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Emma hat ein Geheimnis. Sie ist das erste Mal verliebt. Aber das ist nicht das Einzige, was im Leben der sonst eher stillen Emma für Aufregung sorgt. Denn auch ihr Onkel Georg, der mit Emma und ihrer Mutter zusammen in einem Haus wohnt, hat ein Geheimnis. Irgendetwas ist da in seiner Vergangenheit vergraben. Und schließlich stellt Emma fest: Manchmal braucht man ganz schön viel Fantasie, um sich die Realität vorstellen zu können. Und was genau es mit den spukenden Vogelfaltern auf sich hat, kann Emma am besten selbst erzählen. Macht Euch bereit für eine Reise durch Emmas Tag, die in einer zauberhaften Nacht voller Spannung endet.
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Seitenzahl: 210
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
„Es ist schön, dich Lachen zu sehen. Es ist immer schön jemanden Lachen zu sehen.“
Dieser Gedanke drängt sich mir immer wieder auf. Immer wieder lugt er aus den Tiefen meiner anderen Gedanken hervor, während ich nach Hause gehe. Er bringt ein schönes Gefühl mit sich. Und er zaubert ein Lächeln auf mein Gesicht.
Trotz dieser angenehmen Gedankenunterhaltung zieht sich mein Nachhauseweg heute ins Unendliche. Mein Weg von der Schule nach Hause ist so abgelaufen wie meine Turnschuhe. Die würde ich eigentlich schon lange gerne gegen ein Paar neue Boots eintauschen. Aber die, so hat es meine Mutter gesagt, solle es erst zu meinem Geburtstag geben. Der wiederum ist erst im Winter und wir befinden uns gerade im Niemandsland zwischen Frühjahr und Sommer. Deshalb heißt es für mich weiterhin: alte Wege in alten Schuhen.
Während ich an der Ampel stehe und auf das grüne Ampelmännchen warte, schaue ich mich um. Die Autos rauschen an mir vorbei. Ebenso wie die Frage in meinem Kopf, weshalb es bei der Wahl der Lackierung nicht mehr Mut zur Farbe gibt. Die meisten Autos sind schwarz, grau, blau und manchmal rot. Bis auf die Autos bewegt sich nicht viel. Zu entdecken gibt es für mich hier nichts mehr. Schließlich bin ich den Weg bereits hunderte Male gegangen. Die Langeweile lauert hinter jeder Ecke und ist bereit, sich träge auf mich zu stürzen.
Das ist in der Schule vorhin zwar ähnlich gewesen, aber dort gab es Mittel und vor allem auch Personen, um sie zu bekämpfen. In der letzten Stunde ist die Langeweile nicht nur auf der Lauer gelegen, sondern sie hat mich komplett überrumpelt. Bis plötzlich etwas in meine Rippen gerammt wurde. Erschrocken stellte ich mit einem Blick zur Tafel fest, dass ich kurz eingenickt bin, während unser Lehrer Herr Brock von der Chemie in die Alchemie abdriftete. Damit ich das nicht verpasse, hat mich Mia mit einem liebevoll heftigen Stoß in die Seite wieder zu den wachen Lebenden zurückgeholt.
„Morgääähn“, flüsterte sie mir zu.
Ich kenne Mia seit der fünften Klasse. Sie hat mich an unserem ersten Schultag an der Gesamtschule quasi adoptiert. Wir standen damals auf dem Flur vor unserem zukünftigen Klassenzimmer. Mia mehr im Mittelpunkt und ich etwas weiter abseits. Ich kann mich vor allem noch an den gräulichen Abdruck eines Fußballs an der Decke des Schulflurs erinnern. Und an die in meinem Kopf hallende Stimme von unserer Klassenlehrerin Frau Lott, die meinen starrenden Blick an die Decke und die Gedanken an die Entstehungsgeschichte des Fußballabdrucks unterbrachen. Sie schien meinen Namen nicht zum ersten Mal aufzurufen. Ich blickte zwar so schnell wie möglich von der Decke zu ihr, aber ihr amüsiertes Grinsen verriet mir, dass sie bereits längere Zeit versucht hatte, meine Aufmerksamkeit zu bekommen. „Das bin ich“, sagte ich, obwohl dies vermutlich bereits alle wussten.
Als Frau Lott den nächsten Namen ausrief, war es für mich endlich Zeit auszuatmen. Dabei traf mein Blick auf Mias strahlendes Gesicht. Bevor ich ihrem Blick ausweichen konnte, kam sie schon auf mich zu. Während ich noch über ihre unfassbar lässig schwingenden Jeans nachdachte, streckte sie mir bereits energiegeladen ihre Hand entgegen.
„Ich bin Mia. Und du bist wohl die dreifach genannte Emma. Ich kann dir Schutz und Spaß bieten“, sagte sie, als sei ich ihre neue Zellengenossin im Gefängnis, während sie sich über ihre eigenen Worte kaputtlachte.
So haben Mia und ich uns kennengelernt.
Auf dem Weg von der Schule nach Hause hingegen, gibt es keine Mia. Und deshalb stehe ich, während ich an der Ampel warte, mit meinen Gedanken allein da. Eigentlich höre ich beim Laufen immer ein Hörbuch. Aber das geht schlecht, wenn der Akku vom Handy schlapp gemacht hat. Gestern Abend wollte ich es wie immer über Nacht laden. Wie immer habe ich nach dem Ladegerät neben meiner Nachttischlampe gegriffen. Aber da war es nicht! Ich suchte weiter unter meinem Kissen und unter dem Bett sowie in meinem Nachttisch, dann auf meiner Kommode und schließlich im ganzen Haus. Aber alle Ladegeräte im Haus schienen verschwunden zu sein. Und so ging ich mit miesen 33 Prozent Energie schlafen.
Nun lehne ich gegen den Ampelmast mit mittlerweile nur noch miesen o Prozent Akku. Mein Blick fällt nach links. Eine Reihe von Laternen läuft die lange Straße zum Industriegebiet hinunter. Die Laternen beugen ihre Hälse über den Bürgersteig, als würden sie die Passanten durchleuchten wollen.
Am Ende der Straße, etwas links vom Industriegebiet, ragt der Katzenberg empor. An dieser Stelle ist er wie eine Gesteinswand, die aus dem Nichts auftaucht. Es kommt immer mal wieder vor, dass der Weg am Rand der Steinwand gesperrt wird, wenn es über Nacht tonnenschwere Gesteinsbrocken geregnet hat.
Der steile Abhang verwandelt sich weiter oben in ein Dickicht aus Laub- und Nadelbäumen. Am oberen Ende des Katzenbergs kann man die Ruine eines Hauses erkennen. Allerdings auch nur dann, wenn man den Berg schon einmal im Winter betrachtet hat und weiß, wo sich die Ruine befindet. Im Winter sieht man nämlich durch die kahlen Baumwipfel die Umrisse der Ruine. Jetzt, im Niemandsland zwischen Frühjahr und Sommer, umgibt die Ruine ein dicker Mantel aus grünem Geäst, der es schwierig macht, das alte Haus zu erkennen. Heute kann ich nur die Spitze des roten Ziegeldachs sehen.
Diese Ruine, wie das nun einmal mit Ruinen so ist, bekam auch im Laufe der Zeit einen gespenstischen Ruf. Und weil sie da oben auf dem Berg besonders schwer zugänglich ist, ist ihr Ruf sogar besonders gruselig. Und weil sie da oben für alle in der Stadt besonders gut sichtbar ist, ist ihr Ruf besonders verbreitet.
Einige Leute meinen sogar, sie würden nachts von der Stadt aus leuchtende Geister sehen, die durch das Gemäuer ziehen. Eine Gruppe von Realisten hingegen spricht eher von Taschenlampen, die Wohnungslose mit sich führten, die in der Ruine einen Schlafplatz suchten. Und dann gibt es da natürlich noch eine Gruppe von wohnungslosen Menschen, die die Ruine kein zweites Mal betreten wollen, weil sie meinen, dass es dort oben spukt. So richtig kann ich mich noch nicht entschließen, welcher Gruppe ich angehören möchte.
Zurück zu meinem Schulweg. Der hat wirklich viele Attraktionen zu bieten. Dem Ausblick auf den Katzenberg folgt der Ausblick auf die lange Backsteinmauer einer verlassenen Marmeladenfabrik. Mein Onkel erzählt immer, dass man dort früher im Morgengrauen einen wunderschönen Spaziergang machen konnte. Wer morgens dort entlang ging, konnte den Dampf von Erdbeeraroma inhalieren, der aus der Kanalisation nach oben stieg. Wer lieber Orangen mochte, musste am Dienstag kommen und am Donnerstag gab es Kirscharoma. Mittlerweile ist die Fabrik jedoch stillgelegt. Keine fruchtigen Aromen mehr. Es wird dort gebaut.
Ein paar Meter nach der ehemaligen Fabrik treffe ich dann meistens auf unseren Nachbarn. Er trägt immer dieselbe braune Tasche in der linken Hand und immer dieselbe graue Jacke am Körper. Egal ob es Winter oder Sommer ist. Ich stelle mir dann vor, wie er zu Hause zur Tür hereinkommt, seine Tasche abstellt und sich dann auf sein grünes Plüschsofa setzt, um in die Leere zu starren. Dabei weiß ich noch nicht mal, ob er überhaupt allein wohnt. Heute jedoch ist von ihm keine Spur zu sehen.
Mein Blick senkt sich zu den Pflastersteinen unter mir. Während ich versuche, den schwarzen und den gespaltenen Steinen auszuweichen, krame ich in der Tasche nach meinem Haustürschlüssel. Aber ich finde ihn nicht. Schon wieder etwas, das nicht auffindbar ist. Was ist in letzter Zeit bloß los? Bin ich so vergesslich geworden, dass ich nicht mehr weiß, wo ich meine Sachen hingelegt habe?
Schließlich komme ich vor unserem Haus an. Von meinem Schlüssel ist in meiner Tasche noch immer nichts zu sehen. Wie soll ich ohne Schlüssel ins Haus kommen? Ist irgendjemand zu Hause? Meine Mutter ist auf der Arbeit, das weiß ich. Ich hoffe, dass Onkel Georg mir die Tür aufmachen kann. Er wohnt seit einiger Zeit bei uns und ist vermutlich da. Heute hat ihn, wie schon so oft, nichts dazu bewegen können, den Tag in der Tagespflege zu verbringen.
Rein theoretisch muss also jemand zu Hause sein, der mir die Tür öffnen könnte. Die Frage ist nur, ob sich Onkel Georg im richtigen Moment daran erinnern kann, wo die Tür ist. Oder ob er das Geräusch der Klingel überhaupt als ein Zeichen, dass jemand vor der Tür steht, verstehen würde.
Onkel Georg ist, um genau zu sein, mein Großonkel und vor fast einem Jahr bei uns eingezogen. Man kam mehr oder weniger gemeinsam mit ihm zu dem Schluss, dass er nicht mehr allein leben konnte. Vor allem, nachdem er sich einmal in seiner Wohnung verbarrikadiert und die Feuerwehr daraufhin Probleme hatte die Bratpfanne zu löschen, die er auf dem Herd vergessen hat. Onkel Georg musste daraufhin wegen einer Brandvergiftung im Krankenhaus behandelt werden. Als meine Mutter und ich ihn besuchten und auf sein Krankenbett zuliefen, sagte er nur: „Ihr habt wirklich was verpasst!“
Auf diese Ereignisse hin, ist Onkel Georg dann bei uns eingezogen. Den Umzug hat er damals erstaunlich gut verkraftet. Am Morgen nach seinem Einzug sagte er sogar „Ich fühl mich schon wie zu Hause“. Dann gibt es aber wieder Momente, in denen er sich weder an diesen Umzug noch an sonst etwas in seinem Leben erinnern kann. Manchmal schaut er mich verwundert an, um dann zu fragen, wie ich denn ins Haus gekommen bin.
Onkel Georg hat bereits früher einmal in unserem Haus gelebt. Das Haus war früher mal sein Haus. Nachdem seine Frau, also meine Tante, gestorben ist, hat er das Haus meiner Mutter und mir überlassen und ist in eine Wohnung gegenüber von seiner Lieblingskneipe gezogen. Er sagte dann immer, dass ihn das Haus nur davon abhalte zu vergessen und dass meine Mutter und ich es mit neuem Leben füllen sollten. Ich glaube, er wollte meine Mutter einfach glücklich sehen und seine Trauer hinter sich lassen.
Ab und zu scheint mein Onkel aber von all dem nichts mehr zu wissen. Nichts davon, dass er aus dem Haus ausgezogen und wir dort eingezogen sind. Und nichts davon, dass seine Frau gestorben ist. Er ist sich dann so sicher, niemals ausgezogen zu sein. Wir versuchen dann, so gut es geht mitzuspielen. Wir wollen ihn nicht mit der Wahrheit verletzen. In manchen Momenten lebt er vollkommen in der Vergangenheit. Er ist sich dann sicher, dass meine Mutter und ich hier falsch sind. Ein bisschen sind wir das auch, denke ich dann immer.
Einmal stand Georg in meiner Zimmertür, während ich am Schreibtisch versuchte, mir das englische Wort für Schwindel zu merken. Ich hörte ihn vorsichtig atmen und schaute zu ihm herüber.
„Was?“, fragte er. „Wo ist mein...“, fing er an.
Mit verunsichertem Blick suchte er den Raum ab, der früher mal sein Arbeitszimmer war. Aber sein Schreibtisch stand hier nicht mehr, sondern meiner. Ich fühlte mich schlecht und fragte ihn verschämt, ob er etwas suche. Dann drehte er sich geknickt um und verschwand, als hätte er für einen Moment begriffen, was alles geschehen ist. So als könne er sich wieder erinnern, dass er vergaß . Die Diagnose Demenz ist dann mit einem Mal im ganzen Raum so präsent, wie ein pinker Elefant.
Wieso beginnt man zu vergessen, wenn man alt ist? Wann hat das eigentlich alles angefangen? Wann hat Onkel Georg begonnen zu vergessen? Irgendwann einmal, als Onkel Georg noch allein in dem Haus lebte, waren wir bei ihm zum Geburtstag eingeladen. Zu Kaffee und Kuchen an einer großen Tafel mit dem guten Geschirr mit Goldrand. Noch bevor wir uns setzten, fiel meiner Mutter auf, dass sich auf der Geburtstagstorte keine Kerzen befanden.
„Was, keine Kerzen auf dem Kuchen? Das geht aber so nicht! Irgendwo musst du doch Kerzen haben“, oder so etwas in der Richtung sagte sie.
Onkel Georg wies daraufhin in die Richtung der Abstellkammer unter der Treppe. Meine Mutter und ihre Schwester stürzten los. Und bei der Suche nach den Kerzen fiel ihnen auf, dass jemand etwas in den schönen Dielenboden der Abstellkammer geritzt hatte. Mein Onkel behauptete damals etwas verärgert, dass ich das getan hätte. Sein Motto war scheinbar: Wenn es noch keinen Schuldigen gibt, gib einfach schnell dem Kind oder dem Hund die Schuld! Mein Onkel meinte, dass ich erst letzte Woche mit meinen Wachsmalstiften dort alles vollgemalt hätte. Währenddessen schüttelte er verwirrt den Kopf.
Zu dem Zeitpunkt war ich aber schon 12 Jahre alt und habe die Sache mit den Wachsmalstiften schon lange hinter mir gelassen. Ich habe damals nichts dazu gesagt. Warum weiß ich selbst nicht mehr. Vielleicht war ich einfach überfordert mit der Situation. Aber auch die anderen nahmen Onkel Georgs Vermutung damals einfach so hin. Es war auch nicht wirklich etwas Schlimmes passiert. Den unscheinbaren Vorfall sieht meine Mutter heute jedenfalls als das erste leise Anzeichen von Onkel Georgs besinnender Demenz.
Ich stehe nun immer noch vor unserem Haus. Während ich weitersuchend in meinen Taschen wühle, blicke ich die Ankerstraße hinab, in der wir wohnen. Mein Schlüsselbund bleibt verschwunden. Eventuell habe ich ihn in der allmorgendlichen Hektik auf dem Tisch im Flur liegen lassen. Anstelle des Schlüssels finde ich deshalb in meiner Jackentasche nur einen Zettel. Den Zettel, den Mia mir in der letzten Stunde geschrieben hat:
Es tut gut, dich Lachen zu sehen. Es ist überhaupt immer und sowieso schön, jemanden Lachen zu sehen. Ich kann mich nicht daran erinnern, während des Unterrichts gelächelt zu haben. Ich habe eher einen Kampf gegen meine Augenlider geführt, die sich mit aller Macht schließen wollten. Gelacht habe ich auf keinen Fall!
Mit einem Lächeln im Gesicht stelle ich gerade erleichtert fest, dass unsere Haustür einen Spalt weit offensteht. Ich schiebe die Tür ganz auf und schaue hinein. Mein Blick fällt durch den Flur und durch die Küche hindurch auf meinen Onkel, der sich über den Esstisch beugt und mich freundlich hinein winkt.
„Kommen Sie rein, es ist noch Platz“, sagt er, als sei ich für ihn ein zukünftiger Kneipenkollege.
Ich schließe die Haustür hinter mir und schaue im Vorbeigehen auf das Tischchen im Flur. Dort liegt mein Schlüssel auch nicht. Ich gehe weiter ins Esszimmer. Mein Onkel hat es sich am Esstisch bequem gemacht und Tüten mit Samen sowie Töpfe mit Setzlingen vor sich verteilt. Scheinbar ist er damit beschäftigt, seine Blumensamensammlung zu sortieren. Onkel Georgs Hände sind schmutzig und unter seinen Fingernägeln hat sich schwarze Erde festgekrallt. Er ist offensichtlich mit seinem aktuell wichtigsten Hobby, dem Gärtnern, beschäftigt. Der Anblick erinnert mich an etwas. Ich weiß jetzt, wo mein Schlüsselbund geblieben ist.
Mein Onkel sammelt die Samen der unterschiedlichsten Pflanzen und verstaut sie sorgfältig in einer kleinen, hölzernen Kiste im Wohnzimmerschrank. Fein säuberlich sortiert und kategorisiert lagern sie in dem unscheinbaren Kistchen. Niemals würde er auf die Idee kommen, diese Samen tatsächlich in unserem Garten anzupflanzen. Das Wichtigste für Georg ist, dass die Samen geordnet sind und an der richtigen Stelle liegen. Alle anderen Gegenstände, die Georg im Laufe eines Tages im Haus findet, werden von ihm aus unserer Sicht mit weniger Sorgfalt behandelt. Er hat seine ganz eigene Art, sich um die Fundstücke des Tages zu kümmern. Gegenstände im Garten zu vergraben, ist nämlich neben dem Blumensamensammeln Onkel Georgs zweite große Leidenschaft.
Wann immer meine Mutter oder ich etwas suchen und es nicht finden, können wir davon ausgehen, dass mein Onkel es irgendwo im Garten vergraben hat. Das haben wir mittlerweile verstanden. Aber dass Onkel Georg im Garten die unterschiedlichsten Dinge vergrub, ist meiner Mutter und mir zuvor lange Zeit gar nicht aufgefallen. Wir haben nur viel und lange gesucht! Es dauerte also einige Zeit, bis wir verstanden haben, was Onkel Georg mit den unterschiedlichsten Dingen aus dem Haus angestellt hat.
Meiner Mutter ist zunächst positiv aufgefallen, dass sich Georg häufig im Garten aufhielt und dort mit viel Enthusiasmus die Beete neu anlegte. Es war schön zu sehen, dass er etwas hatte, mit dem er sich beschäftigen konnte und dabei noch etwas zum Gemeinwohl beitrug. Wir haben immer gedacht, Georg würde sich leidenschaftlich der Gartenarbeit widmen, wenn wir ihn draußen sahen. Und dass er ein Herz für Unkraut hat, weshalb sich Löwenzahn, Disteln und Brennnesseln frei entfalten dürfen.
Onkel Georg kümmert sich um alle Pflanzen. Er stutzt, gießt und bietet Rankhilfen an, wo er nur kann. Der Ansicht, dass er sich ausschließlich liebevoll um die Pflanzen kümmert, waren wir jedoch nur bis zu dem Tag, an dem meine Mutter den Einfall hatte, unseren leicht verwilderten Garten von dem ein oder anderen Unkraut zu befreien.
Mit einer Schaufel auf der Schulter ging sie entschlossen nach draußen. Besonders die Ecke hinten links in dem rechteckigen Garten hatte es ihr angetan. Dort hatten sich nicht nur Brennnesseln, sondern auch Bambus und Efeu ausgebreitet, die bereits für reichlich Unmut beim Nachbarn sorgten. Trotz allem Verständnis für Onkel Georgs Pflanzenliebe war es Zeit, einzuschreiten, denn Ärger mit den Nachbarn wollten wir nicht.
Meine Mutter ging also in den Garten und wollte so viele Wurzeln wie möglich entfernen. Sie grub eifrig und tief. Und was sie dort unter der Erde fand, war erstaunlich. In der Nähe des Apfelbaums lag ihre Bankkarte, die Kabel meiner Kopfhörer hatten sich in hunderte von Wurzeln verfangen und ein kleiner Kerzenständer rostete unter einem Löwenzahn. Aber sein Meisterstück hatte mein Onkel vollbracht, indem er den zwei mal zwei Meter großen Wohnzimmerteppich aufgerollt entlang der Beetgrenze verbuddelt hatte. Das Erstaunlichste an der ganzen Sache war jedoch, dass meine Mutter und ich das Fehlen des Teppichs überhaupt nicht bemerkt hatten.
Nachdem meine Mutter die ersten Funde gemacht hat, rief sie mich dazu und wir suchten gemeinsam den Garten ab. Während wir damals das große Beet entlang des Zauns umgruben und der Haufen von verloren geglaubten Kleinigkeiten weiter anwuchs, stand mein Onkel nur an der Terrassentür und lächelte. Als wir später von der Gartenbank aus zufrieden und erschöpft auf unser Werk blickten, gab meine Mutter zu, dass die ganze Aktion mit dem Umgraben zumindest ein Gutes hatte: Das Beet war jetzt unkrautfrei.
Mit diesem Hintergrandwissen ist mir also klar, wo ich nach meinem Schlüsselbund suchen muss. Ich gehe in den Garten und schon auf den ersten Blick entdecke ich die Stelle im Beet, an der die Erde frisch umgegraben ist. Ich muss nicht tief graben, schiebe nur etwas Erde beiseite und finde meinen Schlüsselbund wieder.
Am nächsten Morgen frage ich mich, was ich mich an beinahe jedem Morgen frage: Warum muss die Schule bloß um acht Uhr beginnen? Um acht Uhr am frühen Morgen! Der Wecker scheppert ohne Rücksicht auf meine Gefühle. Mit halb zugekniffenen Augen gehe ich ins Bad, mit halb zugekniffenen Augen ziehe ich mich an und mit halb zugekniffenen Augen gehe ich die Treppe zur Küche hinunter.
Ich lande inmitten eines Sturmes. Meine bereits voll aktive Mutter wirbelt unaufhaltsam durch das Erdgeschoss. Ich fühle mich, als sei ich noch auf den Zeitlupenmodus eingestellt, während sie wie jeden Morgen schon die Taste für schnelles Vorspulen gedrückt hat. Das „Guten Morgen“, das wir uns wünschen, geht irgendwo zwischen den beiden Zeitstufen verloren und ich setze mich auf den Stuhl hinter dem leeren Teller. Meine Mutter redet. Das kann sie gut Ich nicht.
Ich versuche dem zu folgen, was meine Mutter erzählt. Das ist jedoch nicht so einfach, denn sie steht während des Erzählens nicht still. Sie bleibt noch nicht mal im selben Raum. Während sie redet, zieht sie kreisförmige Bahnen durch die untere Etage unseres Hauses. Sie verlässt die Küche durch die eine Tür, läuft durch das Wohnzimmer und kommt durch die zweite Küchentür wieder zurück. Mit meinem halb wachen Gehirn versuche ich zu verstehen, was sie sagt. Nur so viel bekomme ich mit: Sie würde Onkel Georg gleich auf dem Weg zur Arbeit bei der Tagespflege vorbeibringen. Und sie fragt mich, ob ich ihn nach der Schule abholen könnte, worauf ich zustimmend antworte.
„Ob sich Onkel Georg wohl wie ein Möbelstück fühlt?“, denke ich kurz.
Aber da ist noch mehr, was meine Mutter mir zu erzählen versucht oder auch erzählt. Sie erwähnt da einen Abend, an dem sie nicht zu Hause sein würde. Das klingt erstmal spannend und lässt mich aufhorchen. Doch bevor ich genauer nachfragen kann, was genau sie damit meint, verabschieden sie und Onkel Georg sich bereits und die Haustür fällt mit einem Knall hinter ihnen ins Schloss. Da muss ich später nochmal nachhaken!
Mit dem Zufallen der Tür kommt das Drehen meines Kopfes zu einem abrupten Ende. Endlich Stille! Ich lehne mich entspannt zurück und schlürfe meinen Kakao. Zumindest bis mich die tickende Küchenuhr höflich, aber bestimmt darauf hinweist, dass es Zeit ist, mich auf den Weg zur Schule zu machen. Oder besser gesagt, dass die Zeit, um sich auf den Weg zu machen bereits verstrichen ist.
Wie erwartet, komme ich zu spät. Vor der Schule steht kein Mensch mehr. Der große braune Klotz mit seinen fein säuberlich nebeneinander angeordneten Fensterreihen hat bereits alle durch seine kleine Öffnung in sich hinein gesogen. Auch in der Eingangshalle und der Cafeteria sitzt und steht niemand mehr. Ich biege nach rechts ab und laufe hastig den leeren, allzu grellen, glatt gefegten Flur hinunter.
Besorgt, dass es Ärger geben könnte, bin ich nur ein wenig. Wegen meiner kleinen Verspätung habe ich eigentlich nicht viel zu befürchten. Die ersten zwei Stunden haben wir Kunstunterricht und da laufen von der ersten bis zur letzten Minute sowieso alle von einem Platz zum anderen. Deshalb fällt es dort nie auf, wenn mal jemand zu spät kommt, so wie ich heute.
Wie ich es erwartet habe, steht die Tür zum Kunstsaal weit auf. Als ich hineingehe, ist von der Kunstlehrerin nichts zu sehen. Dafür sehe ich Mia, die mit beiden Händen so ziemlich jede verfügbare Farbe auf einem Gebirge aus Pappmache verteilt. Mit einer Regenbogenhand winkt sie mir zu, um mich zu ihr zu lotsen. Als wäre ich nicht schon auf dem Weg zu ihr.
„Was grinst du denn so?“, fragt sie mich.
„Du siehst so aus, als wärst du eins geworden mit der Farbe. Hat Frau Rohmen noch gar nicht bemerkt, dass ich nicht da bin?“
„Nein, natürlich nicht! Die ist wie immer nur kurz vorbeigerauscht und dann war sie auch schon wieder weg. Wohin auch immer!“
Mia macht eine kurze Pause. Von Kopf bis Fuß prüft sie mich mit ihrem wissenden Blick.
„Keine Panik, Emma!“, sagt sie.
Mias Pappmaché-Gebirge erinnert mich an durcheinander gewirbelte Tortenstücke. Tortenstücke die sich cremig verschmelzend umeinanderwinden. Die Assoziation liegt nah. Ihre Eltern betreiben eine Konditorei in der Innenstadt. Eine Konditorei, vor der sich am Sonntagmittag eine Schlange bildet, um noch an ein Stück der besten neuen Torte der Stadt zu kommen. Letzten Sonntag war das Spezialangebot eine Komposition aus Wassermelonencreme mit weißer Schokolade und Pecannuss-Crunch auf Knusperboden. Und diese Komposition hat überragend traumhaft geschmeckt, als Mia und ich diese am Samstag zuvor als Testesser probieren durften.
Nun erklärt mir Mia, dass ihr Kunstwerk eine Hommage an einen der unglaublichen Angestellten der Konditorei ist. In diesem konkreten Fall bezieht sie sich auf einen Vorfall am vorigen Nachmittag. Einen Vorfall mit Sven. Sven ist ein Mann, der nach eigener Aussage nicht verstehen kann, warum man ihm ständig kündigt. Auch versteht er nicht, warum er nach Aussage aller anderen Mitarbeitenden vor allem für Chaos sorgt.
Gestern ließ Sven nun alle in der Konditorei wissen, dass er eine neue Tortencreme erschaffen habe. Zuvor hat er sich in die Backstube zurückgezogen und eine Schlacht mit Butter, Nüssen, Milch und anderen Zutaten veranstaltet. Seine eigentliche Aufgabe, die anderen beim Verkauf hinter der Theke zu unterstützen, hat er dabei etwas schleifen lassen. Schließlich war es viel lustiger, im „Kuchen-Laboratorium“ geheime Tortenmixturen zu kreieren, als im Ladenlokal Kuchen an die bereits ausreichend gesättigte Kundschaft zu verkaufen.
Für seine neue Kreation hat er eine Zutatenpalette von Ananas über Lakritz und Krokant bis zu Zimt gemischt, wobei etwas ziemlich Braunes herausgekommen ist. Und dieses Braun hat laut Mia genauso ausgesehen wie die Farbe ihres Gebirges. Und genau wie Mias Kunstwerk, hat die Eiskreation nur nach Nougat-Schokolade ausgesehen, aber absolut nicht so geschmeckt. Das merke ich, als ein Spritzer der Farbmischung von Mias Hand direkt in meinen Mund fliegt.
„Letzten Valentinstag, was meiner Meinung nach ein völlig überflüssiger Tag ist, auf jeden Fall war Sven da auch wieder voller Tatendrang. Woher habe ich denn das Wort ,Tatendrang' jetzt schon wieder? Damit beschreibt man doch eher die Entwicklung eines Kleinkindes. So nach dem Motto: Hier seht ihr unseren kleinen Engel, er ist schon voller Tatendrang. Oder?“, erzählt Mia vor sich hin.
Ich nicke zustimmend.
„Und was war jetzt mit Sven?“, versuche ich den roten Faden von Mias Erzählung wieder aufzunehmen.
„Wie gesagt, wir schrieben den zuckersüßen Valentinstag. Ich kam gerade von der Schule nach Hause und musste unglaublich dringend aufs Klo. Also bin ich zur nächstbesten Toilette gegangen. Das war die im hinteren Teil des Ladenlokals. Als ich hineinging und den Lichtschalter drückte, da leuchtete es mir rot entgegen. Ich dachte es wäre plötzlich die Alarmstufe ausgerufen worden. Aber nein! Sven hatte ein rotes Tuch über die Lampe gehängt. Seine Begründung für diese Dekoidee war: Das sei so doch alles gleich viel romantischer, meinte er. Es sei ja Valentinstag.“