Und legte sie mich auf dem Boden auf eine Decke, hatte ich unentwegt das Bedürfnis, dieses Quadrat hinter mir zu lassen und die Welt außerhalb in Angriff zu nehmen. Ruhiges Liegen und in die Luft gucken war nicht gerade das, was meiner Natur entsprach. Fast schien mein Bewegungsdrang ein Omen zu sein, aber das lässt sich so auch nur aus heutiger Perspektive formulieren. Damals machte meine Mutter sich eher Sorgen um meine Knochen, für die das rastlose Umhersausen nicht so ideal war, irgendwie sahen sie durch meinen viel zu frühen Bewegungsdrang krumm und verbogen aus. Ich hatte ordentliche O-Beine, was auch ein Kinderarzt bestätigte, als sie ihm dieses Problem darlegte – es war ehrlich gesagt aber auch nicht zu übersehen. Kein Wunder, denn normalerweise fangen Babys erst um ihren ersten Geburtstag an, eigenmächtig im aufrechten Gang Räume zu erkunden. Der Arzt zeigte ihr physiotherapeutische Übungen, die sie mit mir machen könnte, um meine noch zu weichen Knochen zu stabilisieren und sie wieder zu richten. Das mit den Übungen hat sie gut gemacht, wie vieles im Leben, und die Beine sind gerade weitergewachsen.

Keinesfalls hörte es aber mit meiner Bewegungsfreude auf, auch nicht, als ich älter wurde. Um mich darin zu unterstützen, meldete sie mich mit drei Jahren im TSV 1895 Oftersheim an, einem Turn- und Sportverein im Rhein-Neckar-Kreis in Baden-Württemberg. Dort konnte ich mich beim Kinderturnen austoben, und zwar unter fachkundiger Aufsicht. Ich fühlte mich dort sehr wohl, hatte viel Spaß und fand es einfach nur toll, mit anderen Jungen und Mädchen neue Übungen kennenzulernen, denn unsere Wohnung reichte mir als Abenteuerspielplatz längst nicht mehr aus.

Mit vier Jahren wollte ich unbedingt zum Ballett, denn meine Freundin Lotta ging in die Ballettschule in Schwetzingen, einer Nachbarstadt.

Ich erklärte meiner Mutter: „Da möchte ich auch hin.“

„Du solltest es dir aber vorher anschauen und mit Lotta mitgehen“, sagte sie. „Wenn es dir gefällt, kannst du einen Kurs mitmachen.“

Beim ersten Besuch in dem kleinen Tanzstudio in der Bahnhofstraße war ich so fasziniert von den vielen Mädchen, die ihre langen Haare straff aus dem Gesicht gebürstet und zu einem Dutt hochgesteckt hatten, nicht ein einziges widerspenstiges Haar lugte daraus hervor, dass ich unbedingt ein Teil dieser mir so fremden Welt sein wollte. Doch schon bald merkte ich, dass es hier ganz anders zuging als im Turn- und Sportverein. Die Stimmung war trotz unseres jungen Alters sehr leistungsorientiert. Das gefiel mir gar nicht, und so verlor ich schnell die Lust am Ballett und turnte lieber weiter.

Wer mich darauf brachte, weiß ich nicht mehr. Aber irgendwann gab es eine neue Idee, und mit sechs, vielleicht sieben Jahren trat ich einem Judoverein bei. Judo, dieser Zweikampfsport, war etwas ganz anderes als Turnen oder Ballett. Er brachte für mich eine besondere Herausforderung mit sich, für ihn war eine völlig andere mentale Herangehensweise nötig, jedenfalls eine, die mir bislang unbekannt gewesen war. Bei dieser japanischen Kunst der Selbstverteidigung ging es darum, eine maximale Wirkung mit einem Minimum an Aufwand zu erzielen. Ziel war es, den Gegner oder die Gegnerin durch Anwenden einer Technik mit Kraft und Schnelligkeit kontrolliert auf den Rücken zu werfen. Neben dem partnerschaftlichen Üben lernte ich in diesem Verein auch ethische Werte wie Ehrlichkeit, Bescheidenheit sowie Verständnis und Respekt fürei­nander. Es wurde darauf geachtet, wer kleiner oder größer war, jünger oder leichter. Ich gehörte zu den Leichtgewichten und war demnach immer in der Leichtgewichtsklasse unterwegs.

Beim Judo liebte ich die Vielfältigkeit der Bewegungselemente, die verschiedenen Falltechniken, seitwärts, rückwärts oder nach vorne. Und es war der erste Sport, den ich auch auf Turnieren ausgeübt habe. Als Anfängerin hatte ich wie jeder einen weißen Gürtel, aber dabei blieb es nicht, im Laufe der Zeit kamen immer mehr Gürtel dazu, und zwar nach der vorgegebenen Reihenfolge: Nach dem weißen folgte der gelb-weiße Gürtel, danach kam der gelbe, und mit acht Jahren besaß ich den gelb-orangen.

Als Achtjährige nahm ich dann an einem Sommerferienprogramm der Gemeinde Oftersheim teil, in dem sich verschiedene Vereine mit ihren jeweiligen Angeboten vorstellen konnten. Neugierig, wie ich war, ließ ich mich auf einen Tag ein, um in mehrere Leichtathletikdisziplinen reinzuschnuppern. Einer der Trainer sagte, nachdem ich verschiedene Strecken gelaufen war, geworfen und mich auch im Weitsprung versucht hatte: „Du springst recht gut, Malaika, möchtest du nicht zu uns in den Verein kommen? Zum regulären Training?“ Ich dachte: Warum nicht?

Zwar zog es mich zur Leichtathletik, aber ich machte noch eine ganze Weile Judo. Ich war ein Wildfang, alles, was Sport war und mit Bewegung zu tun hatte, machte mir Spaß. Ein zuviel gab es eigentlich nicht. Doch mit der Zeit stieg das Trainingspensum in beiden Sportarten parallel an. Nach der Schule hetzte ich von einem Training zum nächsten. So machte es mir irgendwann keinen Spaß mehr. Eines Abends, als ich im Bett lag und zur Ruhe gekommen war, hielt ich inne und ließ mir das Ganze noch einmal durch den Kopf gehen. Sollte ich mich nicht besser auf eine Sportart konzentrieren? Ich kam zu dem Schluss, dass ich, abgesehen von dem zeitlichen Stress, auch nie ganz bei der Sache war, weil es bei der einen wie bei der anderen Sportart um ganz unterschiedliche Anforderungen ging. Es war wahrscheinlich besser, so das Ergebnis meiner Überlegungen, sich für eine Sportart zu entscheiden und mich ohne Ablenkungen da­rauf zu konzentrieren. Aber welche brachte mir mehr Spaß? Wirklich lange brauchte ich nicht darüber nachzudenken, die Antwort schoss mir ziemlich schnell in den Kopf: Es war die Leichtathletik, obwohl es mich natürlich gereizt hätte, mir noch mehr von den zehn möglichen Gürteln zu erkämpfen – einfach aufzugeben, bevor ich mir den letzten umbinden konnte, fiel mir schwer.

Im September schon, also nur wenige Wochen nach meinem Schnupperkurs, hatte ich mit meiner neuen Trainingsgruppe meinen ersten Wettkampf, einen 500-Meter-Stadtlauf, und während ich ihn absolvierte, merkte ich, dass das mehr mein Ding war. Hier ging es nicht um Junge gegen Junge oder Mädchen gegen Mädchen, es handelte sich um kein Messen, das mit einem direkten körperlichen Einsatz an einem Gegner verbunden war – und damit war es letztlich auch nicht so nervenaufreibend. Bei den Wettkämpfen in der Leichtathletik war ich auf mich gestellt, ich und mein Körper, wir bildeten eine Einheit. Meine Gegnerinnen bildeten ihre eigene Einheit, jede von ihnen war autark, nie kamen sie mir zu nah, zudem wollten sie mich nicht zu Fall bringen. Vielleicht gedanklich, um besser dazustehen, aber nicht real. Mir gefielen auch die verschiedenen Disziplinen, die zeitversetzt stattfanden, mit Pausen dazwischen, das war mir sehr sympathisch.

Aber was reizte mich überhaupt am Wettkampf, was bedeutete er für mich? Stellte ich mich beim Judo in einem Wettkampf mehreren Gegnerinnen, war es eindeutig schöner zu gewinnen, als zu verlieren. Doch diese Medaille hatte zwei Seiten. Es war ein wunderbares Gefühl, wenn ich als Siegerin gekürt wurde. In diesem Moment hatte ich etwas erreicht, wofür ich mich unglaublich angestrengt hatte. Der Kampf Runde um Runde war jedes Mal hart. Schon im Vorfeld war die Vorstellung von nicht einschätzbaren Partnerinnen mit enormer Anspannung verbunden gewesen. Auch wenn ich oft gewonnen habe, ich hatte mich immer durchbeißen müssen.

In der Leichtathletik machte ich jedoch andere Erfahrungen, die zum großen Teil eng mit meinem ersten Trainer verbunden waren. Er hielt nicht viel davon, große Sprüche zu klopfen, es wurde eigentlich überhaupt nicht viel geredet, sondern es wurde trainiert. Trainiert und trainiert. Er heizte uns eher nonverbal ein, mit vielen Gesten und ganz speziellen Blicken. Und jede Woche gab es in der Region einen Kinderwettkampf, auf den wir hintrainierten und der uns anstachelte. Anders als bei meinen Mitstreiterinnen, denen es vielfach um Bestätigung und Anerkennung ging, lösten die Wettkämpfe in mir den Wunsch aus, mich verbessern zu wollen.

Nicht besser zu sein als andere, nicht gelobt zu werden, hat mich angetrieben, sondern ich wollte besser sein als beim letzten Mal. Es war jedes Mal ein Wettkampf mit mir selbst.

Deswegen war es für mich auch später immer relativ leicht, mit „Konkurrentinnen“ umzugehen. Noch heute ist das so. Nie hob ich einen Wettkampf auf eine zwischenmenschliche Ebene, nie wollte ich mit Blick auf meine Konkurrentin besser sein, sondern immer bin ich in erster Linie für mich selbst angetreten.

Letztlich machte mir Leichtathletik Spaß. In den einzelnen Disziplinen geht es sehr objektiv zu, es gibt keine subjektiven Meinungen von Schiedsrichtern, auch keine Bewertungen wie beim Turnen, Turmspringen, Synchronschwimmen. Bei der Leichtathletik geht es nur darum, wie schnell man ist, wie weit man einen Speer oder einen Diskus geworfen hat, wie weit man gesprungen ist. Die Zahlen sagen einem, wie genau sich eine Athletin oder ein Athlet verbessert hat. Es war jedes Mal ein tolles Erfolgsgefühl, wenn ich meinen eigenen Rekord brechen konnte. Am Anfang der Saison stieg ich mit bestimmten Ergebnissen ein und am Ende – nach vielen Trainingseinheiten – mit ganz anderen Resultaten wieder aus. Was ich erreicht hatte, hatte nichts mit den anderen zu tun, sondern war allein von mir abhängig, von meinem eigenen Training, meinem Willen, vielleicht noch von meinem Talent. Deshalb war es mir auch immer sehr leichtgefallen, freundlich zu den anderen Kindern und Jugendlichen in meiner Gruppe zu sein.

Umgekehrt war es nicht ganz so unkompliziert, weswegen es trotz guter sportlicher Ergebnisse keine einfache Zeit für mich war. Meine dunklere Hautfarbe war im Sportverein kein Problem, im Gegensatz zu Kindergarten oder Grundschule. Davon werde ich auch noch erzählen. Dennoch gab es auch hier unterschwellige Diskriminierung, aber hauptsächlich begründet in sozialen Unterschieden: Wir hatten durch meine familiären Verhältnisse nicht viel Geld, und wer sich keine Markenturnschuhe leisten konnte, sondern mit günstigen No-Name-Exemplaren vom Discounter auftauchte, musste sich auch mal Gelächter gefallen lassen. Schon als Kind habe ich dadurch verstanden, dass es immer Leute geben wird, die an einem etwas auszusetzen haben, ganz gleich ob aufgrund der Hautfarbe oder der nicht vorhandenen Markenschuhe. Dieses Wissen hat alles ein bisschen erträglicher gemacht, weil ein Teil von mir verstand, dass es nicht um mich persönlich geht, sondern eher mit den Menschen zu tun hat, die solche Urteile fällen. Die nur dann jemanden gut finden, wenn er sich die teuren Turnschuhe oder einen luxuriösen Urlaub leisten kann, die einen danach bewerten, ob man finanziell gut dasteht. Oder die die Meinung vertreten, dass eine hellere Hautfarbe besser ist als eine dunklere. Dennoch fiel es mir schwer, als Heranwachsende diese rationale Erkenntnis in realen Situationen anzuwenden. Vieles bezog ich dann doch auf mich selbst, vor allem, wenn ich es mit einem Gegenüber zu tun hatte, das mir nicht sehr freundlich gesinnt war. Das ist das Schlimme daran, dass man das, was einem am eigenen Leib widerfährt, nur sehr, sehr schwer von der eigenen Person trennen kann – als Kind nahezu unmöglich. Gerade in jungen Jahren habe ich Ablehnung – aus welchen Gründen auch immer – auf mich bezogen, weil ich noch nicht fähig dazu war, all diese Erlebnisse von mir zu abstrahieren. Es blieb ein Unverständnis zurück, das schwer wog und manchmal in nahezu erschütternder Weise sehr tief ging. Ja, auch ziemlich hart war.

Kapitel 2

Meine vielleicht nicht ganz gewöhnliche Familie

Bis zu meinem zweiten Lebensjahr lebte ich in Heidelberg, wo ich auch zur Welt gekommen war, zusammen mit meiner Mutter, teilweise auch mit meinem Vater. Doch dann ließen sich meine Eltern scheiden, was auch damit zu tun hatte, dass sie völlig unterschiedliche Erwartungen vom und Ansprüche ans Leben hatten. Während meine Mutter nach meiner Geburt da­ran reifte und versuchte, ihr Studium und Nebenjob damit zu vereinen, fiel es meinem zehn Jahre jüngeren Vater deutlich schwerer, sich von dem sorglosen jungen Leben ohne Verantwortung zu verabschieden und sich an seine neue Rolle zu gewöhnen. Meine Mutter und ich zogen nach Oftersheim, knapp zehn Kilometer von Heidelberg entfernt.

Mein Vater war in Sansibar aufgewachsen, er hatte sich ebenfalls gern bewegt und in seiner Jugend liebend gern Fußball gespielt, wie er mir später einmal erzählte, aber in diesem halb autonomen Teilstaat von Tansania war die Sportförderung nicht besonders ausgeprägt gewesen. Meine Mutter wiederum liebte als Jugendliche das Weitspringen, aus ihr hätte eine gute Weitspringerin werden können, wenn sie es ernsthaft verfolgt hätte. Aber für sie kam es nicht in Betracht, über den Sport als berufliche Chance nachzudenken, auch weil ihr niemand gesagt hatte, wie gut sie gewesen war. Mich unterstützte sie auch deshalb immer, als ich diesen Weg einschlug. Nach einer Ausbildung zur Schreinerin, zog sie es vor zu studieren, weil sie lieber Lehrerin werden wollte. Ihr Studium musste sie jedoch abbrechen, denn es war ihr nicht möglich, als Alleinerziehende und Alleinfinanzierende ihr Studium weiterzuführen. Es waren schließlich die 1990er-Jahre – Unterstützung für Frauen wie sie gab es damals nicht so wie heute.

Meine Mutter war immer die Bezugsperson mit der größten Bedeutung für mich, nicht nur in meiner Kindheit, auch heute noch zählt sie zu den wichtigsten Personen in meinem Leben. Ich fühlte mich von ihr wertgeschätzt, fühlte mich gut bei ihr aufgehoben. Zusammen unternahmen wir viele Ausflüge, am Wochenende waren wir immer unterwegs, wanderten im Wald, gingen in den Zoo oder besuchten das Schwimmbad. Wenn wir auch viel unternahmen, es waren Dinge, die wir uns leisten konnten.

2020, mitten in einem Lockdown, machten wir einen sehr langen Spaziergang, bei dem wir intensiv über die besondere Einheit sprachen, die wir als Mutter und Tochter bildeten. Ich bedankte mich auch bei ihr für diese gemeinsame Zeit, dafür, dass sie mir so viel Liebe gegeben hatte, so viele positive Erinnerungen, an denen ich mich auch in harten Zeiten festhalten konnte. Sie hatte mir die Kraft geben, die Sicherheit, dass ich nicht an schwierigen Situationen zerbrach. Denn es war nicht selbstverständlich, dass ich meine Kindheit gut überstand.

Wir redeten nicht ständig darüber, wie nah wir uns sind, wir waren uns einfach nah, allein durch die viele Zeit, die wir miteinander verbrachten. Ich wusste es, sie wusste es, wir wuss­ten es.

Meine Mutter war in der Kindheit nicht nur eine Mutter, sondern auch eine Freundin. Gerade in der Teeniezeit können das nicht viele Kinder über ihre Eltern sagen. Ich fand es immer schön, dass ich zu Hause auch eine gute Freundin hatte, mit der ich über alles sprechen konnte – oder mit der ich gemeinsam schweigen konnte. Meine Mutter war nicht wie meine beste Teeniefreundin Chrissy, aber es ging über ein elterliches Verhältnis hinaus. Nie sagte sie damals Sätze wie: „Solange du deine Füße unter meinen Tisch stellst, musst du tun, was ich dir sage.“ Solche Ansagen waren mir fremd, wir hatten, ich es formuliere es mal so, eine innere Familiendemokratie.

Schon sehr früh fragte sie mich nach meiner Meinung, sie gab mir Raum, eine eigene Ansicht zu bilden, sie zu artikulieren und zu kommunizieren. Was aber längst nicht hieß, dass sie immer das tat, was ich wollte. Aber sie wusste um meinen Standpunkt Bescheid und hatte ihn in ihre Überlegungen und Entscheidungen mit einfließen lassen. Von meinen Freundinnen wusste ich, dass ein solches Verhalten bei Eltern nicht selbstverständlich war.

Bei Kommunal-, Landtags- oder Bundestagswahlen begleitete ich meine Mutter zur Wahlurne. Im Vorfeld hatte sie mir erklärt, wie Demokratie funktioniert, welche Rolle Parteien spielen und welche Parteien in Deutschland für welche Inhalte stehen. Nachdem sie mich gut aufgeklärt hatte, fragte sie mich: „Was ist dir wichtig? Was ist deine Perspektive?“ Ich schilderte ihr dann meine Ansichten. Hatte ich meine Ausführungen beendet, sagte sie: „Gut, darüber werde ich nachdenken.“

Meine Mutter hatte meine Meinung als wichtig empfunden, hatte dadurch meine Stimme hörbar gemacht. Sie wollte von mir wissen, welche Sicht ich als Kind auf die Dinge habe. Auf Bildung, auf Gerechtigkeit in einer Gesellschaft, auf Armut. Sie nahm mich mit zur Wahlurne in die Kabine und ließ mich das Kreuz machen, bei der Partei, die sie wählen wollte. Einmal ließ sie mich auch entscheiden, nur die Vorauswahl von drei Parteien traf sie. Ich wählte aus diesen drei und setzte das finale Kreuz. Sie hatte das letzte Wort gehabt oder besser gesagt das erste, aber sie hatte mich teilhaben lassen. So wurde ich schon sehr früh zu einem politisch bewussten Menschen erzogen – und wir schufen mit unserem innigen Austausch gemeinsame Erinnerungen.

Meine Mutter hatte in meiner Kindheit ihr ganzes Leben auf mich ausgerichtet. Sie hatte ihr Studium abgebrochen, weil sie die Situation als geschiedene, alleinerziehende Studentin überfordert hatte. Zumal sie die alleinige Verantwortung für unser finanzielles Wohlergehen hatte, als sie und mein Vater geschieden wurden. Sie war gezwungen, Geld für uns zu verdienen, und so nahm sie einen Job als Kassiererin in einem großen Supermarkt an, den sie auch dreißig Jahre lang innehatte. Trotzdem war sie deswegen nie traurig, sie hatte mir immer das Gefühl gegeben, ich sei ihr größter Schatz und das Beste, was ihr in ihrem Leben passiert sei. Das hat sie mir immer gesagt, das sagt sie mir auch heute noch. Und das waren keine leeren Worte gewesen, als Kind habe ich das jeden Tag spüren können.

Anfangs arbeitete sie halbtags, und als ich in den Kindergarten kam, wollte sie eigentlich wieder anfangen, Vollzeit zu arbeiten. Als sie dann aber merkte, dass mir das nicht guttat, weil es einige Probleme mit anderen Kindern und Eltern gab, ich dadurch einfach mehr Aufmerksamkeit und Liebe brauchte, nahm sie darauf Rücksicht. Sie blieb bei ihrem Halbtagsjob, um mehr Zeit mit mir verbringen zu können. Und um mich aufzupäppeln von den ganzen negativen Erfahrungen, die ich gemacht hatte und von denen ich später noch berichten werde.

Meine Mutter und ich – wir führten ein vollkommen anderes Leben als das in einer drei- oder vierköpfigen Familie der Fall gewesen wäre, in einer Familie mit einem Vater. Wir waren zweiköpfig, Mutter und Tochter. Und so eins wir einerseits waren, meine Mutter zeigte mir auch immer ihre Grenzen auf, wenn sie Zeit für sich brauchte. Dann sagte sie: „Jetzt beschäftige dich mal alleine.“ So lernte ich, dass man nicht immer die Aufmerksamkeit bekommen kann, die man sich vielleicht gerade in dem Moment wünscht, und im Zuge dessen, Zeit mit mir selbst zu verbringen. Das war für mich eine wichtige Lektion, die Grenzen anderer akzeptieren und mit mir selbst auskommen zu können.

Ich konnte auch teilen, weil meine Mutter die Eigenschaft hatte, auch für meine Freundinnen immer eine Mutter zu sein. Das zeichnet sie aus, dass sie ein kinderliebender Mensch ist und generell gegenüber anderen stets freundlich und offen. Ein Mensch, der immer auf andere achtet. Davon konnte ich sehr viel für mein Leben mitnehmen. Wenn sie das Gefühl hatte, ein Kind bekommt von zu Hause nicht genügend Liebe und Aufmerksamkeit, hat sie versucht, das aufzufangen, jedenfalls im Rahmen ihrer Möglichkeiten. So lernte ich das Teilen. Aber:

Liebe wird nicht weniger, wenn man sie teilt. Dann multipliziert sie sich.

Es war sehr beeindruckend zu sehen, wie man mit anderen Menschen umgehen kann. Meine Mutter hat immer versucht, anderen ein gutes Gefühl zu geben. Hat viele positive Worte für die Menschen um sich herum übriggehabt. Es fielen ihr immer Komplimente ein, oftmals zu vermeintlichen Kleinigkeiten. So versuchte sie, andere Leute zu stärken und zu bestärken. Darin ist sie mir ein großes Vorbild.

Ganz anders empfand ich für meinen Vater. Es war für mich schwer zu verstehen, warum mein Vater uns verlassen hat, mich verlassen hat. Immer wieder stellte ich mir die Frage: Hat er mich trotzdem lieb, obwohl er gegangen ist? Erst als Teenager wagte ich es, ihn damit zu konfrontieren. Und als er mir daraufhin zu verstehen gab, dass es so sei, ja, er würde mich lieben, hatte mir seine Äußerung fürs Erste gereicht. Mehr wollte ich nicht, ich hatte das zu hören bekommen, was ich hatte hören wollen. Doch irgendwann wurde mir klar, dass ich gar nicht wusste, wer dieser Mann, mein Vater, eigentlich war. Ich konnte nicht länger die Augen davor schließen, dass wir über viele Jahre lang keine Beziehung hatten, auch zu seiner afrikanischen Familie auf Sansibar gab es keinen Kontakt. Zu meinen vierten Geburtstag – am Geburtstag meiner Mutter wohlgemerkt – bekam ich ein Paket von ihm mit einem Geschenk und einer Karte, das war’s. Dann hörte ich knapp zehn Jahre nichts mehr von ihm. Bis mein Vater Kontakt zu meiner Mutter aufnahm und sich von da an in eher unregelmäßigen Abständen meldete. Bis dahin hatte ich mich arrangiert mit der Nichtexistenz meines Vaters in meinem Leben. Und irgendwie war das auch gut so, denn ich hatte regelrecht Angst vor ihm. Es war für mich eine große Qual, wenn meine Mutter sagte, ja, mich aufforderte: „Dein Vater hat auf dem Anrufbeantworter eine Nachricht für dich hinterlassen. Rufe ihn doch bitte zurück.“ Ich aber wollte nicht mit ihm telefonieren, mehrmals redete sie auf mich ein, über Wochen ging das so, bis ich dann doch zum Hörer griff und seine Nummer wählte. Meine Hände zitterten, in meiner Magengegend breitete sich ein flaues Gefühl aus. Da war sie wieder, diese entsetzliche Furcht vor ihm. Und sie hatte auch einen Grund. Sie hatte damit zu tun, dass mich mein Vater während der ersten Male, die ich ihn bewusst traf, nur zurechtgewiesen hatte. Bei diesen Begegnungen hielt er mir vor, dass ich dies und jenes falsch machen würde, obwohl ich nach meinem Verständnis alles richtig gemacht hatte. Meine Mutter wollte zwar, dass ich den Kontakt zu meinem Vater nicht ganz abbrach, sie wollte keinen Sorgerechtsstreit auslösen, konnte aber auch nachvollziehen, dass ich diese innere Ablehnung in mir hatte.

Eine dieser verängstigenden Begegnungen hatte im Winter stattgefunden. Meine Freundin Lotta und ich, wir waren vielleicht höchstens vier Jahre alt, trugen Wollkleider und darunter dicke Strumpfhosen, als mein Vater bei uns auftauchte. Lotta und ich tobten umher, wobei uns ziemlich heiß wurde. Weil uns die Kleider bei unserem Spiel störten, wir uns nicht richtig bewegen konnten und es auch warm in dem Zimmer war, zogen wir sie aus, sodass wir nur noch unsere Unterhemdchen und Strumpfhosen trugen. Mein Vater schimpfte augenblicklich als er den Raum betrat: „Das gehört sich nicht für ein Mädchen, so herumzulaufen. Zieht sofort wieder eure Kleider an.“

Seine Bemerkung traf mich in dem Moment tief, weil ich mich so schutzlos fühlte. Und das an dem Ort, an dem ich zu Hause war und eigentlich sicher sein sollte. Lotta wohnte im selben Haus, nur ein Stockwerk über uns, eigentlich war bislang alles sehr familiär, ja sogar inniglich zugegangen. Und dann erschien jemand auf der Bildfläche, der mich so verunsicherte, indem er mein in meinen Augen normales und logisches Verhalten derart infrage stellte. Ich fiel aus allen Wolken.

Zu meinem Glück sah ich ihn dann lange Zeit nicht wieder. Erst Jahre später traf ich meinen Vater ein weiteres Mal, das war auf einem Spielplatz. Er war gekommen, damit ich meine Halbgeschwister kennenlernen sollte. Meine Mutter hatte mir erzählt, er hätte zwei Kinder mit einer anderen Frau. Die Begegnung fand ich sehr merkwürdig, und sie überforderte mich erneut.

Erst mit der Zeit entwickelte sich bei meinem Vater ein religiöses Bewusstsein. Er beendete seinen bisherigen Lebensstil, der mittlerweile eh schon ruhiger geworden war, und lebte nun als gläubiger Muslim. Als er mit meiner Mutter zusammen war, war er eher noch so der Reggae- und Partytyp gewesen. Dass es für mich schwierig war, ohne einen Vater aufzuwachsen, der aufgrund meiner dunklen Hautfarbe dennoch präsent in meinem Leben war, konnte er nicht begreifen. Er denkt komplett anders, und das hat nicht nur mit seiner Reflexionsfähigkeit oder -unfähigkeit zu tun. Er ist kein Mensch, der sich fragt, wie was wozu kam. Sicher, auf politischer Ebene überlegt er solche Dinge, interessiert sich für die Zusammenhänge und will verstehen, nicht aber emotional. Was meine Vaterbeziehung für mich auszeichnet, ist nicht gesehen zu werden, als die, die ich bin. In den letzten Jahren verbrachten wir recht viel Zeit für unsere Verhältnisse. Meine Furcht vor ihm überwand ich vor einigen Jahren schon, aber gesehen und verstanden fühle ich mich bis heute nicht.

Ein wenig beschäftigte ich mich mit seinem kulturellen Hintergrund, um mehr über meinen Vater zu erfahren, und vielleicht auch, um so etwas wie Verständnis zu entwickeln, die Situation aus seiner Perspektive heraus zu verstehen. In Afrika, in Tansania, ist das Zusammenleben ein komplett anderes als in Deutschland. Kinder werden in der Heimat meines Vaters durchgereicht, ein ganzes Dorf erzieht ein Kind, so hatte es mir jedenfalls meine Mutter erzählt. Es sei normal, dass Kinder eine Zeit lang bei Verwandten aufwachsen, zusammen mit Cousins und Cousinen, man rotiert so durch die Familie. Das müssen nicht einmal Blutsverwandte sein, was dazu führt, dass es in Tansania einen ganz anderen Bezug zur Familie gibt. Mein Vater lebte und lebt seine Vaterrolle, wie er es kulturell gelernt hat und wie es seinen Vorstellungen entspricht – nur leider unterschieden die sich komplett von denen, wie ich sie mir vorstellte. Ich hatte durch mein Aufwachsen in Deutschland ein anderes Bild von Familie. Und bei allem Verständnis für seine Situation suche ich deswegen auch heute keinen engen Kontakt zu ihm.

Kapitel 3

Wenn man anders aussieht - ohne es zu wissen

Bereits im Kindergarten wurde ich aufgrund meiner Hautfarbe anders behandelt. In manchen Situationen bekam ich zu spüren, dass ich nicht so war wie die anderen Jungen und Mädchen, etwa wenn ich eine Frage stellte oder etwas Bestimmtes wollte – dann schaute man mich erst mal auf eine Art an, ob ich dazu überhaupt berechtigt war. Damals wusste ich noch nicht genau, dass das mit meinem Aussehen zu tun hatte. Ja, ich hatte überhaupt noch nicht einmal begriffen, dass ich offenbar anders aussah als die Menschen um mich herum. Und nicht nur das, offensichtlich war damit auch eine Wertung verbunden.

Einige griffen auch in meine Haare, weil sie schwarz und lo­ckig waren, nicht so blond oder braun und glatt wie die der anderen. Keine der Erzieherinnen kam aber auf die Idee, zu sagen, dass man dies doch bitte unterlassen solle, weil es sein könne, dass ich es nicht mögen würde. Sie erklärten auch nicht, warum es auf der Welt unterschiedlich aussehende Menschen gab.

Aber es ging nicht nur um meine Hautfarbe, es gab noch einen weiteren Grund, der nicht besonders gut ankam: Ich war ein Scheidungskind. Damals, vor ungefähr 25 Jahren, war das noch ein Makel, zumindest im ländlichen Raum. Denn Scheidungskinder haben ja vermeintlich keine richtige Familie, sie stehen immer zwischen den Stühlen und passen nirgendwo so richtig hin.

Eigentlich sollte die Tatsache, getrennte Eltern zu haben, etwas Normales sein – was auch meine Mutter fand. Sie wollte sich schließlich selbst ein Bild machen, wie in der Kita mit mir umgegangen wurde. So erlebte sie ein paar Szenen, schnappte einige Gespräche zwischen den Erzieherinnen und anderen Müttern auf, die sie stutzig werden ließen. Es wurden Bemerkungen gemacht, dass ein Kind wie ich, ohne Vater und noch dazu mit dieser Hautfarbe, doch einen schlechten Einfluss auf die anderen Kinder ausüben würde. Doch meine Mutter fühlte sich nicht gedemütigt. Sie sah nicht ein, warum eine Alleinerziehende sich nicht genauso gut um ein Kind kümmern können sollte wie ein Ehepaar. Trotz ihrer Außenseiterrolle nahm sie sich negative Kommentare nicht zu Herzen.

Stattdessen suchte sie für mich einen anderen Kindergarten, in dem Klischees und Vorurteile nicht vorherrschten. Natürlich war ich zu jung gewesen, um über all diese Dinge reden zu können, letztlich aber wollte ich es auch nicht. Selbst später, als ich älter wurde und meine Mutter mit mir über mein Aussehen oder auch meinen Vater sprechen wollte, blockte ich ab. Ich konnte mit ihr nicht darüber reden. Es hat mich so belas­tet, dass ich gar nicht wusste, womit ich anfangen sollte. Ich konnte meine Gedanken und Gefühle nicht in Worte fassen, nicht verarbeiten, weshalb ich sie in ein Paket schnürte und dieses ungeöffnet in meinem Rucksack umhertrug, bis ich bereit dazu war. Meine Mutter drang aber niemals in mich, akzeptierte, dass ich mich wie eine Auster verschloss.

Sie war natürlich traurig und schockiert, dass ich so viel Schlechtes erfahren hatte und so offensichtlich litt. Doch war sie sich auch sicher, dass ich stark genug war, das alleine zu tragen, auch wenn sie es im Nachhinein vielleicht lieber anders gemacht hätte. Das war wohl der unbändige Optimismus, den sie von meinem Großvater geerbt hatte.

Erst mit zehn Jahren, als Grundschulkind, erkannte ich, dass ich dunkelhäutig war, und dass das tatsächlich einen Unterschied machte. Ich hockte in der Dusche und wollte mich abbrausen, wie ich es schon unzählige Mal zuvor getan hatte. Als ich den silber glänzenden Duschkopf schließlich über meinen Arm hielt, wurde mir durch die Reflexion meiner Haut auf dem Metall auf einmal bewusst, dass ich diese andere, diese dunklere Hautfarbe hatte. Natürlich hatte ich das schon vorher wahrgenommen, aber bis dahin hatte es nichts für mich bedeutet. Ich hatte keinen Unterschied gemacht, obwohl ich den Unterschied der Hautfarbe natürlich wahrgenommen habe. Ich kannte quasi nur ein Leben unter Hellhäutigen. Aber Hautfarbe war für mich nie ein relevantes Kriterium zur Unterscheidung der Menschen. Tausendmal schon hatte ich in der Dusche gestanden, und nichts war passiert, und dann war es mir plötzlich aufgefallen – ich war anders. Das war eine Feststellung, die auch mit einem gewissen Schmerz verbunden war, weil mir damit gleichzeitig deutlich wurde, dass es immer andere Menschen geben würde, die diesen Unterschied machen würden.

Hatte ich in dem zweiten Kindergarten keine Probleme mehr wegen meiner Hautfarbe, in ihm war ich ein Kind wie jedes andere auch, so wurde es erst wieder in der Grundschule problematisch für mich. Ein Junge aus meiner Klasse hatte einen Onkel, der in der NPD war, und auch die Eltern des Jungen hatten ein Denken, das man wohl als rechts bezeichnen konnte. Das wurde auch nicht verheimlicht, es wurde offen zur Schau getragen und war allen bekannt, ohne dass sich jemals irgendjemand daran gestört hätte.

Einmal bildeten wir einen Stuhlkreis, und zufällig ergab es sich, dass ich meinen Stuhl neben diesen Schüler stellte. Entsetzt sah der Junge mich an, das Gesicht zu einer Grimasse verzogen, als hätte er den schlimmsten Abscheu vor mir. Schließlich sagte er laut in einem abfälligen Ton: „Ich will nicht neben der sitzen.“

Stille im Klassenzimmer. Sämtliche Augenpaare waren zur Lehrerin gerichtet. Alle schienen gespannt darauf zu warten, was die Lehrerin sagen würde. Ich war irritiert und vor den Kopf gestoßen, in meinem Herzen spürte ich einen dumpfen Stich, als wolle man es in Stücke reißen. Was würde sie tun?

Die Lehrerin holte tief Luft, bevor sie die Worte unwiderruflich und mit harter Stimme aussprach, die sich für immer in mich eingraben sollten: „Malaika, dann setz dich bitte woanders hin.“

Ich begriff nicht, was das sollte, was da vorgefallen war. Wieso erfuhr ich eine solche Abneigung, obwohl ich gar nichts gemacht hatte? Heute ist mir klar, dass der Junge das Denken aus seiner Familie, aus seinem Elternhaus übernommen hatte, das darin wurzelte, dass ich aufgrund meiner Hautfarbe für ihn „minderwertig“ und er mir überlegen war. Nicht weiße Menschen zu diskriminieren, hatte er wohl dort gelernt. Er hielt sich für besser als ein Kind, das so aussah wie ich, und wollte mir zeigen, dass er mich am liebsten aus der Klasse ausgeschlossen hätte.

Viel schlimmer und schwerwiegender für mich aber war, dass meine Lehrerin seine Aussage unreflektiert übernahm, sie nicht kommentierte und mich sogar aufforderte, mich auf einen anderen Platz zu setzen. Nach meinem Empfinden hätte sie eingreifen, allen anderen Schülern und Schülerinnen in der Klasse verdeutlichen müssen, dass ein solches Verhalten nicht zu dulden sei. Sie hatte die Reaktion des Schülers heruntergespielt, nein, noch furchtbarer, sie hatte ihn darin bestätigt, dass das, was er von sich gegeben hatte, richtig war. Sie ließ mich fühlen, dass ich fehlerhaft war. Sollte ich mich deswegen schämen? Mich verstecken, sodass ich für den Jungen unsichtbar war? Aber das konnte ich in einer Klasse nicht, ich wollte mich ihr doch zugehörig fühlen. Hätte der Junge das auch gesagt, wenn ich weiß gewesen wäre? Und wieso half mir keiner? Ging es in einer Klasse nicht darum, sich gegenseitig zu unterstützen, die eigenen Stärken einzubringen und einander zu ergänzen? So jedenfalls hatte mir meine Mutter die Welt erklärt.