Springwater - Wo Träume dich verführen - Linda Lael Miller - E-Book

Springwater - Wo Träume dich verführen E-Book

Linda Lael Miller

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Beschreibung

Wenn die Liebe erblüht ...

Montana im 19. Jahrhundert. Zwei völlig unterschiedliche Frauen haben sich fest vorgenommen, im abgelegenen Dorf Springwater ihr Glück zu finden: Die neue Lehrerin Rachel English ist eine junge Frau von tadellosem Ruf, Savannah Rigbey ein Barmädchen und Tänzerin, deren Reputation zu wünschen übrig lässt. Aber ihr neues Leben beginnt für beide anders, als sie es sich vorgestellt haben - nicht zuletzt wegen zwei Männern: Wenn die tugendhafte Rachel dem Saloonbesitzer Trey Hargreaves begegnet, fliegen die Fetzen. Und die lebenslustige Savannah ist eine ständige Herausforderung für Prescott Parrish, den ernsten, honorigen Arzt ...

Dieser historische Liebesroman ist in einer früheren Ausgabe unter dem Titel "Träume, die verführen" erschienen.

Mehr Western Romance aus den Bergen Montanas: Band 3: "Springwater - Wo Küsse dich bedecken".

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Seitenzahl: 416

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Inhalt

Cover

Weitere Titel der Autorin bei beHEARTBEAT

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

1. Teil

Frühling 1874 In der Nähe von Springwater, Montana Territorium

1

2

3

4

5

6

7

2. Teil

Sommer 1875

1

2

3

4

5

6

7

Weitere Titel der Autorin bei beHEARTBEAT:

Springwater – Im Westen wartet die Liebe

Band 1: Wo das Glück dich erwählt

Band 3: Wo Küsse dich bedecken

Band 4: Wo Hoffnung dich wärmt

Die McKettrick-Saga

Band 1: Frei wie der Wind

Band 2: Weit wie der Himmel

Band 3: Wild wie ein Mustang

Die Corbin-Saga

Band 1: Paradies der Liebe

Band 2: Zauber der Herzen

Band 3: Lächeln des Glücks

Über dieses Buch

Wenn die Liebe erblüht …

Montana im 19. Jahrhundert. Zwei völlig unterschiedliche Frauen haben sich fest vorgenommen, im abgelegenen Dorf Springwater ihr Glück zu finden: Die neue Lehrerin Rachel English ist eine junge Frau von tadellosem Ruf, Savannah Rigbey ein Barmädchen und Tänzerin, deren Reputation zu wünschen übrig lässt. Aber ihr neues Leben beginnt für beide anders, als sie es sich vorgestellt haben – nicht zuletzt wegen zwei Männern: Wenn die tugendhafte Rachel dem Saloonbesitzer Trey Hargreaves begegnet, fliegen die Fetzen. Und die lebenslustige Savannah ist eine ständige Herausforderung für Prescott Parrish, den ernsten, honorigen Arzt …

Über die Autorin

Linda Lael Miller wurde in Spokane, Washington geboren und begann im Alter von zehn Jahren zu schreiben. Seit Erscheinen ihres ersten Romans 1983 hat die New York Times- und USA Today-Bestsellerautorin über 100 zeitgenössische und historische Liebesromane veröffentlicht und dafür mehrere internationale Auszeichnungen wie den Romantic Times Award erhalten. Linda Lael Miller lebt nach Stationen in Italien, England und Arizona wieder in ihrer Heimat im Westen der USA, dem bevorzugten Schauplatz ihrer Romane. Neben ihrem Engagement für den Wilden Westen und Tierschutz betreibt sie eine Stiftung zur Förderung von Frauenbildung.

Mehr Informationen über die Autorin und ihre Bücher unter http://www.lindalaelmiller.com/.

Linda Lael Miller

Springwater – Wo Träume dich verführen

Aus dem amerikanischen Englisch von Rolf Armin

beHEARTBEAT

Digitale Erstausgabe

»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe:

Copyright © 1999 by Linda Lael Miller

Titel der amerikanischen Originalausgabe: „Rachel“ / „Savannah“

All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form.

This edition published by arrangement with the original publisher, Pocket Books, a division of Simon & Schuster, Inc., New York.

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2000/2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Titel der deutschsprachigen Erstausgabe: „Träume, die verführen“

Lektorat: Katharina Woicke

Covergestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de unter Verwendung von Motiven © shutterstock: Sergio Stakhnky | Lotus_studio; © Period Images; © thinkstock: gallinago_media

eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar

ISBN 978-3-7325-6878-9

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

1. Teil

Frühling 1874In der Nähe von Springwater, Montana Territorium

1

An diesem kühlen, nebligen Tag am Anfang des Frühjahres hatte Trey Hargreaves es mächtig eilig. Er folgte einer Frau, der er den Hof gemacht hatte, die ihm jedoch einen Korb gegeben hatte. Deshalb hatte er seinen besten Anzug angezogen und ritt wie der Teufel hinter ihr her, um sie doch noch umzustimmen. Er war so in Gedanken, dass er beinahe die Kutsche übersehen hätte, die sich im Flussbett des Willow Creek quergestellt hatte. Der Kutscher, ein stämmiger rothaariger Ire namens Guffy O’Hagan, legte sich schwer ins Zeug, um die Maultiere wieder in Griff zu bekommen, aber es war klar, dass die störrischen Biester stärker als der Mann waren.

Die Furt durch den Creek war nicht wirklich gefährlich, sagte sich Trey, der zögernd seinen schwarz-weiß gescheckten Hengst am Ufer zum Stehen brachte, um die Situation genauer zu betrachten. Die Strömung war zwar stark, aber der Fluss war an dieser Stelle kaum tiefer als einen Meter und man musste sich schon besonders blöd oder ungeschickt anstellen, um eine Kutsche in so einem harmlosen Wässerchen zum Umstürzen zu bringen – und dabei womöglich auch noch zu ertrinken.

Trey seufzte. Das Problem war, dass es gerade hier in der einsamen Weite des Westens mehr blöde oder ungeschickte Menschen gab, die scheinbar alles daran setzten, sich selbst umzubringen. Trey machte sich keine ernsthaften Sorgen um Guffy, der alles andere als ein Greenhorn war und genau wusste, was er zu tun hatte, aber bei der Frau in der Kutsche hatte er doch erhebliche Zweifel. Sie trug einen blauen Federhut, ein Riesenmonstrum, das schon vollkommen durchnässt und an einer Seite eingeknickt war, weil es offensichtlich an die Decke der Kutsche stieß. Schlimmer war jedoch, dass die Frau sich mit dem Oberkörper weit aus dem Fenster der Kutsche gebeugt hatte und somit das Gefährt mächtig ins Schwanken brachte. Dabei winkte sie Trey mit ihrem Taschentuch zu, wie eine Gräfin oder Prinzessin, die einen Diener zu sich befahl.

Wieder seufzte er.

Sie hatte Mühe, ihre Stimme über das Rauschen des Wassers zu erheben und gegen das Gebrüll der widerspenstigen Maultiere anzukommen – ganz zu schweigen von der unablässigen Litanei an lauten Flüchen, die Guffy ausstieß, der nur selten Passagiere in seiner Kutsche beförderte und jetzt wohl vergessen hatte, dass er eine Lady an Bord hatte.

»Sir!«, schrie die Frau mit dem Federhut und schwenkte ihr Taschentuch noch wilder. »Verzeihen Sie, Sir! Sind Sie etwa ein Outlaw?«

Trey gestattete sich selbst ein schwaches Lächeln. Das war eine scharfsichtige Bemerkung und vielleicht war die Frau gar nicht so blöd, wie er zunächst gedacht hatte. Er fragte sich, ob man ihm wirklich die Jahre ansah, in denen er von Ort zu Ort gezogen war. Dabei hatte er seinen Lebensunterhalt am Spieltisch verdient oder gegen gute Bezahlung auch schon mal als Revolvermann gearbeitet.

Er ging jedoch nicht auf die Frage ein, sondern trieb seinen Schecken in den eisigen Fluss. Als er schließlich die Kutsche erreichte, waren seine Hosenbeine durchnässt und das Wasser stand ihm in den Stiefeln. Er konnte froh sein, wenn ihm nicht ein paar Zehen abfrieren würden.

Jetzt, aus der Nähe, erkannte er, dass die gestrandete Lady noch ziemlich jung war, fast noch ein Mädchen – und dass sie ausgesprochen hübsch war. Unter dem lächerlichen Federhut lugten kastanienbraune Haare hervor und ihre Augenfarbe lag irgendwo zwischen grau und grün. Sie hatte eine zarte Haut, lange Wimpern und einen schön geschwungenen Mund mit vollen Lippen, bei deren Anblick Trey sich fragte, wie es sich anfühlen würde, diese Lippen zu küssen.

»Wie Sie ja selbst sehen können«, sagte sie ohne weitere Umschweife, »benötigen wir Hilfe.« Sie sprach in dem gezierten Tonfall, den die Menschen im Osten so kultiviert hatten. »Aber zuerst beantworten Sie mir bitte meine Fragen. Sind Sie ein Outlaw, Sir, ein Bandit?«

Trey hätte am liebsten laut gelacht, aber das verkniff er sich, denn wenn er diesem Impuls nachgegeben hätte, wäre sie im Stande gewesen, seine Hilfe aus purer Sturheit abzulehnen. »Nun, Ma’am«, erwiderte er bedächtig, »ich schätze, das kommt ganz darauf an, wen Sie danach fragen.« Er tippte mit den Fingerspitzen an seinen Hutrand, als er ihren erschrockenen Gesichtsausdruck sah. »Mein Name ist Trey Hargreaves und ich kann sagen, dass es mir meistens gelungen ist, auf der richtigen Seite des Gesetzes zu stehen. Ich lebe in Springwater«, fuhr er fort und deutete mit dem Daumen über seine Schulter, »nur ein paar Meilen von hier.«

Als er den Namen Springwater erwähnte, entspannten sich ihre Gesichtszüge und die Farbe kehrte in die Wangen zurück. »Dem Himmel sei Dank.« Sie seufzte erleichtert. »Ich hatte schon Sorge, wir würden nie mehr dort ankommen. Besonders nicht, seit wir hier in diesem ... reißenden Fluss festsitzen.« Mit dem Arm deutete sie zum Dach der Kutsche, auf dem eine Menge Gepäck mit Stricken festgezurrt war. »Wenn wir umkippen, sind die ganzen Bücher ruiniert, die ich mitgebracht habe – und da Sie selbst aus Springwater kommen, brauche ich Ihnen ja nicht zu erklären, was das für ein herber, unersetzlicher Verlust wäre. Ohne eine gute Erziehung wären die Kinder ja ganz dem schlechten Einfluss von Orten wie ...«, hier senkte sie vertraulich die Stimme und verlieh ihren Worten einen beschwörenden Klang, »dem Brimstone Saloon überlassen.«

Nun musste Trey wirklich an sich halten, um nicht schallend zu lachen. Er spürte, wie seine Mundwinkel zuckten, aber es gelang ihm, sich zu beherrschen und ein neutrales Gesicht zu machen. »Davor möge der Herr uns alle beschützen«, meinte er inbrünstig und legte eine Hand auf seine Brust.

Ihre Augen verengten sich für einen kurzen Moment. Es war klar, dass sie ziemlich klug war und sie ihm dieses Bekenntnis nicht so ganz abnahm. Sie streckte ihm ihre Hand durchs Fenster entgegen. »Mein Name ist Rachel English«, erklärte sie. »Man hat mich engagiert, um an der neuen Schule in Springwater zu unterrichten.«

In diesem Augenblick schwankte die Kutsche bedenklich und Rachel zog schnell die Hand zurück, die sie Trey zum Gruß geboten hatte. Mit dieser Hand hielt sie die Reste ihres komischen Hutes fest und mit der anderen umklammerte sie die Fensterbrüstung. Ihr Gesicht war voller Angst – und dieser Ausdruck rührte Trey zu seiner eigenen Überraschung.

»Ich kann zum Ufer waten«, sagte sie. »Ich kann sogar ein bisschen schwimmen, wenn das nötig sein sollte, aber die Schulbücher dürfen auf keinen Fall ruiniert werden. Bitte, Sir ... bitte helfen Sie uns, Mr. Hargreaves.«

»Setzen Sie sich und verhalten Sie sich ganz ruhig«, befahl er ihr. »Ich bin gleich zurück.« Er nahm die Zügel auf und trieb den Schecken nach vorne, wo Guffy immer noch mit dem Gespann kämpfte. Die Tiere weigerten sich einfach, in die gleiche Richtung zu gehen. »Hallo, Guffy«, begrüßte Trey den jungen Iren, wobei er mit den Fingern gewohnheitsmäßig seinen Hutrand berührte. »Alles klar?«

»Nicht ganz«, keuchte Guffy freundlich, was erstaunlich war, wenn man bedachte, dass er vollauf mit dem Gespann beschäftigt war. »Wenn du freundlicherweise die Lady ans andere Ufer bringen würdest ... hätte ich eine Sorge weniger.«

Trey nickte und ritt zur Tür der Kutsche zurück. Er beugte sich vor, drehte den Griff und versuchte, die Tür zu öffnen, was sogar für einen kräftigen Mann wie Trey nicht einfach war, da er den starken Gegendruck des Wassers überwinden musste. Schließlich hatte er es geschafft.

»Kommen Sie«, sagte er zu Miss English und schlang seinen Arm um ihre Taille.

Sie zuckte zurück und er hatte den Eindruck, dass diese Frau sogar den sturen Maultieren da draußen noch das eine oder andere beibringen könnte. »Die Bücher ...«, sagte sie streng.

Trey war durchnässt, ihm war kalt – und er würde die Frau, der er gefolgt war, nie und nimmer einholen, wenn er jetzt noch kostbare Zeit mit einer langen Diskussion vergeudete. »Ich hole die verdammten Bücher«, knurrte er. »Aber erst, wenn Sie aus dieser Kutsche sind und sicher am anderen Ufer stehen.«

Sie nahm eine kleine, abgewetzte Handtasche vom Sitz und etwas, das wie der Ableger einer Pflanze aussah. »Na schön«, seufzte sie ergeben, »hoffentlich halten Sie sich auch an Ihr Wort, Sir.«

Trey schlang einen Arm um ihre Taille – Rachel war kaum größer als ein Schulmädchen und sie wog kaum mehr als ein Sack Pferdefutter – und hob sie samt ihrer Handtasche und der seltsamen Pflanze neben dem Sattelhorn hoch. Sie duftet wie Rosen nach einem Regenschauer, dachte Trey, der sich über sich selbst wunderte, denn solche Vergleiche kamen ihm sonst nie in den Sinn. Sie duftete wie frisch gebadet – dabei hatte sie doch gerade den Weg quer durchs Land hinter sich gebracht. Wenn sie die neue Schullehrerin war, war sie die Freundin von Evangeline Wainwright, die sie aus Pennsylvania im Osten hatte kommen lassen. Selbst Trey Hargreaves hatte schon von Miss Rachel English gehört, denn für so ein Ereignis interessierte sich natürlich in und um Springwater herum jedermann. Besonders Emma, Treys Tochter, hatte die Ankunft der Lehrerin kaum noch erwarten können.

Er hielt sie ganz fest, damit sie ihm nicht wegrutschte und mit dem Treibholz flussabwärts getrieben wurde, und setzte die neue Lehrerin dann auf der Springwater-Seite des Willow Creek sicher auf die Erde. Da stand sie nun mit ihrer Tasche in der einen Hand und der Pflanze, deren Wurzeln in einen feuchten Lappen geschlagen waren, in der anderen Hand und schaute ihn bittend an.

»Die Bücher, Mr. Hargreaves«, sagte sie.

»Trey«, erwiderte er – und das klang selbst in seinen Ohren in dieser Situation idiotisch. Er drehte den Schecken auf der Hinterhand und ritt in den Fluss zur Kutsche zurück.

»Ich brauche auf dem Dach mehr Gewicht«, keuchte Guffy atemlos. »Würde es dir etwas ausmachen raufzuklettern, Trey? Aber von der anderen Seite, damit mir das verdammte Ding nicht doch noch ins Wasser kippt.«

Jeder Narr konnte sehen, was hier getan werden musste, aber Trey überging die überflüssige Anordnung, denn ihm war klar, dass Guffy am Ende seiner Nervenkraft war. Schweigend bahnte er sich seinen Weg durch die Fluten zur anderen Seite der Kutsche, griff mit beiden Händen nach der Dachgepäckhalterung, richtete sich im Sattel seines Pferdes auf und schwang sich nach oben. Einen Moment lang schwankte die Kutsche bedenklich, wobei Trey sein Gewicht wie ein Hochseilartist ausbalancierte.

Schließlich war das Gefährt wieder im Gleichgewicht und die Tiere beruhigten sich etwas. Der Schecke war inzwischen mit hängenden Zügeln zum Ufer getrottet, an dem er sich das Wasser aus dem Fell schüttelte. Dabei taufte er Miss English und hieß sie damit im Wilden Westen willkommen.

»Kannst du die Zügel übernehmen?«, rief Guffy über die Schulter gewandt Trey zu. »Ich werde dann versuchen, ob ich das Leittier dazu bringen kann, endlich in der richtigen Richtung zu ziehen.«

Trey nickte und kletterte vorsichtig über das Gepäck nach vorne zum Kutschbock, auf dem er die Zügel des Achtergespanns übernahm und beobachtete, wie Guffy über den Rücken des einen Maultiers zum Rücken des nächsten und schließlich auf den Rücken des Leittieres kletterte, das links vorne eingespannt war.

»Mr. Hargreaves!«, hörte er eine Stimme. »Mr. Hargreaves!«

Wütend drehte Trey den Kopf zu der Lehrerin um, die die Hände trichterförmig um den Mund gelegt hatte. Er war genervt und hatte zu viel mit den Zügeln zu tun, um ihr zu antworten.

»Die Bücher!«, rief sie und deutete mit der Hand auf die Kisten auf dem Dach. »Die Kisten verrutschen. Sie sollten lieber wieder zurückklettern und die Gurte straff ziehen, bevor die Bücher ins Wasser fallen. Sie haben versprochen, sie zu retten.«

Wieder seufzte er, aber er antwortete ihr nicht. Sie war die schlimmste weibliche Nervensäge, die ihm je begegnet war. Der Mann, der diese Frau einmal heiraten würde, tat ihm jetzt schon in der Seele leid. Er zweifelte nicht dran, dass irgendein Mann sie heiraten würde – auch wenn sie noch so zickig war, denn in diesem Teil des Landes herrschte akuter Mangel an Frauen, besonders an so gut aussehenden wie Rachel English.

Plötzlich griffen auf wundersame Weise die Räder der Kutsche und die acht Maultiere zogen alle in der gleichen Richtung und nicht mehr wie vorher in verschiedene, wobei Trey, dessen Aufmerksamkeit für einen Moment abgelenkt war, beinahe ins Wasser gestürzt wäre. Ganz langsam erreichte die Kutsche das Ufer und rollte über die matschige Böschung hoch ins Gras.

Die Maultiere schüttelten das kalte Wasser aus dem Fell und schauten noch dümmer drein, als das Maultiere gewöhnlich schon tun.

Miss English kam auf die Kutsche zu, aus der das Wasser floss. Weder der Schlamm noch spitze Steine oder schlüpfriges Gras hielten sie auf. Die Feder an ihrem Hut war zwar zerzaust, aber in der leichten Brise tanzte sie immer noch auf und ab. Es sah einfach lächerlich aus. Trotzdem entging es Trey nicht, dass Miss Rachel eine ausgesprochen weibliche Figur hatte. Irgendwie war ihm dieser Aspekt bisher entgangen, obwohl er sie doch erst vor wenigen Minuten in seinen Armen gehalten und zum Ufer getragen hatte. Das musste wohl an der ganzen Hektik gelegen haben.

»Vermutlich muss ich Ihnen jetzt für Ihr Hilfe danken, Mr. Hargreaves«, meinte sie zögernd und drückte ihre Pflanze an die Brust, »obwohl Sie sich nicht an meine Anweisungen gehalten haben, was die Bücherkisten betrifft.«

Er sicherte die Zügel des Maultiergespanns, sprang vom Bock, verneigte sich leicht in Richtung der Lehrerin und öffnete die Tür der Kutsche für sie. Er musste seine ganze Willenskraft aufbieten, um ihr nicht zu sagen, wie gleichgültig ihm ihre Bücher waren. »Ich halte mich selten an Anweisungen, Ma’am«, sagte er, »es sei denn, dass sie sinnvoll sind. Und das waren Ihre nun ganz gewiss nicht.«

Sie errötete und kletterte in die Kutsche, aus der immer noch Wasser tropfte. Sie raffte ihre Röcke in dem hoffnungslosen Versuch, zu verhindern, dass der Saum ihres Kleides nass wurde. Guffy hatte sich inzwischen wieder auf seinen Platz auf dem Kutschbock gesetzt und die Zügel in die Hand genommen.

»Wie ich sehe, Mr. Hargreaves, wissen Sie den Wert einer guten Ausbildung für unsere Kinder nicht zu schätzen«, sagte sie spitz.

Er unterdrückte ein Grinsen. »Im Gegenteil, Ma’am«, gab er gut gelaunt und ein wenig spöttisch zurück. »Ich halte sehr viel davon, dass unsere Kinder lesen, schreiben und rechnen lernen. Aber hier im Westen sind andere Fähigkeiten ebenso wichtig. Wenn diese Kutsche umgestürzt wäre, wäre das meiste wohl verloren gewesen. Ihre kostbaren Bücher natürlich – aber auch die Kutsche, die gesamte Fracht und wahrscheinlich die Hälfte der Maultiere. Guffy wäre wahrscheinlich unter der Last begraben worden und Sie – nun Sie wären vielleicht auch ertrunken. Denken Sie mal darüber nach, Frau Lehrerin. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag«, sagte er und tippte wie üblich mit den Fingern an seinen Hutrand – aber den Hut hatte er längst verloren. Wahrscheinlich schwamm das gute Stück jetzt schon ein paar Meilen stromabwärts. »Nichts für ungut und herzlich willkommen in Springwater.«

Wieder errötete sie – und dabei wirkte sie noch eine Spur hübscher. Trey vergaß darüber fast, dass er auf dem Weg nach Choteau war, einem Ort, der gut fünfundzwanzig Meilen entfernt lag, um Miss Marjorie Manspreet davon abzuhalten, in eine Postkutsche nach Osten zu steigen – und für immer aus seinem Leben zu verschwinden. Jetzt war die Sache nahezu aussichtslos. Er würde den Rest des Tages und sicher bis in die Nacht hinein im Sattel sitzen müssen und es war mehr als fraglich, ob er noch in Choteau ankommen würde, bevor Marjorie die Stadt verlassen hätte. Das war ein Aufwand, zu dem er plötzlich nicht mehr die geringste Lust verspürte.

Er pfiff leise durch die Zähne und der Schecke trottete gehorsam heran. Miss English streckte noch einmal den Kopf aus dem Fenster der Kutsche. »Ich möchte mich entschuldigen«, sagte sie knapp. »Sie waren wirklich eine große Hilfe und dafür möchte ich Ihnen aufrichtig danken.«

»Nicht nötig, Ma’am«, erwiderte er und diesmal grinste er schräg. Es war einfach eine Reaktion auf ihre ganze Art, eine Reaktion, die er nicht länger unterdrücken konnte. Er wandte sich Guffy zu, der zufrieden auf dem Bock saß und Trey anstrahlte.

»Ich werde mich bei Gelegenheit revanchieren, Trey«, sagte er nur.

Trey stieg in den Sattel seines Hengstes, beugte sich vor und nahm mit einer Hand die Zügel auf. »Komm vorbei, wenn du wieder mal über Nacht in Springwater bleibst. Dann unterhalten wir uns in aller Ruhe über die Widerspenstigkeiten von Maultieren ...«, er senkte die Stimme zum Flüstern, »und anderen Wesen.«

Guffy lachte, nickte, setzte das Gespann in Bewegung und winkte Trey noch einmal kurz zu.

Trey wartete, bis die Kutsche hinter dem nächsten Hügel verschwunden war. Ihr nächstes Ziel war die Kutschstation in Springwater, die dem Ort den Namen gegeben hatte. Dort würde ein anderes Gespann auf Guffy warten und vielleicht sogar ein ausgeruhter Fahrer, der die Frachtkutsche übernehmen würde. Mit etwas Glück würde der Junge mal wieder eine Nacht in einem sauberen Bett schlafen, er würde eine anständige Mahlzeit aus June McCaffreys legendärer Küche bekommen und im Brimstone ein paar Gläser Whiskey trinken – auf Kosten des Hauses natürlich.

Da Emma, Treys elfjährige Tochter, sich zur Zeit auf Besuch auf der Wainwright Ranch befand – Miss Evangeline war schwanger, Emma konnte sich im Haushalt nützlich machen, auf den kleinen Sohn der Familie aufpassen und natürlich ihrer Freundin Abigail Gesellschaft leisten –, beschloss Trey, der Kutsche zu folgen, sich etwas frisch zu machen und selbst eine Mahlzeit in der Kutschstation einzunehmen. Wenn es noch ein bisschen ausgleichende Gerechtigkeit in der Welt gäbe, hätte Miss June einen Berg ihrer berühmten Biskuits gebacken, die es häufig zum Essen gab. Trey liebte Biskuits über alles, und da er einen guten Hut und eine mögliche Ehefrau verloren hatte, weil er Guffy geholfen hatte, die Kutsche durch den Willow Creek zu bringen, hatte er sich doch wohl irgendeine Belohnung verdient.

Ein gutes Essen bei Miss June war die beste Belohnung, die er sich im Augenblick vorstellen konnte.

Rachel hatte die Nase gestrichen voll von diesem verdammten Pfingstrosen-Ableger, den sie auf dem Weg durch das halbe Land gehegt und gepflegt hatte. Ständig hatte sie darauf Acht geben müssen, dass das Ding nicht zerdrückt wurde, dass es nicht austrocknete und nicht in einem überfüllten Zug oder einer schäbigen Kutschstation unterwegs vergessen wurde. Sie hätte das elende Ding wahrscheinlich schon längst irgendwo aus dem Fenster geworfen, wenn Evangeline sich nicht so darauf gefreut hätte, eines Tages den Ableger einer Pfingstrose im Garten ihrer Ranch in Montana blühen zu sehen. Evangeline Wainwright, ihre beste und vertrauteste Freundin. Rachel konnte es kaum erwarten, sie nach all den Jahren endlich wieder zu sehen, ihr in die Augen zu schauen, um zu sehen, ob sich dort das gleiche Glück zeigte, das zwischen den Zeilen ihrer Briefe durchschimmerte.

Rachel war davon überzeugt, dass kein Mensch auf Gottes Erdboden es mehr verdient hatte, eine glückliche, harmonische Ehe zu führen als Evangeline Keating Wainwright. Nicht dass Rachel persönlich an einer Ehe interessiert gewesen wäre. Es hatte einmal einen Mann gegeben, mit dem sie gerne vor den Traualtar getreten wäre, aber Langdon Pannell war tot, gefallen in diesem schrecklichen, sinnlosen Bürgerkrieg zwischen Nord und Süd. Sie konnte nicht – und sie wollte nicht – noch einmal einen Menschen so tief lieben. Die Trauer über Mr. Pannells Tod hatte ihr fast das Herz zerrissen und sie beinahe um den Verstand gebracht. Abgesehen davon hatte sie sich ihm in der Nacht, bevor er ins Feld zog, hingegeben – und er hatte sich ihr im Gegenzug hingegeben. Es war ein spontaner unbekümmerter Entschluss gewesen und ihre Vereinigung, die Verbindung von Körper und Seele, war so erfüllend gewesen, dass Rachel schon allein die Vorstellung, neben einem anderen Mann zu liegen, wie Hohn empfand.

Diese Gedanken gingen ihr durch den Kopf, während die Kutsche die letzten Meilen nach Springwater über einen holprigen Weg rumpelte, den man kaum als Straße bezeichnen konnte. Evangeline hatte in ihren Briefen erwähnt, dass Springwater ein aufstrebender Ort war und die Quelle der Ursprung des Willow Creek war.

Rachel beobachtete ihre Retter, während sie ihren Gedanken nachhing. Da Trey Hargreaves neben der Kutsche her ritt, sah sie ihn immer wieder mal durchs Fenster. Er war ein gut aussehender Mann, ein bisschen verwegen vielleicht, mit seinen dunklen Haaren, die er im Nacken zusammengebunden hatte, und diesen quicklebendigen Augen. Seine Augen waren ihr sofort aufgefallen, denn solche Augen hatte sie noch nie gesehen.

Entlang seines Wangenknochens zog sich eine längst verheilte Narbe hin und der Mann schien riesig zu sein. Jedenfalls kam es Rachel, die selbst klein und zierlich war, so vor, als wäre er ebenso groß wie das Pferd, das er ritt. Sie hatte den Eindruck, als ob Ross und Reiter ein Kriegsdenkmal wären, das zu Leben erwacht war. Stolz und majestätisch – wie aus Bronze gegossen oder aus Stein gemeißelt.

Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen, aber das Bild von Trey Hargreaves auf seinem Streitross stand weiter vor ihrem inneren Auge. Sie spürte einen leichten Anflug von Panik in sich aufsteigen, denn in diesem Moment verblasste das Bild von Langdon, der in ihrer Erinnerung nur noch ein körper- und gesichtsloser Schatten war. Sie setzte sich kerzengerade auf und fixierte ihren Blick auf die gegenüber liegende Wand der Kutsche, an der jemand einen zerfledderten Zettel befestigt hatte, auf dem zu lesen war: Bereuet oder brennet in der Hölle! So spricht der Herr!

»Verdammt«, murmelte Rachel und riss den Zettel von der Wand. Sie hatte den Spruch betrachtet, seit sie in Choteau mit einer planmäßigen Postkutsche angekommen und in diese Frachtkutsche umgestiegen war, die nicht einmal von Pferden, sondern von störrischen Maultieren gezogen wurde. Sie zerknitterte die Warnung und warf das Papierknäuel auf den Boden. Gütiger Himmel, sie war wirklich müde vom Reisen. Sie sehnte sich nach einer anständigen warmen Mahlzeit, einem heißen Bad und einer Nacht in einem sauberen Bett. Besonders sehnte sie sich aber danach, endlich wieder das Vergnügen zu haben, auf ihren eigenen Beinen zu gehen. Das hatte sie in den letzten Wochen am meisten vermisst, seit sie unterwegs von Pennsylvania im Osten nach Montana im Westen war.

Schließlich hörte sie, wie der Fahrer, Mr. O’Hagan, jemandem von seinem Kutschbock aus etwas zurief. Das Gefährt sprang noch einmal heftig von einer Seite zur anderen und kam dann zu einem jähen Halt, als der Kutscher die Bremsbacken festzog.

»Springwater Kutschstation!«, rief er laut und mit einem jubilierenden Unterton in der Stimme.

Rachel rutschte über die harte, schmale Sitzbank und schaute durchs Fenster auf das Haus der Station. Es stand an der anderen Seite eines riesigen Vorplatzes, der nur aus Schlamm und Matsch zu bestehen schien, worüber jemand roh gehauene Planen als eine Art Laufsteg gelegt hatte. Auf der Treppe zum Haus stand eine Frau, die ein schlichtes Kattunkleid und eine Schürze trug. Sie strahlte übers ganze Gesicht und winkte, während ein ernster Mann über den Zickzack-Plankenweg auf die Kutsche zukam. Das mussten nach Evangelines Beschreibung die McCaffreys sein, die Gründer der Springwater-Station und führende Bürger der Siedlung, die einmal eine Stadt werden sollte. Es waren Jacob und June McCaffrey gewesen, die darauf gedrängt hatten, eine Schule zu bauen und die das Geld gesammelt hatten, um für Rachels Reisekosten zu bezahlen.

»Hallo, Miss English«, sagte Mr. McCaffrey mit seiner unglaublich tiefen Stimme, während er die Tür der Kutsche öffnete und ihr seine Hand entgegenstreckte, die von harter, schwerer Arbeit zeugte. »Willkommen in Springwater. Wir haben uns schon Sorgen um Sie gemacht.«

»Wir hatten ein paar Probleme im Creek«, erwiderte Guffy, bevor Rachel antworten konnte. »Wenn Trey uns nicht zu Hilfe gekommen wäre, würden wir jetzt vielleicht mit den Forellen um die Wette schwimmen.«

Jacob konzentrierte sich erst darauf, Rachel aus der Kutsche zu helfen, bevor er Trey Hargreaves unverbindlich zunickte. »Danke«, sagte er kurz angebunden.

»Nicht der Rede wert«, erwiderte Trey, dessen Tonfall ebenso knapp wie der von Jacob war. »Haben Sie einen ausgeruhten Kutscher in der Station? Der alte Guffy hatte einen schweren Tag und ich habe ihm einen Whiskey zur Stärkung versprochen.«

Rachel hatte den Eindruck, dass Jacob, der neben ihr stand, scharf die Luft einsog. Das verwunderte sie nicht weiter, denn Evangeline hatte ihr im Laufe der Jahre in ihren Briefen eine ganze Menge über die McCaffreys erzählt, die Evangeline als enge Freunde betrachtete. Demnach war Jacob nicht nur der Stationsleiter, sondern auch der Prediger von Springwater, was natürlich nahe legte, dass er für Whiskeytrinken nicht viel übrig hatte. Wie Rachel übrigens auch nicht.

Schließlich zuckte Jacob die Schultern und meinte: »Du siehst selbst auch ziemlich mitgenommen aus, Trey. Wenn du magst, bist du herzlich zum Essen eingeladen.«

Trey grinste übers ganze Gesicht. Es war das verschmitzte, spitzbübische Grinsen eines Lausejungen und Rachel war völlig perplex, als sie sah, wie sich sein Gesichtsausdruck dabei entspannte und veränderte. »Nur ein Dummkopf würde die Einladung, bei Miss June zu essen, ablehnen«, sagte er.

Miss June wartete auf der Veranda vor dem Haus. Ihre Augen leuchteten. Von Evangeline wusste Rachel, dass die Frau schon fast sechzig war, aber von ihr ging ein inneres Strahlen aus, das sie zwanzig Jahre jünger erschienen ließ. »Wir sind mächtig froh, Sie bei uns zu haben«, sagte sie und umarmte Rachel herzlich.

Diese schlichte menschliche Geste trieb Rachel die Tränen in die Augen. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass jemand sie einfach so in den Arm genommen hatte, seit Evangeline mit ihrer Tochter Abigail vor vier langen Jahren zu ihrem Abenteuer in den Westen aufgebrochen war.

»Das Mädel ist vollkommen erschöpft«, bemerkte Jacob. »Du kümmerst dich um sie, Miss June, während ich Guffy und Trey von deinen köstlichen Knödeln mit Huhn auftische.«

»Zuerst bringst du einen Teller voll für Miss English«, widersprach Miss June, während sie Rachel beim Arm nahm und sie über die Schwelle ins Haus führte, wo es gemütlich warm war. In dem großen Hauptraum der Kutschstation standen sechs lange Tische, um die Reisenden zu bewirten. In einem großen, steinernen Kamin flackerte ein Feuer. »Guffy und Trey können sich selbst bedienen.«

Mit diesen Worten führte Mrs. McCaffrey Rachel zu einem Zimmer am anderen Ende der Station. Es war ein kleiner Raum mit einem hohen Fenster. Das Bett wirkte sehr einladend, auch wenn es nur ein einfaches Eisengestell war, mit einer Matratze, zwei Kopfkissen und einer alten Decke, die schon ein wenig ausgeblichen war. Auf einem Tisch daneben stand eine frisch gefüllte Kerosin-Lampe, und eine Schachtel Zündhölzer war auch zur Hand. An den Wänden waren Haken eingeschlagen, an denen Rachel ihre Kleider aufhängen konnte, und in der Ecke gab es einen rot-weiß emaillierten Waschstand.

»Nachdem Sie gegessen haben, können wir Wasser heiß machen, falls Sie baden möchten«, meinte Miss June ruhig.

Und ob sie das wollte! Schon bei dem Gedanken an ein heißes Bad traten Rachel Freudentränen in die Augen. Es würde eine Erlösung sein, sich nach der wochenlangen Reise endlich wieder richtig waschen zu können. Tage und Nächte hatte sie zuerst in verschiedenen Zügen verbracht und weiter im Westen hatte sie dann die Postkutschen benutzt. Es war wirklich nicht immer einfach gewesen, sich während dieser Zeit wenigstens notdürftig sauber zu halten, obwohl Rachel getan hatte, was menschenmöglich war. Aber jetzt brauchte sie ein Bad, so wie sie Nahrung und Schlaf brauchte – und wahrscheinlich brauchte sie das Bad am dringendsten.

»Sie sind wirklich sehr freundlich«, murmelte sie und nickte dankbar.

Mrs. McCaffrey warf einen kurzen Blick auf den Ableger der Pfingstrose. »Die könnte ich für Sie ins Wasser stellen. Sieht aus, als hätte das Pflänzchen eine Menge Kraft verloren.«

Rachel lächelte und gab ihr den Ableger. »Evangeline hat mich gebeten, ihr eine Pfingstrose mitzubringen«, erklärte sie, »aber ich muss zugeben, dass es mir manchmal zu viel war, das verhutzelte Ding weiter zu hegen und zu pflegen. Ich bezweifle aber nicht, dass all die Mühen vergessen sind, sobald ich die erste Rose aufblühen sehe.«

June betrachtete den Ableger so sehnsüchtig, dass Rachel es bedauerte, nicht zwei davon mitgebracht zu haben – auch wenn das noch mehr Mühe gemacht hätte. »Es muss schön sein, so einen Strauch im Garten zu haben«, sagte die ältere Frau mit einem leichten Seufzen.

»Die Blüten werden sooo groß«, erklärte Rachel und formte mit beiden Händen einen tellergroßen Kreis in der Luft. »Ich bin sicher, dass Evangeline Ihnen liebend gerne einen Ableger schenken wird, wenn die Staude erst mal angewachsen ist und sich an ihre neue Umgebung und das andere Klima gewöhnt hat.«

June strahlte. »Vermutlich haben Sie Recht«, meinte sie. »Ich werde Evangeline jedenfalls danach fragen, sobald ich sie das nächste Mal sehe.« Mit diesen Worten ließ die Leiterin der Kutschstation Rachel allein, damit sie sich in ihrem neuen Zuhause einrichten konnte. Es war vereinbart, dass Rachel bis auf weiteres in der Station bei den McCaffreys wohnen würde, da es bis jetzt in Springwater noch keine Pension oder eine andere Unterkunftsmöglichkeit für eine junge Lady gab. Kaum war die ältere Frau gegangen, als Guffy an die offene Tür klopfte. In den Händen trug er eine Reisetasche und eine kleine Truhe, die Rachels persönliche Dinge enthielten.

»Ma’am«, sagte er, wandte den Blick ab und errötete so tief, als hätte er die junge Frau nackt in ihrem Zimmer vorgefunden, obwohl sie doch nur auf der Bettkante saß und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen.

»Danke«, sagte sie, »stellen Sie das Gepäck bitte neben das Fenster.«

Kaum war Guffy gegangen, als Jacob auftauchte. Er trug ein hölzernes Tablett, das mit Essen beladen war, eine Schüssel mit frischem Huhn und dampfenden Knödeln, Brot und einem Apfel, der schon leicht verschrumpelt war.

Rachel rückte die Lampe und die Zündhölzer zur Seite, damit Jacob das Tablett abstellen konnte. Sie fühlte sich ein bisschen schuldig, weil sie sich von allen bedienen ließ. Man hätte ja glauben können, dass sie krank wäre oder unfähig für sich selbst zu sorgen. Aber das stimmte natürlich nicht, denn als Tochter eines Farmers, das jüngste von vier Kindern und das einzige Mädchen, war Rachel durchaus an harte Arbeit gewöhnt.

»Ich hätte doch auch im Saal am Tisch essen können«, protestierte sie schwach.

Jacob bedachte sie mit einem seiner seltenen Lächeln. In ihren Briefen hatte Evangeline Jacob und seine Frau so präzise geschildert, dass Rachel das Gefühl hatte, die McCaffreys schon seit einer Ewigkeit zu kennen. Allerdings kam es ihr seltsam vor, dass ihre Freundin mit keinem Wort Trey Hargreaves erwähnt hatte, weder positiv noch negativ. Andererseits war Evangeline keine Klatschbase – auch wenn sie zugab, dass sie es genoss, bei ihren Tee-Gesellschaften die neuesten Skandale zu hören. Aber Evangeline glaubte fest an das Gute im Menschen und sie verurteilte niemanden, bevor seine Schuld nicht eindeutig bewiesen war. Das war eine der großen Charakterstärken von Evangeline Wainwright und Rachel wünschte sich manchmal, dass sie selbst anderen Menschen gegenüber nur halb so nachsichtig wäre.

»Sie haben eine lange Reise hinter sich«, sagte Jacob. »Sie sollten sich ausruhen, solange Sie noch Zeit dazu haben. Am Anfang werden Sie zwar nicht allzu viele Schüler haben – etwa ein Dutzend Kinder von den Farmen und Ranchen, die nahe genug bei Springwater liegen, sodass die Kinder den Schulweg bewältigen können – aber Sie werden doch alle Hände voll zu tun haben.«

Rachel hätte den älteren Mann gerne über Mr. Hargreaves ausgefragt, wo er herkam, was für ein Mensch er war, woher die Narbe in seinem Gesicht stammte und hunderte andere Dinge mehr, aber sie wusste natürlich, dass solche Fragen nicht schicklich waren und deshalb unterdrückte sie sie. Sie würde Evangeline bitten, ihre Neugier zu stillen.

Nachdem er ihr das Essen serviert und den schlichten Rat gegeben hatte, verließ Jacob das Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Rachel verschlang das wunderbare Essen geradezu – Junes Ruf, eine ausgezeichnete Köchin zu sein, erwies sich als nur allzu berechtigt – und betrachtete dabei ausführlich ihr Zimmer. Seit ihrem sechzehnten Lebensjahr – fast seit zehn Jahren – arbeitete Rachel nun schon als Lehrerin, aber erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie während dieser Zeit schon bei vielen Familien zur Untermiete gewohnt hatte. Sie hatte dabei die unterschiedlichsten Menschen kennen gelernt. So klein dieses Zimmer auch war, sie war noch nie in einem besseren untergebracht gewesen. Die Wände bestanden aus dicken Holzbohlen und es gab einen inneren Fensterladen als Sichtschutz von außen. Die Matratze fühlte sich an, als wäre sie mit Federn gestopft und nicht mit Stroh, der Fußboden bestand aus ebenmäßigen Planken, die so exakt verlegt waren, dass sich kein Staub zwischen die Ritzen setzen konnte. Es waren weder Mauselöcher zu sehen noch Spinnweben. Das Bettzeug roch nach Seife und Frühlingssonne, ein sicheres Zeichen dafür, dass die Laken frisch gewaschen waren.

Wenn während der Reise die Kutschen manchmal einen Nachtstopp eingelegt hatten, hatte Rachel diese Nächte immer aufrecht sitzend, wach, im Speisesaal der jeweiligen Station verbracht, obwohl es Schlafräume mit Betten gab, die sich je zwei Frauen oder zwei Männern geteilt hatten, unabhängig davon, ob sie einander kannten oder nicht. Von Hygiene konnte keine Rede sein, denn die Bettwäsche wurde nur selten gewechselt. Unter solchen Umständen gab es natürlich auch keine Ruhe und kein Ungestörtsein. Jedenfalls war Rachel nicht willens gewesen, in Anwesenheit von Fremden die Augen zu schließen und zu schlafen. Deshalb war es nur allzu verständlich, dass sie jetzt erschöpft und müde war.

Sie aß, so viel sie konnte, und trug dann das Tablett mit dem Geschirr in die Küche, wo June damit beschäftigt war, in mehreren Kesseln Wasser zu erhitzen. Sie lächelte und war zufrieden, dass Rachel so gut gegessen hatte.

»Gehen Sie in Ihr Zimmer zurück und legen Sie die Beine hoch«, sagte Mrs. McCaffrey. »Jacob wird gleich eine Badewanne bringen und dann komme ich mit dem heißen Wasser.«

Wieder empfand Rachel so ein starkes Gefühl der Dankbarkeit, dass sie am liebsten die ältere Frau umarmt und sich an ihrer Schulter ausgeweint hätte. »Danke, Mrs. McCaffrey«, sagte sie mit all der Würde, die sie noch aufbringen konnte. Schließlich war sie eine erwachsene Frau und durfte sich nicht derart von ihren Gefühlen leiten lassen, ob sie nun übermüdet war oder nicht.

Eine Stunde später stieg Rachel aus der Badewanne. Sie war sauber und roch nach Seife, die den Duft von Rosen hatte. Diese Seife hatte sie gekauft, bevor sie Pennsylvania verlassen hatte. Rachel glaubte fest an die positiven Kräfte von parfümierten Seifen. Das hatte ihr auch Evangeline bestätigt, der sie ein großes Stück Duftseife zum Abschied geschenkt und die ihr beteuert hatte, wie viel ihr dieser Duft hier draußen im Westen auf der einsamen Ranch bedeutete.

Nachdem sie sich mit einem Handtuch abgetrocknet hatte, das an einem hölzernen Haken über dem Waschstand hing, nahm Rachel ein Nachthemd aus ihrer Reisetasche. Der Stoff war kühl und ein bisschen feucht – zweifellos die Folge der Überquerung des Willow Creek, aber es war trotzdem ein wunderbares Gefühl, wieder frische Wäsche zu tragen, nachdem sie in den letzten Wochen ihre Kleidung praktisch nie gewechselt hatte. Dann legte sie sich ins Bett, streckte sich aus und fiel in einen tiefen Schlaf. Sie bemerkte nicht einmal, als Jacob und Trey später ins Zimmer kamen, um die Badewanne rauszutragen.

2

Das Schulhaus war kaum mehr als ein besserer Hühnerstall! Zuerst war Rachel tief enttäuscht, aber dann entschloss sie sich, das Beste aus der Situation zu machen, da ihr ohnehin keine Wahl blieb. Das ›Haus‹ bestand aus einem einzigen Raum in einer Größe von etwa vier mal vier Meter und der Fußboden war nicht mit Holzbohlen ausgelegt, sondern bestand nur aus gestampftem Lehm. Der Ofen war kaum größer als eine Milchkanne und sie konnte sich nicht vorstellen, dass man damit an einem Wintertag, der in Montana eisig sein konnte, überhaupt einen Raum heizen konnte – auch wenn er so klein wie dieser war. Es gab keine Pulte für die Schüler, sondern nur drei Reihen Bänke, die aus rohen Planken gezimmert waren und deren Kanten noch rau und splitterig waren. Unter dem Dach nisteten Vögel und es gab nur ein einziges Fenster hinter dem schlichten Holztisch, der als Lehrerpult gedacht war. Die Scheibe war so verdreckt, dass das wenige Tageslicht, das ins Klassenzimmer fiel, fast ganz ausgefiltert wurde.

Natürlich war alles unvollkommen und unzulänglich, aber Rachel machte sich klar, dass das Schulhaus von Springwater das Ergebnis der gemeinsamen Anstrengung aller Bürger der kleinen Gemeinde war. Die Leute hatten alles, was noch irgendwie verwertbar war, zusammengetragen, alles, worauf sie notfalls verzichten konnten, gespendet und vor allem hatten sie kostbare Zeit geopfert, die ihrer Farm- oder Rancharbeit abging, um die Schule überhaupt zu bauen.

Rachel war froh, dass der Schulunterricht erst Ende August beginnen würde. Das gab ihr Zeit, einige Vorbereitungen zu treffen. Sie trocknete die Schulbücher, die sie aus Pennsylvania mitgebracht hatte und die zum Glück bei der unglückseligen Überquerung des Willow Creek nur wenig gelitten hatten, und ordnete sie. Sie wischte den Fußboden und putzte das Fenster, sie verscheuchte die Vögel und machte Jagd auf alle Arten von Ungeziefer, das sich im Schulhaus breit gemacht hatte. Sie bereitete den Unterricht für verschiedene Altersstufen vor und schrieb Bettelbriefe an alle möglichen Hilfsorganisationen und karitativen Einrichtungen im Osten, in denen sie um Schiefertafeln und Kreide bat, um Landkarten und all die anderen Dinge, an denen es fehlte.

All diese Arbeiten hatte sie innerhalb von zwei Wochen erledigt und danach fand Rachel sich in einer für sie ungewöhnlichen Situation: Sie hatte nichts mehr zu tun. June erlaubte ihr nicht, in der Küche bei den Vorbereitungen der Mahlzeiten zu helfen und sie wollte auch nichts davon hören, dass die Frau Lehrerin aus dem Osten beim Frühjahrsputz, als das ganze Haus auf den Kopf gestellt wurde, mitarbeitete. Rachel konnte es zwar kaum erwarten, endlich ihre Freundin Evangeline wieder zu sehen, aber die Wainwright-Ranch lag ziemlich weit von der Kutschstation in Springwater entfernt. Auf jeden Fall war es zum Laufen zu weit, und als sie vorschlug zur Ranch zu reiten, meinte Jacob, dass es für eine Frau zu gefährlich sei, sich allein in das unwegsame Gelände zu begeben.

Anfangs verbrachte Rachel eine Menge Zeit damit, einfach in der Tür ›ihrer‹ Schule zu stehen und zum Brimstone Saloon zu starren, der sich genau auf der gegenüber liegenden Seite der Straße – falls dieses Wort überhaupt zutreffend war – befand. Sie ärgerte sich maßlos über die Ungerechtigkeit. Der Saloon entsprach in keinster Weise den Vorstellungen, die sie sich von einem Etablissement dieser Art in einer Stadt am Rande der Zivilisation gemacht hatte. Das Gebäude war keine schlichte Blockhütte und es war auch keine halb verfallene Bruchbude. Tatsache war vielmehr, dass es sich bei der Bar um ein gepflegtes Haus handelte, dessen Außenwände weiß gestrichen waren und in dessen Obergeschoss die Fenster in einer Reihe angeordnet waren. Vor dem Eingang wuchs Gras, das regelmäßig geschnitten wurde, und jeden Morgen trat der schwergewichtige Bartender, der in seinem ganzen Auftreten eher an einen englischen Butler erinnerte, vor die Tür, um jede leere Flasche und jede Cheroot-Kippe einzusammeln, die vielleicht ein Gast weggeworfen hatte. Manchmal wurde Rachel wütend, wenn sie daran dachte, dass so eine Institution eine Menge Profit abwarf, während die Schule, die Zukunft der Stadt und des ganzen Territoriums, betteln musste. Aber so richtig wütend war sie geworden, als sie an ihrem zweiten Tag in Springwater erfahren hatte, dass Trey Hargreaves, der Mann, der sie und die Schulbücher gerettet hatte, Mitbesitzer des Brimstone war und ihm die Hälfte des Saloons gehörte. Natürlich kam es in der Bar immer wieder zu Streitereien, denn der Brimstone war in weitem Umkreis bekannt und zog jeden Taugenichts von nah und fern an. Der Saloon galt auch als Anlaufstelle für die Cowboys mit ihren Longhorn-Rinderherden, die Staubwolken aufwirbelten und alles niedertrampelten.

Natürlich war Rachel klar, dass Jammern die Situation nicht ändern würde und dass Ärger und Wut nur ihr selbst schadeten. Deshalb entschloss sie sich eines Tages, Mr. Hargreaves und sein Gewerbe ganz einfach vollkommen zu ignorieren. Sie machte zusammen mit Miss June eine Liste der Familien, die Kinder im schulfähigen Alter hatten und die vielleicht bereit waren, diesen Kindern auch tatsächlich eine schulische Ausbildung zu ermöglichen. Das war keineswegs selbstverständlich, denn das Leben im Westen war hart und die Kinder mussten schon früh auf dem Feld oder im Stall mitarbeiten. Auf der Liste standen die Namen von sechs Familien. Sie lieh sich von Jacob ein Pferd, das nicht mehr für den Kutschdienst eingesetzt werden konnte und auf der Station sein Gnadenbrot fraß. Dann machte sie sich ein paar Tage später – trotz Jacobs Bedenken wegen ihrer Sicherheit – auf den Weg, um die einzelnen Familien zu besuchen.

Die Bellweathers, Tom und Sue, lebten etwa zwei Meilen vom Schulhaus entfernt am Rande einer Lichtung in einer soliden Blockhütte, die sauber und aufgeräumt war. Kathleen, ihre zehnjährige Tochter, war ein lebhaftes, aufgewecktes Kind, einfach und geradeheraus. Rachel mochte Kathleen auf Anhieb.

Tom war ein schlanker, drahtiger Mann mit freundlichen Augen und blauschwarzen Haaren, die auf indianische Vorfahren hindeuteten, während Sue ziemlich scheu wirkte. Sie schien etwas verwirrt und irritiert zu sein, was sie hinter ihrem Lächeln zu verbergen versuchte. »Ich verstehe nicht, weshalb Kathleen in Ihre Schule kommen soll«, sagte sie zu Rachel, als sie diese nach dem Besuch zur Tür brachte. »Sie kann ein bisschen lesen – das hat Tom ihr mit Hilfe der Bibel beigebracht – und sie wird ja doch eines Tages heiraten und Kinder bekommen.«

Diese Einstellung war Rachel nicht neu. Sie hatte dieses Argument im Osten oft genug zu hören bekommen, aber die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass meist ein tieferer Grund hinter solchen Vorurteilen steckte. In diesem Fall vermutete sie – wie in vielen anderen Fällen zuvor –, dass es in der Familie früher noch andere Kinder gegeben hatte, einige vielleicht älter als Kathleen, die inzwischen außer Haus waren, oder jüngere, die nicht mehr lebten. Nach dem Verlust eines Kindes, gar nicht zu reden von mehreren Kindern, richteten die Mütter ihren Beschützerinstinkt meist noch stärker auf die verbliebenen Kinder. Rachel zweifelte nicht daran, dass Mrs. Bellweather schlicht und einfach Angst hatte, Kathleen zweimal den Weg vom Haus zur Schule und wieder zurück machen zu lassen. Dafür hatte Rachel im Grunde ihres Herzens auch vollstes Verständnis.

Sie stand neben ihrem alten Klepper, hielt die Zügel in der Hand und betrachtete mit Zuneigung und Respekt diese ernsthafte Frau, der die Sorge um ihre Tochter ins Gesicht geschrieben stand. »Für Kathleen ist es wichtig, dass sie so viel wie möglich lernt«, sagte Rachel vorsichtig. »Und es ist auch wichtig, dass sie mit anderen Kindern zusammen ist. Vielleicht wäre Mr. Bellweather ja so nett, Kathleen morgens zu begleiten – zumindest ein Stück des Weges – und ihr am Nachmittag wieder entgegenzukommen?«

»Für so etwas haben wir keine Zeit.« Sue Bellweather schüttelte den Kopf, aber es schien nur ein schwacher Protest zu sein. Für einen kurzen Moment zeigte sich in ihren Augen wieder Verwirrung, die sie jedoch schnell überspielte. »Wir sind einfache Farmersleute, Miss English. Wir arbeiten von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, nur um Leib und Seele zusammenzuhalten. Wir brauchen Kathleen hier.«

So schnell gab sich Rachel jedoch nicht geschlagen. »Ich bin sicher, dass Kathleen Ihnen eine große Hilfe ist, aber vielleicht könnten Sie ja doch einen Weg finden, für ein paar Stunden täglich auf sie zu verzichten. Es wäre ja auch nur für die paar Monate im Jahr, in denen der Unterricht stattfindet. Ich verspreche Ihnen, Mrs. Bellweather, dass Kathleen viel größere Chancen im Leben haben wird, wenn sie während der nächsten vier Jahre regelmäßig am Unterricht teilnimmt.«

Mrs. Bellweather seufzte tief. »Das meint Tom ja auch«, gestand sie leise ein und deutete dann auf eine Gruppe junger Birken, die in einiger Entfernung von der Blockhütte standen. Rachel kniff die Augen zusammen und sah, was sie halbwegs erwartet hatte: Gräber, die durch schlichte Holzkreuze markiert waren. »Wir hatten zwei kleine Jungs«, fuhr Kathleens Mutter leise fort. »Sie sind an einem Fieber gestorben, kurz nachdem wir uns hier niedergelassen hatten. Wir hatten auch noch drei kleine Mädchen, nachdem Kathleen geboren war. Eins, sie hieß Betsy, ist eines Tages alleine in den Wald gelaufen. Sie ist in einem nahe gelegenen Teich ertrunken. Die kleine Anna kam unter die Hufe der Pferde und wurde zu Tode getrampelt, bevor Tom ihr helfen konnte. Dann war da noch Mary Beth. Wie ihre Brüder ist sie am Fieber gestorben.« Die Frau schwieg und atmete tief durch. »Kathleen ist alles, was uns geblieben ist.«

Rachel wollte nichts mehr, als die Frau in den Arm nehmen, um mit ihr zu weinen, weil das Leben so grausam sein konnte, so unendlich grausam. Aber Rachel hatte auch die Erfahrung gemacht, dass es Situationen gab, in denen Tränen keine Lösung waren – und dies war so eine Situation, denn Mrs. Bellweather war kaum mehr geblieben als ihre Würde und sicher würde sie so ein Zeichen des Mitgefühls als Mitleid empfinden, und diesen Eindruck wollte Rachel der Frau nicht vermitteln. »Ich werde gut auf Kathleen aufpassen, solange sie bei mir ist«, versprach sie.

»Ich schätze, damit muss ich mich wohl zufrieden geben«, sagte Mrs. Bellweather resignierend. »Tom denkt ja genau wie Sie, aber ich bin immer noch gegen die ganze Sache. Das wollte ich Ihnen jedenfalls gesagt haben.«

Es gab nichts, was Rachel darauf noch hätte antworten können. Sie dankte Sue Bellweather für den Tee und den freundlichen Empfang und verabschiedete sich mit den Worten, dass sie sich freuen würde, wenn sie Kathleen am letzten Montag im August in der Schule sehen würde. Dann stieg sie in den Sattel des alten Pferdes und ritt davon.

Inzwischen war es fast Mittag und Rachel, die mit Miss June und Jacob schon gegen sechs Uhr gefrühstückt hatte, war hungrig. Sie wartete, bis sie außer Sichtweite der Blockhütte war, und fischte dann aus der Satteltasche ein Sandwich mit kross gebratenem Ei, das sie sich zurechtgemacht hatte, bevor sie von der Kutschstation aufgebrochen war. Die Hälfte davon verschlang sie mit ein paar hastigen Bissen, steckte den Rest wieder weg und versuchte, sich an die Wegbeschreibung zu erinnern, die Jacob ihr gegeben hatte, bevor sie losgeritten war.

Als Nächstes würde sie die Kildare-Ranch besuchen, eine kleine Ranch, die einem Witwer gehörte, der – nach der Liste, die Miss June mit ihr aufgestellt hatte – zwei Söhne hatte, Jamie, acht Jahre alt, und Marcus Aurelius, der schon zehn war. Sie lächelte immer noch über den ungewöhnlichen Namen des älteren Jungen, während sie mit dem müder werdenden Pferd einen Hügel hinauf und in einen kleinen Wald ritt. Ihre Gedanken kreisten immer noch um die kleine Kathleen Bellweather – und die Last, die das Kind tragen musste, weil es das einzige Überlebende war. Sie war durch diese Gedanken so von ihrer Umgebung abgelenkt, dass sie plötzlich in einem provisorischen Lager stand, bevor es ihr eigentlich ganz bewusst war. Offensichtlich war sie von dem Weg abgekommen, den Jacob ihr beschrieben hatte.

Vor einem alten Conestoga-Wagen ohne Räder, dessen Tür mit schräg gestellten Ästen und Zweigen abgedeckt war, brannte in einem Kreis aus Steinen ein Feuer. Da es durchaus denkbar war, dass die Bewohner dieses Lagers Fremden gegenüber nicht gerade freundlich gestimmt waren, wollte Rachel sich gerade lauthals bemerkbar machen und sich dafür entschuldigen, dass sie einfach in das Lager eingedrungen war, als ein kleines, sommersprossiges Gesicht hinter dem Wagen hervorlugte.

»Wer bist du?«, fragte das Kind herausfordernd.

Der Junge, den Rachel sah, musste neun, höchstens zehn Jahre alt sein. Er hatte weizenblonde Haare, die ihm ins Gesicht fielen, er ging barfuß und seine Kleidung bestand aus Lumpen.

»Ich heiße Rachel English«, erwiderte sie und ließ sich dabei vom Rücken des Pferdes gleiten. Es tat gut, wieder auf den eigenen Beinen zu stehen. Sie war es gewohnt, zu Fuß zu gehen. Zwar war sie eine ganz gute Reiterin, aber sie fühlte sich im Sattel nicht unbedingt wohl. »Und wie heißt du?«

»Du verschwindest besser, bevor mein Pa zurückkommt«, warnte der Junge sie.