Spring Storm 1: Blühender Verrat - Marie Graßhoff - E-Book
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Spring Storm 1: Blühender Verrat E-Book

Marie Graßhoff

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Beschreibung

Eine Akademie, die einem alles abverlangt.

Cora hat immer Glück – auch dann, als sie endlich an der Academy of Cosmic Powers aufgenommen wird, jenem Internat für Menschen, die nach einem Meteoriteneinschlag besondere Fähigkeiten entwickelt haben. An ihrem ersten Tag lernt sie dort die unnahbare King kennen, die alles verkörpert, was sie selbst gerne wäre: Sie ist mutig, selbstbewusst und hat ein außergewöhnliches Talent. Aber King macht ihr schnell klar, dass sie nichts von Cora hält. Als allerdings ein Krieg zwischen Cosmics und Menschen auszubrechen droht, ist Zusammenhalt wichtiger denn je. Auch zwischen Cora und King. Können sie in Anbetracht der Gefahr ihre Rivalität überwinden?


Der finale zweite Band der Spring-Storm-Dystope erscheint im Frühjahr 2023

***Mit wunderschönen ganzseitigen Illustrationen zur dystopischen Welt von Josephine Pauluth.***

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Das Buch

Cora scheint alles zuzufallen, ihre besondere Fähigkeit ist Glück. Doch was ist, wenn Glück allein nicht mehr reicht? Wenn das Leben einen anderen Plan hat und mit voller Wucht zurückschlägt?

Die Autorin

© Privat

Marie Graßhoff, kurz vor Weihnachten 1990 im Harz geboren, versteckte sich schon im Grundschulalter zwischen Bergen aus Büchern und schrieb phantastische Geschichten. Mit zwölf beendete sie ihren ersten Roman. Nach ihrem Studium der Buchwissenschaft und Linguistik in Mainz arbeitete sie zwei Jahre als Social Media Consultant und widmete sich den Welten in ihrem Kopf nebenberuflich. Inzwischen hat sie ihren größten Traum verwirklicht und lebt als freie Autorin und Buchcovergestalterin in Leipzig.

Der Verlag

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Viel Spaß beim Lesen!

Für meine Familie

PROLOG

02.07.2072, DIE ZERSTÖRUNG MEINER HEIMAT AN EINEM SAMSTAG

Ich war sieben Jahre alt, als ich die Dimensionen miteinander kämpfen sah. Es war an einem Samstag. Peking brannte. Unter dem Wolkenhimmel stiegen Rauchfahnen empor. Die Schneise, die die Bomber durch die Stadt gezogen hatten, war so breit, dass ich von einem Ende bis zum anderen schauen konnte. Die Gebäude waren nur noch Trümmer aus Feuer und Stein.

Und wir rannten. Wir rannten, so schnell unsere Beine uns trugen, durch das Unterholz eines Waldes, den ich nicht kannte. Dabei wusste ich nicht einmal, wohin. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es einen Ort gab, an den diese Zerstörung nicht gelangen konnte. Dass irgendwo die Sonne schien. Dass irgendwo alles gut war.

Trotzdem rannte ich weiter.

In diesem Wald war es viel zu dunkel. Dunkler, als normal gewesen wäre. Als herrschte zwischen den Stämmen tiefe Nacht. Und in dieser Dunkelheit war manchmal ein Leuchten zu erkennen. Wie das von Glühwürmchen. Es schien mich zu sich rufen zu wollen, doch immer, wenn ich meinen Kopf dorthin umwandte, zerrte Papa mich weiter.

Die Erwachsenen hatten Angst vor dem Wald. Schon seit ich denken konnte.

»Cora, Schätzchen, du musst aufhören zu träumen«, flüsterte er. Er lächelte, aber es sah angestrengt aus. Irgendwie gezwungen. Seinen Bart hatte er seit einigen Tagen nicht mehr rasiert, sodass es kitzelte, wenn er mich umarmte. Sein kurzes, blondes Haar war ganz zerzaust. Tränen zeichneten sich deutlich auf seinen rußigen Wangen ab. Ihn so zu sehen, machte mir mehr Angst als alles andere.

Es machte mir mehr Angst als die Schreie, die durch den Wald tönten, mehr als die Dunkelheit und mehr als die Bombeneinschläge, deren Vibrationen unter meinen Füßen bebten. Ich hatte Papa noch nie so gesehen.

Die Lichtung, auf die wir traten, war ein bisschen heller als die Bereiche zwischen den Bäumen. Obwohl es auch hier viel zu düster war, dafür, dass es mitten am Tag war. Die Luft war erfüllt von Staub, der das Atmen zusätzlich erschwerte.

Mama schaute zu mir hinüber, aber im Gegensatz zu Papa lächelte sie nicht. Ihr dunkles Haar hatte sie zu einem Zopf gebunden. Das tat sie sonst nie. Die tiefen Wunden an ihrer Wange und an ihrem Arm hatten aufgehört zu bluten, aber ihre Haut war blasser als gewöhnlich. Und immer, wenn ich fragte, ob es ihr gut ging, antwortete sie nicht.

Unsere Nachbarn, Mr und Mrs Zhou, hatten uns aus dem Haus gerettet, nachdem ein Teil davon eingestürzt war. Sie hatten in der Straße gegenüber gewohnt. Die Straße, die es jetzt nicht mehr gab. Ich hatte nicht einmal mehr meine Plüschkatze aus meinem Zimmer holen können.

Zusammen mit ihnen und einigen jüngeren Menschen, die ich nicht kannte, bewegten wir uns vorwärts.

»Ich kann nicht mehr«, keuchte ich. Papa hielt mich so fest am Handgelenk, dass es wehtat.

»Es ist nicht mehr weit, Schatz«, sagte Mama leise und strich mit ihrer Hand über meine Wange. »Hinter dem Wald ist ein Flugzeug, das uns von hier wegbringen wird.«

»Wohin?«

»An einen sicheren Ort.«

»Und wo?«

»Das weiß ich nicht, Liebling.« Die Angst in ihren Augen machte mich traurig, aber ich wusste nicht, wie ich darauf reagieren sollte. Ich wollte mir ein Lächeln abringen, doch was mir sonst leichtfiel, erschien mir jetzt so endlos schwer.

Wo war dieser Ort? Würden wir nach Hause zurückkehren, wenn wieder alles gut war? Ich musste doch die Plüschkatze holen, die Oma mir letztes Jahr geschenkt hatte.

»Ich will euch nicht hetzen«, sagte der alte Mr Zhou. »Aber jede Sekunde in diesem Wald kann tödlich sein.« Er schaute zu seinen Füßen und ich folgte dem Blick. Das Gras. Es sah aus, als würde es nach uns greifen. »Als würde es uns gleich verschlingen«, flüsterte er.

Meine Mama machte einen zischenden Laut, um ihn zum Schweigen zu bringen, und warf mir einen besorgten Blick zu. »Das wissen wir«, wisperte sie.

Ich schaute zu den Bäumen hinüber. Da war etwas. Ich bemerkte eine Bewegung, die nicht von einem Tier oder einer Pflanze stammte. »Mama«, flüsterte ich, während mein Papa mich weiterzerrte. »Da ist …«

In der nächsten Sekunde erkannte ich, was sich zuvor in den Schatten verborgen hatte. Vier Gestalten brachen aus dem dichten Unterholz auf die Lichtung und stürzten auf uns zu. Erschrocken keuchte ich und Papa stolperte einige Schritte zurück, sodass ich fast fiel.

Die Fremden. Zwei von ihnen hatten Pistolen und Gewehre. Einer war mit einem großen Stein bewaffnet. Blut klebte daran.

Meine Wangen wurden von dem Schreck ganz warm. Ich bekam kaum noch Luft.

Schützend stellte Papa sich vor mich und ich spähte vorsichtig an ihm vorbei, um die Männer zu mustern. Sie trugen schmutzige, zerrissene Kleidung. Ihre Gesichter waren wutverzerrt.

»Her mit euren Taschen!«, bellte der eine. Er hatte eine tiefe Wunde unter dem Auge und kniff es ein wenig zu.

»Wir sind nur auf der Flucht«, erwiderte Mr Zhou und hob die Hände. »Wir haben nichts von Wert dabei.«

»Ihr müsst nicht mit uns verhandeln«, keuchte ein anderer Kerl. »Her mir eurem Zeug oder wir nehmen es uns.« Er war hager und ich glaubte, ihn schon einmal gesehen zu haben. Das waren keine Männer vom Militär, oder? Die kaputte Kleidung wirkte nicht wie die, die die Soldaten getragen hatten, denen wir begegnet waren. Aber wenn sie Waffen bei sich trugen, waren es auch keine Cosmics.

»Ich bitte Sie. Alles, was wir besitzen, ist in diesen Taschen«, sagte Mama vorsichtig. »Es sind nur einige Fotos und ein wenig –«

Der hagere Kerl riss seine Pistole hoch und fuchtelte damit in ihre Richtung. Ich zuckte zusammen und Papa packte mich erneut am Handgelenk. Hatte er Angst, dass ich fortrannte?

»Na gut«, sagte er, um Ruhe bemüht. »Wir nehmen jetzt unsere Rucksäcke ab. Ganz langsam, in Ordnung?« Mama warf ihm einen erschrockenen Blick zu. Ihre Augen, sowieso schon von Tränen gerötet, wurden wieder wässrig. »Ist okay, Schatz«, flüsterte Papa. »Hauptsache, es geht uns gut, ja?«

Sie nickte tapfer und wie sie legte ich meine freie Hand an die Träger meines Rucksacks. Es war nur Essen darin. Alles, was ich vermissen könnte, war unter den Trümmern unseres Hauses begraben.

Unsere Nachbarn schienen nicht bereit zu sein, sich von ihren Besitztümern zu trennen.

»Nein!«, rief Mr Zhou. So wie heute habe ich ihn noch nie gesehen. Sonst lächelte er immer. »Alles, was ich besitze, trage ich am Leib! Das gebe ich nicht auf!«

Der Hagere richtete seine Pistole auf ihn, doch einer der jüngeren Männer aus unserer Gruppe sprang auf ihn zu, um ihm die Waffe zu entwinden. Das brachte den Fremden kurz aus dem Konzept, doch einer seiner Begleiter packte unseren Nachbarn sofort am Kragen, holte mit dem Stein in seiner Hand aus und schlug ihm mitten ins Gesicht.

Ich kniff die Augen zusammen, um nicht zu sehen, wie er mehrere Male auf ihn einschlug. Aber das Geräusch. Dieses Knirschen und Knacken. Mir wurde übel.

Schüsse knallten durch die Luft und mein Papa zerrte mich zur Seite, um fortzulaufen. Ich riss die Augen auf und folgte ihm, ohne darüber nachzudenken, wohin wir rannten. Der Tumult hinter uns war undurchschaubar, als ich versuchte, mich zu Mama umzudrehen. Wo war sie? Folgte sie uns?

So schnell, wie wir auf den Schutz der Bäume zuliefen, und so schnell, wie die anderen Menschen sich bewegten, gelang es mir einfach nicht, einen Überblick zu gewinnen. All die Schüsse. Ich sah nicht, wohin sie überhaupt abgefeuert wurden.

Plötzlich fiel Papa nach vorn und riss mich mit sich. Ich landete auf meinem Bauch und schließlich auf dem Gesicht, stoppte mitten in Gras und Schlamm. Die feinen Halme bewegten sich sacht, als würden sie mich umarmen wollen.

»Papa?«, keuchte ich und stemmte mich auf die Unterarme.

Hinter uns war es still geworden. Ich kniete mich neben meinen Vater und legte ihm die Hände auf den Rücken. Der Rucksack, den er nur noch auf einer Schulter getragen hatte, lag neben ihm. In seiner Jacke waren mehrere Löcher zu sehen, aus denen Blut quoll.

Was … was sollte ich machen? Ich hatte vorher schon kaum atmen können, aber jetzt hatte ich das Gefühl zu ersticken. Als hätte mein Körper plötzlich vergessen, wie er funktionieren sollte. Ich konnte nicht einmal mehr blinzeln.

Ich wusste, dass ich etwas tun musste. Ich wusste nur nicht was. Papa … er atmete nicht mehr. Und er sagte nichts. Und sein Griff um meine Hand war ganz locker geworden.

Langsam wanderte mein Blick zu den Banditen hinüber. Sie waren die Einzigen, die sich noch bewegten, um die Taschen der Leute aus unserer Gruppe zu durchsuchen. Mama lag zwischen ihnen. Sobald mein Blick sie streifte, schaute ich weg, weil ich ihr blutverschmiertes Gesicht nicht sehen wollte, aber … irgendwie wusste ich, dass ich es nie wieder vergessen würde. Ihr Blick sah leer aus. Erschrocken. Wie meiner, vermutlich. Und die Tränen, von denen ich mich gefragt hatte, wo sie waren, rannen nun heiß an meinen Wangen hinab.

»Papa?«, wollte ich sagen. Aber es kam nichts über meine Lippen. Ich rüttelte an ihm, doch er bewegte sich einfach nicht.

»Hey!«

Ich zuckte zusammen.

»Die Kleine lebt ja noch!«

Ich hatte das Gefühl, mein Herz hörte auf zu schlagen, als die Plünderer sich mir zuwandten. Ich sollte aufstehen und in den Wald flüchten. Aber ich konnte nicht. Es fühlte sich nicht an, als wären meine Beine noch da.

Der schmächtige Kerl mit seiner kaputten Kleidung richtete seine Pistole auf mich. Ich zuckte zusammen, als er den Abzug betätigte. Ich erwartete, jeden Moment von einem Schuss getroffen zu werden. Aber der Knall blieb aus.

Er schüttelte die Waffe irritiert, schlug dagegen und drückte den Abzug abermals. Doch nichts geschah. Als er ihn ein weiteres Mal betätigte, sprang die Pistole in tausend Stücke. Mit einem Schrei ging der Dieb zu Boden und hielt sich die Hände vors Gesicht. Die Schmerzenslaute, die er ausstieß, fuhren mir durch Mark und Bein.

Was war passiert? Ich starrte ihn nur an, obwohl mir klar war, dass das meine Chance war. Ich musste fliehen! Ich musste einfach, aber … konnte ich meine Eltern zurücklassen? Ich musste sie doch mitnehmen!

Erst als die anderen drei Kerle auf mich zukamen, schaffte ich es endlich, mich auf meine wackeligen Beine zu hieven. Mein Herz schlug so schnell wie das einer Maus.

»Hey, Kleine!«, rief der mit dem großen Stein.

Ich wich weiter zurück. Als er einen Satz auf mich zumachen wollte, um nach mir zu greifen, stolperte er über seine eigenen Füße und fiel zu Boden.

»Was zum Teufel«, keuchte er, das Gesicht und die Hände voller Schlamm und Blut. »Scheiße!«, schrie er und griff an seinen Knöchel.

Der Einschlag einer Bombe in der nahe gelegenen Stadt erschütterte die Erde und brachte die Bäume zum Wackeln. Der Mann mit der großen Waffe richtete diese direkt auf mich … als plötzlich jemand zwischen uns auftauchte.

Es war, als wenn der Raum sich um ihn ein Stück verbog. Als würde die Luft um ihn herum anders funktionieren. Ich sah nur seinen Rücken, erkannte aber, dass es ein junger Mann war. Ein Augenblinzeln später stand er neben dem bewaffneten Kerl, nahm ihm sein Gewehr nahezu sanft aus der Hand und verbog es, bis auch dieses in tausend Teile zerbrach. Wie eingefroren stand ich da, als der Mann einen Banditen nach dem anderen packte und in den Wald schleuderte. Die, die ich noch sah, blieben regungslos im Gras liegen.

Was passierte da? Ich versuchte, dem Geschehen zu folgen, aber nicht nur, dass die Tränen meine Augen verschleierten … sie waren auch einfach nicht schnell genug.

Und als er sich wieder mir zuwandte, zitterte ich am ganzen Körper.

Der junge Mann mit den weichen Zügen und den lockigen Haaren wirkte zerzaust und trug nicht einmal Schuhe. Eine Schicht aus Asche und Staub bedeckte seine dünne Kleidung, und seine Hände und Arme hatten einige Verletzungen, die schlimm aussahen.

Aber ich starrte ihn aus einem anderen Grund an, ohne zu blinzeln: Er musste ein Cosmic sein.

Hatte er mich beschützt, oder würde er jetzt mich angreifen? Mir war klar, dass ich rennen sollte. Aber ich würde wohl nicht schnell genug sein und … es ging eine so seltsame Energie von ihm aus, als er mich ansah und lächelte. Ich erwiderte seinen Blick und alles in mir wurde still. Ein warmes Gefühl machte sich in meinem Inneren breit. Ich verstand es nicht.

In normaler Geschwindigkeit kam er auf mich zu. »Du hattest Glück«, sagte er und bückte sich, um mich anzusehen.

Ich sollte mich bedanken. Aber nichts als Fragen strömten meinen Kopf. Wie hatte er das gemacht? Warum war er so unfassbar schnell und war trotzdem zu spät gekommen? Und warum um alles in der Welt konnte ich so etwas nicht? Wenn ich wie er wäre, hätte ich meine Eltern retten können. Einfach so.

Die Tränen brannten auf meinen Wangen, aber kein Laut kam über meine zitternden Lippen.

Wie leicht es ihm gefallen war, die Banditen zu besiegen. Als hätte es ihn gar keine Anstrengung gekostet.

»Geht es dir gut?«, wollte der Fremde wissen. Ein sanftes Lächeln umspielte seine Züge, aber als ich versuchte, es zu erwidern, konnte ich nicht mehr an mich halten. Ich konnte das Schluchzen nicht unterdrücken. Ich wollte gar nicht weinen. Ich wollte, dass das alles nicht wahr war. Ich wollte einfach aus diesem Albtraum aufwachen.

Der Fremde schloss mich sacht in seine Arme. Seine Haut war warm. »Mein Name ist Jax«, sagte er leise, als er mich hochnahm und aufstand. Ein weiterer Bombeneinschlag erschütterte die Gegend. Jax legte seine Hand auf meinen Kopf und drückte mich an sich. »Ich bringe dich zu einem Evakuierungsteam«, sagte er leise. Dann ging ein Ruck durch meinen Körper und als ich wieder blinzelte, befanden wir uns außerhalb des Waldes. Hunderte Soldaten und Menschen versammelten sich hier.

Er setzte mich ab, aber ich hatte nicht die Kraft, auf eigenen Beinen zu stehen. Ich hörte gar nicht, was er sagte.

Ich war zu schwach.

Wenn ich nur so sein könnte wie er und die Cosmics.

Dann wäre alles so leicht.

KAPITEL 1

09.06.2082, DIE FAHRT EINES SOMMERMÄDCHENS ZWISCHEN SOLDATEN

»Ich wusste gar nicht, dass die Kindergartenkinder in die Quellbereiche lassen.«

Der dunkle Wald um Warna zog vor den Fenstern des schwarzen Land Rovers vorbei, in dem ich mit sechs Männern und Frauen Platz genommen hatte. Ich warf dem Kerl mir gegenüber ein desinteressiertes Lächeln zu. Er war nicht der Erste, der meinte, eine unlustige Bemerkung über mein Alter machen zu müssen, und er würde nicht der Letzte sein.

In meiner leichten Sommerkleidung – eine kurze Hose, ein dünnes Top und eine Sonnenbrille – fühlte ich mich zwischen den voll ausgerüsteten Sicherheitsleuten zwar tatsächlich etwas fehl am Platz, aber das war ein Gefühl, an das ich mich inzwischen gewöhnt hatte.

»Und wie alt bist du?«, spottete ich leise. »Fünfzig? Hast du so lange gebraucht, um dein Zertifikat zu bekommen?« Ich hatte keine Lust auf dieses Geplänkel. Ich wollte nur meinen Job machen, mein Geld einkassieren und wieder zurück nach Warna. Aber im Laufe der letzten Jahre hatte ich gelernt, dass man sich nicht vor jeder sozialen Interaktion drücken konnte.

Leider.

Der bärtige Kerl zog überrascht die Augenbrauen hoch und verschränkte die Arme vor der muskelbepackten Brust. »Schlagfertig, hm?«

»Ich bin siebzehn, falls es dich interessiert«, setzte ich etwas versöhnlicher fort, um das Gespräch zu beenden. Dabei fasste ich meine langen Haare zu einem Zopf zusammen, weil sie sonst an meiner verschwitzten Haut klebten.

»Und ich bin neununddreißig.«

»Alle alten Menschen sehen für mich gleich aus, sorry«, witzelte ich und er grinste breit.

»Und was machen so hübsche, junge Mädchen wie du in den Wäldern?«

Hübsch? Der Kommentar verwunderte mich eher, als dass er mir schmeichelte, weil ich nicht glaubte, dass mich jemals jemand so bezeichnet hatte. Dunkle Haare, karamellfarbene Augen, mittelbraune Haut, nicht besonders groß, eher weiche Gesichtszüge. Durchschnittlich, schätzte ich. Das war auch alles, was ich sein wollte.

»Geld verdienen«, antwortete ich also trocken und beschloss, den Rest seiner Bemerkung zu übergehen. Mit einem Nicken wandte er sich ab und ich zupfte an meinem hellen Blumentop, um mir ein bisschen Luft zuzufächeln. Hoffentlich kämen wir bald aus dieser fahrenden Sauna raus.

Mich nicht an den Dresscode halten zu müssen, war der einzige Vorteil, dem Team noch nicht offiziell anzugehören. Es war mir lieber, barfuß durch das Gras und locker bekleidet durch die Sonne zu spazieren, als mit zehn Kilo Ausrüstung am Leib, wie die anderen hier. Auch wenn ich im Austausch für ein Jahresgehalt darauf zu verzichten bereit wäre.

Die holprige Straße, auf der wir fuhren, war breit genug, sodass die Strahlen der Mittagssonne zwischen den Baumkronen hindurch auf den Boden fallen konnten. Die Riesen rechts und links von uns standen wie immer in voller Blüte. In diesem ewigen Frühling, in dem sich die Quellbereiche inzwischen befanden.

Ich erinnerte mich daran, wie viel Angst ich als Kind vor diesen Orten gehabt hatte. Vor ihrer Andersartigkeit, ihren Geschöpfen, ihrer Dunkelheit. Inzwischen fühlte sich jeder Ausflug an wie nach Hause kommen. Als spürte ein Teil meines Körpers, dass ich eigentlich hierhergehörte.

Der Wald war jedes Mal ein wenig anders, wenn ich ihn betrat. Selbst wenn zwischen meinen Einsätzen meist nur wenige Tage lagen. Manchmal änderten die Blüten ihre Farben oder die Straße verschob sich oder es tauchten Wege an Stellen auf, an denen vorher keine gewesen waren. Sogar Kompasse funktionierten nicht immer.

Forschungsteams vermuteten, dass die veränderten Pflanzen versuchten, Besucher der Wälder so zu verwirren, dass sie nicht mehr hinausfanden. Aber das glaubte ich nicht. Ich nahm die Energie dieser Natur eher als verspielt wahr; selbst wenn ich Stunden allein zu Fuß unterwegs gewesen war, hatte ich stets den Weg zurückgefunden. Und ich würde mich immer daran erinnern, wie die Lichter in der Dunkelheit mir als Kind manchmal den Weg gewiesen hatten, wenn ich in Schwierigkeiten gewesen war.

Dieser Ort war weder so böse noch so gefährlich, wie alle sagten.

Manchmal fragte ich mich, warum ich mir überhaupt noch die Mühe machte, in die Stadt zurückzukehren. Meine kläglichen Versuche, ein normales Leben zu führen, waren doch sowieso zum Scheitern verurteilt.

Um mich von den deprimierenden Gedanken abzulenken, zog ich mein altmodisches Handy aus der Tasche, öffnete die Bioscanner-App und warf damit einen Blick auf die Umgebung. In den Quellbereichen, wie hier, gab sie im Grunde nur Störsignale an. Einzig die Objekte und Lebewesen, die sich noch nicht lange in den Wäldern aufhielten, wurden als gewöhnliche, weiße Punkte dargestellt.

»Könnt ihr nach der Wartung vielleicht zehn Minuten auf mich warten?«, fragte ich an die Gruppe gewandt, ohne meinen Blick zu heben.

»Hast du wieder drei Extra-Aufträge?«, wollte Sam wissen, der neben mir saß. Hätte ich gewusst, dass er bei diesem Einsatz dabei sein würde, hätte ich meine Schicht verschoben. Er strengte sich einfach zu sehr an, sich mit mir anzufreunden. Dabei waren mir Menschen lieber, wenn sie mich ignorierten. »Sag schon«, forderte er und stupste mich mit dem Ellbogen an. »Drei weitere Aufträge? Oder sind es heute mehr?«

Ich riss mich endlich von der App los und schaute zu ihm auf, warf ihm ein sarkastisches Lächeln zu. Der junge Mann mit dem blonden Haar, der braun gebrannten Haut und dem schnittigen Gesicht grinste herausfordernd. Seine Muskeln waren selbst unter der Schutzkleidung zu erkennen. Die grünen Augen funkelten belustigt.

»Nein, heute nur einen«, verteidigte ich mich. Sam war kein schlechter Kerl. Wir hatten schon einige Einsätze zusammen in den Wäldern bestritten und sie waren immer reibungslos verlaufen. Deswegen tat es mir ein wenig weh, so abweisend sein zu müssen. Aber er war mir einfach zu nett.

»Entlaufenes Haustier?«, wollte er wissen, ruckte mit dem Kinn in Richtung der Bioscanner-App und ich nickte.

So kleine Aufträge brachten zwar nicht sonderlich viele Punkte für das Zertifikat, das ich brauchte, wenn ich einmal den Berufseinheiten angehören wollte – aber es war besser als nichts. Ich war inzwischen in der ganzen Nachbarschaft dafür bekannt, dass ich so ziemlich jeden Auftrag annahm, der mir angeboten wurde. Egal wie gefährlich oder langweilig er war.

Ich konnte es nicht erwarten, bald anständig dafür bezahlt zu werden. Das war der beste Kompromiss, den ich für mein Leben hatte finden können. Wenn ich als Einsatzkraft in den Quellbereichen arbeitete, könnte ich mich hier so viel wie möglich aufhalten und trotzdem ein halbwegs funktionierendes Mitglied der Gesellschaft sein.

»Was für ein Tier?«, wollte der Bärtige mir gegenüber wissen.

»Ein Kater namens Bob«, erklärte ich, worauf Sam und die anderen schnaubten. Auch auf mein Gesicht schlich sich ein ehrliches Lächeln. »Ist doch ein super Name für eine Katze.«

Die Mitglieder und ich saßen einander in zwei Reihen gegenüber. Drei Leute auf meiner Seite und vier auf der gegenüberliegenden. Nur der Fahrer saß vorn, durch eine Glasscheibe von uns getrennt. Der Rover, der hinter uns fuhr, war ebenfalls voll besetzt.

»Aber im Ernst«, setzte ich wieder an, nachdem alle sich beruhigt hatten. »Ich brauche nur zehn Minuten. Laut der App befindet der Kater sich in der Nähe der Anlage.«

»Schon gut, schon gut«, mischte Hannah sich in lockerem Tonfall ein, richtete ihre Schutzweste und festigte den Griff um das schwere Gewehr, das sie bei sich trug. Die Leiterin des Einsatzes hatte dunkle Haut, trug einen streng zusammengebundenen Zopf aus dickem, schwarzem Haar und musterte mich aufmerksam. »Aber beeil dich, ja? Ich will niemanden unnötig in Gefahr bringen. Jede Minute hier draußen ist ein Risiko.«

»Vielen Dank. Und klar«, versicherte ich und richtete meinen Blick erneut aus der staubigen Frontscheibe. Ein Reh mit leuchtendem Geweih am Rand des Weges erregte meine Aufmerksamkeit. Sein Fell war weiß, die Augen schwarz und die Beine ganz dünn. Zerbrechlich wie Äste.

Es sah das Auto überaus aufmerksam an. Der Fahrer verlangsamte sein Tempo etwas, aber es schien kein Interesse daran zu haben, die Straße zu überqueren.

Nach einigen Sekunden verschwand es im Wald.

Ich folgte ihm mit den Blicken. Der Raum zwischen den von Blüten und Laub behangenen Bäumen war an einigen Stellen dunkler als in gewöhnlichen Wäldern. Die Finsternis zwischen ihnen war so dicht, als wäre sie eine eigene Materie, die zwischen den Riesen waberte. Sie wurde nur durchbrochen von blauen oder weißen Lichtern, die manche Tiere und Pflanzen absonderten.

Das leuchtende Geweih des Rehs war schon bald nicht mehr zu sehen.

Als der Land Rover auf die Lichtung mit der Anlage einbog, war ich gerade damit beschäftigt, meinen rechten Arm von den dicken Bandagen zu befreien. Die blauen Muster, die sich im Laufe der letzten Jahre von meiner Handinnenfläche bis zu meinem Oberarm ausgebreitet hatten, sonderten ein leichtes Leuchten ab, das im Dunkeln viel heller war. Für Menschen war dieser Anblick oft erschreckend, deswegen verdeckte ich meinen Arm in der Stadt. Aber hier in den Wäldern, umringt von Cosmics, war es in Ordnung.

»Also, Leute«, setzte Hannah an und die Männer und Frauen um mich herum regten sich, um sich bereit zum Aussteigen zu machen. »Ihr kennt den Ablauf und die Arbeitsverteilung ja. Sam, du warst die letzten Male nicht dabei. Willst du im Wartungsteam oder bei den Aufpassern sein?«

Er lachte und festigte seinen Griff um den Helm. »Ist doch wie Fahrradfahren«, säuselte er. »Ich kann gern mit an die Generatoren.«

»Schießen kann der eh nicht«, kommentierte einer seiner Kollegen und verhaltenes Gelächter setzte ein.

»Na gut«, unterbrach Hannah das Geplänkel. »Dann wie immer: raus aus dem Auto, Stellung beziehen und wieder rein. Cora.« Ihr Blick wanderte zu mir und ich lauschte. »Wenn du länger brauchst: Wir warten maximal fünfzehn Minuten auf dich. Sonst musst du mit der nächsten Eskorte zurück.«

»Geht klar.« Das war mir schon einige Male passiert und nicht weiter schlimm. Ich würde dann nur zu spät zu meinem Job im Laden kommen.

»Heute haben wir keinen Cosmic dabei, der Angriffs- oder Verteidigungsfähigkeiten hat. Also ist zusätzliche Vorsicht geboten.«

Ich sagte nichts dazu, obwohl ich das ziemlich waghalsig fand. Mit Gewehren konnte man nicht immer gegen die veränderten Wesen ankommen, wenn es hart auf hart käme. Aber ich musste diese Entscheidungen zum Glück auch nicht treffen.

»Wie immer: Effizienz, aber keine Hast bei den Wartungsarbeiten. Wir wollen hier so schnell wie möglich wieder raus, aber wir wollen auch keine Flüchtigkeitsfehler begehen. Selbst kleine Schäden am Gebäude, die durch die Strahlung entstanden sind, können die Generatoren beeinflussen. Schäden, die bis zu unserem nächsten Besuch hier eventuell verheerende Folgen haben könnten, selbst wenn sie jetzt noch nichtig erscheinen sollten. Also meldet wie immer auch Beobachtungen und Auffälligkeiten, die auf den ersten Blick eventuell harmlos wirken.«

»Geht klar, Boss«, murmelte ich mit den anderen im Chor und blickte zur Anlage. Sie bestand aus einem behelfsmäßig errichteten Gebäude, an das zehn Bauwerke angeschlossen waren, die an die Cosmic Balance Gates über den Städten erinnerten: sichelförmige Gebilde aus glänzendem Metall. Nur dass die Cosmic Balance Gates über den Städten, die es noch gab, weit über die Wolkenkratzer hinausragten.

Diese hier waren nur etwa acht Meter hoch. Trotzdem erfüllten sie ihren Zweck: Man konnte die Veränderung der Umgebung durch die Quellstrahlung zwar nicht rückgängig machen, aber die Balance Gates neutralisierten die Strahlung und brachten die Veränderung zum Stillstand. Dieser Prozess dauerte zwar einige Jahre, aber danach konnten Menschen diese Zonen wieder bewohnen. In vielen Bereichen der Welt waren damit schon gute Erfolge erzielt worden. Die Instandhaltung dieser Anlagen konnte allerdings nur von Cosmics oder Immunen durchgeführt werden.

Cosmics waren sowieso schon verstrahlt. Das war der Grund für die seltsamen Fähigkeiten, die sie besaßen. Die Chance, dass ein Mensch den Kontakt mit der Quellstrahlung überlebte und Cosmic Powers entwickelte, lag allerdings nur bei zwanzig Prozent. Die anderen starben einfach. Das hatte mein Vater mir schon eingebläut, als ich noch ein kleines Kind gewesen war.

Was mich nie davon abgehalten hatte, in die Quellbereiche zu flüchten, wenn die Welt mir zu chaotisch, zu laut oder zu kaputt gewesen war. Ich hatte erst sehr spät realisiert, dass ich einer der wenigen Menschen war, die immun gegen die Strahlung waren.

Der Wagen hielt auf dem Gras, das sich bewegte, als befände es sich unter Wasser. Die hinteren Teammitglieder öffneten die Doppeltür und nach und nach stiegen alle aus. Die Mitglieder aus dem zweiten Rover vollführten diese Bewegungen fast synchron.

»Sieht ganz gut aus«, kommentierte Hannah und ging raschen Schrittes auf die Anlage zu. Das Hauptgebäude vor uns war für die Stromzufuhr und die Steuerung der Tore zuständig. Es sah jedes Mal ein wenig anders aus, wenn ich hier war. Als würde der Stein sich von Woche zu Woche einen Hauch bläulicher färben. Inzwischen wucherten pinke und gelbe Blumen mit Hunderten von Blüten an den tristen Wänden empor.

Offensichtliche Schäden waren allerdings nicht zu erkennen. Und ich hatte den Eindruck, dass die Gates ihre Arbeit noch ausführten, denn der Bereich rundherum sah nahezu gewöhnlich aus. Weit entfernt von der wirren Düsternis in den Tiefen der Quellbereiche, die eher an Träume als an die Wirklichkeit erinnerten.

Alle aus dem Team folgten Hannah, während ich ein paar Schritte hinter ihnen blieb, um mich im Quellbereich einzufinden. Für mich waren diese Orte eine unheimliche, magische Welt, die ich am liebsten für immer erkunden würde. Wie ein Blick auf etwas, das größer war als wir Menschen. Etwas, das wir nicht verstehen konnten, egal wie sehr wir es versuchten.

Das Zwitschern der Vögel klang schön, aber auch ein wenig verzerrt. Als sängen sie hier einige Töne zu hoch und ganz andere Lieder als ihre Brüder und Schwestern in den gereinigten Gebieten. Ihre Laute erfüllten die Ruhe, die sonst über der windstillen Lichtung lag.

»Die Gates funktionieren einwandfrei, wenn man den Daten der Zentrale glauben kann«, fuhr Hannah mit ihrem Briefing fort. »Bastian, du überprüfst die Stromversorgung im Haus. Susan und Sam messen, ob die Veränderung ins Gebäude vorgedrungen ist und an welchen Stellen sich Lecks befinden, die wir schließen müssen. Je länger wir die Strahlung draußen halten können, desto besser. Die anderen schnappen sich Leitern und untersuchen die Gates mit den bereitliegenden Scannern. Das Protokoll kennt ihr ja. In Ordnung?«

»In Ordnung«, erwiderten alle im Chor und steuerten auf die große Stahltür des Verwaltungsgebäudes zu.

Dass die Anlage weiterhin fehlerfrei funktionierte, erfüllte mich mit einem kleinen Hoffnungsschimmer. Wenn die Strahlung in diesem Bereich nicht mehr so hoch war, bestand eine Chance darauf, dass der Kater, den ich suchte, sich nicht verändert hatte. Sofern er sich die ganze Zeit in der Nähe herumgetrieben hatte. Das erhöhte die Wahrscheinlichkeit, dass ich den Auftrag erfolgreich abschließen konnte. Wenn Bob zu einem zwei Meter großen Monster geworden war, könnte ich ihn nicht zurück in die Stadt nehmen.

»Hey Cora, nicht träumen«, sagte Sam neben mir. Irgendwas an seinem Satz löste einen kleinen Schmerz in mir aus, aber ich wusste nicht genau, warum.

»Schon klar, du Profi«, grummelte ich. Hoffentlich würde er mich nicht fragen, warum ich seine Nachrichten ignoriert hatte. Die »keine Zeit«-Ausrede würde nicht ewig funktionieren.

Hannah und einer ihrer Kollegen öffneten das schwere Tor. Es war nicht verschlossen, immerhin konnte sich kaum jemand in diesen Bereich der Welt begeben.

»Das neue Semester an der Akademie beginnt in weniger als zwei Wochen«, setzte Sam an und ich verkniff mir ein erleichtertes Aufatmen. »Die neuen Studierenden werden dann zum Üben hierher geschickt, um praktische Erfahrung zu sammeln. Wenn wir uns gut anstellen, wählt Hannah uns vielleicht als Mentoren aus.«

»Ich gehöre dem Team noch gar nicht offiziell an«, erinnerte ich ihn. Hoffentlich beeilten sich die anderen mit dem Tor, damit ich das Gespräch nicht weiterführen musste. »Und ich bin kein Cosmic«, fuhr ich fort. »Ich denke nicht, dass ich denen aus der Akademie eine Hilfe wäre.«

»Ach, ich kann auch nichts Krasses.« Wir wurden etwas langsamer, während die ersten Mitglieder den Innenbereich des Gebäudes sicherten.

»Unsichtbar sein ist doch der Wahnsinn«, sagte ich mit gerunzelter Stirn. Wie oft ich mir diese Fähigkeit wünschte … Oder irgendeine andere Cosmic Power. Egal welche.

»Das ist es echt nur am Anfang.« Sam verlangsamte sein Tempo und berührte mich sacht am Arm, um mich zum Stehenbleiben aufzufordern.

Oh nein, bitte nicht. Ich sah aus dem Augenwinkel zu Hannah hinüber und hoffte so sehr, dass sie weitere Anweisungen geben und seinen Versuch, mit mir zu reden, unterbrechen würde. Aber sie sah uns gar nicht an.

»Sag mal … Ist alles gut bei dir?«, wollte Sam wissen und bedachte mich mit einem milden Lächeln, das ich leider nicht erwidern konnte. Ein unangenehmer Schauer überlief mich von oben bis unten. »Ich hab dir geschrieben, aber du hast nicht geantwortet.«

Verdammt, warum wollte er überhaupt darüber reden? War mein Schweigen nicht Antwort genug? Wir hatten uns erst ein paar Mal während der Einsätze gesehen und ich hatte nicht das Gefühl, dass ich ihm eine Erklärung schuldete.

Aber das konnte ich ihm ja schlecht sagen.

»Sorry, das kam falsch rüber, ich will dich auch zu nichts drängen oder so, aber …« Er legte den Kopf schief und setzte ein entwaffnendes Lächeln auf. »Ich bin den ganzen Tag auf Einsätzen, seit ich nach Warna gezogen bin. Ich hab deswegen nicht wirklich Freunde oder so.« Er deutete auf mich und ihn. »Und wir verstehen uns ganz gut, also dachte ich, wir könnten mal zusammen abhängen. Einen Filmabend machen oder …« Er zuckte mit den Schultern. »Was man eben so macht.«

Er wollte also jetzt eine Antwort von mir. Hätte ich ihm meine Nummer nie gegeben, hätte ich dieses Gespräch schon hinter mir. Aber ich hatte es damals nur aufgeschoben.

Mein Herzschlag beschleunigte sich, dabei war das hier nur eine Kleinigkeit. Ich ärgerte mich darüber, wie mein Körper auf diese unangenehme Situation reagierte.

Ich musste es noch mal mit meiner Standardausrede versuchen. »Ja, tut mir leid, ich … hab einfach nur echt viel zu tun.« Ich trat einen Schritt zurück und beobachtete jede Regung auf seinem Gesicht ganz genau. Er schien die Enttäuschung, die sich auf seinen Zügen ausbreitete, verbergen zu wollen. »Ich hab drei Jobs«, fügte ich daher an. »Manchmal vier. Da ist nicht viel mit Freizeit.«

Das war zumindest nicht gelogen. Und wenn er sich damit zufriedengäbe, müsste ich gar nicht an den Punkt gelangen, ihm sagen zu müssen, dass er für mich einfach zu nett war. Das war ja nicht sein Problem, sondern meins. Menschen, die freundlich zu mir waren, bereiteten mir Unbehagen. Als hätten sie Ansprüche an mich, die ich nicht erfüllen konnte.

Sam kannte mich nicht. Ihm war nicht klar, dass ich Unglück brachte. Er würde es vielleicht irgendwann herausfinden, wenn wir lange genug zusammen arbeiteten.

»Ist das ein Korb?«, fragte er vorsichtig. Sein Gesichtsausdruck war so voller Einfühlsamkeit und Verletzlichkeit, dass es mir wehtat. Was mich wiederum nervte. Wir kannten uns doch gar nicht! Ich war ihm nicht schuldig, mich schlecht zu fühlen, weil ich keine Zeit mit ihm verbringen wollte.

Warum musste immer alles so kompliziert sein?

Ich senkte meine Stimme noch weiter, weil einige der anderen sich zu uns umschauten. »Na ja, ich … hab momentan nicht wirklich Zeit für Freundschaften«, rang ich mir ab. Wenn er mich weiter so verzweifelt anblickte, würde ich einfach gehen. »Das ist ’ne generelle Sache«, tat ich es ab. »Das hat wirklich nichts mit dir zu tun.« Alles in mir schrie, so sehr wollte ich dieser Situation entfliehen.

War es jetzt endlich vorbei?

Sam hob die Augenbrauen und nickte langsam. »Oh, ähm … Klar. Sorry, ich wollte dich auch nicht drängen.«

»Ach, gar nicht schlimm«, wehrte ich abermals ab. Obwohl es schlimm war. Aber ihm das zu zeigen, würde nur offenbaren, was für ein dysfunktionaler Mensch ich war. Freundschaften waren nichts für mich. Das hatte nie gut geendet und das würde es auch nie. Damit musste ich mich abfinden, auch wenn es wehtat.

Irgendwann würde es das nicht mehr.

Ich rieb die Hände aneinander, weil ich nicht wusste, was ich mit ihnen anstellen sollte.

»Wollt ihr heute auch arbeiten, oder …?«

Ich zuckte beim Klang von Hannahs strenger Stimme zusammen und setzte mich sofort in Bewegung. Eine Welle der Erleichterung durchströmte mich.

»Ja, sorry«, entschuldigte ich mich schnell und warf Sam einen auffordernden Blick zu, den er mit einem Lächeln erwiderte.

KAPITEL 2

09.06.2082, DIE SUCHE NACH EINEM KATER ZWISCHEN BLUMEN

Die Leiter am Cosmic Balance Gate wackelte gefährlich, als ich mich auf der obersten Stufe auf die Zehenspitzen stellte, um meinen Scanner an das Gerät zu halten. Die Sonne brannte unerbittlich auf uns herab und ich war froh, meine dünne Kleidung zu tragen. Ein wenig schwindlig wurde mir von hier aus schon, wenn ich es wagte, meinen Blick zu Boden zu richten. Aber es war nicht halb so unangenehm wie Sam zu sagen, dass ich nicht mit ihm befreundet sein ­wollte. Ich fühlte mich hier oben vergleichsweise wohl. Den schlimmsten Teil dieses Tages hatte ich damit also hoffentlich hinter mir.

Das grüne Leuchten auf dem klobigen Scanner in meinen schwitzigen Händen bestätigte mir, dass mit dem Gate alles in Ordnung war, aber ich streckte mich trotzdem ein Stück weiter, wollte noch näher ran, um ganz sicherzugehen.

»Cora!« Sams Stimme ließ mich zusammenzucken und ich hielt mich am überraschend kühlen Metall des Gates fest, um einen festeren Stand zu gewinnen. Ich warf einen Blick nach unten.

Sam stand am Fuß der Leiter und schaute mit in die Hände gestemmten Hüften zu mir auf.

»Wenn du fällst, werden die Punkte von deinem Zertifikat abgezogen. Willst du das Risiko echt eingehen?« Er hatte ein verschmitztes Lächeln aufgesetzt, das ich dieses Mal ehrlich erwidern konnte. Offenbar hatte er sich von meinem Korb erholt.

»Sagt der Kerl, der seinen Helm nicht trägt!«, ging ich auf seine spielerische Provokation ein.

»Sagt das Mädel, das barfuß auf der kleinsten Leiter steht.« Ich verzog das Gesicht zu einer ironischen Grimasse und wollte mich wieder umdrehen. Mädel. Etwas störte mich an dem Begriff. Sam hob allerdings die Hände, um meine Aufmerksamkeit noch einmal auf sich zu ziehen. »Ich bin fertig, also lass mich das machen. Such schon mal deine Katze.«

»Keine Chance«, rief ich. »Ich brauch das Geld.«

Sam lachte tief. »Komm schon, wir schaffen das allein. Und umso schneller sind wir zu Hause.« Ich wollte widersprechen, aber er wehrte bereits ab. »Keine Sorge, ich trag dich Vollzeit ein.« Er warf den anderen einen Blick zu, die alle entspannt nickten. Sogar Hannah, die vor der metallenen Doppeltür des Verwaltungsgebäudes Stellung bezogen hatte, stimmte ihm schweigend zu.

Ein Seufzen auf den Lippen nickte ich schließlich. »Na gut.« Er hatte ja recht. Je schneller wir hier fertig waren, desto früher konnte ich meine Schicht im Laden beginnen. Es gefiel mir nur nicht, behandelt zu werden, als würde man mir helfen müssen. Aber vermutlich meinte er es gar nicht so.

Nachdem ich die wackeligen Stufen hinabgestiegen war, reichte ich Sam den Scanner und ruckte mit dem Kopf leicht in Hannahs Richtung. »Sicher, dass sie das okay findet?«

»Klar, du kennst sie doch. Sicherheit geht vor. Wenn wir unsere Effizienz steigern, geht’s schneller. Und sie mag dich, also mach dir keine Gedanken.«

Hannah mochte mich? Den Eindruck hatte ich bisher nicht gehabt, aber ich war auch nicht sonderlich gut darin, so etwas zu erkennen.

Ich ließ seine Worte kurz wirken, dann nickte ich schließlich und griff in meine Hosentasche. Die Bioscanner-App lief noch auf dem Handy und ein kleiner Punkt mitten im Wald, einige Dutzend Meter entfernt, war hoffentlich der Kater, den ich suchte.

Ich entfernte mich einen Schritt und sah Sam gar nicht mehr an, als ich sagte: »Na gut. Ich bin hoffentlich gleich wieder da.«

»Willst du keinen Käfig mitnehmen?«

»Das wird schon gehen«, versicherte ich ihm, dann wandte ich ihm und der Anlage den Rücken zu und ging zum Rand der Lichtung. Bisher hatte es immer funktioniert.

Sobald ich in den Schatten trat, brannte meine Haut nicht mehr. Dieser Bereich des Waldes war nicht so dunkel wie der auf der anderen Seite der Straße. Hier brach das Licht des späten Morgens durch die Baumkronen, sodass der Waldboden übersät war mit Blumen und Blüten jedweder Farbe und Form.

Schon nach wenigen Sekunden waren die Stimmen und Rufe der Soldaten hinter mir verklungen, als schützte der Wald sich selbst vor äußeren Einflüssen. Wie durch eine unsichtbare Wand, die man durchquerte, sobald man ihn betrat. Hier zu sein fühlte sich an, als könnte mein Körper und Geist aufatmen. Ruhe nahm mich ein, sobald es still um mich geworden war. All die Sorgen, Zweifel und Ängste ließ ich hinter mir zurück. Wie nach Hause kommen. Ein Zuhause, das ich sonst nicht hatte.

Es fiel mir immer noch schwer, mich mit der App zu orientieren, weil die Störsignale hin und wieder auch den Punkt überdeckten, der mir vermutlich die Position des Katers anzeigte. Das war hoffentlich kein schlechtes Zeichen.

Neben meinem Handy richtete ich meinen Blick außerdem sorgfältig auf meine Füße, um keine Blumen niederzutreten, die sich in meinem Weg befanden. Der süße Geruch, den sie verströmten, hatte etwas zusätzlich Beruhigendes. Vielleicht, weil ich so viele Erinnerungen mit ihm verband. Mit der lauen Wärme des Frühlings, den die Wälder auf der ganzen Welt inzwischen verströmten. Selbst das Atmen schien hier leichter.

Erst als ich dem Punkt auf meinem Bildschirm sehr nahe gekommen war, hob ich meinen Blick, um die Umgebung zu betrachten. Die Blumenwiese vor mir sah aus wie aus einem Traum. Eine seltsame Schönheit ging von den verschiedenen Blüten und Farben aus, die sich außerhalb der Quellbereiche nie in solcher Dichte oder Vielfalt an einem Ort versammeln würden.

Diese Fremdartigkeit war es auch, die dem Anblick trotz seiner Schönheit etwas Bedrohliches verlieh. Nichts Böses, aber etwas … anderes. Wie der Blick in die Tiefen des Ozeans oder die Weiten des Universums. Etwas unheimlich Großes, das man nicht verstand, egal wie sehr man es versuchte.

Als Kind hatte ich genügend Zeit in den Quellbereichen verbracht, um zu wissen, dass sie unberechenbar waren. Dass sich Pflanzen manchmal als Lebewesen herausstellten, Lebewesen als Pflanzen, und dass Licht, Umgebung und Stimmung sich innerhalb von einem Wimpernschlag verändern konnten. Dieser Ort wollte, dass man ihm Respekt zollte. Verlor man sich in seiner Schönheit, konnte sie sich gegen einen richten. Daran musste ich mich immer wieder erinnern, während ich die Gegend beobachtete, bis mir plötzlich eine Bewegung auffiel.

Einige der Blumen, wenige Meter von mir entfernt, regten sich. Dann erhob sich ein Kopf daraus.

Es war eine Katze. Mit gelben Augen und schwarzem Fell. Mein Herz machte einen erleichterten Sprung und ich bückte mich, als sie mich interessiert betrachtete. Ein Lächeln auf den Lippen schob ich das Handy weg und sah Bob entgegen.

Der kurze Anflug von Euphorie wurde allerdings im Keim erstickt, als der Kater mich ansah und gemächlich auf mich zutrottete. Die filigranen Blüten und Blätter, von denen ich dachte, dass er sie gestreift hatte … sie schienen ein Teil von ihm zu sein. Sie saßen anstelle des Fells auf seinem Kopf, seinem Rücken, seinem Schwanz und an seinen Gliedern. Sie trugen Pastellfarben und die Form von Rosen, Lilien und vielen anderen Blumen, deren Namen ich nicht kannte.

Er hatte sich verändert.

Ich war zu spät gekommen.

Verdammt, ich hätte damit rechnen sollen, aber ich hatte zu viel Hoffnung gehabt. Die Dame hatte bei ihrem Auftrag in der App zwar keine Angaben dazu gemacht, ob sie ihn in diesem Zustand wiederhaben wollte oder nicht, aber aus Erfahrung sanken damit die Chancen rapide, dass ich den Auftrag erfolgreich würde abschließen können.

Ich durfte mich davon aber nicht ablenken lassen. Ich konnte nicht in die Zukunft sehen, also ermahnte ich mich, trotz meiner Sorge alles zu tun, was ich konnte, um das Tier wohlbehalten nach Hause zu bringen.

Der Kater war einige Meter von mir entfernt stehen geblieben und schnupperte angestrengt in meine Richtung, vermutlich um herauszufinden, woran er bei mir war. Bisher wirkte er freundlich, aber das konnte auch täuschen. Ich bemühte mich also, nicht nervös zu wirken und ihn so ruhig wie möglich zu betrachten.

Eine der kleinen, pinken Blüten an seinem Kopf bewegte sich. Innerhalb weniger Sekunden verwelkte sie und löste sich in Staub auf, noch bevor ihre fallenden Blätter den Boden erreichen konnten. Sofort wuchs eine neue, mit einer bläulichen Farbe an derselben Stelle nach.

Wie schön. So etwas hatte ich noch nie in meinem Leben gesehen. Dieses Tier machte einen so gelassenen Eindruck. Ob es wohl an der Strahlung lag? Oder war Bob schon vorher so entspannt gewesen?

Erst nach einigen Momenten gelang es mir, mich aus meinen Beobachtungen zu reißen und eine erste Anstrengung zu unternehmen, mich ihm zu nähern.

»Na du, Kleiner?«, flüsterte ich und schob mich ein Stück an ihn heran. Zu meiner Überraschung machte er keine Anstalten, zurückzuweichen. »Du bist aber hübsch.«

Das war er wirklich. Ich musste vorsichtig sein, weil ich noch nicht erkennen konnte, wie die Blumen auf seinem Fell auf Berührungen reagierten. Wenn ich es schaffte, ihn einzufangen, würde ich ihn in der Schleuse untersuchen und reinigen lassen, damit er keine Strahlung mehr abgab. Dann sollte er sich hoffentlich normal in den Straßen von Warna bewegen können. Sofern die Menschen ihn in Ruhe ließen.

Ich streckte meine Hand aus, um mich vorzustellen. Das gefiel ihm offenbar, denn er kam einige Schritte näher und schnupperte neugierig daran. Dann rieb er seinen Kopf an meinen Fingern. Wie eine gewöhnliche Katze.

Die Stellen, an denen er noch Fell besaß – vor allem im Gesicht –, waren ganz warm und weich. Sein feuchtes Näschen streifte meine Haut. Schnurrte er?

»Du bist ja sehr vertrauensvoll«, flüsterte ich und berührte sacht eine der Blumen an seinem Rücken. Sie unterschied sich nicht von einem gewöhnlichen Blütenblatt und es schien ihn nicht zu stören, dass ich vorsichtig mit meiner Fingerkuppe darüberstrich.

Während Bob schnurrend an meiner freien Hand schnupperte, fuhr ich noch mal über seinen Rücken. Als würde ich mit den Fingern über eine Blumenwiese streichen. Er schnurrte allerdings umso lauter, als ich die Stelle unter seinem Kinn erreichte, an der er noch sein schwarzes Fell trug. Zufrieden rieb er abermals seinen Kopf an mir, dann betrachtete er interessiert die leuchtenden Linien auf meiner Handinnenfläche. Er roch nicht einmal daran, er schaute sie einfach nur an. Eine Gänsehaut breitete sich auf meinen Armen aus, als ich mich für einen Moment fragte, ob er wohl wusste, was es war.

Erst die Erinnerung daran, dass meine Zeit ablief, motivierte mich dazu, weiterzumachen. »Na, willst du mit mir mitkommen?«, murmelte ich. Der Kater machte keinen aggressiven Eindruck, deswegen packte ich ihn vorsichtig unter dem Bauch und hob ihn hoch.

Er versuchte nicht, sich aus meinem Griff zu befreien. Auch nicht, als ich ihn etwas lockerer auf meinem Arm absetzte, um ihn besser halten zu können, und mich dann aufrichtete. Er war gar nicht so groß, wie ich es von einem ausgewachsenen Tier erwartet hatte, also war er auch entsprechend leicht.

Irgendetwas an ihm erinnerte mich an meine Kindheit. An ein Plüschtier, das ich damals besessen hatte. Das unangenehme Ziepen ignorierend, setzte ich mich langsam in Bewegung.

Ich war gemächlich mit Bob auf dem Arm durch den Wald gegangen, bis die Lichtung und die Straße zwischen den Bäumen zu sehen waren. Mir war klar, dass ich keine Zeit verlieren durfte, doch trotz seiner ruhigen Art wollte ich lieber keine hastigen Bewegungen machen.

Und zugegebenermaßen war ich auch noch nicht ganz bereit, mich wieder in die gewöhnliche Welt zurückzubegeben. Zu den Menschen, zurück zu ihren Problemen und Gefühlen. In das Chaos. Aber mir war auch klar, dass ich nichts tun konnte, um das zu verhindern.

Gerade wollte ich mit Bob auf die Lichtung treten, als ein durchdringender Knall die Luft zerriss. Wir beide zuckten zusammen und noch bevor ich ausmachen konnte, woher er gekommen war, erklangen zwei weitere.

Das waren Schüsse! Wurden wir angegriffen? Nein, nein, nein, das war nicht gut. Ich nahm Bob fester in die Arme und blieb für einige Sekunden stehen.

Ich musste klar im Kopf bleiben, das war mir bewusst. Und trotzdem überrollte mich Panik wie fließendes Wasser. Von Kopf bis Fuß breitete sich Gänsehaut auf meinem Körper aus und mein Herz pochte so heftig in meiner Brust, dass es schmerzte.

Das Geräusch von Schüssen ließ diese Bilder vor meinem inneren Auge aufflackern. Brennende Städte. Bombenwerfer über Siedlungen. Armeen, fallende Gates, einstürzende Häuser, Tränen auf staubigen Wangen, schreiende Menschen und …

Nein! Nein, nein, nein, das durfte nicht passieren. Nicht schon wieder! Es kostete mich alles an Energie, das ich besaß, mich aus meiner Starre zu lösen und einen Schritt auf die Lichtung zuzumachen. Dabei war alles, was ich tun wollte, rennen. So wie ich es früher als Kind immer getan hatte.

Ein weiterer Schritt nach vorn, obwohl meine Knie so weich waren, dass ich nicht wusste, ob meine Beine mich noch lange tragen würden. Ich musste mich jetzt zusammenreißen. Ich musste mir einen Überblick verschaffen.

Den Rücken an einen Baum gepresst, wagte ich mich gerade weit genug aus meiner Deckung, um zu erkennen, was bei der Anlage geschah. Eine erneute Welle der Angst flutete mich. Drei Wölfe, wie ich sie noch nie gesehen hatte, hatten meine Kameraden umringt. Sie waren mindestens doppelt, wenn nicht sogar dreimal so groß wie gewöhnliche Tiere ihrer Art, und besaßen ein eigenartig schwarz-weißglitzerndes Fell, das unter der Sonneneinstrahlung holografisch glänzte. Jede ihrer Regungen löste ein Geräusch aus, das ich nicht ganz fassen konnte. Ein Klingeln?

Ein Klingeln, das das Dröhnen der Schüsse, die Schreie und das Knurren untermalte, als ich mich wieder zurücklehnte, um die Augen zu schließen und durchzuatmen.

Mein Herz pochte wie wild. Gab es etwas, das ich tun konnte, um zu helfen? Vermutlich nicht. Nein, vermutlich würde ich es nur schlimmer machen, wenn ich mich der Gruppe näherte. Immerhin hatte ich weder eine Ausrüstung noch Cosmic Powers, um diesen Wesen irgendetwas entgegenzusetzen.

Ich zwang mich, abermals meinen Kopf aus der Deckung zu strecken. Zwei der Teammitglieder standen am Eingang des Gebäudes, die Gewehre auf einen Wolf gerichtet, der mir den Rücken zugewandt hatte. Mit ihren Schüssen konnten sie ihn davon abhalten, sich ihnen zu nähern, auch wenn es nicht so aussah, als würden sie ihm Wunden zufügen.

Ein weiterer stand an einer der Leitern, auf der sich ein Mitglied des Teams befand, das sich nicht verteidigen konnte. Zwei andere versuchten wohl, das Tier davon abzuhalten, die Leiter umzuwerfen.

Der dritte Wolf stand etwas weiter von den anderen weg, fletschte die Zähne und bellte aggressiv.

Was hielt sie davon ab, die Männer und Frauen einfach zu fressen? Hatten sie Angst vor deren Waffen? Die Schüsse schienen doch keinen Effekt auf sie zu haben.

Ich zog mich erneut zurück, drückte den Kater an mich und überlegte hektisch, was ich tun konnte. Es … es musste doch etwas geben! Aber das Knurren ließ mir das Blut in den Adern gefrieren und bei jedem Schuss zuckte ich zusammen.

Hektisch ging ich meine begrenzten Möglichkeiten durch, als Bob plötzlich ein lautes Miauen ausstieß und begann, sich in meinem Arm zu winden. Ich packte ihn fester, aber es gelang ihm trotzdem, sich zu befreien und auf allen vieren zu landen.

Nein! Ich stürzte vor, um ihn zu schnappen, doch er rannte schon los. Und anstatt wegzulaufen, bewegte er sich genau auf das Chaos zu. Viel schneller, als es einer Katze möglich sein sollte.

Verdammter Mist! Einem Reflex folgend sprintete ich ihm hinterher, obwohl meine Beine sich viel zu wackelig dafür anfühlten. Ich konnte nicht zulassen, dass dieses Wesen verletzt oder gefressen wurde.

Bob lief, ohne zu zögern, auf eins der veränderten Tiere zu, das um ein Vielfaches größer war als er. Sogar größer als ein Mensch. Der Wolf, der ein Stück abseits der anderen stand, ruckte mit dem Kopf herum und fixierte den Kater.

Mir blieb keine Zeit! Ich machte einen Satz nach vorn, ließ mich fallen und schloss den Kater in meine Arme. Fest hielt ich ihn am Boden und verdammt, dieses Mal würde ich ihn nicht entkommen lassen.

Der Wolf war nur etwa drei Meter von mir entfernt. Hinter mir befanden sich drei Teammitglieder, unter anderem Sam. Sie alle hielten ihre Waffen im Anschlag, ich hatte es auf dem Weg hierher gesehen. Aber sie würden mir nicht helfen können, oder?

Das gewaltige Tier kam einen Schritt auf uns zu. Noch immer über Bob gebeugt, schaute ich von seinen riesigen Krallen über sein schillerndes Fell bis hinauf zu seinem Gesicht. Ich erkannte nicht viel, bis auf die wütenden Augen und die gebleckten Zähne, weil das Sonnenlicht mich blendete.

Das war mein Ende. Die Schüsse, die die anderen abfeuerten, ignorierte das Wesen komplett. Und während wir einander ansahen, breitete sich eine unbeschreibliche Ruhe in mir aus. Eine Ruhe wie die, die die Quellbereiche auf mich ausübten. Alles um mich herum wurde still. Das Dröhnen der Schüsse und die aufgeregten Schreie meiner Kollegen rückten in den Hintergrund, bis sie nicht mehr als ein Rauschen am Rande meines Bewusstseins waren. Die Wärme des Sonnenlichts umfing mich und die blauen Augen des Tieres nahmen mich gefangen.

»Cora, verschwinde da!«

Sams Stimme riss mich aus meiner Trance und auf einen Schlag schien ich all meine Sinne wiederzuerlangen. Mit einer donnernden Wucht drangen die Geräusche an meine Ohren, als Sam einen Sprung auf uns zu machte und sich zwischen uns und das riesige Tier stellte.

»Nein!«, rief ich erschrocken, doch noch bevor Sam einen Schuss abgeben konnte, machte der Wolf einen Satz und biss in seinen Arm.

Die darauffolgenden Sekunden verliefen wie in Zeitlupe. Sams Schmerzensschreie drangen bis tief in mein Inneres vor. Ich drückte Bob fester an mich, während die anderen Soldaten sich sofort in Bewegung setzten. Diejenigen, die nicht mit den anderen Tieren beschäftigt waren, kamen angelaufen und griffen den Wolf an, der Sams Arm fest im Maul hielt. Ein Knacken war zu hören, das mir das Blut in den Adern gefrieren ließ.

Bob nutzte meine Starre und befreite sich aus meinem Griff, bevor ich es überhaupt bemerkte.

»Nein«, rief ich, als er auf Sam und den Wolf zusetzte. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken, als ich für einen Moment dachte, er wollte ebenfalls auf Sam losgehen. Der Kater hechtete auf ihn zu, sprang an ihm hinauf, hielt sich mit den Krallen an seiner Jacke fest und kämpfte sich zu seiner Schulter vor. Ich konnte nicht schnell genug aufstehen, um es zu verhindern.

Doch sobald Bob auf Sams Schulter angekommen war und Augenkontakt mit dem glitzernden Wolf aufgenommen hatte, hielt dieser inne. So langsam ich konnte, drehte ich den Kopf. Die anderen drei Tiere waren ebenfalls erstarrt, obwohl sie uns zum Teil sogar den Rücken zugewendet hatten. Dann öffnete das Wesen uns gegenüber sehr langsam das Maul, gab Sams Arm frei, neigte den Kopf ein Stück nach unten und trat zurück.

Das Gewehrfeuer erstarb. Für einige Sekunden regte sich niemand. Auch ich wagte es nicht, aus Angst, die kleinste Bewegung könnte diesen überraschenden Waffenstillstand durchbrechen.

Bob gab ein unzufriedenes Murren von sich und der Wolf trat einen weiteren Schritt zurück.

War das … war das Zufall?

Sam war der Erste, der sich rührte. Einen Schmerzenslaut auf den Lippen ließ er das Gewehr fallen und griff mit der nun freien Hand an die Wunde an seinem Unter- und Oberarm, die unkontrolliert blutete. Ich setzte auf ihn zu, um ihn zu stützen. Auf meine Berührung hin sank er in die Knie.

Der Wolf regte sich, aber Bob, noch immer auf Sams Schulter sitzend, murrte abermals und das große Tier hielt abermals still. Nach einigen Sekunden setzten sich einige der Sicherheitsleute in Bewegung. Während sie sich langsam auf uns zuschoben, ließen sie die Wölfe nicht aus den Augen, die Waffen nach wie vor auf sie gerichtet.

Aber die Tiere hielten still.

»Halt durch«, flüsterte ich Sam zu. Wie war er auf die Idee gekommen, sich vor mich zu werfen? Dieser verdammte Held!

Ich fixierte den Wolf, der uns skeptisch und mit gesenktem Kopf anschaute. Bob murrte erneut, dann schaute das Tier ihn ein letztes Mal an und kehrte sich von uns ab. Seine beiden Begleiter folgten seinem Beispiel und trotten auf den Waldrand zu.

Das Klingeln ihres Fells war noch eine ganze Weile lang zu hören. Ich konnte meine Augen nicht von ihren schillernden Rücken abwenden, weil ich nicht glauben konnte, was geschah.

Waren wir in Sicherheit? Mein Herz wollte sich nicht beruhigen und die Anspannung in meinem Körper sich einfach nicht lösen.

Die Teammitglieder erholten sich schneller von dem Schock als ich. Hannah hockte sich neben Sam und zog ihm die Jacke von den Schultern, damit der Sanitäter sich um die Wunde kümmern konnte. Ich sah weg, weil der Anblick des dickflüssigen Blutes Übelkeit in meiner Kehle hervorrief.

Mit zusammengebissenen Zähnen beobachtete ich, wie Bob von Sams Schulter sprang und zu mir trottete. Er wirkte vollkommen entspannt. Eigentlich hatte er das die ganze Zeit getan. Ungewöhnlich für eine Katze. Mit einem letzten mulmigen Blick auf Bob, murmelte ich: »Es tut mir so leid.« Ich rutschte ein Stück zur Seite, um dem Sanitäter Platz zu machen.

Mit routinierten Handgriffen schnürte er den Oberarm ab, um die Blutung zu stoppen.

»Das war nicht deine Schuld«, keuchte Sam zwischen seinen Schmerzenslauten. »Es war einfach ein Reflex.«

Hannah funkelte mich aus ihren dunklen Augen wütend an. »Ich wusste, dass du zu jung dafür bist«, grollte sie. »Was fällt dir ein, dich einzumischen? Das war ein unnötiges Risiko!«

Ihre Worte trafen mich so hart, dass mir schlecht wurde, dabei wusste ich, dass sie recht hatte. Das war unüberlegt gewesen.

»Ich …«, setzte ich an, obwohl ich nicht einmal eine richtige Verteidigung parat hatte.

Sie hob allerdings ihre Hand, um mir Einhalt zu gebieten. »Keine Widerworte. Ich muss das melden.«

Ein eiskalter Schauer überlief mich. »Was? Ich …«, stotterte ich. »Ich hatte schon Dutzende Einsätze, das war das erste Mal, dass …«

»Du wirst dich da nicht rausreden können«, ächzte Hannah, als sie sich schwerfällig aufrichtete, den Griff nach wie vor fest um ihre Waffe geklammert. »Das war absolut unprofessionell.«

Schwer atmend rappelte ich mich ebenfalls auf, Bob wieder auf meinem Arm. »Es tut mir wirklich leid«, versuchte ich es trotz ihrer Warnung weiter und folgte ihr mit einigem Abstand. »Ich wollte nur –«

»Du wolltest den Kater beschützen, schon klar. Aber damit hast du jemanden in Gefahr gebracht.«

»Aber ich wollte doch gar nicht, dass Sam –«

»Cora«, sagte sie laut und wirbelte zu mir herum. Ich blieb auf der Stelle stehen und schaute sie zitternd an. »Ich mache das nicht, um dich zu bestrafen oder um dir eine Lektion zu erteilen, ja? Ich bin nicht deine Mutter oder deine Lehrerin, ich bin deine Vorgesetzte. Ich werde das melden.« Den letzten Satz sprach sie langsam aus, als wollte sie, dass ich ihn wirklich verstand.

Zögerlich nickte ich und schluckte schwer. Dann gab es wohl wirklich nichts, was ich tun konnte, um das zu verhindern. Was für ein verdammter Mist! Ich ballte die Hände zu Fäusten, um die Tränen meiner Frustration zurückzuhalten. »Und dann?«

»Ich treffe keine Entscheidungen darüber, wie es weitergeht«, fuhr sie etwas ruhiger fort. »Das macht die Zentrale.« Sie wiegte den Kopf hin und her. »Kann aber durchaus sein, dass sie dir Punkte von deinem Zertifikat abziehen. Oder …«

»Oder?«

»Oder dass sie dich vorläufig sperren.«

Ich atmete tief ein und aus. Es fehlten mir doch nur noch ein paar Einsätze, dann könnte ich pünktlich an meinem achtzehnten Geburtstag die Bewerbung für das Einsatzteam einreichen und meinen Lebensunterhalt hiermit verdienen. Das war alles, was ich wollte. Wenn ich gesperrt wurde, müsste ich noch Monate darauf warten. Vielleicht Jahre.

»Ist echt nur halb so schlimm«, stöhnte Sam. »Wenn es nach mir geht, müssen wir das nicht melden.«

»Mit so was fangen wir gar nicht erst an«, sagte Hannah streng. Nichts anderes hatte ich von ihr erwartet. »Und dass du diesen Vorschlag überhaupt unterbreitest, Sam …« Sie sah mich an, dann verzog sie den Mund. »Darüber reden wir später.«

Und ich hatte gedacht, das Gespräch mit Sam wäre das Schlimmste, was mir heute passieren konnte …

Hannah deutete auf den Kater in meinem Arm. Ich zuckte bei ihrer plötzlichen Bewegung zusammen. »Und pass auf, dass der nicht wegrennt. Der scheint das Einzige zu sein, was diese Monster davon abgehalten hat, uns alle zu zerfetzen.«

KAPITEL 3

09.06.2082, DIE WORTE EINER ALTEN FRAU IN DER MITTAGSHITZE

Die frühe Nachmittagssonne brannte unerbittlich auf Warna und ihre staubigen Straßen hinab. Seit Wochen hatten sie keinen Regen mehr gesehen. Die hellen Steine der Barockbauten fingen das Licht ein und warfen es in die Gassen zurück. Eine warme Brise trug den salzigen Geruch des Meeres heran und zupfte an meinen Haaren. Bob, der zufrieden auf meiner Schulter saß, hielt seine Nase schnuppernd in die Luft.

Ich wischte den Schweiß von meiner Stirn und schob die Sonnenbrille weiter meine Nase hinauf, als sie wieder hinabzurutschen drohte. Meine Kleidung roch noch nach den Chemikalien der Schleuse, aber der Geruch war wenigstens irgendwie frisch. Zumindest kam er mir so vor.

Wenn ich die ruhige, warme Stimmung der Stadt nur genießen könnte. Aber trotz der Wärme auf meiner Haut fühlte ich mich kalt und gelähmt. Am liebsten hätte ich mich in mein Bett gelegt und mich unter der Decke versteckt.