Spuren des Bösen - Angelika Friedemann - E-Book

Spuren des Bösen E-Book

Angelika Friedemann

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Beschreibung

Aufrichtige Menschen sind viel wertvoller als Heuchler, egal wie talentiert sie auch sein mögen. Charles Spurgeon Mehr durch einen Zufall erfährt Martin Kuhlmann, Kriminalhauptkommissar beim LKA Hamburg, von dem Verschwinden eines Säuglings aus einer Babyklappe. Schnell stellt er fest, dass es da bereits ähnliche Fälle gab. Obwohl das nicht sein Aufgabenbereich ist, beginnen er und seine Kollegen zu forschen. Den ersten kleinen Schritt kommen sie näher, da wird eine Zeugin völlig verschmort in einem Solarium aufgefunden. Zusätzlich zu den üblichen Arbeiten müssen sie neue Ermittlungen im Bereich organisiertes Verbrechen, den Morden an Jo Sehler, Oleg Sokolow durchführen, da der Prozess eine völlig unvorhergesehene Wende nimmt.

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Impressum

Angelika Friedemann

Spuren des Bösen

Dienstag

Kriminalkommissarin Elke Theodor schlug die Akte zu und blickte zu ihrem Vorgesetzten. „Eine Schande. Der kleine Jan und diese niedliche Vivian könnten noch leben, wenn …“

Im Flur ertönte lautes Geschrei. Martin Kuhlmann, erster Kriminalhauptkommissar, stellte seine Kaffeetasse auf den Schreibtisch, riss die Tür auf. „Was ist hier los?“

„Sie will etwas melden“, reckte eine Brünette den Kopf leicht höher.

„Bei uns?“, erkundigte sich der Hauptkommissar verblüfft.

„Nein, ich möchte nach Hause.“

„Du wirst das jetzt anzeigen, sonst sind wir geschiedene Leute. Spinnst du?“, ereiferte sich die größere der beiden sehr jungen Frauen. „Wir wollen zu einem Kommissar Kuhlmann.“

„Aha. Kommen Sie herein, bevor Sie das ganze Präsidium zusammen kreischen“, äußerte er barsch, musste jedoch dabei sein Lächeln verkneifen.

„Annika spinnt. Die haben ihr Baby geklaut und sie hat Angst, das nu anzuzeigen“, empörte sich die Frau unüberhörbar.

„Setzen Sie sich bitte und dann der Reihe nach. Elke, hole bitte Kaffee. Sie beruhigen sich und erzählen uns alles von vorn, und zwar in normaler Lautstärke. Keiner ist schwerhörig.“

„Sind Sie überhaupt Herr Kuhlmann? Zu dem wollten wir eigentlich.“

„Der bin ich. Entschuldigung, ging in den Trubel unter. Meine Kollegin, Elke Theodor. Warum wollen Sie ausgerechnet zu mir?“

„Weil ich über Sie in der Zeitung las und ich fand das gut. Sie sind genau der richtige Mann, um Annikas Tochter zurückzuholen.“

Martin schmunzelte. „Sie trauen mir ja viel zu. Wie heißen Sie?“

„Ich bin Lorena und begleite Annika, weil sie sich nicht traut. Das ist nämlich so. Ihre Tochter ist verschwunden. Sie hat jemand entführt, gestohlen, verschlampt oder so. Die lügen und sagen, es gab kein Baby. Bekloppt! Ich habe sie selber gesehen“, wurde sie schon wieder lauter, guckte ihn empört an, als wenn er dieses Kind hätte.

„Das haben wir inzwischen verstanden. Das ist eigentlich keine Aufgabe für das LKA, sondern für die Polizeidienstelle, wo Sie wohnen.“

„Sind Sie nun Polizist oder nicht? Es geht um Mia.“

„Wir beginnen mit den Personalien.“ Er runzelte leicht die Stirn und gab der Kommissarin einen Wink, sie solle sich dazusetzen. Die junge Frau schien von allem unbeeindruckt.

„Lorena Grainier, ich bin fast zwanzig, mache demnächst mein Abi. Egal“, winkte sie ab.

Martin betrachtete den Teenager, unterdessen sie erzählte. Hübsch war sie. Rehbraune lange Haare, leicht schräg gestellte braune Augen, hohe Wangenknochen. Während sie redete, waren ihre Hände mit den nicht zu langen blauen Fingernägeln ständig in Bewegung. So untermalte sie ihre Worte mit Gesten.

„Also an dem Montag vor einer Woche kam Mia auf die Welt, Annikas Tochter. Wir haben es abends in die Babyklappe gelegt, weil sie es nicht wollte. Gestern Nachmittag waren wir dort, weil sie es zurückwill. Da tischen die uns Lügen auf, es wäre kein Kind abgegeben worden. Die spinnen doch. Da hat jemand ein Baby geklaut und wir wollen Mia zurückhaben. Sie müssen dahin und das Mädchen abholen. Meine Eltern werden Annika und Mia helfen“, plapperte die Frau, schnell wie ein Wasserfall, die Geschichte aus, wurde dabei kontinuierlich lauter. „Können wir los? Die haben echt alle einen Sprung in der Schüssel. Mama hat gestern mit uns das Zimmer von Mia eingerichtet und jetzt möchten wir sie da wegholen. Fahren wir“, erhob sie sich und zog am Arm ihrer Freundin. Sie war ein völlig anderer Typ. Kleiner, ruhiger, etwas fülliger, was vermutlich noch von der Geburt herrührte. Sie wirkte wesentlich unsicherer, schüchterner als das Energiebündel neben ihr.

Martin musste trotz allem schmunzeln. Temperament hatte die Kleine.

„Frau Grainier, so einfach geht es nicht. Setzen Sie sich bitte und dämpfen Sie Ihre Lautstärke. Fragen wir zunächst Ihre Freundin.“

„Los Annika, sag es Ihnen, damit wir Mia holen können.“

„Ja, so war es. Muss ich jetzt ins Gefängnis?“, fragte sie schüchtern.

„Ein Kind in eine Babyklappe zu legen ist nicht strafbar. Da haben Sie nichts zu befürchten“, beruhigte sie Martin. „Wann haben Sie das Baby geboren und wo?“

„Zu Hause, am Montag.“

„Warum nicht in einem Krankenhaus?“

„Ich wollte sie nicht. Ich habe schon eine Lehrstelle nach dem Abi und was soll ich da mit einem Baby?“

„Es gibt Betreuungsplätze oder dergleichen. Was passierte danach?“

„Abends haben wir Mia in die Babyklappe gelegt. Gestern waren wir dort, da sagte man uns, Mia wäre nie abgegeben worden. Das ist gelogen. Wo ist meine Tochter?“, erkundigte sie sich kaum hörbar.

„Das werden wir herausfinden. Beginnen wir auch bei Ihnen mit den Personalien.“

Elke schrieb die von ihrem Ausweis ab.

„Sie haben das Kind zu Hause entbunden. Wer hat Ihnen dabei geholfen?“

„Muss ich das sagen?“

„Frau Hellwig, das sind alles keine Strafvergehen.“

„Mensch sag´s ruhig. Ich“, reckte sie dabei stolz den Kopf höher.

„Um wie viel Uhr war das?“

„So um elf war sie da.“

„Was passierte folgend mit dem Säugling?“

„Lorena hat sie gesäubert, angezogen und danach hat sie die Flasche bekommen und geschlafen. Abends haben wir sie zur Babyklappe geschafft.“

„Zu welcher Babyklappe und wie spät war es da?“

„So gegen elf, weil es da dunkel war. Die Klinik von Doktor Neubert. Die ist gleich bei Lorena um die Ecke.“

Er schaute auf die Adresse. „Sie meinen die Klinik Eppendorf?“

„Ja. Kennen Sie die? Ein Saftladen, wo man Babys verschlampt, mit null Durchblick. Wir haben Mia hineingelegt, eine rote Lampe drehte sich und wir sind abgehauen, zu uns gefahren“, Lorena nun wieder.

„Ihre Tochter lebte da, Frau Hellwig?“

Entsetzt schauten die zwei Frauen ihn an.

„Hei, was soll das?“, empörte sich Lorena Grainier. „Ihr ging es gut. Ich habe sie viermal gefüttert, ihr neue Windeln gegeben, sie eingecremt, gewaschen und alles.“

„Regen Sie sich nicht auf, es sind nur allgemeine Fragen“, amüsierte er sich. „Was trug das Mädchen?“

„Sie sah so niedlich aus. Einen Pulli, eine Hose, dazu eine Jacke, Mütze und Schuhe. Alles in Rosa. Ach ja, sie hatte noch eine kleine goldene Kette um. Die hat sie von mir bekommen, weil ich die als Baby von meiner Oma als Glücksbringer erhalten habe.“ Sie kramte in der großen Handtasche. „Gucken Sie, so sieht sie aus. Ich habe sie nämlich fotografiert“, reichte sie ihm das Handy.

Er guckte die Bilder an. Lebendig sah sie aus, da sie einmal die Augen offen und ein anderes Mal zu hatte. Selbst die Arme lagen etwas anders. Er hatte einen Blick dafür. Jahrelang Arbeit mit Toten hatten seine Augen geschult.

„Darf ich die überspielen?“

„Logisch, damit wir sie schneller zu Mia kommen.“

Martin gab das Handy Elke.

„Sie waren gestern folglich in der Klinik? Was passierte da?“

„So eine alte Schwester behauptete, es hätte kein Baby gegeben und wenn, müssten wir uns an das Jugendamt wenden. Ich meckere die an, da holte die einen Mann. Er sei Doktor Friedrichs. Er wollte nochmals hören, was geschehen sei. Ich erzähle es dem Kerl und der sagte, es gab seit Monaten keinen Säugling auf der Station. Ich sage dem, er spinnt und wir würden uns nicht einfach Mia klauen lassen. Wir wollten zu seinem Chef, aber man warf uns hinaus. Wir also zum Jugendamt. Da kennt niemand Mia. Meine Eltern sagten gestern Abend, wir müssen zur Polizei, weil da etwas nicht stimmt. Können wir jetzt los und Mia abholen?“

„Sie fahren nach Hause und wir zu dem Krankenhaus. Danach sehen wir weiter. So problemlos, wie Sie sich das vorstellen, geht es nämlich nicht. Was mit dem Neugeborenen geschieht, entscheidet das Jugendamt, aber so weit sind wir noch nicht. Erst einmal müssen wir herausfinden, wo sie ist. Wir kommen später bei Ihnen daheim vorbei, Frau Hellwig.“

„Sie ist bei mir oder besser bei meinen Eltern. Sie unternehmen aber etwas, oder?“

„Sicher. Es ist ein Baby verschwunden.“

„Na gut. Komm Annika, gehen wir, damit Herr Kuhlmann in diese komische Klinik fahren kann. Schon wissen wir, wo sie ist. Die sind dort doch alle blöd.“ In der Tür drehte sie sich nochmals um. „Wenn Mia schläft, wecken Sie sie aber nicht auf.“

„Gewiss nicht“, musste er lachen.

„Glaubst du diese Story?“, erkundigte sich Elke, als die Tür hinter ihnen zufiel. „Ich denke, die beiden spinnen.“

„Wenn sie eine Tochter bekommen hat, muss die Lütte irgendwo sein. Ein Baby kann nicht spurlos verschwinden. Wir werden vermutlich Annika Hellwig untersuchen lassen müssen, ob sie wirklich ein Kind geboren hat. Wenn ja, müssen wir den Säugling suchen.“

„Was ist, wenn sie den getötet haben oder der schon tot zur Welt kam?“

„Dann wäre es wenigstens ein Fall. Fahren wir zu der Klinik. Danach sehen wir weiter und geben es an die Kollegen. Arbeit haben wir genug, auch ohne Babys zu suchen.“

„Warum machst du das überhaupt?“

„Weil ich neugierig bin, und es ist mal etwas anderes. Dauert ja nicht lange.“

Professor Doktor Neubert empfing sie persönlich. Er hatte bereits von dem Vorfall am Vortag gehört, bestätigte er. Ein Neugeborenes sei nur einmal vor sieben Monaten abgegeben worden. Sie hatten keinen Säugling auf der Station. Die beiden Damen würde Unfug erzählen.

Martin und Elke schauten die Babyklappe an, ließen sich die Funktion erklären und vorführen.

Das Öffnen erfolgte durch Aufziehen per Hand. Eine Art Tischchen mit Mulde erschien. Ein Wärmebett nannte er es. Das Baby legte man dort hinein. Die Klappe wurde entweder zugedrückt oder schloss sich automatisch. Erst im Anschluss daran wurde ein elektronischer Alarm aktiviert, der dafür sorgte, dass sofortige Hilfe erschien. Die Meldung, ein Baby wurde hineingelegt, erfolgte automatisch mit nur kurzer Verzögerung.

„Diese Videokamera zeichnet was auf?“

„Nur den Säugling, damit die Anonymität der Mutter gewährleistet bleibt. Die Person, wer immer das Kleinkind ablegte, kann unerkannt weggehen. Das Baby wird im Anschluss umgehend medizinisch versorgt.“

„Einen Defekt gab es nicht?“, erkundigte sich Martin, während sie um das Gebäude zum Eingang liefen.

„Nein. Wir hatten seit Wochen kein Neugeborenes auf der Station. Entbindungen haben wir nur von Eppendorfern, Privatpatienten und da gab es ebenfalls keine.“

Sie verabschiedeten sich.

„Die Mädels spinnen“, stellte Elke fest, als sie zu dem Haus der Familie Grainier fuhren.

„Frau Hellwig wird sich untersuchen lassen müssen. Wir haben ja auch nichts anderes zu tun, als irgendwelche Märchen zu verfolgen“, brummte er ungehalten. Er ärgerte sich, dass er sich überhaupt auf den Quatsch eingelassen hatte. So ein Kram fiel nicht in ihren Zuständigkeitsbereich.

Da das Tor offen stand, fuhr er direkt bis vor die Haustür. Nobel dachte er. Zwei große grüne Flächen mit zig Blumenrabatten befanden sich rechts und links von dem gepflasterten Weg. Ringsherum hohe Büsche, die den Blick im Sommer nach außen versperrten. Jetzt sah alles graugrün, kahl und trostlos aus. Nur einige bunte Blätter, die noch nicht vom Wind weggetragen waren, zierten das dichte Buschwerk.

Sie stiegen aus und gingen die drei fast weißen Steinstufen hoch, klingelten und wenig später öffnete eine Frau.

„Ja bitte?“

„Frau Grainier?“

„Ja.“

„Hauptkommissar Martin Kuhlmann vom LKA, meine Kollegin, Kommissarin Elke Theodor. Wir kommen wegen des verschwundenen Säuglings.“

„Oh, haben Sie Mia gefunden? Kommen Sie bitte herein.“ Sie zog die gelben Gartenhandschuhe aus, während sie vor ihnen durch eine helle Diele Richtung Wohnzimmer lief.

Martin betrachtete die zierliche Frau von hinten. Netter Anblick fand er, da sie Stretchjeans und ein Shirt trug, barfuß lief.

Auch sie lange, dunkelbraune Haare, die zu einem dicken Zopf geflochten waren. Genau sein Typ.

„Nehmen Sie bitte Platz.“

„Frau Grainier, wann haben Sie von dem Baby erfahren?“

„Dass Annika schwanger war, wusste ich natürlich. Dass sie das Kind in eine Babyklappe gelegt hatte, seit vorgestern Abend.“

„Sie sind sicher, dass es diese Schwangerschaft gab?“

Irritiert blickte sie ihn an. „Was soll das heißen? Natürlich gab es eine Schwangerschaft. Heißt das, Sie haben Mia nicht gefunden?“

„Bisher nicht, da man in der Klinik nichts von einem Neugeborenen weiß. Sie bestreiten vehement, dass in den letzten Monaten, Tagen ein Säugling in der Babyklappe lag. Seit wann wussten Sie, Frau Hellwig ist schwanger?“

„Seit Juli. Sie hat es uns erzählt, da man es da bereits sah. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Kaffee, Tee, Orangensaft, Selters?“

„Saft. Danke.“

Sie stand auf, holte von der Terrasse eine Karaffe mit Saft und aus der Küche Gläser, während er sich umschaute. Nett eingerichtet, nicht protzig, sondern irgendwie schlicht, aber edel, schön und gemütlich. Ein Gemisch von modernen mit antiken Elementen, die jedoch perfekt aufeinander abgestimmt waren.

Sie goss ein, setzte sich.

„Sagte Ihnen Frau Hellwig, was mit ihrem Kind nach der Geburt passieren soll?“

„Das Baby war eine Panne. Sie wohnt bei der Mutter, zusammen mit drei Geschwistern. Eher beengte Verhältnisse, dazu herrscht dort permanenter Geldmangel. Mein Mann und ich haben ihr da verschiedene Möglichkeiten erläutert, ihr geraten, sich beim Jugendamt zu erkundigen.“

„Welche Möglichkeiten? Der Saft schmeckt sehr gut, frisch.“

„Das machen die Limonen, die ich untermische. Einmal gibt es betreutes Wohnen von Mutter und Kind, Adoption, WGs oder das sie zwei Zimmer bei uns mit dem Kind beziehen könnte. Meine Schwiegermutter und ich hätten uns tagsüber um das Baby gekümmert, wenn sie demnächst ihre Lehre beginnt. Sie wollte darüber nachdenken.“

„Wie ging es danach weiter?“

„Wir haben Annika längere Zeit nicht gesehen. Vorgestern war sie hier und wir fragten natürlich nach dem Kind. Lorena erzählte uns, Annika habe am Montag das Kind in unserem Nebengebäude auf die Welt gebracht. Abends legten sie die Kleine in die Babyklappe. Annika weinte, weil das ein Fehler gewesen sei. Mein Mann riet ihr, zum Jugendamt zu gehen und dort mit den Mitarbeitern zu sprechen. Wenn das Umfeld stimmte, könnte sie wahrscheinlich das Mädchen zurückbekommen. Eventuell müssten wir die Pflegschaft, oder wie das heißt, vorübergehend beantragen.“

„Haben Sie nichts von der Geburt mitbekommen?“

„Nein. Mein Mann und ich waren einige Tage bei meinen Eltern. Wir sind erst am Dienstagabend zurückgekommen. Lorena konnte sich deswegen auch meinen Wagen stibitzen.“

„Einen Führerschein hat sie aber?“

„Sicher doch. Trotzdem ist der für sie tabu“, lächelte sie. „Man muss für den Besitz eines Autos arbeiten. Wo ist nun Mia?“

„Das wüssten wir auch gern. In der Babyklappe wurde sie jedenfalls nicht abgegeben, wie man uns versicherte.“

Sie nahm die langen dunkelbraunen Haare hoch, drehte den Zopf und schlang den zu einem Knoten zusammen, schien zu überlegen. „Das verstehe ich nicht. Ein Säugling kann doch nicht verschwinden?“

„Deswegen unsere Frage, ob sie wirklich schwanger war.“

„Ja, das war sie zu hundert Prozent. Sie war bei diesen Vorsorgeuntersuchungen. Es gab Ultraschallbilder.“

„Frau Grainier, wir müssten nochmals mit Ihrer Tochter und Frau Hellwig sprechen.“

Sie stand auf. „Kommen Sie bitte mit. Ich führe Sie hin.“

Die zwei jungen Frauen saßen auf einer alten Couch, waren in Bücher vertieft, wobei jede einen Block auf dem Schoß liegen hatte. Lorena kaute auf einem Stift dabei herum. Sie sprangen auf, als sie die drei Personen gewahrten.

„Wo ist Mia?“

„Lorena, was ist hier passiert?“, erkundigte sie sich streng.

„Was meinst du, Mama?“

„Sie fanden dort keinen Säugling vor.“

„Wo ist meine Tochter?“, rollten bei Annika Hellwig die Tränen.

„Frau Hellwig, das wollen wir von Ihnen wissen. Sie werden uns begleiten müssen, da durch eine Untersuchung festgestellt werden muss, ob es diese Geburt gab.“

„Natürlich gab es Mia und die haben sie geklaut, verschlampt“, Lorena empört und schon wieder lauter werdend.

„Frau Hellwig, meine Kollegin belehrt Sie.“ Martin nickte Elke zu, während er sich kurz entschuldigte. Draußen sagte er dem Kollegen Bescheid, er solle die Familien Hellwig und Grainier überprüfen. Die Daten der jungen Frauen lagen auf Elkes Schreibtisch.

Er schlenderte zurück.

„Sehen Sie, dort ist Mia auf die Welt gekommen und da habe ich sie gewickelt, angezogen“, hörte er Lorenas Stimme. „Wir spinnen doch nicht und erfinden ein Baby.“

„Das behauptet keiner, nur es könnte eventuell sein, dass das Baby starb und Sie nun Angst haben, dass man Sie deswegen belangt“, Elke in einem ruhigen Tonfall.

„Mia hat gelebt, geschrien, gezappelt, hatte Hunger und hat in die Windel gemacht. Diese Klinik hat da was verschlampt und das wollen die uns unterjubeln. Mama, sag doch etwas? Du weißt, ich lüge nie. Du hast gesehen, Annika war schwanger.“

„Beruhigen Sie sich bitte“, griff Martin ein. „Das sind normale Vorgänge und keiner beschuldigt irgendwen. Es muss zunächst die Geburt festgestellt werden, damit wir nach einem Mädchen suchen können. Folgend werden wir Ihre Aussagen aufnehmen, Spuren hier und in der Neubert-Klinik sichern, die Medien informieren, so potenzielle Zeugen finden. Ein Säugling kann unschwer spurlos verschwinden. Sollte sie tot geboren sein, dann sagen Sie es. Das wäre kein Straftatbestand. Sollten Sie das Baby allerdings illegal vergraben haben und schweigen jetzt, machen Sie sich strafbar.“

„Mia … hat … ge… lebt“, wiederholte Lorena, hatte nun Tränen in den Augen. „Versteht uns denn keiner? Wir haben sie in die Babyklappe gelegt, lebend. Annika hatte recht, uns glaubt keiner. Auch Sie nicht. Alles, was da über Sie in der Zeitung stand, bloß gelogen.“

„Lorena, bitte“, mahnte die Mutter.

„Mama, ist doch wahr. Die klauen oder verschlampen da Annikas Tochter und wollen uns das nun in die Schuhe schieben. Das ist gemein. Die Polizei glaubt denen noch.“

„Wir machen jetzt Folgendes. Die beiden Damen begleiten uns aufs Präsidium. Dort nehmen wir Ihre Aussage auf, dazu geben Sie uns die Fotos des vermissten Babys sowie Mutterpass und eventuelle Ultraschallbilder. Morgen nach der Schule gehen Sie zu unserer Ärztin, Frau Hellwig, lassen sich kurz untersuchen. Die Kollegen stellen so lange Nachforschungen an, sprechen mit der zuständigen Sachbearbeiterin des Jugendamtes.“

Im Präsidium sagten die beiden jungen Frauen getrennt voneinander das Gleiche wie vorher aus. Sie beschrieben den Säugling, die Kleidung, welche Nahrung sie bekommen hatte.

Martin telefonierte mit dem Staatsanwalt, da er wissen wollte, an welches Kommissariat er das leiten sollte. Das war kein Delikt für seine Abteilung. Zu seinem Erstaunen, aber auch Ärger, halste ihm Staatsanwalt Ingo Siegfried, trotz aller Proteste, die weiteren Ermittlungen auf.

„Scheun´n Schiet!“, fluchte er laut. „Hätte ich bloß die Finger davon gelassen.“

Er riss die Tür von seinem Büro auf, sah seinen Sohn, der Lorena anstarrte. „Gero, ich bin gleich fertig. Geh bitte in mein Büro.“

„Tschüss“, grinste der das Mädchen an.

„Sie werden von einem Polizeiwagen nach Hause gefahren“, wandte sich Martin an sie. „Frau Hellwig, Sie kommen morgen um 15.00 Uhr zur Untersuchung“, gab er ihr eine Karte. „Sobald wir mehr wissen, melden wir uns.“ Er reichte beiden die Hand und ging zurück in sein Büro.

„Hei Dad. Wer ist sie?“

„Für dich unwichtig. Gero, wir sind eine Polizeidienststelle, keine Disco, wo man Mädchen aufreißt. Ich dachte, du bist gerade liiert?“

„Dad, sie sieht einfach nüddelich aus. Hat sie etwas ausgefressen?“

„Gehen wir, sonst muss deine Mutter warten und ich bekomme Ärger.“

Abends beim Abendessen erkundigte sich Gero nochmals nach der Unbekannten.

„Schluss damit“, Martin nun ärgerlich. „Gero, sie ist für dich tabu. Wir ermitteln und da kann ich gewiss nicht gebrauchen, dass mein Junior etwas mit einer Zeugin oder sogar Tatverdächtigen anfängt. Das begreifst du? Gut, Thema beendet.“

„Was hat sie denn angestellt?“, fragte Vicky.

„Wir wissen noch nicht, ob sie etwas angestellt hat. Derzeit suchen wir einen Säugling, den ihre Freundin vor einer Woche mit ihr zusammen in eine Babyklappe gelegt hat. Nur die Klinik sagte, es gab keinen Säugling. Keiner weiß etwas darüber.“

„Wenn sie das sagt, wird das schon stimmen“, Gero kauend.

„Junger Mann, man spricht nicht mit vollem Mund. Du kennst sie also so gut, dass du das beurteilen kannst? Werde bitte nicht unlogisch. Wenn alle Menschen, die nett aussehen, unschuldig wären, würden wir Täter wesentlich schneller schnappen, beziehungsweise Verbrechen würden nicht mehr stattfinden. So viel hässliche Leute laufen ja nicht umher.“

„Dad, man sieht es ihr an, dass sie bestimmt kein Baby ermordete.“

„Habe ich behauptet, sie hat es getötet?“

„Sonst würdest du ja nicht ermitteln.“

„Inkorrekt. Sie kreischte im Flur herum. Ich sagte ihr Bescheid, damit Ruhe ist. So bin ich an die beiden Mädchen und die Geschichte geraten, die mir die Staatsanwaltschaft später aufdrückte.“

„Wie heißt sie?“

„Irrelevant. Gero, noch einmal: Sie ist für dich tabu, da wir gegen sie Untersuchungen anstellen. Ich würde deswegen nicht nur Ärger bekommen, sondern eine Menge mehr Unannehmlichkeiten.“

„Brüderchen, was sagte denn deine Flamme dazu, das du nach anderen Mädchen schielst?“

„Halt deine Klappe!“, blaffte der seine Schwester an. „Soll ich mal petzen, dusselige Gans?“   

„Ruhe!“, Martin jetzt leicht drohend. „Ihr benehmt euch wie zwei kleine Kinder.“

Mittwoch

Wie immer hielt er an einem Zeitungskiosk, holte die Tageszeitungen ab, snakte kurz mit der älteren Dame, die er seit über zehn Jahren kannte. Wenigstens stand noch nichts über diesen mysteriösen Fall von der kleinen Mia in der Zeitung.

Die Kollegen saßen bereits alle an dem großen Tisch versammelt, als Martin Kuhlmann eintrat. Er grüßte, warf die Akte auf den Tisch, holte einen Becher Kaffee und nahm Platz.

„Wir haben einen neuen Fall. Mia Hellwig, zehn Tage alt – verschwunden. Laut Aussage der Mutter wurde der Säugling vor einer Woche, an dem Montag, in der Babyklappe der Privatklinik Neubert, Eppendorf, abgegeben. Dort bestreitet man das.“

„Was haben wir damit zu tun?“, forschte Severin Hiller, Oberkommissar, nach.

„Hat sie das Kind getötet?“, erkundigte sich sein Stellvertreter, Hauptkommissar Elmar Berg, strich sich dabei mit Daumen und Zeigefinger über seinen braunen Oberlippenbart.

„Elmar, das werden wir herausfinden müssen. Annika Hellwig, 19, wohnhaft Dulsberg, Krausestraße zusammen mit Mutter und drei Geschwistern. Sie ist die Zweitälteste. Abitur in Kürze, anschließend beginnt sie eine Lehre als Raumausstatterin. Den Vertrag hat sie bereits, da sie dort in den Ferien etwas Taschengeld verdiente. Die Lütte hat sie mittags in Eppendorf, im Haus ihrer Freundin beziehungsweise deren Eltern bekommen. Lorena Grainier, 19, Abitur ebenfalls in Kürze. Sie will danach Kunst studieren. Vater Antiquitätenhändler, Mutter arbeitet zeitweise als Kunstexpertin, da sie das studiert hat. Die beiden Mädchen sind seit acht Jahren befreundet.“

„Die kommen aber aus einem sehr unterschiedlichen Umfeld“, stellte Hauptkommissar Kai Razioni fest, hielt die Hand vor den Mund, gähnte.

„Deine Tochter scheint dich wach zu halten?“, grinste Bircan Weimann, Kriminalkommissar.

„Jede Nacht Geschrei. Meine Frau behauptet, unser Sohn wäre da nicht anders gewesen, aber irgendwie habe ich das vergessen. Sie trinkt und schläft an der Brust meiner Frau weiter. Pünktlich vier Stunden später geht es von vorn los. Du kannst die Uhr danach stellen. Wäre alles nicht so schlimm, wenn es die Windel nicht geben würde. Sie schreit so lange, bis die neu und sie angezogen ist. Nino will am Wochenende zu meinen Eltern, weil er mal durchschlafen will. Eine Süße ist sie trotzdem.“

„Ist ja nur noch einige Wochen“, Martin lakonisch, griente anschließend. „Gut, dass sie im Aussehen wenigstens nach der Mama kommt“, worauf Kai lachend konterte. „Sagt deine Tochter gewiss auch.“

„Meine Frau sieht eben besser als ich aus“, lachte Martin. „Genug des Unfugs. Die eine Deern ärmlich aufgewachsen; die andere mit reichen Eltern, heilem Familienleben, wie es den Anschein hat. Sie haben sich durch eine Theatergruppe kennengelernt. Lorenas Eltern haben damals durchgesetzt, damit Annika auf das gleiche Gymnasium wie ihre Tochter geht. So im Groben. Elmar, du fährst zu der Mutter von Annika Hellwig. Anke darf dich begleiten. Elke, du besorgst mir alles über dieses Krankenhaus und sprichst mit dem Frauenarzt, bei dem Annika in Behandlung war. Ben, wir beide fahren mittags zu der Klinik, zwei Mitarbeiter der Spusi kommen hin und untersuchen die Babyklappe. Danach fahren wir zu den Grainiers. Kai, du kümmerst dich um den Fall Jancke. Die Berichte vom KTI fehlen immer noch. Solltet sich ihr Lover heute wieder nirgends auffinden lassen, geht ein Fahndungsfoto heraus. Um zwei erscheint Staatsanwalt Strake, möchte sie verhören. Oliver, du wirst endlich den Fall Schneider abschließen. Seit Freitag warten sie bei der Staatsanwaltschaft auf die Abschlussberichte. Uwe, Severin und Bircan, ihr wisst, was ihr zu tun habt. Sind die Leute vom SEK verständigt?“

„Ja, haben wir gestern angeleiert, damit sie das frühzeitig koordinieren können.“

„Ihr zieht euch alle brav die Westen an, und keine Dummheiten. Viel Glück.“

Er nahm den Kaffeebecher mit, setzte sich an seinen Schreibtisch, schaltete seinen Computer an und fand kurze Zeit später das Gesuchte. Er las die Abhandlungen, griff nach dem Telefon. „Elmar, komm bitte in mein Büro und bring Anke mit.“

Er drehte den Laptop, da kamen die zwei Kollegen bereits herein. „Lies es durch. Anke, du besorgst mir die Akte Schäfer aus dem März vergangenen Jahres“, reichte er ihr einen Zettel.

„Du denkst, das hängt mit der Hellwig zusammen?“

„Noch denke ich nichts, aber es gibt zahlreiche Parallelen.“

„Nur damals war es eine durch den Verein Alleinerziehend-Kind betriebene Babyklappe in Bramfeld. Es wurde dort nichts gefunden.“

„Besorge mir bitte eine Mitarbeiterliste von dem Verein. Das gesamte Jahr 2012 bis heute, inklusive aller freiwilligen Helfer. Wenn nicht aus freien Stücken, dann rufe an, damit du einen Beschluss erhältst. Falls du danach Zeit hast, überprüfe jede einzelne Person: Schulden, große Autos und so weiter. Spann Anke und Oliver mit ein, falls der endlich die Unterlagen entdeckt. Seine Schlamperei nervt.“

„Du glaubst den Mädels die Story?“

„Ich glaube nie, sondern verlasse mich auf Fakten, Anke.“

„Was, wenn sie den Kleinen getötet haben?“, erkundigte sich Anke Ilitsch, Kriminalmeisterin und die Jüngste in der Abteilung.

„Müssen wir den Leichnam finden. Es ist eine kleine Mia. So können wir ihnen nichts beweisen, wie im Fall Schäfer.“

„Gut entsorgt eben.“

„Anke, du redest von einem Säugling und nicht von einer Coladose“, wurde sie sofort scharf zurechtgewiesen. Er lehnte sich zurück. „Ich weiß nicht warum, aber gerade Lorena Grainier, hinterlässt einen absoluten ehrlichen Eindruck, zudem ist sie intelligent. Sie würde nicht zur Polizei gehen, sich derartig empören, wenn daran nichts wäre. Sie hätten die Geschichte von der Babyklappe ihren Eltern verklickert und ende. Niemand wäre jemals auf dieses Baby gestoßen. Trotzdem wird die Spusi dort nach der Kleinen suchen. Wir werden sie nochmals vernehmen.“

„Martin, das ist eine Nobelklinik. Es ist außerdem nicht unsere Aufgabe, Babys zu suchen.“

„Anke, entscheidest du das? Jetzt schon, da uns das die Staatsanwaltschaft übertragen hat. Du tust gerade so, als wenn nur arme Leute Straftaten begehen würden. Irrelevant. Mach dich an die Arbeit. Die Akte möchte ich nachher auf meinem Schreibtisch vorfinden. Danke. Lass uns bitte kurz allein.“ Martin wartete, bis sie die Tür von außen schloss. „Elmar, achte bitte darauf, dass Oliver endlich die Unterlagen für Staatsanwalt Strake fertigmacht. Der hat gestern Abend getobt. Was ist nun wieder mit ihm los? Meine Geduld ist allmählich vorbei.“

„Seit Silvia weg ist, hat er Liebeskummer. Am Dienstag hat er einen Brief vom Jugendamt bekommen, Rita hat ihn als Vater benannt. Ihr Mann ist eindeutig nicht der Erzeuger des Mädchens.“

„Wieso Mädchen? Sie hat doch immer von einem Jungen erzählt, der noch mit dreißig bei der Mami Händchen halten muss, keine Freundin haben darf.“

„Hat sie sich vermutlich gewünscht. Sie rechnet damit, dass sie in einigen Tagen frei ist. Sie will mit dem Kind bei Oliver einziehen.“

„Da muss er ja nun keine Angst haben. Sie sitzt erst einmal eine Weile“, Martin lakonisch.

„Muss er jetzt noch Unterhalt zahlen, hungert er. Diese Schulden lassen ihm jetzt schon kaum etwas Geld.“

„Hätte er nicht mit ihr Sex praktizieren sollen.“

„Nun ist das Kind in den Brunnen gefallen. Er hat einen Vaterschaftstest beantragt. Martin, mir tut er trotz allem irgendwie leid. Frau weg, halb fertiges Haus, einen Berg Schulden, nun noch ein Kind. Da dreht man ja durch.“

„Elmar, die Probleme hat er sich selber eingehandelt. Immer wieder nehmen wir auf ihn Rücksicht, nur irgendwann ist Schluss. Entweder wird er langsam erwachsen oder er kann gehen. Ich bin hier nicht die Oberaufsicht von einem Kindergarten.“

In der Klinik empfing man sie und die Mitarbeiter der Spurensicherung nicht gerade freundlich.

„Es gilt das Verschwinden eines Säuglings aufzuklären und da interessieren uns irgendwelche Patienten wenig. Auch Sie müssten daran ein Interesse haben“, putzt Martin den Arzt, Doktor Arno Friedrichs, herunter. „Mein Kollege und ich werden Sie jetzt zu dem Tattag vernehmen. Anschließend das Personal. Gibt es einen Raum dafür?“

„Ich muss …“

„Sie müssen aussagen, sonst nehmen wir Sie mit ins Präsidium“, kürzte Kriminalkommissar Benjamin Wurt das ab. Martin gab den beiden Mitarbeitern der Spusi kurz Anweisungen und sie wurden von einer Schwester zu der Babyklappe geführt.

Er ging vor den beiden Beamten her, die sich angrinsten. Sie waren ein gut eingespieltes Team.

In dem Büro stank es nach Qualm, sah es chaotisch aus, wie er fand. Überall lagen Berge Papiere, stapelten sich rote Kladden. Hier müsste dringend aufgeräumt werden. Wie findet man da Patientenakten?

Sie setzten sich in eine Polstergruppe, die seitlich stand. Die Sessel altertümlich, hatten schon bessere Zeiten gesehen. Zwei schmutzige Tassen standen auf dem Tisch, daneben ein voller Aschenbecher.

„Können Sie bitte den Ascher wegnehmen?“, fragte Ben süffisant den Arzt, der ihn entgeistert anschaute.

„Es stinkt“, schickte Martin hinterher. „Kinderärzte, die rauchen, eher bedenklich.“

„Es herrscht gerade das Chaos, da zwei Büros und unser Aufenthaltsraum nebenan neu gestrichen werden, neue Schränke, Möbel bekommen“, stellte er den Ascher auf den Schreibtisch. Er setzte sich und wurde belehrt.

Er sagte aus, dass er an dem Tag die Klinik gegen 16.00 Uhr verlassen hätte. Danach sei er den ganzen Abend zu Hause gewesen. Seine Frau könne das bestätigen. Keiner hätte am nächsten Morgen ein Kleinkind erwähnt. Auf der Station gab es keinen Säugling.

So verhörten sie vier Ärzte und zwölf Schwestern. Ein Teil des Personals erschien erst am Abend und die würde man später vernehmen. Die Aussagen gleich: Entweder hat die Person keinen Dienst an dem Abend, der andere Teil wusste nichts von einem Baby. Gehört hatte niemand, dass es einen Zugang durch die Babyklappe gegeben hatte. Ein Neugeborenes auf der Station - Fehlanzeige. Bei dem Hausmeisterehepaar erreichten sie auch nichts. Mia schien hier ein Phantom zu sein.

„Die Mädels haben uns belogen. Es müsste wenigstens eine der Anwesenden den Säugling gehört, gesehen haben.“

„Ben, ich weiß nicht warum, aber ich glaube den Mädchen. Irrelevant. Wir nehmen sie mit und werden sie nochmals getrennt befragen. Daneben muss sich dort die Spusi umsehen, den Wagen von Frau Grainier untersuchen, das Grundstück unter die Lupe nehmen. Es wäre Totschlag. Die Handybilder von der kleinen Mia beweisen, dass die Lütte nach der Geburt gelebt hat. Die Familie Grainier ist raus, da sie nachweisbar nicht vor Ort waren. Das kann ein halbes Dorf bestätigen.“

„Sie können die Lütte überall verbuddelt haben.“

„Sicher, nur ich glaube es nicht. Du wirst gleich Lorena Grainier kennenlernen, reden wir danach.“

„Die Mutter?“

„Still, schüchtern, sie ist von der gesamten Situation völlig überfordert. Jedenfalls hinterlässt sie den Eindruck bei mir. Fakt ist nichts. Es heißt bisher lediglich, sie hat ein Kind auf die Welt gebracht und dieses Mädchen ist verschwunden.“

„Martin, das ist eine renommierte Nobelklinik. Da stiehlt doch keiner ein Baby?“

„Trotzdem ist Mia verschwunden. Dort arbeiten nur bornierte Affen, die gewiss kein Baby mitnehmen. Was ist mit jemand vom Personal? Sogar einer der Reinigungskräfte könnte die Lütte zu sich geholt haben.“

„Das bedeutet, wir müssen alle Wohnungen abklappern?“

„Wir müssen alle Alibis überprüfen und dabei nach dem Winzling suchen. Ein Baby schreit, benötigt einiges an Utensilien für den täglichen Gebrauch. Das kann man nicht alles verstecken. Eventuell findet die Spusi etwas. Gehen wir systematisch vor. Nachher überprüfen wir generell alle Personen, die mit der Klinik im Zusammenhang stehen. Jetzt haben wir ja eine Personalliste. Wir müssen die Angestellten befragen, die nicht anwesend waren. Morgen werden wir uns die ausgeschiedenen Mitarbeiter vornehmen. Sind ja nur fünf. An dem Abend waren offiziell sieben Personen in der Klinik. Denen widmen wir uns zuerst.“

„Oder wir haben Glück und eines der Mädchen verplappert sich.“

„Oder so, nur ich denke, das ist Wunschdenken. Ich glaube wirklich an ihre Geschichte.“

Auch heute stand das Tor offen und so fuhr er auf das Grundstück. Ein neuer Audi-SUV und ein alter Wrangler parkten vor den Garagen.

Alexa Grainier öffnete. „Herr Kuhlmann, wissen Sie etwas Neues?“

Martin stellte seinen Kollegen vor. „Das noch nicht. Wir müssten nochmals mit den beiden jungen Damen sprechen.“

„Kommen Sie herein. Ich hole sie.“

Im Wohnzimmer kam ihnen ein Mann entgegen, der sich als Guy Grainier vorstellte, sofort nach Mia fragte.

„Guy, ich hole Lorena und Annika. Eventuell möchten die Herren etwas trinken.“

„Cherie, beeil dich, da wir um zwölf den Termin haben.“

Sie nickte und Martin schaute ihr einen Moment nach, bevor sie den Raum verließ. Heute war sie in ein Kostüm gekleidet, trug hohe Pumps. Hübsch.

„Nehmen Sie Platz.“

„Herr Grainier, wir werden das Grundstück und das Haus auf Spuren untersuchen müssen, dazu den Wagen Ihrer Frau.“

„Wie bitte?“

„Wir können leider kein Tötungsdelikt ausschließen.“

„Merde, meine Tochter lügt nie. Non. Wenn sie sagt, sie haben bébé Mia abgegeben, dann entspricht das der Wahrheit.“

„Wir wollen ihr nicht unterstellen, dass sie lügt. Nur wir benötigen Fakten. Momentan stehen Aussagen gegen Aussagen.“

„Haben Sie einen Beschluss oder wie das heißt?“

„Bekommen wir sofort.“

„Der Wagen meiner Frau steht vor der Tür und Sie können alles durchsuchen, außer unser Haus, da meine Frau und ich gleich einen Termin haben. Für das Haus möchte ich einen Beschluss sehen und vorher mit meinem Anwalt sprechen. Garagen und Lorenas Reich dürfen Sie durchwühlen.“

„Danke. Wissen Sie oder Ihre Frau zufällig den Tachostand bei Ihrer Abfahrt?“

„Oui. Fast exakt auf zehn Kilometer, da der Jeep in der Werkstatt war, so wie fast jeden Monat“, brummte der Mann. „Sie möchte ihn trotzdem behalten. Aber bald ist innen alles neu und dann ist hoffentlich Ruhe. Ich hole Ihnen die Quittung der Werkstatt“, verließ er den Raum. Ein interessanter und gut aussehender Mann, von dem die Tochter nicht nur die Augen und den Mund geerbt hatte, sondern auch das Temperament, einschließlich der Gestik beim Sprechen.

Frau Grainier und die jungen Frauen erschienen und nochmals stellte Martin Ben vor.

„Wo ist mein Mann?“

„Er holt den Beleg von einer Autowerkstatt, wegen des Kilometerstandes.“

„Was wollen Sie damit?“

„Wissen, wie viele Kilometer mit dem Auto gefahren wurden.“

„Kann ich Ihnen sagen. Einmal zum Damm und zurück. Einmal zur Klinik und zurück. Sonst nichts“, antwortete Lorena sofort.

„Danke, und Sie, Frau Grainier?“

„Dreimal einkaufen, einmal zum Alsterhaus.“

Der Mann reichte ihnen die Quittung. „Da steht er. 283.578. Da sagte meine Frau, der Wagen ist fast neu.“

„Er hat keine Beule, nichts.“

„Cherie, du bist süß“, lachte er nun. „Er ist innen ebenfalls fast neu. Ich glaube, nur der Motor und ein paar Kabel sind noch die alten Teile. Er ist umweltschädlich, schluckt zu viel Sprit. Die Herren wollen ihn untersuchen.“

„Warum?“

„Routine.“

„Meinetwegen, aber keinen Dreck hineintragen.“

„Oh Mama, sie gucken da rein.“

„Lorena, sie suchen nach Spuren, ob ihr den Säugling damit transportiert habt, ob er irgendwohin gefahren wurde, weil sie denken, ihr habt Mademoiselle Mia getötet und vergraben.“

„Waaass? Papa, das stimmt nicht.“

„Sie werden sich hier umsehen, allerdings kommen sie nicht in unser Haus. Comprendre?“

„Papa, das ist doch albern. Wir haben Mia in die Babyklappe gelegt.“

„Mon petit, ich glaube es dir. Lass sie suchen und beantwortet ihre Fragen. Heute zum letzten Mal, danach nur noch in Begleitung eines Anwalts. Ich kläre das nachher mit Robert. Cherie, wir müssen los.“

Er gab den beiden Mädchen einen Kuss auf die Wange. „Sie werden sie finden, vorher geben wir keine Ruhe. Annika, du bekommst bébé Mia zurück.“

Das Ehepaar verabschiedete sich.

„Wir werden Sie jetzt nochmals getrennt vernehmen. Frau Grainier, gehen Sie bitte mit meinem Kollegen in Ihr Domizil.“

Martin wartete, bis die Tür zu war, belehrte die junge Frau abermals.

„Frau Hellwig, was haben Sie während der Schwangerschaft geplant, wie Sie mit einem Kind leben wollen?“

„Nichts. Ich dachte, lasse es erst mal auf mich zukommen. Mein Abi war mir wichtiger.“

„Wie hat Ihre Familie darauf reagiert?“

„Ich habe es ihnen erst gesagt, als man es sowieso sehen konnte. Meine Mutter hat gemeckert, warum ich es nicht sofort abgetrieben hätte, meinte, das würde sie nicht aufnehmen. Ich solle es dem Vater vor die Tür legen.“

„Der Vater wusste davon? Wie hat er reagiert?“

„Der tobte und ich habe seit dem nicht mehr mit ihm geredet.“

„Er wusste ergo nicht, wann es kommt?“

„Nein, nichts.“

„In den Tagen vor der Geburt müssen Sie sich ja Gedanken gemacht haben, wie es mit Mia weitergehen soll?“

„Ich hoffte, meine Mutter würde sie nehmen, wenn ich demnächst arbeiten gehe, aber sie lehnte es strikt ab. Meine Brüder sowieso. Keiner wollte sie haben, weil sie nur Geld kosten würde. Das, was ich verdiene, sollte ich gefälligst in den Haushalt stecken und nicht einen zusätzlichen Menschen anschleppen. Ich bin zu Lorena gefahren und dortgeblieben. Sie wollte mich davon überzeugen, bei ihnen zu wohnen, aber das wollte ich nicht. Sie sind sowieso schon so lieb zu mir, finanzieren teilweise meine Kleidung, die Klassenfahrt und so.“

„Warum sind Sie nicht in eine Klinik zur Entbindung gegangen?“

„Als die Wehen kamen, wusste ich, dass ich Mia abgeben werde. Bei Adoptiveltern hat sie es doch besser, weil die meistens reich sind.“

„Wusste es Frau Grainier?“

„Nein, sie wollte mich unbedingt zum Arzt schleppen oder eine Hebamme anrufen. Wir haben uns gestritten und ich habe mich schlafend gestellt. Erst als es schlimmer wurde, habe ich sie gerufen. Ich habe sie bequatscht, mir zu helfen. Sie hat im Internet nachgeguckt, was man machen muss. Sie hat eine Schere und ein Bettlaken von ihrer Mutter gekocht, Badewasser für Mia eingelassen, alles parat gelegt. Als Mia da war, hat Lorena sie gewaschen, eingecremt und mir gebracht. Aber ich wollte sie nicht sehen. Lorena hat sie in ihr Bett gelegt, und als sie schrie, ihr die Flasche gegeben.“

„Abends sind Sie losgefahren?“

„Ja. Lorena hat den Wagen ihrer Mutter genommen. Sie hatte Mia vorher immer allein versorgt, angezogen. Nun war sie in eine Wolldecke gepackt, damit sie nicht krank wird. Im Auto habe ich sie zum ersten Mal gesehen. Sie sieht so niedlich aus. Wir haben vor der Klinik geparkt und dann habe ich sie schnell hineingelegt. Lorena wollte es nicht, meinte, ich solle warten, bis ihre Eltern zurück sind. Wir haben beide geweint, sind schnell weggerannt, weil diese Lampe sofort blinkte.“

„Frau Hellwig, Ihre Tochter hat da gelebt?“

„Ja sicher. Ich hätte ihr nie etwas angetan, wollte doch nur, dass sie es mal besser als ich hat“, kullerten nun die Tränen. „Ich hätte auf Lorena hören sollen, dann wäre Mia jetzt bei mir.“

„Machen Sie sich keine Vorwürfe, das sind Ausnahmesituationen.“

„Wieso dürfen die dort einfach meine Tochter entführen oder stehlen?“

„Das darf keiner, deswegen ermitteln wir. Waren Sie vorher schon einmal in oder an der Klinik?“

„Nein, nie. Ich kannte sie nur, weil der Bus dort vorbeifährt.“

„Woher wussten Sie, es existiert dort eine Babyklappe?“

„Das hatte Lorena erzählt, weil dort ein Baby abgegeben wurde.“

„Wann war das?“

„Schon lange her. Wann genau, weiß ich nicht mehr. Ich war da allerdings schon schwanger.“

„Haben Sie oder Ihre Freundin jemand vorher davon erzählt?“

„Nein. Ich habe es Lorena ja erst erzählt, als Mia bereits auf der Welt war. Sie hat gemeckert, gesagt, ich spinne, sollte mit ihren Eltern sprechen. Sie hatte recht.“

„Ist Ihnen an dem Abend jemand aufgefallen, der Sie beobachtet hat? Ein Auto? Hat jemand die Klinik verlassen? Irgendetwas?“

Sie überlegte, schüttelte mit dem Kopf. „Nein. Es war dunkel und ich habe nicht darauf geachtet.“

„Sind Sie an dem Tag der Geburt noch anderweitig unterwegs gewesen?“

„Nein.“

„Und am folgenden Tag?“

„Auch nicht. Ich habe die ganze Zeit nur im Bett gelegen.“

„War Frau Grainier weg?“

„Nein, jedenfalls habe ich es nicht mitbekommen, da ich zeitweise geschlafen habe.“

„Was ist mit einkaufen?“

„Nein, da das ihre Mutter alles immer vorher besorgt, vorkocht und so.“

„Die Sachen für Ihre Tochter waren demnach alle vorhanden?“

„Ja. Frau Grainier hatte da einiges besorgt, die Sachen gewaschen und in eine Reisetasche gepackt. Die sollte ich mit ins Krankenhaus nehmen. Der Rest liegt bei Lorena.“

„Hat am Montag oder Dienstag jemand angerufen?“

„Ja, dauernd geht bei ihr das Telefon. Die Oma, ihre Eltern, Freunde und so.“

„Über Festnetz oder Handy?“

„Meistens Festnetz. Ist billiger. Nur wenn sie sich da nicht meldete, dann über das Handy. Sie hat ja zwei Tage die Schule geschwänzt, deswegen hat am Nachmittag ständig jemand angerufen. Melanie hat ihr noch die Hausaufgaben durchgegeben. Herr Kuhlmann, ehrlich, ich habe Mia nichts getan und Loretta schon gar nicht. Sie war richtig verliebt in Mia. Ständig hat sie erzählt, wie niedlich sie wäre. Sie würde so fest zupacken, hätte gegähnt. Ich sollte sie stillen, weil das gesünder wäre und dass sie keine nasse Windel mochte, gleich immer schreien würde. Ich habe sie ja schreien gehört, und wie Lorena mit ihr sprach, ihr Lieder vorsang.“

„Ich glaube Ihnen, Frau Hellwig, trotzdem müssen wir nach den Regeln vorgehen. Alle Personen, die an dem Abend in der Klinik waren, sagen Gleiches: Es wurde kein Baby in die Klappe gelegt.“

„Wir haben Mia in diese Klappe gelegt. Das Licht ging an und wir sind weggerannt.“

Egal, was er fragte, sie blieb bei ihrer Aussage: Mia lebte und wir haben sie in diese Babyklappe gelegt. Bei Loretta war es nicht anders. Es gab keinerlei Widersprüche bei ihren Aussagen.

Im Büro las er die Akte Schäfer. Ein fast ähnlicher Fall. Carola Schäfer, 17 Jahre alt, Auszubildende zur Bürokauffrau, hatte das Baby daheim bekommen. Abends hatte es ihr Freund, Sven Doster, in die Babyklappe gelegt. Nach einigen Tagen ging Carola mit Sven zum Jugendamt. Sie wollten ihren Sohn zurück. Nur das Baby gab es laut Aussagen der dortigen Betreuer nicht. Man hatte die beiden jungen Leute wiederholt vernommen, sie sagten immer wieder das Gleiche aus: Er hätte das Baby zu der Babyklappe gebracht. Die Sache wurde ans LKA weitergereicht und dort nahm man nach weiteren Ermittlungen das Paar fest. Verdacht auf Tötung eines Säuglings. Die Verurteilung erfolgte bei beiden. Ihr Pflichtverteidiger war in Revision gegangen, der Anwalt von ihm hatte das Urteil so geschluckt.

Carola und Sven kamen beide aus ärmlichen Verhältnissen. Carola hatte zwei, Sven drei Geschwister. Er hatte sich jedoch in der Schule richtig reingekniet, galt als der Beste in dem Gymnasium. Supergute Note. Er wollte nach dem Abi Jura studieren. Nebenbei jobbte er hier und da, verdiente etwas für den Familienunterhalt dazu.

Martin griff zum Telefon, vereinbarte mit dem Anwalt für den nächsten Tag einen Termin, dazu wollte er mit den zwei Jugendlichen sprechen. Sein Gefühl sagte ihm, da stimmte etwas nicht. Das war so ein dusseliges Vorgehen, wie bei den beiden Mädchen. Hätten sie den Säugling ermordet, warum geht man dann zum Jugendamt, fordert das Baby zurück? So dumm war niemand.

Er rief in dem Dezernat an, die den Fall zuerst bearbeitet hatte, anschließenden den ehemaligen Kollegen Stefan Mann.

„Elmar, komm bitte in mein Büro“, beorderte er seinen Stellvertreter zu sich.

„Die Staatsanwaltschaft hat die Akten von Oliver bekommen und er hat seinen Schreibtisch picobello aufgeräumt.“

„Schön. Morgen sieht er so wie heute aus. Ich sprach gerade mit einem Kollegen. Er sagte, er hatte seinerzeit das Gefühl, die Eltern des kleinen Julians sagten die Wahrheit. Sie wollten den Sohn zurück, weil sie da einen Fehler begangen hätten, als er ihn in die Babyklappe legte. Es hieß, es gab keinen Zugang in der Babyklappe. Doktor Sagebrecht leitete ein Verfahren wegen gemeinschaftlicher Tötung in die Wege. Sie wurden verurteilt. Ihr Anwalt ging in Revision.“

„Sag mal, kann es sein, dass man dadurch die Schäfer und ihren Lover herausholen will?“

„Du denkst, die beiden Mädchen ermordeten Mia, um Frau Schäfer freizubekommen? Da müssten sie sich irgendwoher kennen. Ich glaube das nicht. Ich denke in beiden Fällen, die Babys leben irgendwo. Trotzdem überprüfe, ob es eine Verbindung zwischen den vier Personen gibt. Ich fahre morgen früh zu den beiden Teenagern, treffe ihren Anwalt.“

„Wieso kniest du dich eigentlich so in den Fall rein?“

„Wir haben ihn nun mal am Hals und es ist zur Abwechslung kein Mord, es gibt keine Leichen en gros. Schöne saubere Sache. Ich glaube mehr den beiden Teenagern, als den Leuten in der Nobel-Klinik. Gerade nach diesen beiden Kindstötungen, wo alle Mitverantwortlichen gepennt haben, eine willkommene Abwechslung.“

„Den Job von den Leuten beim Jugendamt möchte ich nicht haben.“

„Ich auch nicht. Wenn du überlegst, wie viele Kinder da von einem Sachbearbeiter betreut werden müssen, grenzt es an ein Wunder, das es nicht mehr solcher Fälle gibt. Man sollte nicht nur die Frau vor Gericht bringen, sondern die Bundesländer. Die stellen nicht genug Leute ein, damit man das Pensum nur annähernd schaffen kann. Interessiert sie generell nicht, wenn deswegen Kinder sterben. Diese Mutter war doch völlig überfordert. Drei Jobs, damit sie einigermaßen über die Runden mit den beiden Kindern kam. Daneben Haushalt, zwei kleine Kinder. Nun noch die Kündigung, weil die Wohnungen grundsaniert werden sollen, damit man anschließend die dreifache Miete abkassieren kann. Finde als alleinstehende Mutter mit zwei Kindern eine bezahlbare Wohnung. Hilfe hatte sie nur von der Nachbarin, die wenigsten abends, wenn sie Job zwei und drei ausführte, nach den beiden Kindern sah. Ein Unding, das man als ausgebildete Bürokauffrau mit Vollzeitjob nicht genug verdient, damit man davon eine Familie ernährt bekommt. Das Jugendamt hat kläglich versagt, als sie der Frau nicht einmal wenigstens die Unterhaltszahlungen des Vaters vorstreckten, den Mann verklagten, damit er seinen Verpflichtungen nachkommt. Allein das Geld hätte der Frau erheblich weitergeholfen und sie hätte auf diese zwei Putzjobs verzichten können. Aber ist nicht unsere Angelegenheit.“

„Ich habe mir den Verein angesehen. Bisher konnte ich da nichts entdecken. Nur brave Bürger. Bis auf diesen Vorfall gab es nie Unstimmigkeiten. Allerdings fehlen mir noch von den einzelnen Leutchen teilweise die Bankdaten.“

„In der Akte liegen von Ihnen welche, die Stefan seinerzeit anforderte. Nichts Auffälliges dabei. Niemand hat viel Geld, eine große Wohnung, teuren Wagen. Eventuell gibt es eine Verbindung unter den Personen zur Neubert-Klinik oder wir haben Glück und die Spusi findet dort etwas. Was war bei den Eltern von Annika?“

„Die Mutter eigentlich ganz normal. Sie jammerte zwar, dass die Tochter ein Baby erwartete, aber auch sie würde man irgendwie durchbringen. Es hätte deswegen öfter Streitigkeiten innerhalb der Familie gegeben. Annika hatte keine klaren Vorstellungen, wie es mit dem Baby weitergehen sollte. Sie geht morgen um 6.40 Uhr zur Arbeit, ist nachmittags gegen 16.20 Uhr daheim. Die zwei jüngeren Kinder gehen noch in die Schule. Das Geld benötigen sie zwangsläufig, da sie geschieden ist. Es wäre keiner da, der sich um die Deern kümmern könnte. Sie hätte sich schließlich dazu durchgerungen, dass sie die Lütte tagsüber versorgte, hätte bereits zwei Putzstellen für den späten Nachmittag und den Abend gefunden. Nur deswegen hat sie gekündigt. Sie wäre ja ihre Enkelin. Sie habe mehrmals Annika deswegen angesprochen, aber die habe immer abgeblockt. Siehst du die Wohnung, fragst du dich wirklich, wie da sechs Personen wohnen können. Aber alles sauber, aufgeräumt. Im Flur stand ein älterer Kinderwagen, den der älteste Sohn von einem Bekannten geschenkt bekommen hat. Ich habe bei ihrem Arbeitgeber angerufen, der die Kündigung zum 31. März bestätigte. Sie wollte vorher noch den Resturlaub aus dem Vorjahr nehmen. Er hat ihr Ausscheiden bedauert, da sie 13 Jahre gut bei ihm arbeitete, immer sehr zuverlässig war.“

„Wie hat sie reagiert, als sie erfuhr, dass die Lütte weg ist?“

„Sie heulte, das könnte man doch nicht machen. So hätten sie das doch nie gemeint. Wir sollen Annika sagen, sie würden sich um die Kleine kümmern und sie solle sie zurückholen. Wirkte sogar echt. Wir sind zu dem Kindesvater gefahren. Ein dummer, einfältiger Bengel. Er will nichts von einem Kind hören. Sollte die Alte doch sehen, wie sie damit klarkäme. Von ihm bekäme die blöde Tussi keinen Cent. Er hat nur über Annika hergezogen. Weder Mutter noch Erzeuger wussten, dass Mia bereits auf der Welt war.“

„Was hast du? Irgendwie wirkst du nachdenklich“, stellte Vicky ihre Tasse mit dem Cappuccino ab, setzte sich neben ihn. Er legte den Arm um sie und so wie meistens bettete sie ihren Kopf auf seinem Schoß. Seine Hand griff automatisch in ihre langen Haare, spielten damit.

„Wir haben einen neuen Fall.“

„Erzähl.“

„Du bekommst langsam die ersten grauen Haare“, neckte er sie. „Die Geschichte mit dem verschwundenen Säugling haben sie uns übertragen. Eine 19-Jährige hat angeblich ihr Neugeborenes in eine Babyklappe gelegt. Nun ist sie verschwunden.“

„Wie verschwunden?“

„Die Klinik sagte, es gab kein Baby.“

„Hat sie die Kleine ermordet?“

„Ich denke nicht. Jedenfalls vermittelt sie nicht den Eindruck. Sie wollte ihre Tochter zurück, da sie eingesehen hat, dass sie Mist gebaut habe.“

„Und die Klinik?“

„Sauber, renommiert, guter Ruf.“

„Und nun?“

„Forschen.“

„Deswegen bist du aber nicht so nachdenklich. Ein Fall, wie viele andere. Nur wieso hat man das eurer Abteilung zugeschustert?“

„Weil der Staatsanwalt von Tötung ausgeht. Ich überlege, ob man aus Babyklappen Säuglinge stiehlt. Vor einer Weile gab es einen ähnlichen Fall. Die jungen Eltern hat man wegen der Tötung ihres neugeborenen Sohns verurteilt. Der Ermittler sagte mir heute am Telefon, er hat nie daran geglaubt, dass der Junge tot ist. Nur sie konnten weder den Eltern beweisen, dass sie das Baby ermordet hatten, noch konnten sie dem Verein beweisen, dass die den Säugling erhalten haben.“

„Ich denke, man kann nur etwas hineinlegen, nichts herausnehmen? Außerdem müsste da jemand Stunden, Tage, Wochen auf der Lauer liegen, bis eine Frau kommt, die …“ Sie drehte sich etwas. „Du denkst, dass jemand vom Klinikpersonal … Pervers.“

„Eher lohnend. Für illegale Adoptionen wird viel Geld gezahlt.“

„Wie willst du das Kind anmelden?“

„Hat bei uns jemand kontrolliert, ob du schwanger warst? Das hat die Hebamme seinerzeit bescheinigt und ende.“

„Deswegen Babys“, sagte sie nachdenklich.

Er beugte sich hinunter, gab ihr einen Kuss. „Ich liebe meine intelligente Frau“, grinste er.

„Das hoffe ich und werde es gleich testen. Wieso hat so eine Privatklinik überhaupt eine Babyklappe?“

„Angeblich, weil es in der Nähe keine gibt und man trotzdem sooo besorgt um die Kleinen ist. Es gab in vier Jahren nur ein Kind, das man dort abgab. Der Junge wurde registriert, inzwischen lebt er bei Pflegeeltern, die ihn adoptieren möchten. Alles korrekt abgewickelt. In Bramfeld waren es wesentlich mehr Babys. Die Registrierten logischerweise beim Jugendamt gemeldet.“

„Nur angenommen, ich gebe mein Baby ab, gehe drei Tage später hin, weil ich es zurück möchte, und es ist nicht da, keiner weiß, wo es ist, gehe ich doch zur Polizei.“

„Nicht zwangsläufig. Die Mädels haben Angst, dass sie sich strafbar gemacht haben, dazu gesellt sich das schlechte Gewissen. Nun ist das Baby noch weg. Da kommt keine Frau zu uns. Diese Annika hätte das nie gemeldet, weil sie Angst hat, dass man sie ins Gefängnis steckt.“

„Wie verzweifelt muss man da sein?“

„Die beiden Mädels sind total down, machen sich schreckliche Vorwürfe. Sie begreifen nicht, was da eventuell abgelaufen ist, denken, morgen finden wir die kleine Mia. Wie soll so ein junges Ding das verkraften? Erst ungewollt schwanger. Der Vater auf und davon. Zu Hause nur Stress deswegen. In der Schule war es gewiss auch nicht immer leicht. Geburt nur mit der Freundin, die null Ahnung hat. Das Baby gibt sie weg, weil sie keine andere Möglichkeit sieht. Sie besinnt sich, verlangt ihre Tochter zurück und die ist verschwunden. Wenigstens sind die Eltern der Freundin nett, helfen den beiden Mädchen. Sie haben Fotos von Mia gemacht und darauf sieht man, sie lebte. Haben sie Pech, wird man Anklage wegen Tötung eines Neugeborenen gegen sie erheben, so wie im Fall Schäfer - Doster.“

„Nur angenommen, ich habe diese Mia jetzt bei mir zu Hause und lese in der Zeitung darüber, da gehe ich doch hin und melde, hier ist sie.“

„Vicky, das würdest du so handhaben. Versetz dich in die Lage dieser Eltern. Sie versuchen, seit Jahren ein Kind zu bekommen. Geht nicht, weil … Nun gehen sie zu einer privaten Vermittlungsagentur oder zu einem Arzt, wo man ihnen endlich den ersehnten Nachwuchs verspricht. Du blätterst dafür viel Geld hin, weißt, legal ist das gewiss nicht. Nun liest du in der Zeitung von dem Mädchen, das du bereits zu Hause hast, vermutlich liebst, verwöhnst. Da gehst du doch nicht zur Polizei. Illegale Adoptionen, dazu der falsche Namen sind strafbar, aber viel wichtiger, du willst das Baby nicht mehr hergeben. Mit dem Kauf dieses Kindes ist endlich dein Glück perfekt. Du bist ihre Mutter. Interessiert dich da so ein junges Ding, das ihr Neugeborenes abgeschoben hat?“

„Wie bekomme ich das Baby eigentlich als mein Kind eingetragen?“

„Du sagst, ich war in Italien in Urlaub und meine Tochter kam drei Wochen früher auf die Welt. Dokumente heutzutage zu fälschen ist ja fast schon, dank Internet, ein Kinderspiel. Eventuell bescheinigt ein Arzt dir die Geburt. Ich gehe davon aus, dass ein Arzt seine Finger im Spiel hat, dann ist er auch derjenige, der dir eine Hausgeburt bescheinigt. Schon bist du Mutter eines kleinen Mädchens. Mia kann sich irgendwo im Ausland aufhalten, muss ja nicht in Hamburg leben.“

„Gruselig. Ich bin müde, lege mich hin.“

Er schaute ihr nachdenklich. Für einen Moment war die kleine Mia vergessen. Warum betonte sie in den letzten Wochen eigentlich ständig, wie müde sie wäre? Sie hatte derzeit keine Aufträge und hier gab es auch nicht so viel zu tun. Egal! Vielleicht kamen bei ihr die Wechseljahre. Da sollte es ja angeblich solche Anwandlungen geben.

Donnerstag

Sven Doster, inzwischen 19 Jahre alt, wurde in den Raum geführt. Ein groß gewachsener, schlaksiger Mann, der älter aussah, als er war. Seine Haut wirkte fahl, die blauen Augen waren von dunkelgrauen Schatten umsäumt.

Martin stellte Ben und sich vor.

„Was wollen Sie mir jetzt anhängen? Weitere ungeklärte Morde?“, erkundigte sich der junge Mann bockig, aber gedämpft.

„Nehmen Sie bitte Platz, Herr Doster. Wir wollen über Julian mit Ihnen sprechen.“

„Warum? Ich habe ihn doch ermordet“, erklang es leise, zynisch aus seinem Mund.

„Erzählen Sie uns bitte, wie der Tag der Geburt abgelaufen ist, bis zu dem Zeitpunkt, als Sie Ihren Sohn in diese Babyklappe legten.“

„Habe ich hundertmal getan, aber alle wissen es ja besser. Müssen dabei gewesen sein.“

„Bitte, Herr Doster.“

Während der ihm den Tag schilderte, beobachtete Martin ihn. Er hatte resigniert, wirkte völlig gleichgültig, emotionslos, desillusioniert.

„Herr Doster, was trug Julian an dem Abend?“

„Einen dunkelblauen Strampler aus so Nicki-Stoff mit einem Eisbär vorne drauf. Dazu eine dunkelblaue Jacke und in der gleichen Farbe eine Mütze. Alles mit dem Eisbär. So einen kleinen Eisbär habe ich ihm mit in die Klappe gelegt. Ich habe seinen Namen auf das Formular eingetragen. Als Kennwort habe ich räbsie genommen.“ Zum ersten Mal schluckte der Mann und man sah Wasser in seinen Augen glitzern. Er stand auf, schaute aus dem vergitterten Fenster hinaus. „Ich könnte nie jemand etwas antun, auch nicht einem Baby, meinem Sohn“, sagte er leise.

„Herr Doster, kennen Sie Lorena Grainier oder Annika Hellwig?“

„Nein. Habe ich deren Babys auch ermordet? Wie viele ungeklärte Morde aus den letzten 18 Jahren haben Sie noch?“, drehte er sich herum, musterte sie wieder mit diesem nichtssagenden Ausdruck in den Augen.

„Gewiss nicht. Frau Hellwig ist nur das Gleiche passiert, wie bei Ihnen. Sie gab ihr Neugeborenes in einer Babyklappe ab und danach war ihre Tochter verschwunden. Es kann daher sein, dass man auch Ihren Fall neu aufrollt.“

„Na und? Ich bin ein Mörder, egal wie Sie rollen. Ein Kollege von Ihnen hat seinerzeit gesagt, ich glaube Ihnen. Es wird nur schwierig werden, Julian zu finden. Hat mir das geholfen? Sicher, so einer wie ich, der nicht aus reichem Hause kommt, ist generell ein Verbrecher. Habe ich inzwischen kapiert. Wie hätte so ein Asozialer, wie ich es bin, denn ein Kind ernähren wollen? War die Frage des Herrn Staatsanwalts. Ich war so blöd, habe an die Polizei, Gerechtigkeit geglaubt. Dieser Glaube hat mein ganzes Leben versaut. Kein Abitur, kein Studium, sondern Knast. Danach einen Hilfsarbeiterjob, falls ich einen bekomme, ein Leben unter einer Brücke. Nein, danke. Soweit wird es nie kommen. Beim nächsten Mal klappt es. Carola soll trotz allem glücklich leben dürfen. Gehen Sie. Hängen Sie mir an, was Sie wollen. Es ist inzwischen egal.“ Er drehte sich um, klopfte gegen die Tür und verließ den Raum.

Sie gingen zu dem Direktor, wollten mehr über Sven Doster hören.

Er galt als pflegeleicht, unauffällig, ruhig, hatte kaum Kontakt zu anderen Jugendlichen. Er hatte bereits zweimal versucht, sich umzubringen, stand deswegen unter besonderer Aufsicht. Besuch erhielt er nie. Nur vor einigen Wochen wollte er einen Anwalt sprechen. Man habe den verständigt. Sonst nichts. Keine Briefe, keine Anrufe.

Das passte zu dem Ausdruck in seinen Augen, dachte Martin, während sie zu dem Auto liefen. Der junge Mann hatte mit dem Leben abgeschlossen. All seine Träume waren ausgeträumt, Ziele, Perspektiven gab es keine mehr. Sein Leben war für ihn nur noch eine Qual.

Carola Schäfer heute 18 Jahre alt und ihr Anwalt warteten bereits auf sie. Eine kleine zierliche, hübsche Blondine.

Auch sie berichtete von dem Tag, erzählte, was Julian getragen hatte, wie sie und Sven tagelang überlegt hatten, wie man Kind, Lehre und sein späteres Studium unter einen Hut bringen könnte. Eine Tante von Sven hatte sich bereit erklärt, tagsüber auf Julian aufzupassen und ihnen ein wenig finanziell unter die Arme zu greifen. Daraufhin seien sie zum Jugendamt gegangen. „Wir haben Julian nichts getan“, schloss sie die Erzählung ab.

„Sie waren ja nicht dabei, als Herr Doster den Säugling in die Babyklappe legte, oder?“, fragte Ben.

„Nein. Er hätte sich niemals an ihm vergriffen. Niemals.“

„Frau Schäfer, regen Sie sich nicht auf“, mischte sich zum ersten Mal der Anwalt ein. „Warum sollte er den Säugling töten? Er legt ihn in die Babyklappe und damit war das Thema für das Paar doch erledigt. Julian wäre zu Pflegeeltern, später Adoptiveltern gekommen, ohne dass sich die richtigen Eltern strafbar gemacht hätten. Frau Schäfer ging weiter arbeiten, er zur Schule. Sagen Sie mir einen Grund, warum der Vater seinen Sohn daher ermorden sollte? Wohin hat er den toten Säugling gebracht? Er hatte kein Auto, kann nicht einmal fahren. Der Wagen von seinem Vater stand nachweisbar bei der Polizei, da man den einen Abend vorher abgeschleppt hatte, da er im Halteverbot stand. Meine Herren, das ergibt alles keinen Sinn. Man hat die Eltern von Julian schnell als Mörder verurteilt, ohne den geringsten Beweis zu erbringen, dass Julian überhaupt tot ist. Man hat beide Personen als Lügner hingestellt, ebenfalls ohne jegliche Beweise. Die wenigen Zeugen wurden als Lügner hingestellt, die Gefälligkeitsaussagen tätigten. Dieser Prozess eine einzige Farce.“

„Fakt ist, Julian ist verschwunden.“

„Sicher, nur haben Sie, Herr Wurt oder Ihre Kollegen geforscht, dass man ihn vonseiten der Betreiber dieser Babyklappe entwendet hat, um damit viel Geld zu verdienen? Oberkommissar Mann war der einzige ermittelnde Beamte, der an die Unschuld meiner Mandantin und des Kindsvaters glaubte. Nur das wischte man beiseite. Da hieß es plötzlich, der Oberkommissar sei alkoholkrank. Kommissarin Schulze kam zu dem Ergebnis, Frau Schäfer und Herr Doster sind Mörder. Warum konnte weder diese Frau noch ein Oberstaatsanwalt oder das Gericht wirklich erklären. Wollte man so die reichen neuen Eltern von Julian schützen? Warum interessieren Sie sich plötzlich für meine Mandantin? Weil der Prozess in Kürze neu aufgerollt wird?“

„Herr Hellner, warum wollte Herr Doster Sie neulich sprechen?“

„Herr Kuhlmann, Sie wissen doch, dass ich das nicht sagen muss.“

„Sven hat ihm gesagt, er hätte Julian ohne mein Wissen ermordet. Er will damit erreichen, dass ich freikomme“, schluchzte Carola Schäfer. „Nur er hätte ihm nie etwas angetan. Nie! Nie! Nie!“

„Ja, es stimmt. Der junge Mann will nicht mehr leben, aber er möchte, dass wenigstens meine Mandantin entlassen wird. Er lügt deswegen. Einen Anwalt benötigt er nicht, seine Worte. Nicht nur, dass man den Jungen nicht wirklich suchte, nein, jetzt nehmen die Justizbehörden auch noch billigenden den Tod des jungen Mannes in Kauf. Zwei zerstörte Leben, weil ein Paar unbedingt ein Baby kaufen wollte. Ich kann Herrn Doster verstehen, da verliert man den Glauben an das Rechtssystem.“ Er blickte auf die Uhr und stand auf. „Haben Sie noch Fragen an meine Mandantin? Ich habe nämlich noch einen Termin.“

Gemeinsam verließen sie das Gebäude. „Warum interessiert das LKA plötzlich der Fall? Sucht man etwas, damit die zwei jungen Leute weiter in Haft bleiben, weil man keinen Irrtum zugeben muss?“

„Gewiss nicht. Es ist vor wenigen Tagen abermals ein Säugling aus einer Babyklappe einer Klinik verschwunden. Allerdings in einem anderen Bezirk. Wir suchen nach Parallelen.“

„Die arme Mutter wird also ebenso wegen Mordes eingesperrt. Es war ein Fehler, dass sie das meldete.“

„Ich kann Ihren Zynismus verstehen, aber es war kein Fehler. Wir können nur ermitteln, wenn wir von Strafvergehen erfahren.“

„So wie bei Herrn Doster und Frau Schäfer?“

„Ich werde dazu keine Stellung beziehen, da ich die Ermittlungen nur aus den Akten kenne. Deswegen ja unsere Gespräche mit den Eltern von dem verschwundenen Julian.“

„Die seit einem Jahr unschuldig in Haft sitzen? Wir wollten Sven einen anderen Anwalt bezahlen, aber er lehnte ab. Der Staatsanwalt hätte es gesagt, er wäre nur ein Asozialer.“