Spring! - Maria Knissel - E-Book

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Maria Knissel

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Beschreibung

Leistung oder Leben Dreißig Sekunden. Nur noch ein einziger Sprung bis zum olympischen Gold... Ein halbes Leben lang versucht Angelika, den Moment ihres großen Versagens bei den olympischen Spielen zu vergessen. Doch dann kommt die zehnjährige Lian in ihre marode Turnhalle in Kassel. Ein außergewöhnliches Turntalent - und ein sehr ernstes Kind. In ihrem bewegenden dritten Roman erzählt Maria Knissel, wie sich aus einem Versagen Stärke entwickeln kann.

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Maria Knissel
Spring!
Roman
Alle Rechte vorbehalten • Societäts-Verlag
© 2015 Frankfurter Societäts-Medien GmbH
Satz: Julia Desch, Societäts-Verlag
Umschlaggestaltung: Julia Desch, Societäts-Verlag
Umschlagsabbildung: © andreiuc88 - Fotolia.com
Grafik Innenteil: © lesniewski - Fotolia.com
E-Book: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
ISBN 978-3-95542-211-0
Für meine Töchter Mareike und Sarah

Erster Teil

Der Moment vor dem Sprung entscheidet. Der Film in deinem Kopf: Anlauf, Radwende, Absprung, deine Hände auf dem Leder, dein Körper in der Luft, doppelte Drehung, deine Füße auf der Matte, steh!
Dunkelheit schob sich in die Halle, Wind begann an den Fenstern zu zerren, und Sekunden später kam der Sturzregen ohne weitere Vorwarnung. Mit solcher Wucht prügelte er auf das Dach ein, dass die Mädchen sich duckten und auf der Matte zusammenrückten. Nur Mascha löste sich aus dem Pulk. Sie kam auf mich zu, wollte mir etwas mitteilen, etwas Wichtiges, Dringendes, ihre Lippen bewegten sich, aber erst als sie ganz nah war, drang ihre Stimme durch das Dröhnen des Regens zu mir durch. „Frau Maifert! Schnell!“
Meine Beine waren wie aus Holz, die Brust in der Zange. Alle Kraft musste ich zusammennehmen, um Mascha zu folgen. In der Umkleide spritzte das Wasser aus der undichten Stelle im Dach in den darunter platzierten Eimer wie aus einem kaputten Wasserhahn. Mascha war schon wieder hinausgelaufen, kam mit einem zweiten Eimer zurück, griff den vollen und hielt ihn mir entgegen. „Schnell!“ Sie drückte mir den Drahthenkel in die Hand. Er schnitt in meine Finger. Ich musste es ausschütten, das Wasser. Den leeren Eimer zurückbringen. Den vollen wieder nehmen und ausschütten. Aber als ich die Tür zur Toilette öffnete, gurgelte es in der Kloschüssel und das Wasser kräuselte sich. Ich schloss den Deckel und setzte mich darauf, als könnte ich so verhindern, dass es aus dem Kanal nach oben drückte. „Frau Maifert?“ Maschas Stimme war schrill. Ihr T-Shirt voller Sprenkel. Schweiß, dachte ich, dabei wusste ich es besser, und im selben Moment sagte sie schon: „In der Halle regnet’s auch durch!“
Später, als sich der Wolkenbruch in einen dünnen Frühlingsregen verwandelt hatte, schickte ich die Mädchen nach Hause. Natürlich war mir klar, dass die Eltern Ärger machen würden. In der vergangenen Woche erst hatten wieder zwei Mütter ihre Töchter abgemeldet.
Mascha war noch geblieben, hatte die Weichbodenmatte an die Stelle in der Halle gezerrt, wo der Regen auf das Parkett tropfte, und sich, als das Wasser an den Rändern herunterlief, mitten draufgesetzt, um eine Vertiefung zu schaffen, in der es sich sammeln konnte. Dünn und frierend saß sie in der Mulde.
„Geh du auch nach Hause.“ Das Sprechen kostete mich ungeheure Anstrengung, dabei müsste ich viel mehr tun. Lappen holen, das Wasser aufwischen, mich um das Dach kümmern.
„Aber dann wird hier alles nass!“
„Geh nach Hause und nimm ein Bad, Mascha, bitte. Sonst wirst du krank.“
Zögernd stand das Mädchen auf, Wasser schwappte auf den Boden. In der Tür drehte sie sich noch einmal um. Ihr Pferdeschwanz hatte sich gelöst, das Haar klebte dunkel an ihren Wangen. „Soll ich nicht doch besser bei Ihnen bleiben?“
Ich versuchte ein Lächeln, es misslang, ich hätte gern Danke gesagt, auch das bekam ich nicht hin, und ich schüttelte nur den Kopf und sah Mascha nicht ins Gesicht, um die Enttäuschung darin nicht sehen zu müssen.
Lange nach dem Schlagen der Tür setzte ich mich auf den Rand der Matte. Das Wasser aus Maschas Kuhle floss zu mir herüber und drang durch die Hose hindurch an meine Haut. Vorbei. Die Rechnungen nicht mehr zu bezahlen. Das Dach nicht dicht zu bekommen ohne Geld. Die Heizung, die nie ausreichte, die Nägel, die es immer wieder aus dem spröden Parkett trieb, die Eingangstür, in der das Glas im brüchigen Kitt schepperte, das kaputte Auto: Die Liste war lang, und wenn ich vorn einen Posten wegstrich, kamen hinten drei dazu.
Ich stand auf, ging ein paar Schritte. Meine Beine fühlten sich immer noch an, als gehörten sie nicht zu mir. Ich begann zu laufen, fühlte, wie das Blut wieder anfing zu fließen, wurde schneller, wollte das dicke Gefühl in meinem Kopf wegrennen, aber die Halle war zu klein dafür, überall Wände, die mich aufhielten. Ich rannte durch die Mitte, machte eine Pirouette, noch eine, einen Spagatsprung, Ringsprung, Hockbücksprung, ein Rad und stand schon wieder vor einer Wand. Aber jetzt, als ich mich umdrehte, lag die ganze Diagonale vor mir. Konzentrieren. Anlauf, Flickflack, Schmetterling, Salto, Aufkommen, die hellen Rufe der anderen: „Steh!“ Die Arme hochrecken, das Enden der Musik, die Sekunde, bevor der Applaus zu mir durchdringt …
Ich blickte auf die Frau vor mir: fast vierzig, in einer nassen Trainingshose, verzerrt durch die Spiegelfolie, die auf der Wand aufgeklebt war. Zu dick. Ich wusste, dass ich es nicht war, das alte Thema. Immerhin musste ich keine knappen Turnanzüge mehr tragen.
Ich streifte die Hände am Pulli ab und ging ins Kabuff, wie ich den kleinen Aufsichtsraum am Rand der Halle von Beginn an genannt hatte. Der Drehstuhl knarrte, als ich mich setzte. Durch das zerkratzte Plexiglasfenster blickte ich in die Halle.
Meine Akrobatikschule. Die Mädchen. Ich hatte es anders machen wollen, besser. Freude an der Bewegung sollten sie haben, deshalb sollten sie kommen. Die Freude am Tun und daran, sich zu spüren, ohne Druck, ohne Konkurrenz, ohne die ewige Kritik und Schreierei, ohne Waagen und Wettkämpfe und Kampfgerichte und Punktabzug, immer wieder Punktabzug. Die Halle. Mein Leben. Ein anderes hatte ich nicht. Aber ich konnte die Rechnungen nicht mehr bezahlen. Mein Kopf sank auf den Tisch. Einfach liegenbleiben und wegdämmern im müden Licht des Februarspätnachmittags …
Als jemand gegen die Scheibe klopfte, schrak ich hoch. Hinter dem Plexiglas standen ein Mann und ein Mädchen, wie vom Sturm aus einer fremden Welt hierher geweht. Sie passten nicht hierher, nicht in diese Halle, nicht in diese Gegend: der Alte, durch dessen Gesicht sich unzählige Falten zogen, obwohl die Haut sich um die Wangenknochen spannte. Die Augen saßen tief hinter den Lidern. Das Mädchen, acht oder neun Jahre mochte sie sein, bewegte sich nicht, aber an dem unbedeckten Teil ihres Arms sah ich, dass sie ihre Hand in der Jackentasche des Mannes um seine krampfte. Zart war sie, und ihr Gesicht kam mir seltsam bekannt vor. Der Mann lächelte und nickte in einem fort. In der rechten Hand hielt er einen Brief.
Der Regen hatte Spuren hinterlassen: Blätter und Äste von den Bäumen gerissen, Erde aus den Straßengräben geschwemmt und auf dem Asphalt verteilt. An der Haltestelle lagen glitschige Plastiktüten und in der Straßenbahn beschlugen die Scheiben. Auch der Hausflur und das Treppenhaus waren dreckig, aber bis zu mir im dritten Stock verlor sich die Nässe.
Aus der Wohnung neben meiner drang Rockmusik. Seit zwei Wochen hatte ich einen neuen Nachbarn, der deutlich mehr Lärm machte als die alte Frau Hellwig, die vor ihm dort gewohnt hatte. Gesehen hatte ich ihn noch nicht, war ihm im Gegenteil sogar aus dem Weg gegangen. Einmal hatte ich seine Tür schlagen hören, als ich auch gerade ins Treppenhaus gehen wollte, und abgewartet, bis seine Schritte verhallt waren. Ich schob den Schlüssel ins Schloss, und im selben Moment verstummte die Bohrmaschine. Ich atmete durch, als ich in die Wohnung trat. Weiß und still war es hier. Der Geruch kühl und mineralisch, wie ein Neuanfang. Ich streifte die Stiefel von den Füßen und ging in die Küche, klaubte einen Krümel vom Tisch, warf ihn in den Müll, dann warf ich einen Blick ins Schlafzimmer und kurz ins Bad. Eine Marotte, seit ich allein lebte: einmal jeden Raum betreten, dann erst konnte ich mich hinsetzen. Bei einer Einzimmerwohnung war das zum Glück keine große Sache.
Ich füllte Wasser in den Wasserkocher und hängte zwei Teebeutel in die Kanne, blieb an der Arbeitsplatte stehen, bis der Dampf weiß aus der Tülle strömte und das Gerät sich abschaltete, goss das kochende Wasser in die Kanne, sog den Geruch nach Pfefferminze ein, der mir manchmal ein leises Gefühl von Zuhause gab.
Heute nicht. Die Halle, der Regen, das viele Wasser, der alte Mann, das Mädchen: all das wirbelte in meinem Kopf umher. Vor allem aber der Brief, den der Mann mir gegeben hatte, überreicht mit beiden Händen und fremden Worten. Ich zog ihn aus meinem Rucksack. Der Umschlag schimmerte porzellanfarben. Ich hatte ihn aufgerissen, nachdem der Mann und das Mädchen wieder gegangen waren, jetzt störte das zerfetzte Papier den feinen Eindruck. Die deutschen Buchstaben wirkten plump neben den chinesischen Schriftzeichen.
Sehr geehrte Frau Winter,
Winter. Nicht Maifert.
Sehr geehrte Frau Winter,
ich bin der Vater von Xu Lian. Sie ist zehn Jahre alt und eine äußerst begabte Turnerin. Sie hat das Potenzial, eine erfolgreiche Leistungsturnerin zu werden. Ich bin sicher, dass Sie, verehrte Frau Winter, aufgrund Ihrer großen Erfahrung die geeignete Lehrerin sind.
Ich hielt es nicht aus, ging zum Fenster, aber der Blick auf die Brandschutzwand gegenüber deprimierte mich.
Lian kommt jeden Tag nach der Schule zum Training, von 14.30 Uhr bis 18.30 Uhr. Ihr Großvater, sein Name ist Xu Yuwan, wird sie bringen und wieder abholen. Ich zahle ein sehr gutes Honorar und erwarte sehr gute Leistung. Lian muss sobald wie möglich anfangen. Seien Sie gewiss, dass sie ein gut erzogenes Mädchen ist.
Hochachtungsvoll
Xu Sheng
Wer war dieser Chinese, der meinen Mädchennamen kannte? Er konnte doch nicht im Ernst erwarten, dass ich seine Tochter trainierte, noch dazu jeden Tag! Was stellte er sich vor: ein Einzeltraining? Exklusiv für seine Elitetochter? Und wie um Himmels willen kam er ausgerechnet auf mich? Ich war doch gar keine Turntrainerin, ich machte längst völlig andere Dinge. Und überhaupt: Was wäre mit den anderen Mädchen? Geld allerdings brauchte ich dringend.
Ich zog meine Sachen aus, stopfte sie in die Waschmaschine und ging in die Dusche, drehte das heiße Wasser so weit auf, dass ich es gerade noch aushielt. Ich gab Shampoo in meine Hand, viel Shampoo, und verrieb es in meinem Haar, fühlte, wie der Schaum an meinem Körper herunterlief, über die Brust, meinen Bauchnabel und an den Schenkeln entlang.
Ich hatte mich gerade wieder angezogen und ein Handtuch um meinen Kopf gewickelt, als es klingelte. Zögernd öffnete ich die Tür. Ein Mann stand vor mir. Er mochte etwa in meinem Alter sein, um die vierzig. Nur ein Stück größer als ich war er, die Haare waren dunkel und so lang, dass er sie im Nacken zusammengebunden trug. Die Wangen mit den Aknenarben wirkten im fahlen Licht des Treppenhauses wie ein Stück Mondoberfläche. Als ich die Flasche Wein in seiner Hand sah, ahnte ich, wer er war und bereute, dass ich geöffnet hatte.
„Hallo“, er streckte die Hand aus, „ich wollte mich einfach mal vorstellen.“
„Hallo.“ Seine Hand war überraschend schwielig.
„Ich bin Johannes. Der neue Nachbar.“
„Angelika Maifert.“
„Coole Frisur“, sagte er. Ich zog das Handtuch von meinem Kopf. Er wartete, dann fragte er: „Darf ich reinkommen?“ Sein Blick traf mich seltsam intensiv, sodass ich unwillkürlich einen Schritt zurücktrat, was er als Einladung auffasste und in die Wohnung trat. „Ganz schön weiß hier“, seine Augen schweiften durch den Flur, während er sich bückte und sein Schnürband aufzog. Der Trapezmuskel zeichnete sich unter dem T-Shirt ab. Auch die Armmuskulatur war gut ausgebildet.
„Bitte“, sagte ich, „lassen Sie die Schuhe ruhig an.“
Er verharrte in der Bewegung, dann schnürte er die Schuhe wieder zu. „Wollen wir uns nicht duzen?“, fragte er und richtete sich auf, „ich meine, wir sind Nachbarn und ungefähr im gleichen Alter.“
Ich zuckte mit den Schultern und ging an ihm vorbei in die Küche. Er folgte mir und stellte die Flasche auf den Tisch. Es gefiel mir nicht, wie sein Blick über die Schränke, den Kühlschrank, über mich glitt. „Weingläser habe ich nicht.“ Ich stellte zwei Wassergläser auf den Tisch.
„Macht nichts.“ Er setzte sich ohne Aufforderung auf einen meiner Stühle.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, kannte ihn doch gar nicht. Und hatte keine Lust auf Besuch, ausgerechnet heute. Es gab so viel, um das ich mich kümmern musste. Ich drehte den Korkenzieher in den Korken.
„Lass mich das machen“, er streckte mir seine Hände entgegen.
„Geht schon.“ Der Korken ging schwer und ich spürte, wie viel Kraft ich gelassen hatte an diesem Tag. Aber schließlich löste er sich und ich stellte die Flasche wieder auf den Tisch. Johannes nahm sie und goss ein. Mir blieb wenig übrig, als mich zu ihm zu setzen. Er sagte nichts, sah mich nur interessiert an. Ich räusperte mich. „Hast du dich schon gut eingerichtet?“, war das Einzige, das mir einfiel.
„Nicht wirklich. Allzu viele Sachen habe ich zum Glück nicht. Die Gegend hier ist ja nicht gerade die schönste, finde ich, aber für eine Zeit …“
Für eine Zeit. Er hatte also nicht vor, lange hier wohnen zu bleiben.
„Du bist neu in Kassel?“
„Nein.“ Er trank einen Schluck, und noch während ich krampfhaft überlegte, was ich als nächstes fragen könnte, sagte er: „Meine Frau hat sich von mir getrennt.“ Er sah aus dem Fenster.
„Oh, das … tut mir leid.“ Ich hoffte, er würde mir nicht seine ganze Lebens- und Liebesgeschichte erzählen, konnte außer meinen eigenen wirklich nicht auch noch fremde Sorgen gebrauchen.
„Es dreht sich halt immer, das Gedankenkarussell“, sagte er und fuhr mit dem Zeigefinger über den Rand seines Glases. „Ich glaube, ich muss erst wieder lernen, mit mir selbst klarzukommen.“
Ich nickte. „Ja. Bestimmt.“
„Und du?“
„Ich?“
„Wohnst du schon lange hier?“
Ich griff zu meinem Glas. „Schon. Eigentlich sollte es auch nur vorübergehend sein, aber ich brauchte damals dringend …“
Er sah mich an, wieder mit diesem Blick, der zu lange auf mir stehenblieb. Ich mochte es nicht und schob das Glas vor mein Gesicht, trank, aber ich verschluckte mich und musste husten. Rot spritzte der Wein auf den Tisch.
„Entschuldigung.“ Das Blut stieg mir ins Gesicht. Oder der Alkohol? Seit dem Morgen hatte ich nichts gegessen, hatte mich nicht an meinen Kalorienplan gehalten, alles war aus dem Takt geraten an diesem Tag, und jetzt saß hier auch noch dieser Fremde in meiner Küche und fragte mich aus. Ich ging zur Spüle, um einen Lappen zu holen. Auf der Arbeitsplatte lag der Brief. Meine Tochter ist sehr begabt, hatte der Chinese geschrieben. Ich wusste, was er wollte, dieser Vater. Seine Tochter sollte ein Turnstar werden. Und ich sollte dafür sorgen. Doch das würde ich nicht tun. Alles, aber nicht das! Ich musste auf andere Weise an Geld herankommen.
„Angelika?“
Ich zuckte zusammen, als ich Johannes’ Stimme hörte, eine völlig unverhältnismäßige Reaktion. „Entschuldigung“, sagte ich wieder, „ich bin es nicht gewohnt, dass hier jemand ist außer mir.“
„Ist alles in Ordnung mit dir?“
„Ich …“ Was ging ihn das überhaupt an? Warum interessierte er sich dafür? Sein Glas hatte er noch nicht einmal zur Hälfte ausgetrunken. Meins war längst leer. Ich wollte allein sein. Ich drehte mich zu ihm um, blieb aber an der Arbeitsplatte stehen, fühlte die Kante in meinem Rücken und umklammerte sie mit meinen Fingern. „Hör zu, ich hatte einen schweren Tag, mein Auto ist vor ein paar Tagen kaputtgegangen und morgen muss ich …“
„Der alte Golf, der unten vor der Tür steht?“
Ich nickte. Der alte Golf, der mit den defekten Zylinderkopfdichtungen. Der, dessen Reparatur ich mir nicht leisten konnte. Der, mit dem ich morgen nicht zum Baumarkt fahren konnte, um zumindest das Notwendigste zu besorgen. Verdammt! Wieso hatte sich die ganze Welt gegen mich verschworen?
„Kann ich dir helfen? Soll ich dich morgen irgendwohin fahren?“, fragte Johannes.
„Danke. Ich komme zurecht.“
Er musterte mich und trank sein Glas aus. „Wie du meinst.“
Und wenn ich doch … Er wirkte nett, dieser Johannes, und es ging ja nur um eine einzige Fahrt. „Was hast du denn für einen Wagen?“, fragte ich.
„Einen Volvo.“
„Ich müsste zum Baumarkt.“
„Wie gesagt, ich helfe dir gern. Hast du was Größeres zu transportieren?“
Ich zögerte. „Es geht um meine Halle.“ Ich setzte mich wieder an den Tisch.
„Halle?“
„Eine Sporthalle. In Bettenhausen, nicht groß, aber …“ Ich wischte mit dem Finger durch einen der Weinflecken und zog einen roten Striemen über die Tischplatte. „Heute hat es durchgeregnet. Ich hätte die undichte Stelle im Dach eigentlich längst reparieren müssen. Es ist ziemlich viel kaputtgegangen.“ Ich sah aus dem Fenster. Ich wusste auch so, dass es nicht regnete, denn dann würde ich die Tropfen auf der Fensterbank hören. Manchmal, wenn der Wind aus Südosten kam, schlugen sie auch gegen die Scheibe.
„Ich bin Architekt“, sagte Johannes, „wenn du willst, gucke ich mir das Dach morgen mal an.“
Der Regen am Tag zuvor hatte das bisschen Wärme mitgenommen, das in der Luft gelegen hatte, und ich rieb mir die Oberarme, als ich vor der Halle auf Johannes und seinen Volvo wartete und versuchte, die Risse in der Asphaltdecke der Zufahrt und auf dem Parkplatz zu ignorieren. Sie waren mir noch nie zuvor aufgefallen.
Johannes sah anders aus als am Abend zuvor. Er trug einen Rollkragenpulli und ein Sakko über seiner Jeans, und in diesem Outfit wirkte sogar sein Zopf stylisch. Schon während er aus dem Wagen stieg, schweifte sein Blick über den Platz, den Himmel, an dem sich Wolkenfetzen aneinanderreihten, und das Gebäude. Er beugte sich ins Auto und holte eine Kamera heraus. Ich zog die Jacke fester um meinen Körper.
Als ich die Eingangstür öffnete, versuchte ich unauffällig die Scheibe festzuhalten, damit sie nicht schepperte oder womöglich sogar ausgerechnet jetzt aus dem Kitt fiel. In der Umkleide schlug uns Gestank entgegen. Die Schlammlache, die sich aus der Toilette unter der Tür durchgedrückt hatte, hatte ich weggewischt, doch der Fäkalgeruch würde noch eine Weile bleiben. In das Holz einer Bank hatte sich das Wasser aus der undichten Stelle im Dach tief hineingezogen.
Johannes runzelte die Stirn, und ich ging schnell weiter in die Halle. An der Decke breitete sich ein hässlicher Fleck aus, darunter lag die Weichbodenmatte. Sie hätte fast schön aussehen können: die glänzenden Wasserperlen auf dem tiefen Blau, aber am Rand häuften sich die nassen Papierhandtücher, die ich am Tag zuvor zum Aufwischen benutzt und noch nicht in den Müll gebrachte hatte, und an einer anderen Stelle zogen sich braune Schlieren über den Kunststoff. Der Geruch von modrigem Holz erfüllte die ganze Halle.
„Puh“, Johannes kratzte sich am Kopf, „ich schätze, da kommt einiges auf dich zu.“
Als ob ich das nicht wüsste. „Es geht erstmal nur ums Dach.“
„Man könnte es provisorisch mit Bitumen abdichten, das hält allerdings nicht lange. Das Dach muss erneuert werden, alles andere ist Flickwerk. Außerdem müsste die Halle gedämmt werden, und die Heizung scheint auch nicht mehr die Neueste zu sein.“
„Bitumen klingt gut.“
„Ich mache mal ein paar Fotos, okay?“ Er zog seine Kamera vom Arm und begann zu fotografieren. Die undichte Stelle im Dach, das aufgequollene Parkett. Er sah sich um, hob wieder die Kamera, fotografierte die Fenster, dann die Halle in ihrer Länge, hörte gar nicht auf damit, drehte am Objektiv. „Das Licht hier, die Atmosphäre“, ununterbrochen drückte er jetzt auf den Auslöser, „man könnte was draus machen, mit ein bisschen Geld. Ein Kulturzentrum oder eine hippe Skaterhalle oder so etwas. Vielleicht findest du einen Investor, der dir das Ding abkauft.“
Ich wandte mich von ihm ab. Mir war immer noch kalt und ich verschränkte die Arme vor der Brust. In der Spiegelwand sah ich, dass Johannes von hinten die Kamera auf mich hielt. „Lass das!“
Der Auslöser klickte.
„Ich will nicht fotografiert werden! Ich mag es nicht.“
Er schoss ein weiteres Foto, bevor er die Kamera sinken ließ und die Verschlusskappe wieder auf die Linse nestelte. „Schade.“ Dann räusperte er sich wieder. „Wächst dir das Ganze hier nicht finanziell über den Kopf? Ich meine, fünftausend wird allein das Dach kosten, zwanzigtausend die Heizung, um nur die großen Posten zu nennen. Soviel Geld kannst du doch mit deinen Gruppen gar nicht machen.“
Immer noch biss der Gestank des Bitumens in meiner Lunge und meine Armmuskeln schmerzten. Trotzdem musste ich rennen, den Puls hochjagen, meine Lunge an ihre Grenze bringen. Aber jetzt bekam ich Seitenstechen, was mir sonst nie passierte, musste stehenbleiben, die Hände auf den Oberschenkeln abgestützt, und in meine Seiten atmen.
Auf der Wasseroberfläche des Hirschgrabens neben mir kräuselten sich die Spiegelbilder der kahlen Bäume in exakt gleichen Abständen. Normalerweise tat mir die Ordnung in der Karlsaue gut: die geraden Linien der Wassergräben, die exakten Sichtachsen. Manchmal, im Frühsommer, wenn das Gras noch heil war und die Sonne durch die Blätter der Baumkronen funkelte, konnte ich mir hier sogar ein anderes Leben vorstellen. Ein barockes Leben mit Picknicks auf der Wiese vor der Orangerie und belanglosen Gesprächen, mit Spaziergängen auf Wegen, die wie mit einem Lineal gezogen waren. Ein reiches Leben, ohne eine marode Turnhalle, die ich über den nächsten Tag, Monat, das nächste Jahr bringen musste. Manchmal gelang es mir hier, ein paar Momente Auszeit vom echten Leben zu nehmen.
Sechs Stunden hatte es mich gekostet, das Dach wieder dicht zu bekommen. Der Moder der ganzen Stadt schien sich darauf angehäuft zu haben, es hatte lange gedauert, alles wegzufegen, die undichte Stelle zu reinigen und mit stinkendem Bitumen abzudichten. Und immer wieder hatte ich Johannes’ Augen auf mir gespürt. Von wegen Architekt! Fotograf war er eigentlich, hatte nur umgeschult, weil die Fotografie nicht genug Geld einbrachte. In diesen Zeiten schon gar nicht, hatte er gesagt, Finanzkrise und so, wer gibt da schon Geld für Fotos aus. Das erklärte wohl auch seinen manchmal merkwürdig intensiven Blick. Ich stellte mir vor, wie er mich sah: nicht in Bewegung, sondern in Standbildern. Wie durch eine Kamera, wo es nur galt, im richtigen Moment auf den Auslöser zu drücken, um das eine Bild zu bekommen, das besser ist als alle anderen. „Geh nach Hause!“, hätte ich ihm am liebsten ins Gesicht geworfen, ich brauche dich nicht. Aber er hatte ein Auto, das nicht kaputt war, er war mit mir zum Baumarkt gefahren und er hatte die alte Leiter festgehalten, als ich aufs Dach kletterte. Ich musste dankbar sein: Die Halle war wieder dicht, vorerst. „Das ist nur ein Provisorium“, hatte er gesagt, als ob mir das nicht klar wäre, „vorm nächsten Winter musst du das Dach unbedingt richtig reparieren lassen.“
Ich begann wieder zu traben, an der Orangerie vorbei, an den alten Mauern des Rondells entlang. Die ersten Regentropfen zerzupften die Oberfläche der Fulda neben mir. Hoffentlich hielt die Abdichtung. Ich musste die Halle in Schuss bringen, zumindest notdürftig, um eine Chance zu haben, wieder mehr Schüler zu bekommen. Vielleicht konnte ich sogar neue Vereine dafür gewinnen, die Halle zeitweise anzumieten. Der Karnevalsverein, die Aerobic-Frauen, der Tangoclub: Ein Mieter nach dem anderen hatte innerhalb des letzten Jahres gekündigt, als hätten sie miteinander verabredet, häppchenweise mein Leben aufzulösen.
Ich könnte mit der Stadt reden. ‚Kinder sollen sich doch mehr bewegen’, könnte ich sagen, ‚da kann ich mit meiner Schule einen wichtigen Beitrag leisten. Akrobatik, das schult die Koordination, spricht alle Muskelgruppen an.’ Ich stellte mir vor, wie ich vor einer Sachbearbeiterin saß und versuchte, ihr das zu erklären. ‚Ganz ohne Druck, es macht den Kindern einfach Spaß!’ Doch dann käme das Gespräch darauf, wer ich war. Warum ich geeignet sei, würde sie fragen. Welche Qualifikationen ich vorweisen könne. Und dann, irgendwann im Lauf des Gesprächs, würde sich womöglich die Miene der Sachbearbeiterin verändern, ich würde ihr ansehen, wie sie versuchte, mein Gesicht einzuordnen, das ihr irgendwie bekannt vorkam.
Ich war wieder zu schnell gelaufen, mein Atem war außer Takt geraten, und an der großen Kreuzung am Katzensprung musste ich mich an der Ampel festhalten, als ich auf Grün wartete.
Und wenn ich doch über das Angebot dieses Chinesen nachdenken würde?
Nein! Nie mehr Leistungsturnen. Nie mehr Schwebebalken, Boden, Stufenbarren. Und nie mehr Sprungpferd!
In der Wohnung fuhr ich meinen Computer hoch, öffnete das Mailprogramm und schrieb die E-Mail-Adresse von dem Porzellanbrief ab: [email protected].
Sehr geehrter Herr Xu Sheng,
vielen Dank für Ihr Angebot. Ich betreibe eine Akrobatikschule und keine Talentschule für Turnerinnen. Daher sehe ich keine Möglichkeit, Ihre Tochter zu trainieren.
Mit freundlichen Grüßen
Angelika Maifert
PS: Mein Name ist jetzt Maifert, nicht Winter.
Ich dirigierte den Cursor zum „Senden“-Button und drückte den Zeigefinger auf die Maustaste.
Den nassen Papiertuchhaufen hatte ich beseitigt und die Weichbodenmatte wieder an den Rand gezogen und an der Wand befestigt. Jetzt war auf dem Parkett ein faseriger Umriss zu sehen, dort, wo das Wasser sich unter die Matte gesogen hatte. Ich hatte die Heizung hochgedreht, auch wenn es ins Geld ging, aber es war die einzige Chance, dass alles abtrocknen konnte und nicht zu schimmeln begann. Allerdings hatte sich der Gestank aus der Toilette verstärkt und drang schon bis in die Halle vor. Ich musste mich darum kümmern, aber jetzt waren erst mal die Mädchen dran.
Es würde noch eine Weile dauern, bis sie kämen, trotzdem holte ich schon einmal die Kästen und Bänder hervor, um einen Parcours daraus zu bauen. Die Kinder liebten das, und ich freute mich schon auf ihre Gesichter, auf das Strahlen, wenn ihnen etwas gelang, die geröteten Wangen, wenn sie am Ziel waren, etwas geschafft hatten: mit beiden Beinen über eine Kiste zu springen, einen Tanz einzuüben, eine Pyramide aus ihren Körpern zu bauen und sich dabei stark zu fühlen.
Mascha kam wie immer eine Viertelstunde vor der Zeit und machte sich beflissen mit an die Arbeit. Ich lächelte ihr zu, auch wenn ich lieber noch bis zum Beginn der Stunde allein geblieben wäre. Um fünf vor drei sah ich auf die Uhr. Sonst war um diese Zeit längst das Scheppern der Scheibe in der Eingangstür zu hören, helle Stimmen, das Kichern der ersten Mädchen in der Umkleide, bevor sie in die Halle stürzten und mich bestürmten: Was machen wir heute, was machen wir heute, spielen wir wieder Feuer-Wasser-Luft?
Doch heute blieb es still. Mascha warf mir verstörte Blicke zu, und ich musste mich anstrengen, um nicht ständig auf die Uhr an der Wand zu gucken. Dann endlich, es war schon nach drei, ging die Tür und ich atmete auf. Aber es folgte kein Trappeln von Kinderfüßen, keine hellen Stimmen. Keine Kinder stürmten herein und drängten sich um mich, voller Energie und mit einer Begeisterung, die noch nicht vom Leben abgeschliffen war.
Stattdessen Frau Müller, Maschas Mutter. Mit entschlossenen Schritten kam sie auf mich zu, und ich spürte, wie das Blut aus meinem Kopf wich. Frau Müller beachtete Mascha nicht, sondern begann zu reden, noch bevor sie bei mir angekommen war, als hätte sie es eingeübt: „Frau Maifert, wir Eltern haben uns darauf verständigt, dass wir unsere Kinder nicht mehr zu Ihnen bringen möchten.“ Sie stand unter dem Fleck an der Decke und redete, hörte nicht auf, ihre Worte drangen in meinen Kopf, ballten sich zusammen, wurden immer lauter und schriller: Verantwortung! … gefährlich! … Schimmel! … lernen!
Auch Mascha war blass geworden. „Mama, aber ich möchte …“
„Ich habe auch mit den anderen Müttern gesprochen“, sagte Frau Müller, ohne sie zu beachten.
Mir wurde übel, so übel, dass ich nichts anderes tun konnte, als die Hand vor den Mund zu pressen und auf die Toilette zu rennen, wo mir der Gestank aus jeder einzelnen undichten Fuge entgegenschlug. Ich riss den Deckel hoch und übergab mich. Als ich zurückkam, war die Halle leer.
Jedes Mal, wenn die Straßenbahn über die Fulda-Brücke ratterte, wollte ich am liebsten mitschwimmen mit dem Wasser, das sich ruhig und beharrlich den Weg aus der Stadt bahnte, bis zur Weser, bis zum Meer. Heute ließ mich das Gefühl auch nicht los, als wir längst über den Fluss hinweggefahren waren, ich am Stern ausstieg und in die Eins wechselte für die drei Stationen bis zur Haltestelle Hauptfriedhof.
Vier Minuten brauchte ich von dort bis zu meiner Wohnung. Manchmal hatte ich das Gefühl, jeden Riss im Asphalt, jedes Graffito, jeden Winkel auf dem Weg zu kennen. Der Geruch der Tankstelle kam mir schon oben an der Eisenschmiede entgegen. In der Quellhofstraße hatte der Wind die gelben Säcke über dem Gehsteig verteilt. Ein Stück Plastikfolie wehte über die Straße.
In der Wohnung war es kalt. Ich hatte die Heizung ausgestellt, als ich aus dem Haus ging, und jetzt lohnte es sich auch nicht mehr, sie wieder anzudrehen. Von nebenan drangen Stimmen durch die Wand. Johannes schien Besuch zu haben. Frau Hellwig hatte nie Besuch gehabt.
Ich ging ins Schlafzimmer. Hier, wo immer der Nordwind auf der Wand stand, war es noch kälter. Ich legte mir die Bettdecke um die Schultern und setzte mich an meinen Rechner. Während das alte Gerät rasselnd hochfuhr, sah ich aus meinem Fenster in die des Hauses gegenüber. Die Leute, die dort wohnten, kannte ich nur von diesen abendlichen Einblicken aus meinem Schlafzimmer in ihre erleuchteten Wohnungen: den stiernackigen Mann, der zu jeder Tageszeit hinter seinem Computer saß, und wenn er den Platz verließ, kurz darauf auf der Straße vor der Haustür auftauchte, um zu rauchen, immer barfuß, sommers wie winters. Die dicke Frau in der Wohnung daneben, die nur selten da war, dann aber meistens nackt durch die Wohnung lief. Das junge Paar, das erst vor Kurzem eingezogen war und ständig stritt. Hinter fast allen Fenstern flackerten blau die Fernseher.
Ich öffnete das Tabellenkalkulationsprogramm und tippte Kostenaufstellung ein. Mir wurde wieder schlecht. Ich lehnte mich zurück, die Lehne knarrte.
Erste Priorität hatte das Auto. Ohne Auto konnte ich nicht zum Baumarkt fahren, nichts transportieren. Ich kannte eine Werkstatt, die billig arbeitete.
Auto: 300
Der Boden. Ich musste ihn ausbessern, bevor es anfing zu schimmeln. Das Parkett konnte ich selbst verlegen, irgendwie würde ich es schon einpassen, doch es war teuer, 70 Euro pro Quadratmeter bestimmt.
Boden: 800
Nein. Nichts beschönigen! Ich löschte die Acht vor den beiden Nullen und tauschte sie gegen eine Neun aus. Den Gestank aus der Toilette würde ich nur loswerden, wenn ich die Fliesen erneuerte. Die alten Fliesen rausschlagen konnte ich selbst, den Estrich darunter auch. Aber neuen Estrich gießen? Wer könnte das für wenig Geld machen? Und was kosteten diese verdammten Fliesen?
Estrich und Fliesen, Toilette: 500
Zeile um Zeile erweiterte ich die Liste, bis ich zum letzten großen Posten kam.
Dach (bis Herbst 2008)
Mein Finger verharrte über den Tasten, dann tippte ich es schnell ein, bevor ich es mir anders überlegte:
5.000
Ich atmete durch und legte wieder den Kopf zurück. Auf fast zehntausend Euro kam ich, wenn ich die Posten addierte. Nur für die nötigsten Reparaturen. Ohne Miete, Essen, Kleidung, Heizung. Zehntausend Euro. Wie könnte ich an so viel Geld kommen?
Eine Idee war mir vor ein paar Tagen gekommen, besser gesagt mitten in der Nacht. Ein Gedanke, der plötzlich da war, ohne dass ich wusste, woher. Ich hatte ihn sofort beiseite gewischt, er war absurd, aber jetzt kam er wieder hoch und drängte in meinen Kopf. Vielleicht war es einen Versuch wert. Was konnte ich schon verlieren? Nichts. Nichts zumindest, was wichtig war.
Langsam zog ich im Flur die Schuhe an, ging aus der Wohnung, stieg die Treppen hinunter bis zum Keller und schritt die Reihe der Holzgitter ab. Mein Abteil war das letzte in der Reihe. Ich öffnete das Schloss. Ewig war ich nicht mehr hier unten gewesen, wo sich unsortiert die abgelegten Episoden meines Lebens übereinander stapelten. Der Karton mit den Klamotten aus meiner wilden Zeit: bunte Leggings, das enge, ausgeschnittene Kleid, die hohen Schuhe, mit denen es leichter war, ein Bett zu finden, als das Geld nicht einmal mehr für eine Wohnung reichte. Eine Plastiktüte mit Pokalen. Die vielen anderen mussten noch bei Margot stehen – wenn sie sie nicht weggeworfen hatte. Der alte Schlitten, den ich mit zwanzig gekauft hatte, mitten im Sommer, auf dem Flohmarkt. Die Kiste mit den Küchensachen, die Martin nicht mitgenommen hatte nach der Scheidung und die ich nicht mehr benutzen konnte, weil jedes einzelne wertlose Teil – eine angeschlagene Tasse, ein kitschiger Löffel, das Metallsieb, aus dem sich ein Draht gelöst hatte und immer piekte – mich an ihn erinnerten. Aber wegwerfen konnte ich sie auch nicht.
Drei Kartons hob ich von dem Stapel, um an den untersten mit der Aufschrift „Aufzeichnungen“ zu gelangen. Die Feuchtigkeit aus dem Lehmboden war in die Pappe gezogen, so dass die Buchstaben verlaufen waren, und als ich die Hände unter den Karton schob, schlug mir Schimmelgeruch entgegen.
In der Wohnung schüttete ich den Inhalt auf den Küchentisch und stellte den leeren Karton vor die Wohnungstür, aber der muffige Geruch war längst auch in die Urkunden, Fotos und Zeitungsausschnitte eingedrungen, die sich jetzt zusammen mit den Medaillen auf dem Tisch aufhäuften. Er verstärkte sich, als ich in den Haufen griff und ihn mit beiden Händen ausbreitete. Schwarz-rot-goldene Kordeln, die sich um Urkunden knoteten, zerrissenes Papier, ganz oben eine vergilbte Zeitungsseite – ich mit vielleicht zehn Jahren, im knappen Turnanzug. Ich schaue den Mann nicht an, der mir die Medaille um den Hals hängt.
Ich öffnete das Fenster. Im Nachthimmel drehte sich langsam und hell der Mercedesstern, der auf einem Hochhaus in der Innenstadt angebracht war und aus jeder Wohnung, in der ich bisher in Kassel gelebt hatte, zu sehen gewesen war. Kalte Luft strömte herein und schlug in mein Gesicht. Ich setzte mich wieder an den Tisch und schob die Urkunden und Zeitungsartikel auseinander, bis ich fand, was ich gesucht hatte. Groß und rund, golden glänzend lag die Medaille vor mir: Gymnastics World Championship, Budapest 1983.
Wie viel war sie wert? Wie viel würde ich dafür bekommen, bei dem Goldhändler um die Ecke, in dessen Auslage dicke Ketten auf rotem Samt das Schild in der Mitte umrahmten: Nehme auch Zahngold. Oder bei Ebay?
Ich ging zurück ins Schlafzimmer und setzte mich wieder an den Computer. Neben dem Bildschirm lag der Brief von dem Chinesen. Ich zerriss ihn und warf ihn in den Papierkorb.
Der Rechner war noch an. Weltmeisterschaft, Goldmedaille Kunstturnen gab ich als Suchworte bei Ebay ein. Kein Ergebnis. Kein Sportler bot seine Medaille im Internet an. Aus Johannes’ Wohnung drang jetzt Lachen, das bis in mein Schlafzimmer zu hören war. So schlimm schien die Trennung ihn ja nicht getroffen zu haben. Ich schloss die Tür und wollte den Rechner herunterfahren, aber das Mail-Programm zeigte drei neue Nachrichten an. Zwei waren Spams. Eine kam von [email protected].
Sehr verehrte Frau Winter,
ich kann Ihre Absage nicht akzeptieren. Ich biete Ihnen 2.000 Euro im Monat. Bei Erfolg mehr.
Hochachtungsvoll
Xu Sheng
Ich starrte auf die Zahl. Zweitausend Euro, jeden Monat. Ich ging in die Küche, nahm die Medaille in die Hand, umschloss sie mit meinen Fingern.
Die hatte ich. Die andere, die wichtige, die olympische, hatte ich nicht.

Kassel-Nordstadt, 1973

Mutter sagt, dass früher die Mieter das Eisengestell in unserem Vorgarten genutzt haben, um ihre Teppiche darüber zu hängen und auszuklopfen. Und dass es jetzt nur noch da ist, weil niemand es abmontiert hat. Weil sich hier eh nie jemand um irgendwas kümmert, sagt sie.
Ich bin aber froh, dass es da ist. Es hat nämlich genau die richtige Höhe, um die Stange mit den Händen zu packen, mich hochzuschwingen, dann fallenzulassen, bis die Kniekehlen an der Stange einhaken und der Kopf über dem Boden baumelt und es im Bauch kribbelt und der Körper sich auseinanderzieht, so dass ich mich ganz leicht fühle.
Ich liebe es, wenn die Welt auf dem Kopf steht. So wie jetzt Mutter, die auf mich zukommt: die zerdrückten Ballerinas ganz oben, daran aufgehängt die Knöchel und Waden, um die ein weiter lilafarbener Rock schwingt. Eine bestickte Bluse mit blinkenden Pailletten. Lange rotbraune Haare, im selben Takt schwingend wie der Rock. Es sieht lustig aus, dass die Haare nach oben hängen. Und ganz unten ist der Himmel, ein diffuses Gemisch aus Blau und Grau. Der Himmel als Erde, das gefällt mir.
„Angel“, ruft Mutter. So nennt sie mich seit ein paar Wochen. Das heißt Engel auf Englisch, sagt sie, „und du bist doch mein Engel“. Ich soll sie nicht Mama und schon gar nicht Mutti nennen wie die Mütter der anderen Kinder, auch nicht Regina, wie sie wirklich heißt, sondern ‚Janis’, weil sie Janis Joplin bewundert und findet, dass jeder Mensch das Recht hat, den eigenen Namen selbst zu bestimmen. Seitdem meide ich es, sie mit Namen anzusprechen.
„Angel! Es geht los!“
Ich springe ab, stelle mich und die Welt wieder auf die Füße, klopfe den Rost von meinen Händen und umarme zum Abschied den Pfosten des Gestells. Dann laufe ich zu Mutter, greife nach ihrer ausgestreckten Hand. Ihre Hände sind immer warm und feucht.
Vorm Haus steht schon Ulfs Pritschenwagen mit laufendem Motor. Auf der Ladefläche unsere rote Chaiselongue, der kleine runde Tisch, eine Matratze. Ulf wirft seine Zigarette auf den Boden, tritt sie aus und steigt wortlos auf den Fahrersitz. Mutter klettert auf der anderen Seite in den Wagen und lässt sich neben ihn fallen. „Angel, Schatz, steig ein!“ Als ich neben ihr sitze, muss ich mich weit hinausbeugen, um die Tür heranzuholen, und einen Moment habe ich Angst, dass ich hinausfallen könnte und sie ohne mich fahren würden. Doch dann habe ich es geschafft und sehe zu, wie sich das Haus und das Eisengestell langsam entfernen.
„Gibt es im neuen Haus auch eine Stange zum Turnen?“, frage ich. Ulf lacht auf. Wenn er lacht, klingt es wie das Knurren eines Hundes. Mutter legt ihre Hand auf sein Bein und sagt: „Jetzt wird alles besser“, und ich weiß nicht, ob das eine Antwort auf meine Frage sein soll.
Wir fahren raus aus unserer Straße auf eine größere, über eine Brücke, immer weiter, bis am Straßenrand keine Wohnhäuser mehr stehen, sondern nur noch große, geduckte Gebäude. Am Horizont schälen sich die Silhouetten von Industrieanlagen aus dem Dunst heraus, aber noch bevor ich sie wirklich erkennen kann, biegt Ulf ab und bringt den Wagen vor einem breiten grauen Tor zum Stehen. Er steigt aus, schiebt einen Riegel zurück und stemmt seine Schulter gegen das Tor. Quietschend ruckelt es zur Seite und gibt zentimeterweise den Blick frei auf das, was dahinter liegt: eine große asphaltierte Fläche, hier und da aufgebrochen durch Grasbüschel, Stapel von Stahlgestellen, manche unlackiert, andere dunkelgrün oder ockerfarben, ein Gabelstapler mit einem Rostfleck an der Seite. Dahinter ein langgestrecktes, nahezu fensterloses Gebäude. An der Fassade ziehen sich alle paar Meter lange grüne Schlieren von der Dachrinne herunter.
„Ist das unser neues Haus?“, flüstere ich. Eine Katze taucht auf, blickt erschrocken in unsere Richtung und verschwindet unter einem Stapel. Ich spüre Mutter an meiner Seite, ihre feuchte Hand auf meinem Arm. „Da oben“, sagt sie mit leuchtenden Augen und zeigt durch die Windschutzscheibe auf die Halle vor uns, „da wohnen wir.“
Die Metalltür fällt schwer gegen meinen Rücken und drückt mich hinter Ulf und Mutter ins Innere des Gebäudes. Wir steigen eine Treppe hoch. Ulfs Wohnung riecht wie er: nach Zigaretten, Öl und Leder. Das Wohnzimmer ist mit einer braunen Couchgarnitur und einem Glastisch vollgestellt, aus der Ecke ragt ein Fernseher in den Raum hinein.
„Ich zeige Angel die Wohnung.“ Mutter nimmt mich an der Hand und öffnet die Tür zu einem Zimmer, in dem ein riesiges Bett steht. „Schau, hier schlafen Ulf und ich.“
„Und ich?“
„Du hast jetzt dein eigenes Zimmer.“ Sie geht zur nächsten Tür. „Ulf hat es extra vom Schlafzimmer abgeteilt. Die Wände sind noch nicht gestrichen: Das machen wir beide zusammen, ja? Damit du dir die Farbe selbst aussuchen kannst.“
Der Raum ist schmal und riecht nach feuchtem Mörtel und Tapetenkleister. Er gefällt mir: ganz weiß und leer. Ich schlage ein Rad, und weil ich damit schon am Ende des Zimmers angelangt bin, schlage ich gleich wieder eines zurück. „Ach Engelchen“, sagt Mutter und drückt mich an sich. Eine Paillette schneidet in meine Wange. Ich höre es in ihrem Bauch gluckern und wünschte, wir könnten für immer so stehenbleiben, nur wir beide in dem leeren Raum, ohne Ulf oder Mark oder Heinrich oder wie sie alle hießen.
Am nächsten Morgen wache ich vom Quietschen des Tores auf. Es dauert eine Weile, bis ich weiß, wo ich bin, und mir fällt ein, dass auch bei dem letzten Umzug der erste Tag in der neuen Wohnung voller ungewohnter Geräusche gewesen ist. Damals waren es Stimmen: ein Streit zwischen einem Mann und einer Frau dicht über meinem Kopf, das Schreien eines Babys, das wütende Weinen eines älteren Kindes. Jetzt kommen alle Geräusche von unten und haben mit Menschen nichts zu tun.
Als ich es im Flur rascheln höre, stehe ich leise auf und öffne die Tür. Doch vor mir steht nicht Mutter, sondern Ulf, im Gehen begriffen. Anstelle der sonst üblichen Jeans, die nur ein festgezurrter Gürtel davon abhält, über die Hüften zu rutschen, trägt er seinen Blaumann. Ich verstecke mich halb hinter der Tür und hoffe, dass er geht. Doch er bleibt stehen, zieht eine Zigarette aus der Brusttasche, zündet sie an und nimmt einen Zug. „Deine Mutter schläft noch“, sagt er schließlich.
Ich weiß nicht, ob ich etwas sagen soll.
„Willst du denn was essen oder so?“ Ulf zieht wieder an der Zigarette, es zischt und der Glutstreifen wandert ein ganzes Stück in Richtung seiner Finger. „Kannst dich auch nochmal hinlegen, ist ja noch früh.“
Ich nicke, und Ulf zuckt mit den Schultern, dreht sich um und zieht endlich die Tür hinter sich zu. Auf Zehenspitzen laufe ich zu Mutter. Zusammengerollt wie ein Embryo liegt sie am Bettrand. Ich klettere zu ihr, lege mich neben sie, ohne sie zu berühren, und lausche ihrem Atem, dem einzigen vertrauten Geräusch inmitten der vielen neuen, fremden, die von draußen und unten zu mir vordringen: Motorengeheul, harte, metallische Schläge, das Schreien von Sägen, und immer wieder ein hohes Sirren, das plötzlich da ist und genauso plötzlich wieder weg.
Mutter dreht sich zu mir um und legt einen Arm über mich, ohne aufzuwachen. Nach einiger Zeit tut mir die Stelle weh, wo der Arm liegt, aber ich bewege mich trotzdem nicht.
Als Mutter aufsteht, sehe ich, dass sie nackt ist. „Angel“, murmelt sie, greift zu einem Kleidungsstück am Boden und zieht es sich über. Es ist ein T-Shirt von Ulf.
Wir nehmen ein spärliches Frühstück zu uns, weil der Kühlschrank außer Bier und Milch nicht mehr hergibt als ein paar Scheiben Toast und Schinkenwurst, die am Rand rot ist und sich aufwölbt. Ich kaue noch, als Mutter ins Wohnzimmer geht und ruft: „Angel, komm, fass mit an!“ Zusammen schieben wir Ulfs Ledersofa an die Wand und rücken an seine Stelle die rote, samtbezogene Chaiselongue, die noch von Mutters Großmutter stammt. Oft habe ich in der alten Wohnung Stunden auf ihr verbracht, wenn Mutter Männerbesuch hatte. Meistens ist es schon spät gewesen und ich wäre gern im gemeinsamen Bett liegengeblieben, aber ich widersprach nicht, wenn Mutter mit diesen fremden glänzenden Augen durch mich hindurch blickte. Dann legte ich mich auf die Chaiselongue und hörte sie nebenan lachen, wie sie nur lacht, wenn ein Mann bei ihr ist, ein kurzes, atemloses, hartes Lachen, immer wieder, bis andere Laute aus dem Schlafzimmer kamen, und ich ließ die goldenen Fäden der Troddeln durch meine Finger gleiten, bis es vorbei war.
Mutter zieht die indischen Deckchen aus dem Umzugskarton und legt sie über die Kacheln des Couchtischs. Den gläsernen Aschenbecher ersetzt sie durch die Schale, die wir einmal zusammen getöpfert haben und die immer umkippt. Aus einem anderen Karton holt sie ihre Tassen und Teller, schiebt Ulfs Geschirr im Schrank nach hinten und stellt ihres hinein. Die Leuchtstoffröhre in der Küche verhängt sie mit dem transparenten rosa-orange gemusterten Stoff, der uns in der alten Wohnung als Gardine im Schlafzimmer gedient hat. Als sie das Licht anknipst, ist alles in ein rot-schummriges Licht getaucht: die Fronten der Einbauküche, der dunkle Tisch, die beiden Kochplatten. „Was meinst du“, sagt sie, „so ist es doch viel gemütlicher, oder?“ Sie greift wieder in einen der Kartons und zieht eine bunte Decke heraus. Ich helfe ihr, sie über das große Bett zu ziehen.
„In welcher Farbe sollen wir dein Zimmer streichen?“, fragt sie.
Mein Zimmer ist schon viel kleiner geworden, seit die Matratze und drei Kisten darin liegen. „Ist doch schön so“, sage ich.