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1945. Der Krieg ist vorbei. Allmählich normalisiert sich der Verkehr zwischen den ehemals feindlichen Ländern. Im Privaten bedeutet dies, dass aus politischen Gründen unterbrochene Beziehungen wieder aufgenommen werden können: den 1937 in der Schweiz gestrandeten Asylanten erreichen zwischen 1945 und 1956 Briefe von Familienmitgliedern, Freunden und Bekannten aus aller Herren Länder, Briefe, die Schicksale erzählen. Den in eine Erzählung eingebetteten Briefdokumenten sind als Collage eine Krimi-Satire und eine Farce beigefügt, die vom Überleben in einem schwierigen Alltag handeln. Privatzeug 1856 bis 2012 Versuch einer Spurensuche besteht aus fünf Spuren. Jede Spur hat eine andere Hauptperson. Eine Mutter, deren Sohn im Exil lebt. Da ist das Thema Migration (1). Ein Mensch, der seine Spuren sucht. Der spielerische Umgang mit der eigenen Geschichte (2). Ein Teenager, der sich seinem Tagebuch anvertraut. Auch das Intime muss irgendwie raus (3). Ein Dichter, der nicht mehr veröffentlichen kann. Protest gegen bestehende Verhältnisse (4). Ein Ausgewanderter, der Briefe von seinen Freunden, Verwandten und Bekannten aus der alten Heimat und aus dem übrigen Ausland erhält. Die Ankunft am fremden Ort (5). Die Spuren, die aus Dokumenten bestehen, erzählen Geschichten, die das Leben schrieb und die sich dementsprechend wie ein Unterhaltungsroman über scheinbar gewöhnliche Alltage lesen.
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Seitenzahl: 433
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Weben. Briefdokumente 1945 bis 1955 Zürich 2015
von Rainer Bressler
Texturen. Krimi-Satire. 1998
von Relsserb Reniar
Der Salon des Monsieur Westbury. Farce 1979
von Rainer Bressler
Briefe, Dokumente, Fotos und Bilder
Familienarchiv Bressler
Weben. Reisen 1
Texturen
Weben. Reisen 2
Der Salon des Monsieur Westbury
Weben. Spielen
Texturen (Fortsetzung)
Weben. Schreiben
Texturen (Fortsetzung)
Weben. Dichten 1
Texturen (Fortsetzung)
Weben. Dichten 2
Texturen (Fortsetzung)
Weben. Weben
Anhang
Schlusswort
Literatur
Biografisches
Weben. Briefdokumente 1945 bis 1955 Zürich 2015
von Rainer Bressler
Victory day. Herrliches Maiwetter & mittags unverhofft frei. Zuerst auf den Markt in Brugg, dann fährt Gritli – sehr elegant im neuen Kostüm – nach Baden. Stadtbummel. Geschäfte geschlossen, einige Fahnen. Kurkonzert im Freien bei herrlicher Glace. 18h heim, Znacht. 20 bis 20.15h Friedensglocken – mit dem Klosterglöckli - & Kirche Windisch Pfarrer Meier äusserst warmherzige, sympathische Predigt. Dann in Stadt & mit Mohrs, mit denen schon in Kirche, & Apotheker Meier ins Füchsli, 1 ½ l.Johannisberger, Gutzis, Sardellenbrötchen usw. Äusserst harmonisch verlaufener und gemütlicher Tag. Gritli trotz Freinacht recht wohlauf.
Hans-Günther Bressler, Tagebucheintrag vom 8. Mai 1945
Unser Leben gleicht der Reise / Eines Wandrers in der Nacht. / Jeder hat in seinem Gleise / etwas das ihm Kummer macht. Aber unerwartet schwindet / vor uns Nacht und Dunkelheit, / und der Schwerbedrückte findet / Linderung in seinem Leid. Darum lasst uns weitergehen, / weichet nicht verzagt zurück! / Dort in jenen fernen Höhen / wartet unser noch ein Glück. Mutig, mutig, liebe Brüder, / gebt die bangen Sorgen auf: / morgen geht die Sonne wieder / freundlich an dem Himmel auf.
Beresinalied von Friedrich Wilke aus dem Jahr 1812, nach dem Gedicht «Die Nachtreise» (1972)
«Einen Tag ungestört in Musse zu verleben heisst, einen Tag lang ein Unsterblicher zu sein», lautet ein chinesisches Sprichwort.
Andreas Dick, Die innere Mitte finden: Lob der Tugend, Orell Füssli 2015, E-Book Position 2'418
Aus deiner Reise nach Basel wird nichts.
Du hast dich zu früh gefreut. Zeitlicher Clinch. Mist, Mist, Mist! Deine Pläne werden durchkreuzt. Dein Alltag gerät durcheinander. Liebe Mitmenschen oder Dinge überfordern dich, produzieren Ereignisse. Deine Liebesbeziehung beginnt zu wanken. Dir hängt es aus!
Du sollst dich um die verloren gegangene Kreditkarte kümmern. Ihren Verlust bemerktest du gestern Abend. Überflüssige Umtriebe. Du sollst Frehlinger anrufen. Ihm klar sagen, dass es so nicht geht. Dass seine Forderung unverschämt ist. Du reichst ihm nichtsahnend deine Hand und er will dich gleich mit Haut und Haaren auffressen. Nachdem du zweimal in Folge deinen wöchentlichen Anruf an Sibylle, deine «Mittwochsfreundin», aus Zeitmangel unterlassen hattest, sollst du sie zumindest an diesem Mittwoch anrufen, wie üblich, um die Jahrzehnte dauernde Freundschaft nicht aus einer Laune heraus zu gefährden. Ohne deine Freunde ist dein Leben öde. Du sollst die Differenzen mit Lady zu Boden reden. Gestern gerietet ihr plötzlich hintereinander. Wart zu müde zum Streiten. Liesset es bleiben. Ohne Ladys Liebe bricht deine Welt zusammen. Du sollst den Papierstapel auf dem Sideboard in deinem Arbeitszimmer aufräumen. Du musst Lady beweisen, dass dir Unordnung genauso auf den Wecker geht wie ihr. Du sollst, du sollst, du sollst! Lässt du das, was du sollst, bleiben, beisst dich ein schlechtes Gewissen. Tust du, was du sollst, wird die Zeit zu knapp für die Reise nach Basel. Wer, zum Teufel, befiehlt dir, du sollst?!
Diese ätzenden Du-sollsts blitzen auf. Verderben dir deine Laune. Je öfter du wiederholst, scheiss drauf, desto tiefer versinkst du in deiner Scheisslaune. Du magst dir tausendmal versichern, dass die Andern ruhig warten können, du locker nach Basel reisen darfst, die Du-sollst-Blitze haben eingeschlagen. Das Feuer ist entfacht. Du musst es löschen.
Als Rentner, denkst du, kannst du über deine Zeit frei verfügen. Keine Rede davon. Du lässt dich auf zu viele Dinge ein. Lebst endlich deine kreative Ader aus, die zuvor ein Schattendasein geführt hatte. Du machst im Rahmen ehrenamtlicher Tätigkeit Rechtsberatungen in einem privaten Sozialwerk. Endlich kommst du dazu, Bücher nach Lust und Laune zu lesen. Du hast weiterhin dein Theaterabonnement. Du triffst Freunde. Du geniessest das gemütliche Zusammensein mit Lady. Und schon ist jede Minute verplant! Du musst die Hälfte deiner Pläne sausen lassen.
Du wirfst deinen Körper unter der Bettdecke aus der Seitenlage auf den Rücken. Kuschelst dich in der wohligen Wärme ein. Zupfst das Kopfkissen zurecht. Du steckst deinen Kopf unter das Zelt der Bettdecke. Fixierst die fluoreszierenden Markierungen auf Zifferblatt und Zeigern der Rolex an deinem linken Armgelenk. Du ahnst, mit grösster Wahrscheinlichkeit ist halb Fünf. Du schiebst deinen Kopf aus dem Bettdeckenzelt zurück auf das Kopfkissen. Gestern bist du kurz nach Zehn eingeschlafen. Wenn du jetzt nochmals abdriftest, verschläfst du und fühlst dich danach beschissen. Du streckst deinen Körper voll aus. Spannst ihn an. Schwingst erst die Beine samt Bettdecke hoch, damit der zerknautschte Teil der Bettdecke am Fussende sich streckt und glattgestrichen auf dem Fussende des Bettes landet. Dann packst du mit beiden Händen das Ende der Bettdecke am Kopfende des Bettes und wirfst beim schwungvollen Aufsitzen die Bettdecke zurück, so dass diese schön gefaltet am Fussende zu liegen kommt. Du legst deine Füsse über die zurückgeschlagene Bettdecke. Liegst einen Moment ruhig und nackt da. Wirfst mit einem Ruck deine Beine mit einer eingespielten Rechtsdrehung in die Luft. Hievst dich hoch und stellst die Füsse mit Schwung auf den Boden neben dem Bett. Landest aufrecht auf beiden Füssen, quer zum Bett. Dieser Tag kann lustig werden, blitzt es in deinem Kopf nach. Vermutlich ist heute alles Scheisse. Dieser Gedanke belustigt dich. Deine Scheisslaune ist wie weggeblasen. Du hast glücklich sicheren Boden unter deinen Füssen, trotz alledem! Zum Glück hast du deine Morgenroutine, die dich auffängt, wenn alles andere durcheinander gerät. Sie ist für dich Notwendigkeit. Wie Essen und Scheissen. Aus deiner Morgenroutine machst du kein Geheimnis. Hängst sie auch nicht an die grosse Glocke. Wen dieses Menschliche, Allzumenschliche anwidert, ignoriere es! Mit einem Mal hörst du in der Erinnerung Conny Froboess mit «Eine Reise in den Süden / ist für andre schick und fein / doch zwei kleine Italiener / möchten gern zuhause sein» (Christian Bruhn / Georg Buschor, Schlager 1962).
Du wirfst im Dunkeln einen Blick zurück auf Lady, die im breiten Bett noch schläft. Du verlässt das Schlafzimmer. Ziehst die Schlafzimmertüre leise zu. Steigst die Wendeltreppe runter in den ersten Stock. Betrittst kurz die Toilette. Pisst. Stellst dich auf die Waage. Gehst dann in dein Arbeitszimmer. Ziehst den Rollladen hoch. Öffnest das Fenster. Stellst dich nackt davor. Draussen herrscht beissende Kälte. Unbeirrt streckst du dich erst Mal, atmest tief durch und beginnst mit deiner Folge von Frei- und Yogaübungen, inklusive der fünf Tibeter. Starrst dabei in die dunkle Nacht hinaus, in der sich dunkel in Dunkel Umrisse von Bäumen abzeichnen. Dann schliesst du das Fenster. Ziehst Unterhose, dicke Wollsocken, Trainerhose, T-Shirt an, wickelst ein Seidenfoulard um deinen Hals und schlüpfst in deine Kapuzenjacke. Im Badezimmer trinkst du einen Liter Wasser. In deinem Arbeitszimmer setzest du dich an deinen Schreibtisch. Wirfst den Computer an. Checkst die neu angekommenen Emails. Die Schlagzeilen des Blick. Facebook und so weiter et cetera.
Du gehst die Wendeltreppe runter ins Erdgeschoss. Ziehst in Wohnzimmer, Küche und Bibliothek die Rollläden hoch. Öffnest die Fenster zum Lüften. Du holst die Zeitungen aus dem Briefkasten vor dem Haus. Legst sie im Wohnzimmer auf dem Esstisch bereit. In der Bibliothek schliesst du das Fenster wieder. Setzest dich ans Klavier. Übst fünf Minuten Läufe aus dem Notenheft mit Übungen von Clementi. Ton für Ton, stotternd. Die Läufe wollen dir nicht spielerisch gelingen. Legst ein dickes Notenheft über die Clementi-Noten. Aufgeschlagen auf der Doppelseite mit «Send in the clowns» von Stephen Sondheim. Probierst zehn Minuten die ersten Takte. Kriegst Rhythmus und Griffe noch immer nicht so hin, dass sie den richtigen Rhythmus und Schwung des elegischen Liedanfangs angemessen transportieren. Ständig verheddern sich deine ungelenken Finger. Hingestotterte Klimpertöne.
Du stehst auf vom Hocker. Öffnest das Fenster in der Bibliothek. Schliessest zuerst in der Küche, danach im Wohnzimmer die Fenster. Drehst das Radio an. Setzt dich im Wohnzimmer an den Esstisch. Du blätterst den Tagesanzeiger, dann die NZZ durch. Du betrachtest die Bilder, die dir in die Augen stechen. Du überfliegst die Schlagzeilen. Wenig interessiert dich. Da und dort liest du einen Spitzmark oder den ersten Abschnitt eines Artikels. Selten liest du einen Artikel von a bis z. Du faltest die Zeitungen hübsch säuberlich zusammen, schüttelst sie, dass die Seiten wieder korrekt aufeinander zu liegen kommen. Du legst die hübsch gefalteten und geschüttelten Zeitungen auf dem äussersten, der Türe am nächsten liegenden Rand des Esstisches zurecht. Für Lady. Wenn sie, erst viel später, aus dem Schlafzimmer nach unten kommen wird. Griffbereit. Sie soll nicht wegen zerfledderter Zeitungen zu meckern brauchen.
Du holst dein Ringbuch und dein Tagebuch aus dem Büchergestell. Drehst das Radio leise. Am Esstisch sitzend skizzierst du kritzelnd mit schwarzem, feinem Filzstift in wenigen Strichen, wie jeden Tag, einen kleinen Kopf in dein Tagebuch. Als Anfangs-Vignette des Tageseintrags. Eine Künstlerin hatte dir vor Jahren gesagt, jedes Gesicht, das du spontan zeichnest, ist ein Selbstporträt von dir. Wenn nicht in der Physiognomie, dann in der Stimmungslage. An andern Tagen skizzierst du nackte Körper, nackte Körperteile. Deine heutige Kopfskizze hat einen schrägen Gesichtsausdruck, missmutig, vergelstert, leerer Blick. Du schreibst mit rotem Filzstift das Datum. Mit dem Caran d’Ache-Füller und grüner Tinte hältst du schreibend in Stichworten fest, was du gestern getan hast. Du legst das Tagebuch, ein Moleskin-Buch im A5-Format, beiseite.
Du öffnest das Ringbuch. Schlägst es auf. Ziehst die Ringe auseinander. Entnimmst dem Ringbuch die zuletzt beschriebene Seite mit der Nummerierung 4793. Diese Seite ist auf der Vorderseite vollgeschrieben. Auf der Rückseite sind sechs Zeilen geschrieben. Die Blätter sind im A4-Format. Kleinkariert. Du schreibst minutiös in kleinster Schrift. Jede Zeile ein Karo hoch. In der Breite über die Karos hinweg von einem Rand zum anderen. Seit 22 Jahren und 4 Monaten und ein paar Tagen füllst du tagtäglich eine Seite mit spontan fliessenden Gedanken. Ohne zu grübeln. Lässt deinem Denkfluss freien Lauf. Dich bisweilen wundernd, was dir gerade so einfällt und du niederschreibst. Ein junger Schriftsteller hatte dir vor über vierzig Jahren in der Sauna Thermos in Amsterdam beim Schwitzen erzählt, ein älterer Schriftstellerkollege habe ihm gesagt, einen eigenen Schreib- und Denkstil entwickle man, indem man sich jeden Tag während längerer Zeit vor ein leeres Blatt Papier setze und eine Seite spontan fülle, ohne darüber nachzudenken, was man schreibe. Festhalte, was an Gedanken, Sätzen, Worten spontan herausfliesse. Kein Bekenntnis. Befreiung von dem, was im Kopf herumwuselt. Seither hast du dir diese Morgenübung angeeignet. Betrachtest sie als ein morgendliches Lüften des Gehirns. Jeden Morgen füllst du stur und konsequent deine Seite. Im Estrich sind etliche Leitz-Ordner, prall gefüllt mit deinen präzise gezählten Seiten Morgennotizen.
Du schreibst zurzeit abwechselnd mit drei Füllern mit je andersfarbigen Tinten: mit dem Online White-Shell-Füller mit türkiser Tinte, mit dem grünen Chrono Swiss Plexiglas-Füller mit grüner Tinte, mit dem Namiki Yukari Vigne-Füller aus japanischem Lack mit blauer Tinte. Heute ist der White Shell-Füller dran. Hübsch, denkst du spontan. Das Türkis der Tinte erfrischt die Stimmung. Zum Schreiben der Morgennotizen nimmst du die Sitzfläche des Stuhles als Unterlage. Hockst dich bei geradem Rücken auf deine Fersen vor den Stuhl. Schreibst los. Aus dem Radio erklingt der Gefangenenchor, Va, pensiero, sull’ ali dorate (Nabucco, Verdi/Solera, 1842).
Als Einstieg wenige Worte über deine Scheisslaune beim Aufstehen. Wenige Sätze über das sture Danebenhauen bei den Akkorden auf dem Klavier. Die klare Erinnerung an die Klavierlehrerin, die dem Siebenjährigen gesagt hatte, deine Finger sollen wie Rehkitzen über die Tasten hüpfen. Die Idee des Hüpfens nimmst du auf, variierst sie und baust sie zu einer möglichen Strategie des Überlebens aus, wenn Situationen, Systeme und Mitmenschen dich nerven. Denkst, die gefangenen Hebräer hatten in ihrem Kampf gegen die sie gefangen haltenden Babylonier mit anderen Widerständen fertig zu werden, als du dir je tatsächlich vorstellen kannst. Du schreibst darüber, wie du dich wunderst, dass der Gefangenenchor aus der Oper Nabucco dich jedes Mal von neuem zu Tränen rührt. Im Gedenken bei imaginiertem Überleben von Katastrophen und bei deiner vergleichsweise komfortablen Situation. Wozu das Hadern mit einem milden Schicksal! Denk an die Menschen, die weniger begünstigt sind, echt in der Scheisse stecken! Betroffenheit spüren. Ihr Worte leihen. Versuchen, sie festzuhalten. Mit ihr spielen, in Fiktion, in Rollenspielen. Um dann zu handeln.
Das Plansoll – die angebrochene Seite gefüllt und auf einem neuen Blatt, auf das du oben die Zahl 4794 schreibst, weitere neun Zeilen in kleinster Schrift, um auch tatsächlich eine volle Seite mit Fliesstext gefüllt zu haben – ist in einer Dreiviertelstunde erreicht. Nach dem Schreiben legst du das Ringbuch und das Tagebuch auf das Büchergestell zurück.
Du gehst in die Küche. Zu deinem Erstaunen taucht Lady ebenfalls in der Küche auf. Schlaftrunken. Ihr küsst euch. Du fragst sie, schon auf? Sie murmelt etwas. Sie holt aus dem Wohnzimmer die auf dem Esstisch für sie bereitgelegten Zeitungen. Sie platziert die Zeitungen und ihren iPad auf die Arbeitsfläche zwischen Kochherd und Abwaschbecken. Sie bereitet sich einen Kaffee zu.
Du zerschneidest einen Apfel und eine Banane für dein Müsli. Du spürst Ladys Blick auf dir ruhen. Vergewisserst dich. Ihr Blick: stechend. Ihr Blick ruht tatsächlich auf dir. Du starrst erschrocken zurück. Dir schwant Schreckliches. Wenn Lady bereits so kurz nach dem Aufstehen spricht, kann es nichts Gutes bedeuten. Insbesondere nach dem noch schwelenden Streit von gestern Abend. In der Regel spricht sie erst eine Stunde nach dem Aufstehen. Davor ist es nicht ratsam, das Wort an sie zu richten.
Du befürchtest, dass sie dich mit Vorwürfen eindecken wird. Du hast auf die von ihr vorgeschlagene Reise nach Costa Rica keinen Bock. Sie will nicht begreifen, dass dir die Lust am Reisen vergangen ist. Der Ton, den sie anschlägt, ist giftig. Du schnaufst auf. Es geht nicht um die Reise. Wohl hatte dein erschreckter Blick, den sie ebenfalls wahrgenommen hatte, diesen leicht giftigen Tonfall bewirkt.
Vergiss nicht, heute Abend gehen wir ins Theater. Zieh, bitte, nicht wieder dieses schreckliche Hemd und die zottelige Strickjacke an. Die Andern hatten dich beim letzten Theaterbesuch entsetzt angestarrt. Ich hatte mich so geschämt. Bitte, zieh diesmal ein hübsches Hemd und das hübsche Jackett an. In deinem schrecklichen Aufzug hattest du mir den letzten Theaterabend richtiggehend verdorben.
Du schluckst leer. Nein, Hilfe, nicht auch das noch! Wenn der Alltag dich schon genügend fordert, dann auch noch Theater. Ausgerechnet Theater! Und erst noch dieses ominöse «Der Salon des Monsieur Westbury». Den Theaterabend hattest du voll verschwitzt. Entspanne dich! Theater bedeutet Zerstreuung. Was ist gegen einen Mix von Tatsächlichem, Theater und Fiktion einzuwenden. So ist das Leben, eine Mischung aus allem, was möglich ist. Der Theaterabend bedeutet, dass ihr euch mit Freunden um Sieben zu einem Umtrunk trefft und nach der Aufführung gemeinsam essen geht. Du musst bereits um Sechs gestriegelt und parfümiert bereitstehen. Von Pflichten und Terminen verschüttet. Das ist dein Alltag!
Für wen hältst du mich?! Ich und einen Theaterbesuch vergessen! Die «zottelige Jacke» ist ein Designer-Stück von Xess und Baba und war ein Geschenk von dir. Keine Sorge, ich ziehe das schwarze Jackett an.
Du bist ein Schatz! Komm, Küsschen, Küsschen! Die Strickjacke ist zwar wunderschön, doch nicht für Theaterbesuche gedacht.
Danach läuft, o Wunder, alles wie am Schnürchen.
Du rufst im Reformhaus an. Fragst, ob du gestern bei deinem Einkauf deine Kreditkarte, deine Postcard, dort hättest liegen lassen. Deine Frage wird verneint. Karten, die liegenbleiben, würden noch am gleichen Tag dem Postamt zugestellt. Gestern sei keine Karte liegengeblieben. Wohl oder übel rufst du beim Postamt an, um den Verlust deiner Postcard zu melden. Während du der freundlichen Person vom Postamt, die mitfühlend anfügt, lästig, seine Karte zu vermissen, die notwendigen Angaben machst, spielst du nebenher mit deinem Geldbeutel. Greifst zufällig bei den unzähligen Kartenfächern in ein Fach, in dem Karten stecken, an die du dich nicht erinnerst. Plötzlich hältst du eine gelbe Karte, deine Postcard, in Händen. Du hattest sie wohl gestern nach dem Einkauf im Reformhaus in der Eile versehentlich nicht in das übliche Fach zurückgesteckt, aber hinter eine zufällige Karte in ein falsches Fach zurückgeschoben. Einerseits ist dir peinlich, der Person vom Amt diese neue Entwicklung der Situation einzugestehen. Andrerseits bist du erleichtert, dass dir weitere Umtriebe erspart bleiben. Lachend entschuldigst du dich bei der netten Person vom Postamt für deine Dämlichkeit. Deine finanzielle Liquidität ist wieder intakt, du bist gerettet!
Frehlinger scheint auf deinen Anruf gewartet zu haben. Im Gegensatz zu gestern, klingt er heute zahm.
Eine Kolportage über wichtige Dinge auf und über der Erde ist immer eine verflixte Angelegenheit, weil der Kolportierende und der Empfänger verschiedene Perspektiven haben, ganz abgesehen davon, dass sich alles objektiv noch einmal ganz anders präsentiert, frotzelt er munter drauflos. Ich erzähle dir meine Geschichte über gute Menschen der Gegenwart und versuche in der Folge der Geschehnisse den Protagonisten möglichst glamourös zu portraitieren. Ich verstehe, du betrachtest die Angelegenheit als aussichtslos. Okay, das kann ich akzeptieren.
Verstehe mich nicht falsch. Nicht, dass ich dir nicht helfen möchte. Doch diese Angelegenheit ist heiss. Gemäss Ausländergesetz macht sich jeder strafbar, der einem Ausländer den rechtswidrigen Aufenthalt in der Schweiz erleichtert. Obacht, wenn du diesem armen Tropf helfen willst. So löblich es grundsätzlich ist.
Keine Sorge, ich will nicht hops gehen. Ich will nicht, dass unser privates Sozialwerk in Verruf kommt und du deine ehrenamtliche Tätigkeit als Rechtsberater bei uns verlierst. Entschuldige bitte, dass ich dich gestern angeschrien und einen ausgemachten Feigling und Drückeberger geschimpft hatte.
Sibylle scheint nicht zuhause zu sein. Du richtest ihr über den Telefonbeantworter herzlichste Grüsse aus, bedauerst, sie nicht zu sprechen, wirst aber nächste Woche bestimmt wieder anrufen.
Während du auf den Telefonbeantworter von Sibylle sprichst, nähert Lady sich. Von weitem hörst du, dass sie auf dich einredet. Sie verstummt, als sie sieht, dass du am Telefon bist. Redet erst wieder los, als du nicht mehr telefonierst. Kurz sorgst du dich, ob Sibylle etwas zugestossen sei. Dass sie nicht zuhause ist.
Entschuldige, ich wollte tatsächlich nicht – . War Sibylle nicht zu Hause? Schade! Sie ist immer so munter, redet stundenlang. Wenn du mit ihr redest, ist unsere Leitung besetzt und ich weiss, dass ich für einige Zeit von Anrufen verschont bin. – Du, ich habe es mir überlegt. Es ist echt eine Herausforderung für mich, dass du nicht nach Costa Rica mitkommen willst. Ich werde alleine reisen! Ich muss lernen, alleine auf Reisen zu gehen und es dennoch zu geniessen. Und, frage mich bitte nicht, ob ich dich heute in diese Ausstellung nach Basel begleite. Es geht alles drunter und drüber. Ich habe heute so Vieles zu tun. Geh alleine. Du wolltest doch heute nach Basel pilgern, oder etwa nicht?
Ein Blick auf die Uhr. Wenn du dich sputest, schaffst du die Reise nach Basel und wirst rechtzeitig zurück sein, um dich nach Ladys Wünschen adrett anzuziehen und zu parfümieren für den Theaterbesuch mit den Freunden.
Dein Herz hüpft vor Freude.
Ein Spitzmark in der NZZ am Sonntag vom 14. Dezember 2014 im Artikel über die Ausstellung «For your eyes only. Eine Privatsammlung zwischen Manierismus und Surrealismus» hatte deine Sinne gekitzelt. «Das Interesse am Makabren ist Ausdruck einer Lebenseinstellung. Im Kunstmuseum Basel ist ein ganzer Raum Totenköpfen gewidmet». Dich amüsieren deine Neugierde auf die Totenköpfe und dein Wille, dafür nach Basel zu reisen. Du benötigst für deinen emotionalen und geistigen Haushalt phantastische Anregungen aus Phantasien von Anderen. Höchste Zeit zudem, die Ausstellung schliesst am Sonntag. Auf der Fahrt nach Basel und der Rückfahrt von Basel wirst du dich endlich der Krimi-Satire «Texturen» widmen können. Ein Kriminalroman! Bloss nicht grübeln, weshalb ausgerechnet du von einem Krimi besessen bist!
Vor wenigen Tagen gingest du an der Buchhandlung Beer vorüber. Vor dem Hauseingang stand eine Wühlkiste voller Bücher. Bücher ziehen dich magisch an. Kommst du näher, erkennst du das meiste als Schrott. «Texturen. Krimi-Satire. Von Relsserb Reniar» sprang dich an. Erschienen in einem unbedeutenden Verlag. 1998. Du fingest es auf.
Aus der Wühlkiste. Ach so!
Der Buchhändler grinste.
Haben sie nicht gesehen, an der Wühlkiste steht: Zum Mitnehmen. Umsonst, Kostet nichts. Viel Spass!
Beim gleichtönig rhythmischen Geräusch des fahrenden Zuges tauchst du gespannt und erwartungsvoll in das dir fremde Universum von «Texturen» ein. Deine Morgenroutine als Fundament für einen gelungenen Tag hat sich bewährt. Nun kannst du dich entspannen und locker vom Zufall anregen lassen.
(Fortsetzung Weben. Reisen 2 Seite →)
Texturen. Krimi-Satire. 1998
von Relsserb Reniar
Handlung und Personen sind frei erfunden. Allfällige Übereinstimmungen mit tatsächlichen Ereignissen und Personen sind rein zufällig.
Editorische Bemerkung:
Die vorliegende Veröffentlichung ist der Nachdruck der 1998 beim Verlag XY als Erstausgabe erschienen Krimi-Satire «Texturen». Die beigefügten Illustrationen sind als einzelne Seiten eines originalen Typoskripts zu erkennen. Den neben den Zeichnungen des Autors auf den Illustrationen erscheinenden Textpassagen, der Schrift, ist zu entnehmen, dass der Text original mit einer IBM-Kugelkopf-Schreibmaschine, wohl in den 70er Jahren, geschrieben wurde. Damals lautete der Titel «VISION TRANSKOELS. Kolportage wichtiger Dinge auf und über der Erde – mit sieben glamurösen Portraits».
Die sieben handkolorierten Zeichnungen des Originals werden, wie bereits in der Erstveröffentlichung von 1998, zur Dokumentation des ursprünglichen Textes aus den 70er Jahren, übernommen. Gedruckt sind jeweils die Seiten mit dem zugehörigen Text. Dieser Originaltext deckt sich nicht mehr mit dem Text von «Texturen».
Es ist davon auszugehen, dass der Originaltext aus den 70er Jahren für die Veröffentlichung 1998 überarbeitet worden war. Durch den Lauf der Zeit bedingte Anpassungen des 1998 erstmalig veröffentlichten Textes wurden, in Absprache mit dem Autor, auch für die vorliegende Veröffentlichung vorgenommen.
Von den antiken Sophisten bis hin zu Slavoj Zizek fungiert das Übertreiben so als Methode, Menschen von der Bindung an bestimmte Denkfiguren zu befreien.
Wolfgang Ullrich, Alles nur Konsum. Kritik der warenästhetischen Erziehung, Wagenbach 2013, S. →
Yet this turn from belief to aesthetics, from engagement to spectatorship, is held to be one of the virtues of capitalist realism.
Mark Fisher, Capitalist Realism: Is There no Alternative? Zero Books 2008 , E-Book Seite 4
Transköl, Republik, besteht aus einem Landesgebiet von 553’678 qkm mit (1957) 39,72 Mill. Einw.; Haupstadt: Langwardia, 804 500 Einw. Landesnatur. ...
Wirtschaft, Verkehr. T. hat ein ausgeglichenes Verhältnis von Landwirtschaft und Industrie, vor allem Dienstleistungsindustrie ....
Staat. Gemäss Verfassung vom 3. Dezember 1945 wird der Staatspräsident in Volkswahl ...
Der neuste Flockheim, Allbuch in fünf Bänden und in einem Atlas, dritte, völlig neubearbeitete Auflage, F. X. Flockheim, Krautenbusch, 2033
Die Leiche liegt unter einem Busch im Gebüsch hinter Abfallcontainern auf der blossen Erde. Eine weibliche Leiche in Rückenlage. Hübsche Frau. Elegant gekleidet. Einen funkelnden, grossen Ring am Zeigefinger ihrer linken Hand. Aus dem Mund rinnt ein feiner Faden Blut zur Erde. Über der linken Brust ist ein schwarz-violetter Fleck, ein hässliches Geschwür. Hier war die Kugel in den Körper getreten. In den Körper der Eliane Kuhn Zwigart, verheiratet, Mutter zweier Kinder, wohnt, oder zutreffender: wohnte, im angebauten Einfamilienhaus Nummer 18 der weiträumig und harmonisch konzipierten und gepflegten Wohnsiedlung Altendorf 17 bis 58, zu der die Abfallcontainer gehören. Eine Blaumeise tiriliert vom höchsten Ast des Busches.
Eine unordentlich in durchsichtigen Plastik gehüllte Waffe liegt neben der Leiche. Auf einem grossen Stein unter einem anderen Busch sitzt eine Katze und jault erbärmlich. Ein struppiger, kleiner Schnauzer hüpft herum. Das Gebüsch raschelt. Die Blaumeise fliegt auf.
Rautigunde Blaschkus horcht auf. Aus dem Gebüsch hinter den Abfallcontainern kommen ungewohnte Geräusche. Sie pflügt die Äste eines Busches hinter den Abfallcontainern beiseite und bahnt sich einen Weg. Im Schlepptau ihren Ehemann, Heribold Blaschkus. Sie ist gespannt, was es hier zu entdecken gibt. Die Mietze der Tallungs hockt auf einem Stein und lamentiert. Nachbars Lumpi rennt hin und her. Und – Rautigunde Blaschkus stockt der Atem – Elvira Kuhn Zwigart als Leiche!
Das Ehepaar Blaschkus bewohnt das angebaute Einfamilienhaus Nummer 39 der Wohnsiedlung Altendorf 17 bis 58.
Rautigunde Blaschkus ist eine fröhliche 65-Jährige. Präsidentin des Tennisclubs Finkenweiler. Vorstandsmitglied der Sektion Finkenweiler der Grünen Partei Transköls. Präsidentin der Stiftung «Mutter und Kind», die in Langwardia 28 Krippen betreibt. Vorstandsmitglied der Hochschule für Gestaltung Langwardia. Präsidentin des Lesezirkels Klotzenfleck. Zweite Klarinettistin im akademischen Orchester Langwardia. Vorstandsmitglied des Theaters in der Zehntenscheune.
Rautigunde Blaschkus schreibt leidenschaftlich Leserbriefe an Zeitungs- und Zeitschriftenredaktionen. In den Kreisen, die die Rubrik «Leserbriefe» nicht überblättern, sind ihre Briefe Kult. Die «Neue Langwardia Zeitung» (NLZ), der «Langwardia Anzeiger» (Langi), die «Transkölanische Illustrierte Zeitung» (TIZ), das Wochenblatt (WOB) und alle Blätter und Blättchen des Landes, sogar ALTER KLEISTER, die Boulevard-Zeitschrift Transköls, die die Leute, die etwas auf sich halten, angeblich nicht lesen, drucken regelmässig Leserbriefe von Rautigunde Blaschkus ab. Sie formt ihr Leserbriefeschreiberinnen-Selbst zur empörten Bürgerin, die angeblich Skandale aufdeckt, die für die Redaktorinnen und Redaktoren tabu sind. Sie schreibt lustig und locker über einen wunderbaren Aufenthalt im Hotel Splendido in Wurstenheim am Schönlingsee. Das Hotel war in der letzten Ausgabe von ALTER KLEISTER in der Rubrik «Reisen» vorgestellt worden. Nebenher erwähnt sie, dass am Nebentisch der Familienminister gespeist habe. In Gesellschaft einer hübschen, jungen, blonden Dame. Die, falls Rautigunde Blaschkus sich nicht täuscht, Parlamentarierin der Alternativen Liste ist. Jedes Kind in Transköl weiss, dass der Familienminister den Liberalen Christen angehört, mit einer schwarzhaarigen, plumpen Frau verheiratet ist und sich bei jeder medialen Gelegenheit als Familienmensch mit Frau und drei hübschen Kinderchen inszeniert. Für den Redaktor des Ressorts «Ständige Rubriken, inklusive Leserbriefe» von ALTER KLEISTER, Bobby Renner, der einem scheinheiligen Liberalen Christen gerne eins auswischt, ist dieser Leserbrief der Rautigunde Blaschkus ein gefundenes Fressen. Er platziert diese Leserbrief-Delikatesse gut sichtbar an prominenter Stelle in der neuesten Ausgabe. Im Nu weiss Transköl, dass der Familienminister eine Affäre hat. Der Leserbrief in ALTER KLEISTER löst eine Lawine von redaktionellen Artikeln in der NLZ, Im Langi, in der TIZ, im WOB und allen Blättern und Blättchen, von Dementis, Behauptungen, Erklärungen, Berichtigungen und Lügen aus, über die der Familienminister zu guter Letzt stolpert. Zum Schluss will ausser Bobby Renner, Rautigunde und Heribold Blaschkus niemand mehr wissen, dass am Anfang der Umwälzung ein hübscher Leserbrief in ausgerechnet ALTER KLEISTER gestanden hatte.
Beim Verfolgen der Dynamik, die sie ausgelöst hat, lacht Rautigunde Blaschkus sich ins Fäustchen. Sie fühlt sich fröhlich wie Rumpelstilzchen. Sie ahnt nichts von der Prominenz, die sie inzwischen hat. Seiner Exzellenz, dem Minister- und Staatspräsidenten von Transköl, in Personalunion, Amadeus Paravanz, war der Familienminister schon immer ein Dorn im Auge gewesen. Er hatte ihn feuern wollen. Die First Lady von Transköl, Kunigunde Paravanz-Altenmeyer, und der Staatssekretär des Präsidenten, Prof. Dr. Dr. h.c. Dr. h.c. Lubi Trettner, hatten ihr Veto eingelegt. Damit bringe man die Liberalen Christen gegen sich auf. Dann las Amadeus Paravanz den Leserbrief von Rautigunde Blaschkus in ALTER KLEISTER. Er verfolgte amüsiert das Theater, bis der Familienminister seine Demission einreichte, die er, offiziell selbstverständlich mit grösstem Bedauern, entgegennahm. Nun wollte er diese Rautigunde Blaschkus persönlich kennenlernen. Immerhin war ihr Ehemann, Heribold Blaschkus, Präsident des Distriktsverwaltungsgerichts Langwardia gewesen. Das Ehepaar konnte man ohne weiteres bei einem Gala-Nachtessen auf die Gästeliste setzen. Er gab seiner Protokollchefin, Dr. Marie-Thérèse Haschmich entsprechende Anweisung. Doch damit stiess er in ein Wespennest. Prof. Dr. Dr. h.c. Dr. h.c. Lubi Trettner, Kunigunde Paravanz-Altenmeyer und seine gesamte Entourage empörten sich ob diesem Ansinnen. Amadeus Paravanz musste sich diesen Spass wohl oder übel verkneifen. Hätte Rautigunde Blaschkus eine Einladung in den Präsidentenpalast tatsächlich erhalten, hätte sie empört darauf reagiert. Der Paravanz-Altenmeyer-Clan ist ihr zuwider. Den Mächtigen misstraut sie aus tiefster Seele.
Im Freundes- und Bekanntenkreis stösst Rautigunde Blaschkus an Grenzen. Dass sie Leserbriefe sogar an ALTER KLEISTER schreibt und im Ernst behauptet, die WOB und ALTER KLEISTER seien heute die einzig ernstzunehmenden Medien, wird, wenn überhaupt zur Kenntnis genommen, in «unseren Kreisen» als peinlich empfunden und verdrängt. Niemand will hören, weshalb Rautigunde Blaschkus so denkt, wie sie denkt. Angängig ist es, in gewählten Worten über Paravanz & Co. zu lästern. Doch selber etwas zu bewegen und sich gegen die Macht zu stellen, gilt als gewöhnlich. Wenn Rautigunde Blaschkus richtig in Fahrt kommt und vorschlägt, das Denkmal Paravanz in die Luft zu jagen, hören die meisten weg. Nur eine Stimme fragt, damit der Beton uns um die Ohren fliegt?!
Meine Schatzi-Bohne meint nicht das Denkmal, das demnächst auf dem Platz der grossen Freiheit enthüllt wird, aber den Herrn, dem mit dem Denkmal gehuldigt werden soll, präzisiert Heribold Blaschkus.
Ihm den Thron unter seinem Arsch wegsprengen, damit die idiotische Wahl-Farce auch gleich erledigt ist, übersetzt Rautigunde Blaschkus ihre Worte.
Die Runde, ausser Rautigunde Blaschkus und ihr Mann Heribold Blaschkus, ist entsetzt dass ihre «Freundin» es wagt, das Wort Arsch nicht bloss zu denken, aber in den Mund zu nehmen. Später nimmt Alfonso von Knallfrosch, Botschafter Transköls in Molwanien, dem Land des schadhaften Lächelns, auf Heimaturlaub, Heribold Blaschkus diskret bei Seite und äussert flüsternd seine Vermutung, dass die beste Rautigunde entweder übergeschnappt oder anarchistisch geworden sei, was aufs gleiche rauskomme, weil für beide Phänomene eine Versenkung in der Klapsmühle das probate Mittel sei.
Rautigunde Blaschkus ist sich Kummer gewohnt. Sie lässt sich nicht beirren. Ihr Ziel ist, nicht bloss zu schimpfen, doch zu handeln. Paravanz muss weg. Kopf ab! Transköl darf nicht zu einer Bananenrepublik verkommen, wo Korruption und Nepotismus blühen. Die Tatsache, dass sie den Familienminister, diese verlogene und scheinheilige Tüte besiegt hat, gibt ihr genügend Zuversicht. Will man etwas erreichen, erreicht man es. Doch benötigt man den richtigen Dreh. Ohne den richtigen Dreh geht es nicht. Die Zeit eilt. Wie schafft sie es, in die Wahl-Farce einzugreifen und die Leute zum Staunen zu bringen?
Früher hatten Rautigunde Blaschkus und Heribold Blaschkus am Morgen darum gestritten, wer als erster oder erste die Zeitungen lesen darf.
Meine liebste Schatzi-Bohne, ich verstehe nicht, weshalb du unbedingt die NTZ, und erst noch vor mir, lesen möchtest, wo du an dem, was sie schreiben, keinen guten Faden lässt!
Heriboldchen, ich schwöre, in drei Sekunden bekommst du deine Zeitung.
Zerrupft und zerlesen …
Rautigunde Blaschkuss will wissen, was die Mächtigen verbreiten. Geschwätz zwar, doch lässt gerade das Geschwätz triftige Rückschlüsse zu. Sie weiss, wovon sie redet. Sie beobachtet den Medienzirkus zu lange schon. Weiss, dass bloss Unabhängigkeit eine eigene Meinung erlaubt. Dass kaum jemand, der das Sagen hat, unabhängig ist. Sie empfindet Ekel vor dem Geschwätz, das sie aus allen Richtungen überflutet. Dennoch lässt ihre Neugierde nicht zu, dass sie die Medien links liegen lässt.
Durch Bobby Renners Mahawwah-Geschichte war sie auf ALTER KLEISTER gekommen, sehr zum Entsetzen von Heribold Blaschkus und ihren Freundinnen und Freunden. In Bobby Renner erkannte sie den Freigeist mit Visionen. Als die Mahawwah-Geschichten eine andere Wendung nahmen, seicht und ordinär wurden, nahm sie zwar zur Kenntnis, dass offiziell noch immer Bobby Renner der Autor war, ahnte aber, dass er ausgetrickst worden war. Ihre Ahnung bestätigte sich. Bobby Renner war in das Ressort «Ständige Rubriken, inklusive Leserbriefe» verbannt worden. Bald jedoch erkannte sie seine Handschrift und seinen zynischen Geist in der wöchentlichen Kolumne «Julia Hinterdemmond klatscht & tratscht über Promis» wieder. Eine Freundin, die mit dem Chefredaktor von ALTER KLEISTER, Dickie Tann, befreundet ist, klatschte, dass Bobby Renner längst gefeuert worden wäre, wenn nicht die Ehefrau des Besitzers von ALTER KLEISTER, Elvira Müller Napf, die von Tuten und Blasen keine Ahnung habe und sich in die Redaktionsarbeit über alle Massen einmische, ihn decke. Als Rautigunde Blaschkus dies vernahm, war ihr Elvira Müller Napf auf Anhieb sympathisch.
An diesem Sonntagmorgen, den 21. Mai 1972, um zehn Uhr zehn beim Durchstreifen des Gebüschs hinter den Abfallcontainern der Wohnsiedlung Altendorf 17 bis 58 stockt Rautigunde Blaschkus beim Anblick der Leiche von Eliane Zwigart Kuhn der Atem und sie erstarrt. Heribold Blaschkus realisiert den plötzlichen Stillstand seiner Ehefrau zu spät. Stösst gegen sie auf. Stolpert beinahe. Entdeckt als zweiter die Leiche. Ihm entfährt ein dumpfes, halb gemurmeltes «verreckt!». Rautigunde Blaschkus sagt spontan.
So ein Jammer. Sie wäre die ideale Staatspräsidentin.
Meine liebste Schatzi-Bohne, so funktioniert Politik nicht!
Auch Joel Zwigart ist nicht ohne!
Erstens müssen wir die Polizei benachrichtigen. Zweitens musst du endlich aufwachen aus deinen Träumen. Und drittens, wenn du solche Gedanken offen aussprichst, halten die Leute dich zu Recht für verrückt. Und viertens, es könnte immerhin sein, dass Joel Elvira erschossen hat. Schau mich nicht so an, es kommt vor, dass Männer ihre Ehefrauen umbringen.
Die Blaumeise sitzt nun auf einem mittleren Ast einer Birke hinter dem Gebüsch. Sie tiriliert weiter. Herbei fliegt ein Rotkehlchen.
Polizeiwachmeister Sepp Pfund und Polizeisoldat Harry Kilmer sind im Quartier Finkenweiler auf Autopatrouille. Sie fangen am Funk um zehn Uhr neunundzwanzig die Nachricht der Zentrale auf, dass der Fund einer weiblichen Leiche im Gebüsch hinter den Abfallcontainern der Wohnsiedlung Altendorf 17 bis 58 gemeldet worden sei. Die Tote sei Eliane Kuhn Zwigart. Der zu benachrichtigende Ehemann heisse Joel Zwigart, wohnhaft Altendorf 18.
Sepp Pfund hat ein Problem. Nicht die Leiche. Doch sein Teamkollege Harry Kilmer. Sepp Pfund hirnt darüber nach, wie sage ich es meinem Kinde? Er ahnt, dass Harry Kilmer den Vorschlag, den er machen wird, empört ablehnt. Sepp Pfund weiss, eine Leiche kann warten. Seine Lust aber auf Kaffee und Mandelgipfel ist unaufschiebbar. Der BMW kommt eben zum Stillstand in einer Parklücke des «Ochsen»-Parkplatzes. Gleich wird Harry Kilmer sagen, schade, doch die Pflicht ruft, wir müssen weiter!
Harry Kilmer ist glücklich, dass endlich was geschieht. Seine erste Leiche. Und erst noch mit Sepp Pfund zusammen. Die Kollegen sind sich einig, Sepp Pfund ist der beste Polizist weit und breit. Er ist einer der Wenigen, der sich bei der Arbeit etwas denkt. Alle sagen, Sepp Pfund könnte Karriere machen, wenn er nur wollte. Bürojob, ruhige Kugel schieben. Doch er will nicht. Er will Polizist sein. An der Basis. Harry Kilmer will werden wie Sepp Pfund. Er trägt seine Uniform mit Stolz.
Schade. Doch die Pflicht ruft. Wir müssen weiter!
Sepp Pfund schielt Harry Kilmer von der Seite her an. Er denkt, dieser Idiot ist noch stolz darauf, dass er eine so idiotische Uniform tragen darf. Dabei sieht die Uniform nicht mehr wie eine Uniform aus. Eher wie das lockere Tenue von Wandervögeln. In diesem modischen Zeugs schauen sie aus wie Models aus einem schwulen Uniformen-Fetischisten-Heft. Vor allem Harry Kilmer mit seinem Waschbrettbauch, seinem breiten Rücken und dem dicken Arsch. Dabei glaubt er ihm, Sepp Pfund, jeden Mist. Sepp Pfund braucht nur zu sagen, mit todernster Stimme, doch im Scherz, der Trutschmer, der Kommandant der Stadtpolizei Langwardia, ist ein Agent von Bin Laden und der Al-Kaida. Sepp Pfund wettet, Harry Kilmer macht grosse Augen und sagt, leckt’s mir. Wir müssen Anzeige gegen ihn erstatten. Der Spass Sepp Pfunds hört da auf, wo Harry Kilmer mangelnde Lebenserfahrung mit dem Auswendigwissen des Dienstreglements wettmacht. Das Dienstreglement ist Harry Kilmers Bibel. Er ist schrecklich gläubig.
Sepp Pfund und Harry Kilmer sind zum ersten Mal gemeinsam in Finkenweiler auf Patrouille. Sepp Pfund hatte Harry Kilmer soeben noch darüber aufgeklärt, dass in Finkenweiler Polizeipräsenz überflüssig ist. Die Finkenweiler und Finkenweilerinnen sind ausnahmslos nett und angepasst. Sie dulden keine Unnetten und Unangepassten. Der gewiegte Polizist, der etwas erfahren will, muss – entgegen der klaren Vorschrift des Dienstreglements – seine Patrouille unterbrechen und im «Ochsen» einkehren, weil der Wirt vom Ochsen immer das Neueste aus Finkenweiler weiss. Sepp Pfund hatte befürchtet, dass Harry Kilmer wie die Freiheitsstatue in New York die Fackel sein Dienstreglement in die Höhe halten und auf stur schalten wird. Selbst ein harmloser Kaffee und ein Mandelgipfel, spendiert vom Wirt, überfordern einen eifrigen Jungspund. Sepp Pfunds Befürchtungen waren voreilig gewesen. Harry Kilmer hatte Sepp Pfunds Argumentation eingeleuchtet. Weshalb kann diese verflixte Leiche nicht später kommen?! Scheisse, denkt, Sepp Pfund. Er hat eine Glanzidee.
Ich muss dringend scheissen. Es macht keine Falle, wenn wir am Tatort auftauchen und ich zuerst jemanden bitten muss, eine Toilette in der Nachbarschaft benutzen zu dürfen. Ich kann nicht wie ein Idiot von einem Fuss auf den andern treten und das Arschloch zuklemmen! Komm mit und frag den Wirt nebenher, ob er diese Siedlung Altendorf.
Gemäss Dienstreglement § - .
Hör mal, Kleiner, das Scheissen kann mir niemand verbieten, nicht mal das Dienstreglement. Und hier, mitten auf einer Strasse in Finkenweiler, ausgerechnet in Finkenweiler, kann ich nicht scheissen, oder? Was würden die Leute da sagen. Vielleicht weiss der Wirt, wo genau der Abfallcontainer der Siedlung Altendorf steht.
Auf dem Platz vor dem Ochsen haben die Linken einen Stand. Sepp Pfund seufzt, ach, der Wahlkampf, jetzt fängt das wieder an.
Mich nimmt wunder, wen sie aufstellen um die Wiederwahl vom alten Paravanz zu verhindern, sagt Sepp Pfund zu Harry Kilmer und bleibt einen Moment stehen. Du glaubst es nicht. Die Linken stellen keinen Gegenkandidaten auf, boykottieren die Wahl, aus Protest gegen die liberale Politik von Paravanz! So unterstützen sie indirekt Paravanz! Dieser Ruprecht Villanius hast sowieso keine Chance. Die Linken müssten klar ihre Finger aus dem Arsch nehmen.
Sepp Pfund und Harry Kilmer kehren im Ochsen ein. Sepp Pfund geht pro forma aufs Klo. Sie trinken Kaffee und Sepp Pfund isst einen Mandelgipfel. Der Wirt weiss, im Altendorf wohnen die Mehrbesseren. Dass es dort einen Abfallcontainer geben soll und auch die Mehrbesseren Abfall produzieren, macht ihn lachen. Keine Ausländer im Altendorf. Als sie wieder in ihrem BMW sitzen und in Richtung Fundort der Leiche fahren, fasst Sepp Pfund Schritt für Schritt zusammen, was sie dort tun müssen. Harry Kilmer bestätigt jeden Schritt mit dem dazugehörigen Paragrafen aus dem Dienstreglement.
Dann verhaften wird Zwigart.
Gemäss Dienstreglement Paragraf.
Ich weiss, ich weiss. Finkenweiler stinkt vor Bürgerlichkeit. Hier ist alles so scheissbürgerlich, dass nichts Schräges geschehen kann. Wenn die Frau mause ist, hat hier mit Bestimmtheit der Ehemann sie erschossen. Aus Eifersucht. Den grossen Bösen gibt es nicht. Der Teufel steckt in einem Detail.
Tatsächlich?! Was du nicht alles weisst!
Sepp Pfund verheimlicht Harry Kilmer, dass erfahrungsgemäss Tele Langi vor der Polizei an den Fundorten von Leichen ist. Er wird Harry Kilmer noch warnen müssen, dem Video-Jockey von Tele Langi scheissfreundlich zu begegnen, aber inhaltlich nichts zu sagen. Dazu ist die Polizeisprecherin da. Das sollte Harry Kilmer eigentlich wissen.
Sepp Pfund erinnert sich, dass gestern Abend zur besten Sendezeit die beiden Polizisten Dibi Plomm, dieser Aufschneider, und Kata Ströphi, dieses Arschloch der Nation, über die Bildschirme von Tele Langi flimmerten und von einem VJ mit vor Sensationslüsternheit in Höchsttöne überschwappender Stimme gefragt wurden, ob sie die beiden Polizisten sind, die als erste an Ort und Stelle waren? Dabei war es bloss um den von Heller Sankt-Philipp als gestohlen gemeldeten, nun wieder gefundenen Lamborghini Countach gegangen. Dibi Plomm, dieser Aufschneider, und Kata Ströphi, dieses Arschloch der Nation, verschränken ihre Arme vor ihren Brüsten, stieren cool grinsend in die Kamera, schweigen vielversprechend, um dann zu sagen, kein Kommentar. Wenden sie sich an unsere Mediensprecherin.
Die beiden Blödlinge, Dibi Plomm, dieser Aufschneider, und Kata Ströphi, dieses Arschloch der Nation, sind nun die Promi-Polizisten des Augenblicks. Jeder Mensch in Transköl kennt die Beiden, weil sie zur besten Sendezeit auf Tele Langi waren. Jeder, der ihnen begegnet, wird sagen, sind sie nicht?! Dann bekommen sie bessere Tische in den Restaurants, Einlass in Clubs, brauchen die Rechnungen ihrer Konsumationen nicht zu bezahlen und so weiter und so weiter. Genau das will Sepp Pfund unter allen Umständen vermeiden.
Sepp Pfund überlegt, dass der Diebstahl, beziehungsweise der Fund des schwarzen Lamborghini Countach von Heller Sankt-Philipp kein gewöhnlicher Vorfall ist. Erst recht ist es kein gewöhnlicher Vorfall, wenn im als gestohlen gemeldeten und in einem Kartoffelacker gefundenen Fahrzeug eine, wie man annimmt, Todesliste gefunden wird, auf der als mögliche Opfer neben Kunigunde Paravanz-Altenmeyer und Mahawwah weitere Personen der höchsten Kreise aufgeführt sind. Ein solches Ding erfordert schrecklich viel Papierkrieg, Einvernahmen, Protokolle. Dibi Plomm, dieser Aufschneider, und Kata Ströphi, dieses Arschloch der Nation, sind auf Wochen mit Schreibkram eingedeckt. Aufs Schreiben ist Sepp Pfund allergisch. Er wünscht sich einen Fall, der automatisch viel Papier produziert, tatsächlich aber nichts zu schreiben gibt. Ihm wegen des Wusts von Papieren die Anerkennung seiner Vorgesetzten und den Respekt der Bevölkerung für seriöse Polizeiarbeit einbringt.
Inzwischen ist zehn Uhr siebenundvierzig. Sepp Pfund stutzt beim Denken des Namens Zwigart. Zwigart, Zwigart. Joel Zwigart. Dieser Name klingt ihm vertraut. Er glaubt sich vage zu erinnern, dass ein Staatsanwalt Zwigart heisst. Joel Zwigart. Ein Staatsanwalt bringt seine Frau nicht um, steht für Sepp Pfund fest. Damit ist der Fall nicht schon erledigt bevor er angefangen hat. Einvernahmen, Protokolle, Schreibkram – uach!
Zwigart ist nicht der Mörder!
Wie kommst du darauf, Sepp?
Er ist Staatsanwalt.
Richtig, ein Staatsanwalt tötet nicht. Er wäre wohl blöd zu töten, wo er als Staatsanwalt genau weiss, welches die Konsequenzen sind.
Harry, jetzt heisst es, an die Säcke! Endlose Einvernahmen, Protokolle, kannst du endlich mal üben, wie der ganze Schreibkram läuft. Du schreibst. Ich gucke dir bloss von Zeit zu Zeit über deine Schulter.
Au fein! Du bist so grosszügig. Mir das Wichtigste zu überlassen, wo ich doch neu bin.
Sepp Pfund und Harry Kilmer kurven mit ihrem BMW auf den Wendeplatz der Wohnsiedlung Altendorf 17 bis 58 ein. Ein Porsche steht genau da, wo Sepp Pfund den BMW abstellen möchte. Sepp Pfund hält seinen BMW neben dem Porsche an. Dabei schreckt er, mit Bedacht die Bremsen quietschen lassend, ein altes Paar auf, das abseits vom Geschehen auf dem Wendeplatz steht und den Menschenauflauf im und ums Gebüsch hinter den Abfallcontainern scharf beobachtet. Sepp Pfund erkennt den Mann als Blaschkus. Blaschkus, der ehemalige Präsident des Bezirksverwaltungsgerichts, hatte vor Jahren einen Vortrag in einer Weiterbildung für Polizisten gehalten. Harry Kilmer beobachtet, wie das alte Paar sich etwas entfernt.
Die beiden Alten da. Verdächtig, verdächtig, stellt Harry Kilmer fest, behalte sie im Auge. Befrage sie später. – Hurra, der rasende Reporter ist schon da! Bobby Renner von ALTER KLEISTER. Die Medien. Welche Lehre ist daraus zu ziehen? Ein Porsche, den sich einer aus der Privatwirtschaft locker leisten kann, ist klar schneller als die lahmen Enten von BMWs, die wir Polizisten haben. Zum Glück von Tele Langi noch keine Spur!
Sepp Pfund hievt sich aus dem BMW. Er sieht den Mann im Trenchcoat und dem Schlapphut, umringt von Leuten, unmittelbar neben Gebüsch und Abfallcontainern stehen. Einmal mehr halten die Leute Bobby Renner von ALTER KLEISTER für den Detektiv, Ermittler, Kommissar oder was auch immer. Die Leute sind dann schrecklich enttäuscht, wenn ganz gewöhnliche Polizisten auf der Bildfläche erscheinen und übernehmen.
Der rasende Reporter Bobby Renner von ALTER KLEISTER hört in der Redaktion aus Gewohnheit den Polizeifunk ab. Gleichzeitig mit Sepp Pfund und Harry Kilmer bekommt er den Fund der weiblichen Leiche im Altendorf mit. Ein Automatismus wird ausgelöst: nix wie los, in Trenchcoat rein, Schlapphut auf den Deckel, aus der Redaktion raus, in den Porsche rein, in Windeseile an den genannten Ort, um vor der Polizei dort einzutreffen. Unterwegs fragt Bobby Renner sich, weshalb er unterwegs ist. «Der rasende Reporter» ist sein längst vergilbtes Etikett. In den Ressorts «Ständige Rubriken, inklusive Leserbriefe» und «Kultur» ist er auf einem Abstellgeleise und überlebt bloss wegen der Protektion von Elvira Müller Napf, der Frau des Besitzers von ALTER KLEISTER. Er wird keinen Artikel über die Leiche schreiben. Egal, was ihr allererster Anblick hergibt. Ihn langweilen in aufgeregte Empörung getunkte Unglücksfälle und Verbrechen. Er lässt seinen linken Fuss auf dem Gaspedal. Und sei es bloss, um den sich todernst aufspielenden Polizisten eins auszuwischen.
Unterwegs fällt ihm ein, dass er sich bei Tamarinda Waschkler nicht abgemeldet hat. Sie schiebt als einzige mit ihm zusammen auf der Redaktion Sonntagsdienst. Andrerseits hat sie, falls Bobby Renner sich richtig erinnert, nicht aufgeschaut, als er wie vom Leibhaftigen getrieben aufgesprungen und türknallend weggegangen war.
Einmal rasender Reporter, immer rasender Reporter. Bobby Renner verweigert sich der Sex- & Crime-Geilheit des Chefredaktors Dickie Tann und seiner jungen technokratischen Crew. Verhält sich jedoch intuitiv so, dass Dickie Tann annehmen muss, das Fossil hat sich auf die neue Linie begeben, schleimt sich bei der Regierung ein und hat sich alle (Gift-) Zähne ziehen lassen. Bobby Renner ist unterwegs.
Aus Gewohnheit denkt Bobby Renner sogar über die Geschichte nach, die ihn am Ziel erwarten könnte. Bestimmt hat ein nicht einmal eifersüchtiger, aber auf seinen guten Ruf bedachter Ehemann, dem es egal war, als die Spatzen von den Dächern pfiffen, der Hausfreund sei öfter zuhause als der Ehemann, seine Frau abmurksen müssen, weil er sie dummerweise beim Fremdvögeln erwischt hat. Dickie Tann und seine junge technokratische Crew würden diesen Tatbestand zu einem Skandal aufbauschen, der die Bevölkerung für anderthalb oder vier Tage entsetzlich empört und zum Schluss der Regierung die Gelegenheit gibt, sich als elterliche Hüterin von Anstand und Ordnung zu inszenieren.
Der redaktionelle Inhalt der Nummer 21 vom 24. Mai 1972 steht fest, ist von Dickie Tann und seiner jungen technokratischen Crew abgesegnet. Er darf unter Androhung der Todesstrafe nicht abgeändert werden. Die Tatsache, dass zwei Redaktionsmitglieder, wie meist Tamarinda Waschkler und Bobby Renner, die für «Ständige Rubriken, inklusive Leserbriefe» und «Kultur» zuständig sind, dennoch Sonntagsdienst schieben müssen – Befehl von Dickie Tann – ist für die Katze und symptomatisch für die Absurdität des Systems.
Um zehn Uhr zweiundvierzig kurvt Bobby Renner auf den Wendeplatz der Siedlung Altendorf. Wie Bobby Renner richtig vermutet hatte, ist weit und breit weder ein BMW der Polizei, noch ein VW Passat von Tele Langi zu sichten. Bei den Abfallcontainern und den Gebüschen dahinter ist ein kleiner Volksauflauf.
Das Röhren des Porschemotors, das Zuschlagen einer Autotüre, schon schnellen die Blicke aller in Richtung Bobby Renners. Bobby Renner steigt aus den Tiefen seines Porsche auf. Die Menschen stehen stumm und reglos da, blicken hin zu Bobby Renner, harren der Dinge, die da kommen werden.
Ein altes Paar steht im Abseits am Rand des Wendeplatzes. Bobby Renner nickt ihnen zu. Sie nicken zurück. Bobby Renner hört die Frau dem Mann zuflüstern, bloss der Detektiv, schau nicht hin! Bobby Renner lächelt mild. Er ahnt nicht, dass er soeben einen Blickwechsel mit Rautigunde Blaschkus hatte, deren Leserbriefe ihn faszinieren.
Aus der Menge löst sich eine Frau. Sie setzt eine äusserst besorgte Miene auf. Sie nähert sich getragenen Schrittes würdevoll Bobby Renner. Mit dumpf schleifender Stimme presst sie die ersten Worte hervor.
Schrecklich, nicht wahr? Die ärmste Eliane. Ich bin Albertine Huhn. Ich bin so erleichtert, dass sie endlich hier sind.
Albertine Huhn wirft ihre Maske ab. Sie fährt im munteren Plauderton fort.
Die Leute stehen unter Schock. Der Mann, der Ärmste, weiss womöglich noch nichts. Joel Zwigart. Ein so sympathischer, ein so lieber, ein so netter Mann. Wir brachten es nicht über uns, an seiner Haustüre zu klingeln und, Herr Kommissar, es ist schrecklich! Die Kinder, Lucy und Kevin. Elf und neun. Eine Bilderbuchfamilie. Beste Verhältnisse. Wer hat dieses Glück mutwillig zerstört, wer? Wir sind entsetzt. Wir werden alles tun, um den Ärmsten zu helfen.
Mit Kopfschütteln, Schulterzucken und Entsetzensmienen geben die Herumstehenden ihrer Empörung, Aufgewühlt- und Aufgeregtheit Ausdruck. Beinahe alle Frauen und sogar einige Männer haben Tränen in den Augen. Kinder und Kinderchen hüpfen aufgeregt herum, werden von Erwachsen ermahnt, ruhig zu sein. Ein Kind stimmt «Das Wandern ist des Müllers Lust an». Es wird sogleich zum Schweigen gebracht. Eine Frau schluchzt, und erst noch beim Abfallcontainer!, und bricht in fassungsloses Heulen aus. Als ob der Mord an sich nicht schon genug wäre, murmelt eine andere Person.
Ich habe, wendet Albertine Huhn sich vertraulich an Bobby Renner, von meinem Balkon aus Leute im Gebüsch flüstern hören und gesehen, wie Frau Doktor Blaschkus und Herr Doktor Blaschkus aus dem Gebüsch in Richtung Wendeplatz und dann nach Hause gegangen sind. Jetzt stehen sie wieder beim Wendeplatz. Schauen sie nicht hin. Die Blaschkusens sind feine Leute, doch mischen sie sich nicht gerne unter die Leute. Nachdem ich also Blaschkusens im Gebüsch gesehen hatte, ging ich nachschauen, was im Gebüsch Besonderes ist. Schrecklich, nicht wahr! Damit konnte niemand rechnen!
Ein noch junger Mann, hübsch, nähert sich zögernd aus einer der Passagen der Wohnsiedlung. Die Leute weichen zurück, bilden eine Gasse und senken in Betroffenheit ihre Blicke. Der junge Mann kommt auf Bobby Renner zu, streckt ihm seine beiden Hände, die Handflächen ausgestreckt aneinandergepresst, entgegen. Er bricht in Tränen aus und schreit auf, ich bin Joel Zwigart, nehmen sie mich fest! Ein kleiner Junge hüpft um den Mann herum und staunt Bobby Renner an. Ein Mädchen steht daneben. Offensichtlich peinlich berührt. Tut so, als ob sie nicht dazu gehöre.
Autotüren werden zugeschlagen. Die Gesichter aller Anwesenden schnellen in Richtung Wendeplatz. Der BMW der Polizei ist auf dem Wendeplatz eingetroffen, steht hinter dem Porsche.
Im Näherkommen schneidet Sepp Pfund eine Grimasse und schüttelt seinen Kopf. Bobby Renner grinst, macht diskret mit seiner Rechten eine vertrauliche Grussbewegung. Bobby Renner entfernt sich. Schaut sich um. Rautigunde Blaschkus ist nirgends mehr zu sehen. Bobby Renner steigt in seinen Porsche, fährt davon.
Sepp Pfund und Harry Kilmer sichern das Gelände, so gut es geht, um die Leiche herum ab, weisen die Umstehenden zurück. Aus der Menge ertönt eine empörte Stimme.
Weshalb geht der Kommissar und ihr zwei Witzbolde bleibt hier? Nimmt der Kommissar uns überhaupt nicht ernst?! Er hat niemanden befragt oder einvernommen. Was ist das für ein Kommissar?!
Das war Bobby Renner von ALTER KLEISTER, klärt Sepp Pfund die Menge auf.
Die empörte Stimme intoniert einen Schrei des Entsetzens.
ALTER KLEISTER?!! Hier bei uns?!! Mit der Presse wollen wir nichts zu tun haben! wir sagen kein Wort, stellt die empörte Stimme fest.
Tatsächlich? Er war Bobby Renner von ALTER KLEISTER gewesen? Schade, ich hätte gerne mit ihm geredet, säuselt Albertine Huhn. Bloss, ich habe ja nicht gewusst, dass wir plötzlich Promis sind. Bin nicht beim Frisör gewesen. Es ist schlussendlich besser, dass er kein Bild von mir geschossen hat. Ich müsste mich mit meiner Frisur schämen. Hat er überhaupt ein Bild geschossen? Binden sie uns einen Bären auf und er war überhaupt nicht Bobby Renner?
Kevin Zwigart hüpft um seinen ratlos herumstehenden Vater Joel Zwigart herum. Er skandiert mit schriller Pipsstimme, Papi hat Mami umgebracht, Papi hat Mami umgebracht! Lucy Zwigart steht hinter Joel Zwigart, sieht in eine andere Richtung und tut, als ob die Sache sie nichts angeht. Unversehens schiesst Lucy Zwigart hervor, pflanzt sich vor Kevin Zwigart auf und kanzelt ihn wütend ab.
Du bist so dumm und klein, komm! Jetzt sind wir Halbwaisen. Da benimmt man sich und tut nicht so kindisch.
Kevin Zwigarts Huronengebrüll verebbt. Er folgt seiner grossen Schwester, die bereits wieder Richtung Haus geht.
Entschuldigen sie, ich muss mich um meine Kinder kümmern, presst Joel Zwigart hervor und geht hinter den Kindern her.
Jemand flüstert, der Ärmste steht wohl unter Schock. Habe sich des Mordes bezichtigt, den er, ein so netter Mann, nie und nimmer begangen habe. Für Joel lege man die Hand ins Feuer. Sepp Pfund und Harry Kilmer sichern die Leiche und den Fundort mit Plastikbändern, zitieren die Umstehenden auf den Wendeplatz, weg von der Leiche, befragen sie einzeln und machen Notizen.
Die Türe der Redaktion von ALTER KLEISTER öffnet sich. Tamarinda Waschkler hebt automatisch ihren Blick in Richtung Eingang und schielt kurz hin. Sie sieht Bobby Renner still vergnügt lächelnd zu seinem Arbeitsplatz zurückpilgern.
Tamarinda Waschkler ist geladen. Sie explodiert beinahe. Sie weiss, wenn sie ihren Gefühlen freien Lauf lässt, wird sie ausfällig und verletzend. Sie könnte Bobby Renner den Hals umdrehen. Verderben mit ihm will sie es unter keinen Umständen. Sie hockt auf ihren Mund. Versucht ihre Wut runterzuschlucken. Das heisst, sie lackiert mit ausgesuchter Hingabe ihre Fingernägel violett.
Bobby Renner wirft im Vorbeigehen hin, hahaha, ich habe brutal blutige Bilder geschossen und bastle einen sensationellen Skandal-Primeur-Knüller zusammen, der ganz Transköl über diesen bösen Menschen der Gegenwart, diesen Joel Zwigart, diesen hinterrücksen Mörder, der nichts Gescheiteres im Sinn hat, als seine hilflose Frau abzumurksen, empört; heirassa, die Post wird abgehen! Er wundert sich, dass Tamarinda Waschkler weder aufschaut, seine Worte kommentiert, noch eine Miene verzieht. Ihm schwant Schreckliches.