Drei Worte auf einmal - Maria Knissel - E-Book

Drei Worte auf einmal E-Book

Maria Knissel

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Beschreibung

Rüsselsheim, späte 70er Jahre. Zwei Brüder müssen zueinander finden. Klaus, der ältere, ist schwer behindert. Chris, der jüngere, lebt für seine Musik. Über die Musik findet er nicht nur einen Weg zu sich, sondern auch zu seinem Bruder. Auf der Grundlage einer wahren Begebenheit erzählt Maria Knissel schnörkellos und mitreißend die Geschichte zweier Brüder, die lernen, einander zuzuhören und sich gegenseitig zu bereichern. Unterhaltung mit Tiefgang - eine Art "Ziemlich beste Brüder".

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Maria Knissel
Drei Worte auf einmal
Roman
Alle Rechte vorbehalten • Societäts-Verlag© 2012 Frankfurter Societäts-Medien GmbH Satz: Nicole Ehrlich, Societäts-Verlag Umschlaggestaltung: Nicole Ehrlich, Societäts-Verlag Umschlagabbildung: © Benjamin Haas - Fotolia.com eBook: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
ISBN 978-3-95542-000-0
Für meine Eltern

19775. September

„Sieh mal“, sagte Vater und zeigte auf den braunen Hügel vor uns. Er zog ein weißes Taschentuch aus seiner Hose, beugte sich vor und legte es mitten auf den Haufen. Innerhalb von Sekunden war das Tuch bedeckt von großen, wimmelnden Ameisen. Vater lächelte, als er meinen fragenden Blick sah. „Man braucht ein bisschen Geduld.“ Als das Tuch kaum noch zu sehen war, fasste er es an einem Zipfel, schüttelte es kräftig aus und hielt es mir vor die Nase. Ich musste husten.
„Ameisensäure“, lachte Vater, faltete das Tuch zusammen und steckte es wieder in die Tasche, „sie versuchen, sich damit zu verteidigen.“
Lange beobachteten wir anschließend die Ameisen, wie sie in endlosen Reihen hintereinander herliefen, eine schwerer beladen als die andere. Manche schafften es kaum mit ihrer Last, die mehrfach größer war als sie selbst, sie stolperten, fielen um, fielen zurück, aber unermüdlich krochen sie weiter, reihten sich wieder ein, Hunderte, Tausende, um unbeirrt ihrem Ziel entgegen zu streben.
„Ameisenhaufen sind Meisterbauten“, sagte Vater, „alles hat in ihnen seine Ordnung, jede einzelne Ameise ihren Platz und ihre Aufgabe. Alle wissen genau, wo sie hingehören, und jede macht sich nützlich für das Ganze.“ Er sah auf die Uhr. „Schon halb acht. Jetzt aber schnell!“
Vor unserem Haus ließ Vater den Motor laufen, stieg aus und öffnete das Tor. Als hätte er darauf gewartet, tauchte Klaus auf seinem Motorrad in der Garageneinfahrt auf: groß, dünn, die Lederjacke halb offen, die langen Beine in einer zerrissenen Schlagjeans. Er rollte vorwärts und manövrierte sich durch die Lücke zwischen dem Torpfosten und unserem Auto. Sein Gesicht erschien hinter der Scheibe. „Alles klar, Kleiner?“ Ich ärgerte mich, weil er mich immer noch „Kleiner“ nannte, und gab ihm keine Antwort. Er setzte seinen Helm auf, legte einen Moment seine behandschuhte Hand auf die Scheibe, dann fuhr er davon.
„Wenn der Junge sich doch wenigstens mal die Haare schneiden lassen würde“, murmelte Vater, als er sich auf den Fahrersitz fallen ließ.
Weil wir so spät waren, rechnete ich mit einem strengen Blick von Mutter, aber als wir in die Küche kamen, stand sie da und knetete ein Geschirrtuch in den Händen. Im Wohnzimmer lief der Fernseher. Sie sah Vater an: „Die haben schon wieder jemanden entführt.“
Ein heller Mercedes, Waffen auf der Kühlerhaube, die Tür offen, davor auf der Straße liegend ein Mensch. Der Reporter hatte nach Erklärungen gerungen, vier Männer tot, Hanns-Martin Schleyer nicht dabei, mehr wusste er auch nicht. Ich starrte abwechselnd Gerd Müller an der Wand neben mir an und den Mond, der durch das Dachfenster schien. Es war warm hier in meinem kleinen Zimmer und ich konnte nicht schlafen. Ich hatte keine Ahnung, was ein Arbeitgeberpräsident war, aber ich hatte die Spannung gespürt, mit der meine Eltern die Nachrichten verfolgten, und wäre gern noch bei ihnen geblieben, auf meinem Platz auf dem braunen Cordsofa, das wir letztes Jahr angeschafft hatten. Noch lieber hätte ich mich sogar ausgestreckt und meinen Kopf auf Mutters Schoß gelegt, aber dazu war ich jetzt wirklich zu alt mit dreizehn Jahren. Und nun ließen mich die Bilder nicht mehr los.
Ohnehin schlief ich selten gut ein. An den meisten Abenden lag ich noch lange wach, weil meine Eltern fanden, dass ein Junge in meinem Alter um neun ins Bett gehört. Ich nutzte die Zeit trotzdem. Mal war ich Old Shatterhand, mal Max Greger, meistens aber Gerd Müller. Manchmal, an mondhellen Abenden wie diesem, machte ich mich auch auf ins All, sah mich in einem weißen klobigen Weltraumanzug aus dem Raumschiff steigen, die Hand zum Gruß heben, auf den Kraterboden springen und nach dem Aufkommen sogleich wieder in die Luft schweben, ganz leicht.
Oder ich verfolgte die Autos, die draußen vorbeifuhren. Sehen konnte ich sie nicht, aber wenn ich aus der Ferne eines heranrollen hörte, begann ich zu zählen und versuchte, genau in dem Moment bei zehn anzukommen, in dem es am Haus vorbeifuhr, dann, wenn das Brummen des Motors am lautesten war. Danach veränderte sich der Ton. Ein Auto von vorn klang heller als ein Auto von hinten, das hatte ich herausgefunden, weil ich manchmal mitsummte.
Das Auto, das sich jetzt näherte, hielt genau bei zehn. Der Motor ging aus, blaues Licht pulste durchs Fenster, Türen schlugen zu. Ich fuhr aus dem Bett auf und spähte hinaus. Ein dunkler Wagen stand vor unserem Haus. Es klingelte. Ich huschte zur Tür und öffnete sie einen Spalt. „Polizei“, sagte einer der Männer. Was er weiter sagte, konnte ich nicht verstehen, aber selbst über die zwei Stockwerke hinweg nahm ich in seiner tiefen Stimme etwas wahr, das ich nicht kannte. Mir wurde kalt.
Dann begann Mutter zu schreien.
Noch nie hatte ich sie, noch nie überhaupt einen Menschen so schreien gehört: wie ein Kranich, dem im Flug der Flügel abgeschossen wird. Ich presste die Hände auf die Ohren, stolperte in mein Bett zurück, verkroch mich unter der Decke, aber ich hörte es immer noch, als schrie sie direkt in mein Ohr.
Zitternd wartete ich darauf, dass sich die Tür öffnen, Mutter vor meinem Bett stehen und mir die Haare aus der Stirn streichen würde, ihr Lächeln besorgt, weil ich schon wieder schlecht geträumt hatte. Doch nicht sie kam, sondern Vater. Er blieb in der Tür stehen, eine dunkle Silhouette, im Sekundentakt in blaues Licht geworfen.
„Klaus“, stieß er hervor, „ein Unfall. Wir müssen zu ihm.“
Die Tür schloss sich wieder.
„Papa!“ Ich sprang auf und rannte ins Treppenhaus. „Kann ich mitkommen?“, aber in dem Moment hörte ich schon die Haustür schlagen.
Licht schien durch meine geschlossenen Lider. Ich blinzelte und warf einen Blick auf den Wecker. Es war schon nach neun! Irgendwann musste ich doch eingeschlafen sein in dieser Nacht, in der das Schreien in meinem Kopf immer schriller geworden war, bis ich begonnen hatte, es zu übertönen mit Melodien, die ich summte, wahllos und laut.
Ich stand auf, schlich die Treppe hinunter, lauschte. Kein Klappern mit Geschirr, keine Musik aus dem Radio, keine Stimmen.
Vorsichtig öffnete ich die Tür zur Küche.
Vater saß auf seinem Stuhl, vornübergebeugt, den Kopf in den Händen vergraben. Mühsam richtete er sich auf. Sein Gesicht war grau und noch schmaler als sonst, unter den Augen zeigten sich tiefe Schatten. Ich ging auf Zehenspitzen und setzte mich neben ihn. Nichts war zu hören außer dem Ticken der Uhr.
„Muss ich heute nicht in die Schule?“
Er schüttelte den Kopf.
„Was ist mit Klaus?“
„Er liegt im Krankenhaus.“
„Was hat er?“
„Er ist verletzt, an den Beinen …“
Ich zog die Knie an und umschloss sie mit meinen Armen.
„… und am Kopf.“
Das Schweigen, das sich in der Küche ausbreitete, war so laut, dass ich nicht wagte zu fragen, was Klaus genau passiert war, wie lange er noch im Krankenhaus bleiben würde, wann ich ihn besuchen könne, wo Mutter sei.
„Habt ihr schon gefrühstückt?“
Wieder schüttelte Vater den Kopf.
Ich schnitt eine Scheibe Brot ab, strich Margarine und Marmelade darauf, legte alles auf einen Teller und aß, obwohl ich nichts schmeckte.
Das Schweigen hörte den ganzen Tag nicht auf, auch nicht, als Mutter endlich kam und seltsame Blicke mit Vater wechselte. Es machte sich breit im ganzen Haus, nahm jeden Raum vom Keller bis zum Dachboden in Besitz, drang in jede Ecke, jede Ritze. Wenn ich an Klaus‘ Zimmer vorbeiging, das neben meinem lag, kroch es mir durch die geschlossene Tür entgegen, aus der sonst immer laute Musik dröhnte, sobald er zu Hause war.
Mein Pausenbrot lag schon auf dem Tisch, als ich am nächsten Morgen herunterkam. Mutter telefonierte im Flur. „Moment“, sagte sie in den Hörer, als ich aus der Küche schlich, und presste die Hand auf die Muschel. Ich fürchtete, dass sie an meinem Kragen herumhantieren oder, noch schlimmer, mir einen Kuss geben würde, aber sie wartete nur mit angehaltenem Atem, bis ich mich an ihr vorbeigedrückt hatte. Erleichtert lief ich die Treppe hinunter und an der Einliegerwohnung im Erdgeschoss vorbei.
Der Weg zur Immanuel-Kant-Schule war eigentlich nicht weit: zuerst die Beethovenstraße hinunter, in der sich die Häuser und Garagen aneinanderreihten. Jeden Briefkasten, jeden Vorgarten kannte ich in- und auswendig. Zuerst kam Schröders Haus. Im Sommer hatten sie ihren Zaun gestrichen, der seitdem einen beißenden Geruch verströmte. War ich dort vorbei, begann schon der Hund aus dem übernächsten Haus zu bellen. Früher hatte ich die Straßenseite gewechselt, weil ich Angst vor ihm hatte, wenn er seine Schnauze durch den Zaun drückte und die Zähne unter den hochgezogenen Lefzen bleckte. Jetzt machte ich mir jeden Morgen einen Spaß daraus, mit einem kleinen Stöckchen am Zaun entlangzustreichen und ihn so zum Rasen zu bringen.
An der Ecke zur Haßlocher Straße sah ich schon Martin. Er dribbelte einen Tennisball vor sich her, und als er auf zehn Meter herangekommen war, passte er ihn mir zu. Ich nahm an und ließ den Ball ein paar Mal auf meinem Fuß auf- und abspringen, bevor ich ihn zurückpasste.
„Ich hab’s“, sagte Martin atemlos.
„Was?“
„Rainer Bonhof!“
„Bonhof?“
„Das Sammelbild! Das war doch das einzige, das mir noch fehlte.“
„Sammelst du die etwa immer noch?“ Ich hatte meine Sammlung von der WM-Mannschaft nie komplettiert. Breitner hatte mir noch gefehlt, aber den hatte nie jemand, und nachdem mein ganzes Taschengeld für den zigsten Müller, Beckenbauer und Hoeneß draufgegangen war, hatte ich die Lust am Bildersammeln verloren.
„Klar! Jetzt habe ich alle. Die ganze Borussia.“
Martin war Gladbachfan. Ich hielt zu Bayern, die sich allerdings mit ihrem eins zu eins gegen Bochum am letzten Samstag nicht gerade mit Ruhm bekleckert hatten.
„Wieso warst du gestern eigentlich nicht in der Schule?“, fragte Martin, immer noch den Ball vor sich her kickend. Sollte ich ihm von Klaus’ Unfall erzählen? Er würde nachfragen, dabei konnte er sehr hartnäckig sein, und ich würde zugeben müssen, dass ich selbst kaum etwas wusste.
„Krank.“ Ich schoss den Tennisball ein Stück nach vorn und wir sprinteten gleichzeitig los.
Kurz bevor wir die Schule erreichten, hörten wir wie auf Verabredung auf zu rennen, gingen gemächlich an den Oberstufenschülern vorbei, die vor dem Tor rauchten, und betraten den Schulhof im lässigen Schlenderschritt. Martin zog einem Jungen aus der Fünften im Vorbeigehen die Kappe vom Kopf und warf sie in einen Busch. Ich ließ unauffällig meinen Blick über den Hof schweifen. Ein paar kleine Mädchen sprangen Hüpfseil. Aus der Toilette kam eine Gruppe von Neuntklässlerinnen. Sie rauchten immer auf dem Klo, weil sie es vor dem Tor noch nicht durften, aber man roch es meilenweit gegen den Wind. Ulrike stand wie immer mit ihren beiden Freundinnen zusammen. Martin und ich nannten sie die „Hühner“, weil es sich anhörte wie Gackern, wenn sie die Köpfe zusammensteckten und kicherten, und das taten sie eigentlich andauernd. Auch jetzt, als Ulrike zu mir herübersah und ich schnell wegguckte. Martin, der so etwas nie mitbekam, war schon auf halbem Weg zu den Jungs am anderen Ende des Platzes: „Komm!“ Ich folgte ihm, aber dann blieb ich stehen.
Alles sah wie immer aus. Aber es hörte sich seltsam an. Das rhythmische Eins, zwei, drei der seilhüpfenden Mädchen, das dissonante Konzert der vielen Stimmen, das Reiben der Sohlen auf dem Asphalt: Alles klang, als stünde ich unter einer Glocke aus Glas.
„Christopher?“ Die Hand auf meinem Tisch war schmal, die Haut runzlig, und es machte ‚Klick‘, als der Fingerring auf das Holz traf. Ich hob den Kopf und blickte in die wimpernlosen Augen unserer Klassenlehrerin. Frau Pruhn war mindestens seit dem Zweiten Weltkrieg Lehrerin, sah aus wie ein zu hoch gewachsener Truthahn und betonte bei jeder Gelegenheit, wie wenig sie von den neuen reformpädagogischen Ansätzen hielt, die sich überall breitmachten. Auch von Schülern, die nicht aufpassten, hielt sie nichts. „Ich habe dich jetzt schon zweimal aufgerufen.“
„Oh.“
Hinter mir kicherte es, aber Frau Pruhns strenger Blick sorgte schnell für Ruhe.
„Und?“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust.
„Ich…“
„Wo warst du eigentlich gestern?“
„Krank.“
„Und wo ist die Entschuldigung?“
„Bringe ich morgen mit.“
Sie schob den Kopf vor, dann griff sie unter mein Kinn und hob mein Gesicht. „Um Himmels willen, Junge, ist dir nicht gut? Du bist ja furchtbar blass!“
„Alles in Ordnung“, murmelte ich mit zusammengepressten Kiefern und wollte nur, dass sie sofort ihre Finger von meinem Kinn nehmen würde.
„Mann, das war doch 'ne Steilvorlage!“, flüsterte Martin, als Frau Pruhn wieder nach vorn ging, „du hättest glatt nach Hause gehen können.“
Nach Hause. Ich schluckte.
Auf dem Tisch im Esszimmer stand ein einzelner Teller, auf den Mutter Kartoffeln, eine Frikadelle und zwei Löffel Kohl häufte.
„Ich habe keinen Hunger“, murmelte sie und verschwand in der Küche. Ich stocherte mit der Gabel in dem hellgrünen Brei herum und hörte, wie sie Spülwasser einließ. Kohl mochte ich ebenso wenig wie aufgewärmte Kartoffeln. Ich nahm einen Bissen von der Frikadelle.
„Hast du dein Tischgebet gesprochen?“ Mutter kam wieder herein, ging an mir vorbei zum Fenster und blickte hinunter auf die Straße. Ich brummte und hoffte, dass sie es als Zustimmung durchgehen lassen würde. Ihre Silhouette zeichnete sich gegen das Licht ab. Ihr Haar, das sie sonst meistens offen trug, hatte sie zu einem unordentlichen Knoten zusammengesteckt. Regungslos stand sie da. Es war unheimlich, sie so zu sehen, sie, die sonst immer in Bewegung war, der nie etwas schnell genug gehen konnte.
„Mama?“
„Wir fahren gleich nach Mainz. In die Uni.“ Auch ihre Stimme klang ungewohnt. Dünn und höher als sonst.
„Die Uni?“
„Die Uniklinik. Das Krankenhaus, in dem Klaus liegt.“ Sie strich mit den Händen über ihre Oberarme, als würde sie frieren.
Ich legte die Gabel auf den Tisch. „Kann ich mit?“
Sie schüttelte den Kopf. „Das hat keinen Sinn. Er…“, sie schlug die Hand vor den Mund, „… er liegt ja noch im Koma.“ Sie verschwand in der Küche, bevor ich sie fragen konnte, was das war.
„Bete für deinen Bruder, ja?“, sagte sie kurz darauf, als sie noch einmal den Kopf durch die Tür steckte. Dann klapperten ihre Absätze auf der Treppe. Aus dem Fenster sah ich zu, wie Vater mit unserem Opel Rekord vor dem Haus vorfuhr und Mutter noch einmal ihren dunkelroten Mantel glatt strich, bevor sie einstieg. Das Auto habt ihr aber nicht nach deinem Mantel ausgesucht? Klaus’ Stimme kam mir in den Kopf und die Erinnerung an sein Lachen zog mir den Magen zusammen. Ich schüttete den Kohl und die Kartoffeln ins Klo und stellte den Teller ins Spülbecken.
Und jetzt? Mutter hätte darauf bestanden, dass ich mich an den Tisch setzte und Hausaufgaben erledigte. Aber sie war nicht da, also ging ich hoch in mein Zimmer, nahm mein Saxofon vom Ständer und spielte ein bisschen.
Als ich wieder ins Wohnzimmer kam, fiel mir ein Bilderrahmen auf, der auf dem Beistelltisch in der Ecke aufgestellt war, auf dem sonst nur eine Vase mit Trockenblumen stand. Es musste ein altes Foto von Klaus sein, denn ich erkannte ihn nicht auf den ersten Blick. Die Haare reichten ihm nicht einmal bis zu den Schultern und sein Gesicht sah weich aus. Rechts und links vom Bild standen Kerzen und dahinter ein gusseisernes Kreuz mit einem Jesus, dessen Schmerz ins ganze Zimmer ausstrahlte. Die fünf Wunden schimmerten rot. Ich wandte mich ab und sah im Regal neben dem Tisch Mutters Rosenkranz liegen. Ich ließ die dunklen Perlen durch meine Finger gleiten, jede einzelne ein Vaterunser oder ein Gegrüßet-seiest-du-Maria, dachte an endlose Andachten, kniend auf hartem Holz, an bunte Muster, die die Sonnenstrahlen durch die Kirchenfenster an die Wände malten und zeigten, wie schön das Wetter draußen war.
Bete für deinen Bruder. Seine Verletzungen mussten schlimm sein. Ein Bild mit Kerzen hatten meine Eltern zum letzten Mal aufgestellt, als meine Großmutter krank war, und kurz danach war sie gestorben. Aber Klaus war jung und gesund und hatte bloß einen Motorradunfall gehabt. Nach drei Perlen machte ich Schluss, nahm meinen Fußball und übte Torschüsse im Hof.
* * *
„Kommt dein Vater auch zum Spiel am Sonntag?“
Martin und ich kickten den Fußball schon auf dem Weg zum Training vor uns her. Er war größer als ich, seine Beine muskulöser, und obwohl er nur drei Monate älter war, zeigten sich schon dunkle Haare über seiner Oberlippe, die er ständig mit der Hand befühlte.
„Nee, ich glaube nicht.“
„Klaus hatte einen Unfall, richtig?“
„Mmmh.“
„Hat er schlimme Verletzungen?“
„Ja, schon.“
„Was denn für welche?“
„An den Beinen. Und am Kopf. Er ist auf der Intensiv in der Uni.“
Martin pfiff durch die Zähne. Auch darum beneidete ich ihn. Obwohl ich es lange geübt hatte, schaffte ich es nur, wenn ich zwei Finger zu Hilfe nahm.
„Hast du ihn schon besucht?“
„Nein.“
„Nein? Der Unfall ist doch schon vier Tage her.“
„Er liegt ja noch im Koma.“
„Ach so.“ Ich sah Martin an, dass er auch nicht wusste, was Koma bedeutete. Mir hatte es Mutter inzwischen erklärt: 'Es ist, als ob er schläft.'
Martin nahm den Ball in die Hand, blieb stehen und sah mich von der Seite an. „Warum hast du mir eigentlich nichts von dem Unfall erzählt?“
Ich zuckte mit den Achseln.
„Mein Vater sagt, er ist mit dem Motorrad voll Karacho in einen riesigen Steinhaufen gefahren“, sagte Martin.
Ich trat ihm den Ball aus den Händen und rannte los. Die Trainingstasche schlug mir bei jedem Schritt schmerzhaft in die Seite, aber ich verteidigte den Ball, bis wir am Platz ankamen.
Lutz war schon da und sah den ganz Kleinen zu, die vor uns Training hatten. Ich hatte unseren Trainer noch nie in anderer Kleidung gesehen als im grün-weißen Trainingsanzug der SG Eintracht Rüsselsheim. Ich hatte ihn auch noch nie über etwas anderes als Fußball reden gehört, dafür hatte er allerdings bei diesem Thema klare Meinungen. Zum Beispiel, dass „die da oben“ viel zu viel Geld verdienten, Vereinswechsler Verräter seien und Mädchen und Memmen beim Fußball nichts verloren hätten. „Die sollen lieber rhythmische Sportgymnastik machen.“ Das war sein Lieblingsspruch. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass er stolz darauf war, so komplizierte Wörter zu kennen und sie nun so oft wie möglich anbringen wollte. Zu Memmen zählte er alle, die keine sechs Runden um den Platz schafften oder bei seinem Sprinttraining Seitenstechen bekamen. Er selbst war bei den Alten Herren, von denen jetzt einige bei ihm standen und ihren Söhnen auf dem Platz zusahen.
„Die haben echt keinen Plan“, sagte ich zu Martin und deutete auf die kleinen Jungs, die alle gleichzeitig dem Ball hinterherrannten, bis einer ihn woandershin schoss, woraufhin sie die Richtung wechselten wie ein Rudel Hunde, dem man ein Stück Fleisch hinwirft. Lächelnd gingen wir an der Linie entlang zu Lutz. Er klatschte Martin zur Begrüßung ab. Auch ich hob die Hand, aber Lutz ergriff sie und legte mir die andere auf die Schulter. Ich sah ihn an, weil ich dachte, dass er mir etwas sagen wolle, aber er klopfte nur noch einmal unbeholfen auf meine Schulter mit einem Gesicht, als seien wir gerade in die Kreisliga abgestiegen, und auch die Männer um ihn herum machten betretene Gesichter und wippten auf ihren Zehen auf und ab.
Später beim Training bekam ich Seitenstechen. Das war mir noch nie passiert. Ich presste die Hand auf die Rippen und rannte weiter, bis ich es nicht mehr aushielt und stehen blieb, die Hände auf die Knie gestützt, japsend nach Luft. Zu allem Überfluss stiegen mir auch noch Tränen in die Augen. Martin blieb neben mir stehen. „Alles klar?“
„Hau ab!“
Als wir in die Kabine gingen, schlich ich mit gesenktem Kopf an Lutz vorbei, aber er sagte nichts von Memmen und Mädchen und rhythmischer Sportgymnastik, sondern klopfte mir wieder auf den Rücken und fragte in väterlichem Ton, ob ich Seitenstechen gehabt hätte, das könne ja jedem mal passieren.
„Was ist denn mit dem los?“, fragte Martin.
„Keine Ahnung.“
* * *
Schon seit Wochen ging es in den Nachrichten jeden Tag um den entführten Arbeitgeberpräsidenten, doch die Bilder, die ihn mit einem Schild vor der Brust und einem Stern hinter ihm zeigten, schienen meine Eltern nicht zu berühren. Nur einmal sagte Mutter: „Schrecklich, nicht wahr?“, aber Vater antwortete nicht.
Ein Flugzeug war entführt worden und gestern hatten sich zwei Terroristen im Gefängnis umgebracht. Heute hatte man Schleyer gefunden. Als im Fernseher das Auto gezeigt wurde, in dessen Kofferraum seine Leiche gelegen hatte, stand Vater auf und ging hinaus.
„Wo geht er hin?“
Mutter antwortete nicht, sondern verschwand in der Küche. Es war Dienstag, und als nach den Nachrichten Was bin ich kam, blieb ich sitzen. Schließlich hatte niemand gesagt, dass ich Zähne putzen und ins Bett gehen sollte. Robert Lembke hatte fünf Sparschweine vor sich aufgereiht, und der Mann neben ihm wurde in weißer, eingeblendeter Schrift als „Eisenbahnanlagenbauer“ vorgestellt. Mutter kam zurück und stellte ein Schälchen Erdnussflips auf den Tisch. Auch das war neu, etwas zum Knabbern hatte es bislang nur am Wochenende gegeben, wenn wir Am laufenden Band oder Musik ist Trumpf guckten. Ich nahm eine Handvoll Flips und steckte sie in den Mund.
‚Haben Sie im entferntesten Sinne etwas mit Sport zu tun?’, fragte Guido. Er stellte immer die cleversten Fragen und wurde deshalb „Ratefuchs“ genannt. ‚Nein’. Robert Lembke steckte fünf Mark in ein Sparschwein. Jetzt war Annette an der Reihe:
‚Kommen Sie eher aus dem technischen Bereich?’
Ich war gespannt, ob die vier Ratenden den Beruf rechtzeitig herausfinden würden. „Er ist Eisenbahnanlagenbauer“, sagte ich mit vollem Mund. Mutter antwortete nicht. Stattdessen kam ein leises Wimmern. Die Flips in meinem Mund verwandelten sich in Pappe. Verstohlen sah ich Mutter an. Sie presste die Lippen aufeinander, als wollte sie nicht noch einmal einen Ton herauslassen. Aus ihrem Auge drückte sich eine Träne und wurde zu einer glänzenden Spur auf ihrer Wange.
„Mama?“, fragte ich vorsichtig. Als hätte ich es dadurch noch schlimmer gemacht, beugte sie sich nach vorn und vergrub ihr Gesicht in den Händen, sodass ich nur noch ihre zuckenden Schultern und die herunterhängenden Haare sah, die im Takt mitschwangen. Lembke drückte dem Eisenbahnanlagenbauer das geblümte Sparschwein in die Hand. Die Leute klatschten. Mutter gab wieder ein Geräusch von sich, das klang wie das Winseln eines Welpen. Was sollte ich tun? Vater holen? Sie trösten? Sie in den Arm nehmen? Und wenn es etwas mit mir zu tun hatte? Ich legte meine Fingerspitzen auf ihren Arm, aber sie zuckte bei der Berührung zusammen und ich zog die Hand schnell wieder zurück. Auf Zehenspitzen schlich ich aus dem Wohnzimmer.
Als ich die Tür zur Werkstatt öffnete, stand Vater vor der Werkbank und starrte auf das Brett an der Wand, das er dort montiert und auf dem er Halterungen befestigt hatte, in denen die Schraubenzieher und Maulschlüssel hingen. Zwei ganze Reihen, der Größe nach geordnet, darunter kleine Holzkisten mit verschiedenen Schrauben und Muttern.
In der Hand hielt er die neue Bohrmaschine, die er erst vor einigen Monaten gekauft hatte. Als er mir den Kopf zuwandte, schien er mich gar nicht zu sehen. Wie oft in den letzten Wochen war es, als ob er durch mich hindurchblickte und etwas fokussierte, das irgendwo hinter mir lag, in der Ferne. Aber die gab es hier doch gar nicht, es gab nur die kleine Werkstatt, mit ihm und mir und hinter mir die Tür, die ich jetzt vorsichtig schloss.
„Mein Junge“, sagte er schließlich. „Hat deine Mutter dich noch nicht ins Bett geschickt?“
Ich schüttelte den Kopf und trat neben ihn an die Werkbank. „Was machst du?“ Meine Stimme schlug Kapriolen, wechselte zwischen hoch und tief. Vater blickte auf die Maschine in seinen Händen.
„Ich wollte gerade einen Bohrer heraussuchen.“
„Aber es ist doch schon einer drin.“
Vater atmete tief ein. Seine Stimme war belegt, als er mir erklärte, dass dies ein Steinbohrer sei, was man an der verstärkten Spitze erkennen könne. Er deutete auf den Bohrer, der vorn ein wenig breiter war. „Jetzt“, sagte er, „brauche ich einen Holzbohrer. Der hat vorn eine Zentrierspitze.“ Er legte die Bohrmaschine auf die Werkbank und zog eine Schublade auf, aus der er eine kleine metallene Kiste herausnahm, stellte sie auf die Werkbank und hob den Deckel ab. Sie enthielt verschiedene Sortimente von Bohrern. Er zog einen heraus. „Holz ist weich“, sagte er, „bei Metall oder Stein würde eine so feine Spitze sofort zerbrechen.“
Dann zeigte er mir, wie man den Bohrer wechselt. Anschließend schloss er die Metallkiste wieder und legte sie zurück in die Schublade.
„Jetzt musst du aber hochgehen.“
Ich hatte die Klinke schon in der Hand, da drehte ich mich noch einmal um.
„Papa?“
„Ja?“
„Mama weint.“
Er sah mich an, wieder mit diesem fernen Blick, und nickte.
* * *
Kaum sah ich unseren Opel hinter der Ecke verschwinden, nahm ich meine Jacke und machte mich auf. Klaus war jetzt schon seit acht Wochen auf der Intensivstation und meine Eltern würden wie jeden Tag den ganzen Nachmittag bei Klaus bleiben und erst abends zum Essen zurückkommen. Immer noch durfte ich nicht mit, und ich fragte auch nicht mehr, seit Mutter mir barsch zur Antwort gegeben hatte: „Es geht eben nicht, jetzt hör doch mal auf damit!“
Und meine nachmittägliche Freiheit hatte auch etwas für sich. Ich konnte Saxofon spielen und mit Martin auf dem Bolzplatz kicken, wann immer und solange ich wollte. Ich konnte in Disney-Heften lesen, Radio hören oder in der Werkstatt Nägel in Holzleisten schlagen.
Und ich konnte mich aufs Bonanzarad schwingen und nach Königstädten fahren, wo Ulrike wohnte. Ich hoffte, sie irgendwann einmal zu treffen, ohne ihre beiden Hühnerfreundinnen, mit denen sie in der Schule immer zusammen war. Sie gingen sogar im Dreiergespann aufs Klo, und wenn ich Ulrike nur aus drei Metern Entfernung ansah, fingen sie an zu gickeln. Unser Zusammentreffen musste natürlich nach Zufall aussehen. Also drehte ich in Königstädten meine Kreise. Jeden Gully und jede Trafostation kannte ich inzwischen auswendig. Am liebsten war ich am Waldrand, wo neben einem kleinen See Erdhügel aufgeschüttet waren, die ich hoch- und runterfahren konnte, immer den Weg im Blick, der in den Wald auf den Trimmpfad führte. Meine Hoffnung setzte ich auf den Hund. Ulrike ging täglich mit ihm spazieren, wie sie neulich in der Schule laut erzählt hatte. Bei jedem Wetter. Das Wetter heute war hässlich, kalt und so feucht, dass meine Jacke schwer geworden war, obwohl es nicht regnete. An den Reifen meines Fahrrads klebten dicke Erdklumpen.
Und plötzlich tauchte sie auf. Stolperte aus dem Wald, und es sah aus, als ob ihr Boxer sie ziehen würde, so sehr hängte er sich in die Leine. Ich rutschte mit dem Rad den Hügel hinunter, machte eine Vollbremsung und hätte beinahe vor ihren Füßen eine peinliche Bauchlandung hingelegt. Nach der ersten Überraschung begann sie zu lächeln und das Grübchen in ihrer rechten Wange kam zum Vorschein. Ich lächelte auch. Bis mir auffiel, dass ich jetzt etwas sagen müsste.
So oft hatte ich mir vorgestellt, wie wir uns treffen, einander in die Augen sehen würden, vielleicht würde ich sogar irgendwann mutig ihre Hand nehmen oder meinen Arm um sie legen und mit ihr zusammen durch die ganzen vertrauten Wege in Königstädten schlendern. Sie würde mich mit zu sich nehmen, in ihr Haus und mir ihr Zimmer zeigen, das sicher groß und aufgeräumt war, mit einem breiten Fenster, vor dem transparente Vorhänge hingen, sodass man von drinnen nach draußen schauen konnte, aber nicht umgekehrt. Sie würde eine Musikkassette auflegen, von Smokie wahrscheinlich, weil sie wie alle Mädchen in der Klasse für den langhaarigen Sänger mit der rauen Stimme schwärmte. Bis ins kleinste Detail hatte ich mir alles ausgemalt. Nur worüber wir reden könnten, hatte ich mir nie Gedanken gemacht. Dabei musste ich spätestens jetzt, als wir einander gegenüberstanden, etwas sagen. Aber mir fiel beim besten Willen nichts ein.
Ulrike lächelte immer noch und legte den Kopf schräg.
„Na?“
„Na?“ Zu allem Überfluss machte sich auch noch mein Stimmbruch bemerkbar. Ich räusperte mich.
„Was machst du hier?“, fragte Ulrike. Ihr Hund sah aus, als wisse er genau, warum ich hier war und als würde ihm das gar nicht gefallen.
„Ich, nichts, ich … fahre Fahrrad.“
„Ah.“
Der Boxer knurrte. Von seinen Lefzen tropften Schleimfäden.
„Bist du öfter hier?“, fragte Ulrike.
„Ich? Ja, nein, manchmal, also ab und zu …“
„Ah“, sagte sie wieder und nach einer Weile: „Dann gehe ich mal weiter.“
Ich bewegte mich nicht von der Stelle und sie und ihr Hund mussten einen Bogen um mich machen.
Vermasselt! Das hatte ich wirklich voll vermasselt! 'Nichts, ich fahre Fahrrad'! Eine blödere Antwort hätte mir nicht einfallen können. Ulrike würde bestimmt die Hühner anrufen, sobald sie nach Hause kam und morgen in der Schule würden sie ständig zu mir herübersehen und dann die Köpfe zusammenstecken und so laut kichern, dass sogar Martin fragen würde, was los sei. Ich beschloss, am nächsten Tag erst ganz spät loszugehen, sodass ich mit dem Klingeln in die Klasse gehen könnte. Am besten würde ich gar nicht gehen. Ich könnte morgens das Haus verlassen und mittags wieder nach Hause kommen. Es würde ohnehin niemanden interessieren.
Langsam fuhr ich in den Wald, erst kam das Rumpfbeugen-Schild, dann dieser alberne Holzbalken, auf dem man balancieren sollte. Als mir Dauerläufer in Trainingsanzügen entgegenkamen, fuhr ich vom Weg ab, kreuz und quer durch den Wald. Ich wollte niemanden sehen. Irgendwann hielt ich an, zog mein Taschenmesser hervor und schnitzte ein Herz in die Rinde einer Fichte. Die beiden Seiten wurden sehr ungleich, aber ich schnitzte trotzdem „U + C“ hinein. Wenigstens auf diesem Baum waren wir zusammen, und das konnte mir keiner nehmen.
Zu Hause setzte ich mich aufs Sofa. Erst halb fünf. Mein Blick streifte den Ranzen, der noch an der Stelle im Flur lag, wo ich ihn hingepfeffert hatte. „Wenn du so weitermachst, muss ich wohl ein Wort mit deinen Eltern reden“, hatte Frau Pruhn gestern gesagt. „Die haben im Moment andere Probleme“, hatte ich gekontert. Ihr Truthahngesicht hatte einen roten Schimmer bekommen und ich hatte zu Ulrike hinübergeschielt, um zu sehen, ob sie es mitbekommen hatte.
Ich ging hoch in mein Zimmer, nahm das WM-Buch in die Hand, das Klaus mir vor drei Jahren zu Weihnachten geschenkt hatte, und legte mich damit aufs Bett. Der Umschlag mit dem Bild von Beckenbauer und dem goldenen Pokal war zerrissen und einige Seiten waren lose. Ich hatte mir das Buch oft abends im Bett angesehen und schnell unter das Kopfkissen geschoben, wenn ich Mutter die Treppe hochkommen hörte. Das hatte seinen Zustand nicht gerade verbessert, aber so hatte ich sie auch in der Nacht alle nah bei mir: Beckenbauer, Breitner und natürlich Gerd Müller.
Heute machte es mir keine Freude. Der Zauber der gewonnenen WM war längst verflogen. Ich legte mich auf den Rücken und schaute eine Weile durch das Dachfenster in die Wolken, die sich zu immer neuen Figuren zusammenballten. Schließlich ging ich hinunter in den Keller, ohne zu wissen, was ich eigentlich dort sollte. Ich betrat den Raum, den Vater vor einigen Jahren zu einer Dunkelkammer umgebaut hatte. Ich liebte es zuzusehen, wenn er die Bilder entwickelte. Er hatte mir einmal genau erklärt, wie es funktionierte mit der Belichtung, der Silbernitratlösung, dem Fixierer, aber ich wollte das eigentlich gar nicht hören. Denn in dem Moment, in dem Vater das Rotlicht anschaltete, fühlte ich mich in einer anderen Welt, einer roten, schummrigen. Und wenn auf dem Papier, das in der Flüssigkeit schwamm, sich Schemen von Menschen, Landschaften, Gebäuden herausschälten und innerhalb von Minuten zu Mutter, Klaus, mir, unserem Haus, unserer Straße wurden, war das so magisch, dass jede Erklärung störte.
Jetzt war der scharfe Geruch der Fixierlösung längst verflogen. Auf dem Boden standen Kartons mit Dingen, für die sich gerade kein anderer Platz gefunden hatte. Eine ganze Weile stand ich in dem Keller, knipste das rote Licht an und wieder aus, an und aus, an und aus. Bis mein Blick auf den Diaprojektor im Regal fiel und ich endlich eine Idee hatte, was ich tun könnte. Selbst hatte ich es noch nie gemacht, aber schon oft zugesehen. Ich nahm den Projektor und stellte ihn auf den Wohnzimmertisch. Anschließend schleppte ich die Leinwand aus dem Keller nach oben und zog sie auf. Als ich die Rollläden herunterließ, erschrak ich über die plötzliche Dunkelheit, tastete mich schnell zum Projektor vor und schaltete ihn ein. Mit ein paar Büchern als Stütze richtete ich ihn so aus, dass das Licht genau auf die Leinwand traf. Die Diakästen waren im Wohnzimmerschrank. Ich wählte den, der mit „Familienleben 76/77“ beschriftet war, und schob ihn in den Projektor.
Überlebensgroß erschien mein Vater vor mir. Erst unscharf und verschwommen, aber ich drückte solange den dafür vorgesehenen Knopf, bis er klar und lächelnd vor mir stand.
Er trug Knickerbockerhosen, rote Strümpfe und Wanderschuhe, in der Hand seinen Wanderstock, und aus seinem Gesicht leuchtete die Vorfreude auf die Berge.
Das war im Allgäu. Der erste Urlaub ohne Klaus, nur Vater, Mutter und ich. Ich hatte ein eigenes Zimmer gehabt und jeden Morgen gab es Brötchen und ein gekochtes Ei, das ich ein bisschen eklig fand, weil das Eiweiß noch glibberig war, aber Mutter meinte, das müsse so sein in einer Pension. Nach dem Frühstück waren wir wandern gegangen. Wenn wir schon hoch oben waren und sich ein Tal vor uns auftat, riefen Vater und ich „Wer ist der König von Weeesel?“, und zählten mit, wie oft es zurückschallte: „Eeesel, Eeesel, Eeesel …“, immer leiser.
Das nächste Dia zeigte Vater und mich. „Hier sieht man aber die Ähnlichkeit“, hatte jemand beim Diaabend nach dem Urlaub gesagt. Für mich hatten wir keine Wanderschuhe angeschafft, weil meine Füße noch wuchsen, ich trug also meine normalen Straßenschuhe. Trotzdem war ich meistens vorn und immer als Erster oben. Dort hatte ich das Bild aufgenommen, das jetzt kam: Vater von hinten unter einem Gipfelkreuz, den Blick in die Ferne gerichtet.
Ich biss mir auf die Lippe und klickte die anderen Bilder schneller durch: Mutter in einem Sessellift, winkend, wir drei zusammen vor unserer Pension, unten links im Bild, denn der Balkon mit den vielen rotblühenden Geranien, die Mutter so schön fand, sollte ja auch noch mit aufs Bild.
Dann kam Mutters Geburtstagsfeier in unserer Garage, die wir extra leer geräumt und in der wir Tische und Stühle aufgestellt hatten. Auf einem der Tische stand die große Glasschüssel mit Bowle, in der die Erdbeeren oben schwammen. Ich hatte eine von ihnen gegessen, als gerade niemand hinsah. Zu verlockend hatten sie ausgesehen: dick, rot und Süße verheißend. Als ich sie dann im Mund hatte, hätte ich sie am liebsten wieder ausgespuckt, schluckte sie aber dennoch hinunter und vertrieb den ekligen Geschmack mit ein paar Handvoll Paprikachips.
Das nächste Bild musste später am Abend gemacht worden sein, denn die Gesichter waren schon gerötet und glänzten. Mutter hatte eine goldene Plastikkrone auf dem Kopf, die irgendjemand mitgebracht hatte, und Vater hingen Luftschlangen um den Hals. Wahrscheinlich hatte gerade jemand einen Witz gemacht, denn alle lachten.
Klaus hielt auf dem Bild seine Gitarre auf dem Schoß. Seine Knie ragten spitz in die Höhe. Wie immer schien der Stuhl, auf dem er saß, zu klein für ihn zu sein. Die langen Haare fielen ihm glatt und strähnig über die Schultern. Zwischen Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand steckte eine Zigarette. Sie war schon fast heruntergebrannt, und die Asche drohte jeden Moment abzufallen. Auch er lachte. Ich hatte die Bilder schon einmal gesehen, aber heute fiel mir zum ersten Mal auf, dass Klaus auf diesem Bild nicht in die Kamera blickte, sondern mich ansah. Ich saß neben ihm, in der Hand ein Glas Limonade, ich lachte aus vollem Hals, und er sah aus, als freue er sich darüber.
Auf einmal war meine Kehle verklebt, als hätte ich wieder zu viele Erdnussflips in den Mund genommen. Ich saß an der Stelle auf dem Sofa, wo Mutter gesessen und geweint hatte, und plötzlich schluchzte auch ich. Die ersten Tränen wischte ich mit dem Handrücken weg, aber dann kamen schon die nächsten und schließlich ließ ich sie laufen. Es sah mich ja niemand.
Das Bild von Klaus verschwamm in meinen Augen, sein Lachen löste sich auf. Ich drückte den Schalter des Projektors. Es wurde dunkel. Und still, als der Ventilator aufgehört hatte, sich zu drehen. Ich zog die Nase hoch, einmal, zweimal, dreimal, immer wieder. Es hörte mich ja niemand.
Nächsten Sonntag, hatte Mutter gesagt, bevor sie weggefahren waren, nächsten Sonntag würden sie mich mitnehmen zu Klaus.
* * *
Morgens ein Fußballspiel, deshalb musste ich nicht mit in die Kirche, danach würden wir zusammen nach Mainz fahren und endlich würde ich Klaus wiedersehen: Die Aussicht auf einen so schönen Tag ließ mich früher aufwachen als nötig, und als ich hellwach im Bett lag, fiel mir ein, dass man bei Krankenbesuchen ein Geschenk mitbringt. Um etwas zu besorgen, war es jetzt zu spät, aber vielleicht wäre es schön, Klaus etwas von seinen eigenen Sachen mitzubringen. Dann hätte er etwas Vertrautes, etwas, das ihn an zu Hause erinnerte, wenn er aus dem Koma wieder aufwachte.
Ich ging in sein Zimmer. Früher war an Werktagen schon morgens der Rauch seiner Zigaretten unter der Tür durchgekrochen und die Bässe seiner Musik wummerten durch die dünne Wand zwischen unseren Zimmern. Das hatte ich gehasst. Aber jetzt fühlte sich alles falsch an in dem kleinen Raum, ohne die zerknautschten Rothändlepackungen auf dem Tisch, ohne die Wand aus Rauch, ohne die Bob-Dylan-Musik. Auch die große Korbflasche, auf der schon so viele Kerzen zerflossen waren, dass man das grüne Glas nicht mehr sehen konnte, hatte Mutter inzwischen weggeräumt. Ich zögerte. In Klaus’ Schubladen wollte ich nicht herumschnüffeln. Mein Blick fiel auf das Poster an der Wand, auf dem ein verwegen aussehender Mann abgebildet war, schwarz auf rotem Grund. Er trug eine Kappe mit einem roten Stern in der Mitte. Unter dem Kopf stand in großen Buchstaben „CHE“. Das Poster war mit Stecknadeln befestigt, und über einer hing ein Lederband mit einem Anhänger aus Messing, den Klaus oft getragen hatte. „Peace“, hatte er geantwortet, als ich ihn gefragt hatte, was das für ein Zeichen sei, und etwas wie „Frieden“ und „Vietnam“ und „das verstehst du noch nicht“ gebrummt.
Frieden. Das war gut. Das würde ich ihm mitbringen. Ich knotete das Lederband auf, zog den Anhänger ab und ließ ihn in die Tasche meiner Trainingsjacke gleiten, die unter dem Gewicht ein wenig ausbeulte.
Als ich aus dem Haus trat, schlug mir kalter Regen entgegen und ich zog die Kapuze meines Parkas über den Kopf. Kurz vor dem Sportplatz holte ich Martin ein. Ich sah schon an seiner Art zu gehen, dass er mächtig Oberwasser hatte. Es sah aus, als müsse er sich permanent selbst bremsen, um nicht zu schnell zu werden, was schließlich auf Kosten der Lässigkeit gegangen wäre. Dadurch wirkte jeder Schritt, als würde ein Pendel gegen einen Anschlag stoßen. Das Ergebnis war ein abgehacktes Schlendern, das er wohl in den letzten Tagen trainiert hatte.
„Na?“, sagte er lauernd, und als ich nicht sofort reagierte: „Schon gehört?“
Ich antwortete nicht, obwohl ich genau wusste, was er meinte.
„Sechs-null!“ Er konnte sein Grinsen kaum unterdrücken.
„Gladbach gegen Braunschweig.“
„Meinst du, ich gucke keine Sportschau?“, sagte ich genervt. Bayern hatte schon wieder verloren, zwei-null gegen Hertha. Aber es machte mir gar nicht so viel aus, weil ich in den letzten Tagen ständig an Klaus denken musste und dass ich ihn heute endlich besuchen durfte. Martins Gehabe ging mir trotzdem auf die Nerven.
Lutz ließ uns erst einmal etliche Runden um den Platz rennen, mal mit, mal ohne Bälle, mal mussten wir anfersen, mal seitlich laufen. Dann waren Knie- und Rumpfbeugen an der Reihe, anschließend Klappmesser und Liegestützen. In der Kabine dampfte es, als wir unsere nassen Trainingsanzüge aus- und die Trikots anzogen.
Das Wasser tropfte von Lutz‘ Jacke, als er sich vor uns aufstellte. „Männer!“, begann er, und wie immer bei seinen Ansprachen hatte er einen aggressiven Unterton, den ich vom Training nicht kannte. „Der SC Opel ist kein leichter Gegner. Das letzte Spiel haben wir sechs zu drei verloren. Das darf nicht wieder passieren heute, auf keinen Fall, sonst mache ich den Laden dicht, darauf könnt ihr euch verlassen.“ Durchdringend sah er einen nach dem anderen von uns an. „Also: Wir müssen sie schlagen, kapiert? Und eins sage ich euch: Ich will keine Zimperlichkeiten sehen! Wir sind schließlich keine Mädchen. Ihr müsst an den Ball ran. Mit dem Fuß.“
Er zog den Zettel mit der Aufstellung aus der Tasche. Alle blickten auf. Die Stunde der Wahrheit. „Und wenn …“, er rollte den Zettel wieder zusammen und fuchtelte damit vor unseren Augen herum, „… wenn einer von euch hier meint, er kann es langsam angehen“, ist er sofort vom Platz, „ist er sofort vom Platz!“ Garantiert. „Garantiert!“
Es war völlig egal, was er redete, weil alle nur versuchten, einen Blick auf den Zettel zu erhaschen.
„So“, endlich rollte Lutz ihn wieder auseinander, „Matze steht im Tor, das ist klar. Innenverteidigung Schorsch und Berti, außen Lothar und Chris, vorne sind heute Fritz und Martin, im Mittelfeld …“
Enttäuscht schnürte ich meine Schuhe. Schon wieder nur Verteidiger. Bei jedem Spiel hoffte ich, auch einmal Stürmer sein zu dürfen oder zumindest Mittelfeldspieler. „Du bist nun mal ein guter Verteidiger“, hatte Lutz einmal gesagt, als ich mich beschwert hatte. „Du hast Biss und gehst zum Mann. Die Verteidiger sind mindestens genauso wichtig wie die Stürmer. Jeder in der Mannschaft ist sehr wichtig und muss auf seiner Position alles geben.“ Er hatte mir auf den Rücken gehauen und im Weggehen noch gesagt: „Wenn du älter bist, verstehst du das.“
Martin dagegen war fast jedes Mal im Sturm, und wenn wir auf dem Bolzplatz zusammen spielten, sollte ich ihm immer zuflanken, sodass er den Ball ins Tor ballern konnte wie Gerd Müller, der sein Vorbild war, obwohl er bei Bayern spielte.
Ich bemerkte, dass Rolf neben mir mit den Tränen kämpfte. Er musste draußen bleiben, wie meistens, weil er oft krank war und nicht zum Training kommen konnte. „Du kommst bestimmt auch noch rein heute“, sagte ich und wollte ihm die Hand auf den Arm legen, aber er schlug sie weg. Dabei fiel meine Trainingsjacke herunter und Klaus’ Anhänger rollte über den Boden.
„Was ist das?“ Rolf machte große Augen, „ein Glücksbringer?“
„Quatsch!“ Ich schob das Friedenszeichen zurück in die Jacke und hoffte, dass Rolf recht hätte. Glück könnte Klaus wohl noch mehr gebrauchen als Frieden.
Wir stellten uns in einer Reihe auf und liefen ein, an der Galerie der Väter vorbei, die unter ihren Regenschirmen am Spielfeldrand standen und uns Sätze entgegenschrien wie „Zeigt, was ihr drauf habt!“ und „Macht sie nass!“ Von Rolf waren sogar beide Eltern gekommen. Dicht beieinander standen sie unter einem pinkfarbenen Schirm, der aussah wie ein gerupfter Flamingo. Die Mutter reckte den Hals in die Höhe und suchte nach Rolf. Herr Kowalke, Martins Vater, war natürlich auch da. Ihn erkannte man immer als Ersten, weil er mit Abstand der Größte und Breiteste von allen war. Er war der einzige Vater, den ich kannte, der nicht bei Opel arbeitete, sondern im Straßenbau. Sein Gesicht war wettergegerbt und bestand aus dicken Falten, die mich an Ulrikes Boxer erinnerten. Er rauchte pausenlos filterlose Zigaretten, verdrückte pro Halbzeit locker zwei Bier und brüllte „Ran!“ oder „Los!“ oder „Mach ihn rein!“ über das Feld, sobald der Ball auch nur ansatzweise in Martins Nähe kam, und wenn Martin ihn dann nicht bekam, stöhnte er laut auf oder fluchte. Manchmal trat er sogar gegen das Geländer und man hörte das Scheppern über den ganzen Platz. Mein Vater hatte zum Glück nie etwas über den Fußballplatz gebrüllt oder gegen das Geländer getreten. Wahrscheinlich hatte deshalb auch nie jemand gefragt, warum er nicht mehr zum Zuschauen kam. Ich hatte mich daran gewöhnt, aber trotzdem hoffte ich beim Einlaufen jedes Mal, ihn doch neben Kowalke stehen zu sehen, mit seiner grauen Kappe auf dem Kopf und den hinter dem Rücken gefalteten Händen.
Kaum war angepfiffen, bekam ich Arbeit. Mein Gegenspieler hatte leuchtend rote Haare, war nicht viel größer als ich, aber schwerer und kräftiger. Er versuchte, mich abzudrängen. Ich hielt dagegen. Dann gelang es mir, ihm den Ball abzunehmen. Sofort spielte ich ab ins Mittelfeld. Aber schon waren wieder die Opelaner im Ballbesitz. So ging es weiter. Der Ball war fast nur in unserer Hälfte und am Ende der ersten Halbzeit stand es vier zu zwei gegen uns. Klatschnass und von oben bis unten voller Schlammspritzer saßen wir auf den Holzbänken in der Kabine und warteten geduckt auf Lutz. Er schnaubte vor Wut, baute sich vor uns auf und stieß seinen Zeigefinger in unsere Richtung. „Jetzt hört mir gut zu, Jungs! Das hier ist Fußball und kein Hallenhalma! Und auch keine rhythmische Sportgymnastik. Fußball heißt, dass man auch mal zum Ball gehen muss. Mit dem Fuß. Und wenn das Ding beim Gegner ist, dann muss man eben auch mal versuchen, dem den Ball abzunehmen.“
Er wurde immer lauter, unsere Köpfe sanken immer tiefer. Mir war kalt und mein Bein tat weh, weil der Rotschopf mich heftig gefoult hatte. Der Schiedsrichter hatte es natürlich nicht gesehen.
„Da muss man eben mal richtig reingehen, sonst funktioniert das nicht! Auf die Knochen! Und ihr müsst nach vorne spielen. Nach vorne! Nicht nach hinten, nicht zur Seite. Vorne ist das Tor! Mann, Mann, Mann!“ Jetzt kam Lutz ganz dicht an uns ran. „Ihr müsst denen aufs Maul hauen, kapiert!“ Beim Wort „Maul“ rammte er direkt vor meinem Gesicht die Faust in seine flache Hand. Rolf neben mir zuckte zusammen. Lutz zog wieder den Zettel hervor, auf dem jetzt ein paar Namen durchgestrichen waren. Einen Moment lang sah er mich an und ich schwankte zwischen der Angst, auf die Ersatzbank zu müssen, und der Hoffnung, in den Sturm zu kommen.
„Chris, du bleibst auf deiner Position. Nimm den roten Fettkloß richtig ran, hörst du! Und lass dich nicht abdrängen! Du musst kämpfen. Es geht hier um was. Wir spielen gegen Opel!“ Er lief die ganze Reihe von uns ab. „Ihr müsst alle richtig kämpfen. Und behaltet verdammt noch mal den Ball im Blick!“ Vor Rolf blieb er stehen. „Du spielst jetzt nach der Pause.“
Rolf sprang auf, die Fäuste geballt, die Lippen zusammengepresst.
„Schorsch, du gehst erst mal raus.“ Schorsch schmiss vor Wut einen Schuh an die Wand, als Lutz nicht hinsah. Ich tastete nach dem Anhänger in meiner Jackentasche.
Rolfs Mutter klatschte wie verrückt, als wir wieder auf den Platz kamen und sie ihren Sohn zwischen uns entdeckte, aber Rolf hatte immer noch seinen Tunnelblick und bemerkte es nicht. Die zweite Halbzeit lief von Anfang an besser, und als das Spiel fast zu Ende war, hatten wir auf fünf zu fünf aufgeholt. Dann kam mein Gegenspieler in Ballbesitz. Meine Nerven vibrierten. Ich musste ihm den Ball abnehmen. Er durfte nicht durchkommen, nicht jetzt, bei Gleichstand kurz vor Schluss. Er versuchte, mich zu umspielen, wich mal nach links aus, mal nach rechts, aber ich blieb an ihm dran, wusste, ich hatte nur eine Chance, den Ball zu erwischen und wenn ich die vermasseln würde, wäre er durch, und dann würde es wieder ein Tor geben und ich wäre schuld daran. „Hau ihn um!“, brüllte es von der Väterseite des SC Opel, und als hätte er genau diesen Auslöser gebraucht, preschte der Feuerkopf vor wie ein Schlachtross. Sein Gesicht sah so finster aus wie Rolfs vorhin, nur war es nicht blass und schmal, sondern knallrot. Jetzt! Ich grätschte in den Ball. Mein Gegenspieler schrie auf und fiel. Ich fiel auch, aber ich hatte den Ball getroffen, der ein paar Meter weiterrollte und auf den mit einem Mal alle Spieler gleichzeitig zuzurennen schienen. Alles war vergessen, von wegen auf Position bleiben und den Überblick bewahren. Ich fing mich und erreichte den Ball als Erster. „Chris, hier!“ Rolf streckte ein paar Meter von mir entfernt den Arm nach oben. Sein Gesicht war jetzt rot gefleckt, aber noch entschlossener als zuvor in der Kabine. Ich passte ihm den Ball zu. „Schieß, Rolfi, schieß!“, gellte eine Frauenstimme über den Platz. Rolf schoss den Ball in die Mitte. Ich sah mich um. Alle Spieler waren in Richtung Ball vorgerückt. Die ganze rechte Seite war frei. Freie Bahn bis zum gegnerischen Tor.
„Los, Chris!“, hörte ich Lutz schreien, „lauf!“
Ich rannte los. Mein Herz jagte. Schon war ich in der gegnerischen Hälfte, immer dicht an der Außenlinie. Die Luft blieb mir weg, aber ich rannte trotzdem weiter. Nur nicht wieder Seitenstiche kriegen. Jemand spielte mir den Ball zu. Ich trieb ihn vor mir her und suchte hektisch das Feld nach Martin ab, um ihm zuzupassen, schließlich hatten wir das Nachmittage lang geübt.
„Lauf!“, hörte ich Lutz wieder. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass er an der Linie entlang lief wie ein eingesperrtes Raubtier, auch Kowalke schrie irgendetwas, alle schrien auf einmal, ich japste nach Luft, und mitten in all das mischte sich plötzlich Vaters leise Stimme: Lauf, Junge! Vielleicht noch zwanzig Meter. Aus dem Augenwinkel sah ich Martin in vollem Lauf durch die Mitte kommen. Ich wollte ihm gerade den Ball zuspielen, als er aufschrie und stürzte.
„Mach ihn rein!“, hörte ich Kowalke brüllen. Das Tor war verdammt weit weg. Jetzt kam auch noch der Torwart heraus und rannte mir entgegen und mir wurde klar: Ich musste es selbst machen. Ich nahm alle Kraft zusammen und schoss. Der Ball zog in einem langen Bogen über den Torwart hinweg, der zu spät die Arme ausstreckte und ihn um Haaresbreite verfehlte.
Erst als der Pfiff ertönte und der Torwart ein paar Meter vor mir auf die Knie sank und wütend auf den Boden einschlug, wurde mir klar, dass der Ball wirklich drin war. Ich, rechter Außenverteidiger der D-Jugend der SG Eintracht Rüsselsheim, hatte ein Tor geschossen. Gegen Opel. Sechs zu fünf in der vorletzten Minute. Der Siegtreffer. Ich rannte los, sprang wie Gerd Müller beim Endspiel gegen Holland in die Luft und blieb schließlich mit ausgebreiteten Armen stehen. Die anderen warfen mich um. Dann hoben sie mich sogar hoch, und über die ganzen Köpfe, Körper und Arme hinweg wagte ich einen Blick auf die Väter am Rand, die unter ihren Schirmen die Bierflaschen aneinanderknallten.
Natürlich war er nicht da. Natürlich war es nur Einbildung gewesen, dass ich seine Stimme gehört hatte.
Lutz haute mir nach dem Spiel in den Nacken, wie er es immer tat, wenn er einen besonders loben wollte. „Ich wäre bestimmt ein guter Stürmer“, sagte ich schnell. Er grinste. Vielleicht könne ich demnächst mal im Mittelfeld spielen, ich hätte ja Überblick und eine gute Lauffähigkeit bewiesen und Mittelfeld sei eine sehr wichtige Position. Rolf strahlte über das ganze Gesicht, als ob er das Tor geschossen hätte und nicht ich, klatschte mich ständig ab und redete in einem fort. Martin spritzte mir aus seiner Flasche Wasser über den Kopf und erzählte immer wieder, dass er im 16-Meter-Raum gefoult worden wäre und dass es eigentlich einen Elfmeter hätte geben müssen, aber der Schiri hätte ja sowieso die ganze Zeit nur für die anderen gepfiffen und zum Glück hätte ich das Ding dann ja doch noch rein gemacht.
Herr Kowalke bot mir an, mich nach Hause zu fahren. „Von dem Chris, da kannst du dir `ne Scheibe abschneiden“, sagte er zu Martin und begann schon auf dem Weg zum Auto, alle Fehler aufzuzählen, die Martin seiner Meinung nach gemacht hatte, und während der Fahrt ging es weiter, in derselben Lautstärke wie vorher auf dem Fußballplatz. Als er Luft holte, wandte ich ein, dass Martin doch sogar zwei Tore geschossen hätte.
„Genau!“, sagte Martin und hörte sich an, als würde er als Erstes seiner kleinen Schwester eine Kopfnuss verpassen, wenn er nach Hause kam.
„Ich habe ein Tor geschossen!“, rief ich schon im Flur und stürmte ins Wohnzimmer.
Vater sah auf und lächelte. „Alle Achtung!“ Er legte die Zeitung weg und erhob sich aus seinem Sessel.
„Toll“, sagte Mutter, die gerade ihre Tasche packte, „wirklich.“ Sie sah mich an: „Ziehst du dich um? Wir müssen los.“
Vater ging an mir vorbei. „Gegen Opel!“, sagte ich und er legte mir die Hand auf die Schulter. Dann drückte er sie und ich hatte das Gefühl, dass es gar nicht wegen des Tores war. „Bist du bereit?“
Fast hätte ich vergessen, den Friedensanhänger aus der Trainingsjacke zu holen und in meine Hosentasche zu stecken.
Eine Viertelstunde später machten wir uns auf nach Mainz. Ich war erstaunt, wie lang die Strecke war, die meine Eltern jeden Tag zurücklegten. Mutter verteilte Bonbons. Langsam ließ ich das Karamell in meinem Mund zergehen und sah aus dem Fenster.
Die Felder waren abgeerntet und braun. Ich dachte an den Sommer, der jetzt endgültig vorbei war: Mit nacktem Oberkörper auf dem heißen Asphalt liegen, Teergeruch in der Nase, die Hitze auf der Haut gerade noch auszuhalten. Vater mit dem Federballschläger in der Hand, sein Arm um meine Schulter. Das Klimpern von Löffeln, die Zitronenteepulver in Wassergläsern verrühren.
Es war ein langer Sommer gewesen in diesem Jahr, so lang, so heiß, dass ich mich am Ende kaum an den Winter davor erinnern konnte und an die Möglichkeit, dass es überhaupt jemals kalt sein könnte. Jetzt hingen die Novemberwolken tief am Himmel und an das Autofenster klatschten dicke Tropfen, die durch den Aufprall in zahllose kleine Teile zersprangen.
Vater lenkte den Wagen auf einen großen Parkplatz, dann gingen wir auf ein imposantes Portal zu, durch eine von riesigen Säulen flankierte Tür, über der in großen Lettern „Universitätskliniken“ stand.
In einer Ecke in der Eingangshalle stand ein großer Gummibaum, daneben saßen zwei Männer in dunklen Bademänteln und rauchten. Sie blickten uns finster nach, als wir zum Aufzug gingen. Einer begann zu husten, es hörte sich an, als ob sich in seinem mageren Körper alles verflüssigt hätte. Ich fühlte mich unwohl, gern hätte ich Mutters Hand genommen. Im Fahrstuhl drückte ich den Knopf mit der Drei. Mit einem Ruck setzte er sich in Bewegung.
Ich freute mich darauf, Klaus wiederzusehen, auch wenn wir nie viel zusammen gemacht hatten. Sieben Jahre lagen zwischen uns. Als ich in die Schule kam, war er schon fast fertig, und jetzt arbeitete er längst bei Opel und war meistens nicht zu Hause. Trotzdem: Seit ich denken konnte, hatten wir uns beinahe täglich gesehen. Manchmal hatten wir Sitzfußball im Wohnzimmer gespielt, bis Mutter es uns verbot, und während der WM durfte ich mit seinem Tonbandgerät die Reportagen im Radio aufnehmen.
„Am besten bleibst du mit ihm hier“, sagte Mutter zu Vater, als wir aus dem Aufzug traten. Er nickte, und sie verschwand hinter einer Glastür. Ich sah mich um, den langen Flur hinunter. Die Wände waren weiß, alle paar Meter unterbrochen von einer Tür. Vor dem Fenster am Ende des Flurs stand ein leeres Bett. Der Boden war in einer undefinierbaren Farbe dunkel. Es roch nach Bohnerwachs und Medizin und ich dachte, dass es kein schöner Ort war, an dem mein Bruder schon so lange lag, selbst wenn er nichts davon mitbekam.
Ich zog den Anhänger aus der Tasche. „Was hast du denn da?“, fragte Vater.
„Das wollte ich Klaus mitbringen.“
„Ach Junge“, sagte Vater. Ich verstand nicht, warum er das sagte, aber in dem Moment öffnete sich die Glastür und ich machte Platz, weil eine Liege hindurchgeschoben wurde. Das Kopfteil war hochgestellt. Der Mann auf der Liege hielt die Arme und Hände in einer unnatürlichen Haltung vor der Brust verkrampft. Er war so dünn, dass die Knochen der Finger durch die Haut zu stoßen drohten. Sein Kopf war kahl, der Hals nach hinten gekrümmt und der Mund weit geöffnet, sodass die Wangen hohl fielen. Die Augen starrten leer an die Decke. Die Frau, die die Liege schob, trug einen grünen Kittel, ihr Haar war von einer Haube verdeckt. „Da sind wir“, sagte sie. Mit der Stimme meiner Mutter.
Es dauerte einen Moment, bis ich verstand.
Ich musste geschrien haben, denn erschrocken legte Mutter den Finger auf den Mund und Vater zischte „Pscht!“ Ich drehte mich um, rannte die Treppe hinunter, durch die Halle quer über den Parkplatz bis zu unserem Auto. Dort hockte ich mich hin, lehnte mich an einen Reifen und hielt das Gesicht nach oben. Die Regentropfen prasselten auf meine Haut. In der Faust hielt ich immer noch den Anhänger. Ich warf ihn so weit weg, wie ich konnte. Scheppernd schlug er auf dem Asphalt auf, rollte noch ein Stück und verschwand in einem Gully, als hätte es ihn nie gegeben.
Als Vater mich an der Schulter berührte, zuckte ich zusammen. „Komm, Junge. Du wirst dich erkälten.“ Er schloss das Auto auf, damit ich mich hineinsetzen konnte, blieb selbst aber noch draußen und rauchte. Wenig später kam auch Mutter, die Augen verquollen, und setzte sich auf den Beifahrersitz. Sie reichte mir noch ein Karamell. Der Motor sprang an, der Wagen rollte los. Vater stellte das Gebläse an, weil die Scheiben beschlugen. Niemand sagte etwas. Einmal meinte ich Vaters Blick durch den Rückspiegel zu spüren, aber ich verkroch mich noch tiefer in die Ecke und tat, als sähe ich aus dem Fenster.
Vater lenkte den Wagen nicht nach Hause, wie ich erwartet hatte, sondern in die Stadt, bis wir vor einem Lokal hielten. „Du hast doch sicher Hunger“, sagte Mutter zu mir mit einem steifen Lächeln. Essen war eigentlich das Letzte, woran ich denken wollte, doch als wir in die Gaststätte eintraten, wehte uns der Geruch nach gebratenem Fleisch und Zwiebeln entgegen, es roch nach Zuhause, früher, sonntags, wenn wir alle zusammen am Tisch saßen und Vater nach dem Komm-Herr-Jesus-sei-unser-Gast sorgfältig den Braten aufschnitt, jede Scheibe einen Finger breit.
Wir setzten uns an einen Tisch am Fenster. Mutter strich über die Wachstuchdecke, obwohl sie schon ganz glatt lag, und rückte die Vase, in der eine gelbe Plastikblume steckte, ein Stück zur Seite. Ich durfte eine Cola bestellen und bekam eine eigene Speisekarte, und während ich noch die Preise studierte, die hinter den Jäger- und Zigeunerschnitzeln standen, sagte Mutter:
„Du darfst auch ein Rumpsteak nehmen. Das magst du doch so gern.“
Von da an nahmen sie mich jeden Sonntag mit. „Wir wollen ja auch mal etwas zusammen unternehmen“, sagte Mutter. Aber ich ging nicht mit durch die Tür zwischen den Säulen, ich fuhr nicht mit meinen Eltern mit dem Aufzug in den dritten Stock. Ich wollte nicht noch einmal dieses dürre Gespenst sehen, das mein Bruder sein sollte. Ich blieb im Auto sitzen und wartete. Manchmal nahm ich mein Autoquartett mit, aber die Karten kannte ich schon auswendig und gegen mich allein zu spielen, machte keinen Spaß. Meistens blickte ich auf den großen asphaltierten Parkplatz, sah Wagen kommen und wieder fahren, hauptsächlich Opel, aber auch VW, Audi und Mercedes, und zweimal sah ich eine Ente, aus der sich eine bunt angezogene Frau schälte und einen in Papier gewickelten Blumenstrauß aus dem Kofferraum holte. Ansonsten waren es immer dieselben Menschen, die zur selben Zeit wie wir ihre Kranken besuchten: ein alter Mann, der nur mit Mühe seinem Käfer entstieg, ihn umständlich abschloss und zum Eingang humpelte, eine dünne Frau mit verhärmtem Gesicht, ein Vater mit zwei kleinen Kindern, die ihm ständig wegliefen, sodass er hinter ihnen herrennen musste. Sie lachten, für sie war es ein Spiel, aber er schimpfte, und wenn er sie dann so fest an den Händen hinter sich herzog, dass sie zu weinen begannen, sah er sehr verzweifelt aus.
Irgendwann kamen meine Eltern wieder heraus, Mutter weinte, Vater starrte vor sich hin, wir fuhren zu unserem Lokal und ich bestellte Cola und ein Rumpsteak. Sie fragten mich, wie es in der Schule lief und beim Fußball, aber wenn ich zu erzählen begann, wurden ihre Blicke leer.
Einmal fuhr ich mit Vater allein an einem Donnerstag nach Mainz. Er ging nur kurz hoch zu Klaus, denn wir sollten noch einige Dinge in der Stadt besorgen. Als wir alles beisammenhatten, fuhren wir mit der Rolltreppe im Hertie nach oben ins Restaurant. Er legte die Hand auf meine Schulter, ohne etwas zu sagen. Es störte mich nicht, wir waren immer zufrieden gewesen, einfach zusammen zu sein, Musik zu machen oder Federball zu spielen. Wenn wir früher gemeinsam in den Wald gegangen waren, hatten wir stundenlang kaum ein Wort gewechselt, außer wenn Vater mir zeigte, wie man ein Fernglas benutzt, Fuchsbauten erkennt oder wie man eine Buche von einer Eiche unterscheidet.