SPURENSUCHE - Helmuth Figdor - E-Book

SPURENSUCHE E-Book

Helmuth Figdor

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Beschreibung

In der Wohnung ihrer verstorbenen Tante Agathe haben Mond – an seinem Namen lebenslang leidender Psychoanalytiker – und sein Bruder Jupp in einem Geheimfach einen an sie gerichteten Brief gefunden. Darin spricht die Tante von einem "lebensverändernden Erlebnis" und einer "Obsession", deren Fortführung ihre "geliebten Neffen" nicht bereuen würden – ohne jedoch zu verraten, worum es sich handelt … Ein beigelegtes Foto lässt Jupp, Mond und dessen Freundin Andrea die Suche nach Agathes geheimem zweiten Leben in Schottland, am Ufer des legendären Loch Ness beginnen. Angebliche Sichtungen des sagenumwobenen Ungeheuers, überraschende Begegnungen, Monds psychoanalytische Kombinationsgabe und Andreas detektivisches Talent bringen immer neue Puzzlesteine zutage. Die Spuren führen zurück in Monds und Jupps Elternhaus, weiter nach Berlin, ins Wien der Zwischenkriegszeit, zum Fragment eines alten 8mm-Films, zu einem vergriffenen Buch eines kleinen amerikanischen Verlages, ins Alte Testament, nach Tunesien …. Für Leserinnen und Leser, die intellektuelle Abenteuer lieben, Freude an psychoanalytischer Spurensuche finden und Lust an einer augenzwinkernden Geschichte voller Überraschungen von Menschen mit ihren alltäglichen Lieben, Sehnsüchten, Träumen und Gefühlsambivalenzen haben.

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Seitenzahl: 311

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Helmuth Figdor, Karin Seidner

SPURENSUCHE

# rätsel # testament # psychoanalyse # agathe # lochness

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

1. Agathes Vermächtnis

2. Aufbruch

3. Sean James McIntosh III und ein rätselhafter Fleck

4. Helen und Marie Laroche; der verschwundene Kalender

5. Überraschung auf Urquhart Castle

6. Die McIntoshs „auf Monds Couch“

7. Was steckt hinter „S.“?

8. James McIntosh IV; ein alter Film taucht auf

9. Fernet Branca; ein Wiener Kellner in Zürich

10. Unerwartete Familienzusammenführung

11. Eine denkwürdige Einladung zu Couscous und Sidi Saïd

12. Spurensuche im Alten Testament

13. Zwei Tickets nach Inverness

14. Oma Anna Rosa

15. Beziehungen: Mond, Andrea und Jupp

16. »The Concert«

17. Prosecco zum Abschied

18. Das fehlende Glied in der Kette

19. Wiedersehen in 10 000 Metern Höhe

20. Abendstimmung mit Pfeife

21. James‘ Geständnis

22. Gibt es das Ungeheuer von Loch Ness?: eine wissenschaftstheoretische Klarstellung

23. Der Abend vor der Antwort auf alle Fragen?

24. Das Buch

25. „So knüpfen ans fröhliche Ende den fröhlichen Anfang wir an.“

26. Das „andere Leben“ Agathes

27. Freude

28 Die wiedergewonnene Mutter

29 Ein letztes Foto

Dank

Impressum neobooks

1. Agathes Vermächtnis

„Mond!“

Er sah auf. Offenbar war sie weitergegangen, während er die alten Stiche in der Auslage des Altwarengeschäfts betrachtet hatte. Sie stand an der nächsten Ecke und winkte. Und es war wie immer: Ein paar Leute hatten sich, als sie rief, zu ihr umgedreht, andere schauten absurderweise zum Himmel, als würden sie es für möglich halten, dass sich der Mond mit einem Mal neben die Mittagssonne gesellt hätte. Trotz seiner inzwischen 41 Jahre konnte er sich an diese Reaktion der Menschen nicht gewöhnen und würde es wohl auch nie können. Und würde seinen Eltern auch nie verzeihen, dass sie ihn Mond getauft hatten. Warum nur? Und warum ihn? Immer hatte er seine beiden jüngeren Schwestern um ihre ganz normalen Namen beneidet. Nun gut, ganz alltäglich waren Penthesilea und Emergenza auch nicht, aber bei ihren Mitschülerinnen hießen sie einfach Lea und Emmi. Ihn aber riefen sie Mondgesicht, später Kugel, obwohl er damals nicht dick war, höchstens ein bisschen dick. Mit zwölf nahm er erfolgreich ab, was aber auch nichts nützte, denn nun wurde er zum Kipferl. In der dritten Klasse Gymnasium hatten sie eine Projektwoche zum Thema Sucht. Am letzten Tag hatte – wie hieß er doch? – die glorreiche Idee, den Deutschlehrer mit breitem Grinsen zu fragen, wie denn das wäre, wenn einer mondsüchtig sei. Hysterisches Auflachen der ganzen Klasse. Und alle drehten sich zu ihm um und, was noch viel schlimmer war, zu der vor ihm sitzenden Anna, in die er sehr verliebt war und die seinen schüchternen Annäherungsversuchen bislang immer mit durchaus ermutigender Koketterie begegnet war. Ab da hieß er nur mehr Süchtl, und Anna ging ihm merklich aus dem Weg, weil sie sich nicht als mondsüchtig verspotten lassen wollte. Und es schien ganz so, als wäre sie nicht auf die Spötter wütend, sondern auf ihn, als trüge er die Schuld. Jedenfalls fand die noch gar nicht recht erblühte Romanze ein jähes Ende. Noch heute erfasste ihn eine Welle des Hasses gegen – richtig: Josef hieß er! Ausgerechnet der hatte es nötig mit seinem Namen, dieser Josseldussel, Seppeldepp, dieser…

Du lieber Gott, was soll denn das, schalt er sich selbst. Wie kann man so infantil sein? Das ist fast dreißig Jahre her! Und alles nur, weil ein paar blöde Passanten zum Himmel schauen! Einem übrigens strahlend blauen Himmel eines herrlichen, warmen Sommertages, ein paar Schritte weiter eine schöne, begehrenswerte Frau, die auf ihn wartet – und er lässt sich von den dummen Regungen eines Dreizehnjährigen zu Boden drücken! Aber offenbar scheinen sich Phantasien und Gefühle halsstarrig jedem Reifungsprozess zu widersetzen.

„Mo-ond, so komm doch!“

Die kleine Terz ihres Rufes hatte zur Folge, dass die Leute ihren neugierigen Blick nun vom Himmel weg auf ihn richteten, als er auf Andrea zuging. Tapfer versuchte er, Scham und Ärger abzuschütteln. Ganz war ihm das Abschütteln allerdings noch nicht gelungen, als er sie erreichte.

„Musst du mich unbedingt vor allen so rufen?“ flüsterte er ihr zu.

„Aber wieso denn nicht? Du hast doch den schönsten Namen der Welt!“ Sie drückte ihm dabei einen zärtlichen Kuss auf die Wange. Erfolglos versuchte er, seiner Miene auch weiterhin wenigstens einen Anflug von Vorwurf zu verleihen – ihre warme Stimme, der Kuss und ihr zärtliches Lächeln ließen die letzten Reste dunkler Gefühle dahinschmelzen. Er umarmte sie und küsste sie auf die Stirn. „Und, was machen wir jetzt?“ fragte er, während er ihre Hand nahm.

„Jetzt gehen wir essen, ich hab einen Riesenhunger! Am liebsten hätte ich eine Pizza – gehen wir doch ins »La Luna«!“ schlug sie fröhlich vor. Er wollte ihr die Freude nicht verderben und nickte – etwas verzagt – er hatte eine Abneigung gegen dieses Restaurant, nicht nur des Namens wegen, sondern weil zu allem Überdruss die Hintergrundmusik meist aus einer Endlosschleife der Mondscheinsonate bestand – Andrea schien das aber gar nie bemerkt zu haben. Mit einem kaum vernehmbaren Seufzer schloss er sich ihren zielstrebigen Schritten an. Die soeben noch euphorische Stimmungslage war wie weggeblasen und er haderte schon wieder mit seinem Namen. Anscheinend konnten keine fünf Minuten vergehen, in denen er nicht daran dachte, es war zum Verzweifeln.

Eine Zeitlang hatte er überlegt, eine Namensänderung vorzunehmen, seine damalige Freundin hatte ihm diesbezüglich gut zugeredet, doch hatte er sich mit dem Argument widersetzt, dass sie, obwohl sie Sonja hieß und Sonni gerufen wurde, ja auch keinen Impetus verspürte sich umzubenennen.

„Wo bist du denn heute mit deinen Gedanken?“ lachte Andrea. Sie waren schon beim Restaurant angelangt, aber er war blindlings weitergelaufen und sie hatte ihn nur mit Mühe einholen können. „Oder möchtest du wo anders hingehen?“

In diesem Moment erscholl eine sonore Männerstimme von der gegenüberliegenden Straßenseite:

„Mond! Mond! Ja, das gibt’s doch nicht! Hallo, Mond!“

„Nein, nicht auch das noch!“ stieß er hervor und schloss die Augen. Er brauchte gar nicht hinüberzusehen, zu vertraut war ihm diese Stimme.

„Wer ist das?“ Andrea erschrak ein wenig, als sie seinen unglücklichen Gesichtsausdruck wahrnahm. Doch bevor er noch antworten konnte, hatte der fröhliche Rufer schon die Straße überquert und umarmte Mond stürmisch, der mit seinen hilflos hängenden Armen in diesem Augenblick wie eine malträtierte Stoffpuppe aussah.

„Ich bin Jupp, Monds älterer Bruder“, wandte er sich an Andrea, „und du musst Sonja sein! Mond hat mir ja schon so viel von dir erzählt.“

‚Nein, nicht auch das noch!’ Diesmal seufzte er diesen Satz nur unhörbar in sich hinein. Wie oft würde er ihn an diesem Vormittag noch sagen oder denken müssen? Diesmal freilich hatte er eine gewisse Berechtigung, denn Andreas fröhliche Miene verfiel augenblicklich. Natürlich wusste sie, dass es vor ihr andere Frauen gegeben hatte, und schließlich lag ihre eigene Scheidung erst ein paar Monate zurück. Aber sie kannten sich erst zu kurz, als dass sie über ihre früheren Beziehungen gesprochen hätten. Namenlos gehörten sie einem anderen Leben an, das im Licht ihrer Verliebtheit vorderhand dunkel geblieben war. Sonja. Als ob die Nennung dieses Namens in ihrer beider Vergangenheit hineingeleuchtet und sie in die Gegenwart geholt hätte. Alte Bilder begannen in ihr aufzusteigen, Bilder, die mit Eifersucht, Schmerz und Misstrauen zu tun hatten. Sie waren zwar noch nicht deutlich erkennbar, blieben noch unbestimmt irgendwo in der Magengegend, waren dort aber deutlich als Stich zu spüren.

„Schau, schau, Sonja also“, versuchte sie die aufkeimende trübe Stimmung mit bemühtem Lächeln wegzuwischen. „Mrs. Sunshine und Mr. Moon“ trällerte sie, „wie schön, wie passend!“ Irgendwie schaffte es aber die kleine Melodie, ihr die gute Laune wieder zurückzugeben. Vielleicht lag es ja auch nicht an der Melodie, sondern daran, dass die beiden sich in dem alten Schlager ja nie trafen? Andererseits steigerte das nur die Sehnsucht der beiden … Nein, sie mochte sich diesen schönen Tag nicht vermiesen lassen. „Freut mich, dich kennenzulernen, Jupp. Allerdings bin ich Andrea!“ Und nun wirkte ihr Lächeln auch nicht mehr aufgesetzt. Ja, sie begann, die Komik der Situation sogar zu genießen, als sie die völlig verdatterten Gesichter der beiden Männer wahrnahm.

„Oh tut mir leid, Andrea! Tut mir leid Mond! Da bin ich diesmal wohl ins Fettnäpfchen getreten.“

‚Was heißt diesmal?’ ging es Mond durch den Kopf. Wann ist jemals von seinem Bruder etwas Angenehmes gekommen? Freilich war dieser Gedanke ungerecht und Mond wusste das, nur… nur… Also, das Problem war… Jupp hieß natürlich nicht wirklich Jupp. Der Vater hatte seinen ältesten Sohn Jupiter getauft. Während er, Mond, in seinen jungen Jahren eher klein war und zur Rundlichkeit neigte, war sein Bruder schon im Kindergarten stets der Größte und Stärkste, so als wären ihre Namen eine Prophezeiung gewesen. Und niemand kam auf die Idee, ihn anders als Jupiter zu nennen, etwa Juppi oder – englisch ausgesprochen – Tschappi. Einmal hatte er es versucht, mit dem Ergebnis einer zwei Tage lang geschwollenen Wange. Nach dem Tod des Vaters, Jupiter war zwölf, er selbst neun Jahre alt, änderte sich freilich das Verhältnis der Brüder. Jupiter, der ab diesem Zeitpunkt sich selbst nur mehr Jupp nannte, wurde Mond gegenüber freundlich und fürsorglich, und es entwickelte sich allmählich eine ausgesprochen enge und herzliche Beziehung zwischen den beiden. Nur hin und wieder, wie an einem Tag wie heute, brach die alte Rivalität wieder auf…

Jupps Lachen riss ihn aus seinen Grübeleien „Könnt ihr mir verzeihen?“ Dabei nahm er Mond und Andrea bei der Hand. „Darf ich noch einmal von vorne beginnen?“

Jupps wiedergewonnene gute Laune wirkte ansteckend. Andrea stimmte spontan in sein herzliches Lachen ein, und auch bei Mond zerstoben die dunklen Wolken. Das hatten die Brüder immer schon gekonnt: über sich selbst lachen und sich von der Selbstironie des anderen anstecken lassen.

„Einverstanden“, erwiderte Mond lächelnd.

„Einverstanden“, erwiderte auch Andrea. „Und zwar?“

„Hallo Andrea!“ Jupp strahlte sie an. „Schön, dich kennen zu lernen. Jedesmal, wenn mir mein Bruder von Sonja erzählte, sagte ich zu ihm: »Mond, sie passt einfach nicht zu dir!«“ Er küsste Andrea auf beide Wangen, und sie ließ es lachend geschehen.

„Wiedergutmachung offenbar akzeptiert!“ Mond fasste den Bruder fröhlich um die Schulter. „Was machst du in Wien?“

Jupps Miene verfinsterte sich.

„War wohl die falsche Frage“, lachte Mond, und zu Andrea gewandt „Ich wette, da steckt eine Frau dahinter!“ Mit Verschwörermiene zwinkerte er ihr zu. Doch Jupp schwieg verbissen weiter.

Andrea wurde die Situation nun langsam doch wieder unangenehm und sie rief: „Kommt, lasst uns euer Wiedersehen und unser Kennenlernen feiern, gehen wir ins »La Luna« – ich hab auch wirklich schon großen Hunger!“ Sie wollte sich bei den Männern unterhaken, doch unterließ es, als sie die eisige Stimmung spürte.

Die beiden Brüder blieben wie angewurzelt stehen. Plötzlich flüsterte Jupp in Monds Richtung: “Ich muss es einfach herausfinden, verstehst du? Ich muss dieses Rätsel lösen. Wieso hast du noch keine Nachforschungen betrieben? – immerhin wohnst du in Wien und hast leichter Zugang zu Informationen! Aber du warst ja immer schon ein Verdränger!“ Dabei machte er eine resignierte und zugleich wegwerfende Handbewegung.

Mond stand da wie ein begossener Pudel und sagte nichts. Andrea verschlug es kurz die Sprache, doch dann sagte sie leicht verärgert: „Ich hab keine Lust mir von euren Geheimniskrämereien die Laune verderben zu lassen, ich geh jetzt ins »La Luna« und wer will, kommt mit, wer nicht will, soll hier weiterhin Wurzeln schlagen. Ich empfehle mich, meine Herren!“

Sie drehte sich um und ging los. Mond war sich nicht ganz schlüssig darüber, ob er sich mehr über seinen Bruder, über Andrea oder sich selbst ärgern sollte. Wie ein Elefant war Jupp über seine und Andreas fröhliche Stimmung getrampelt, oder richtiger: wie ein sich am eigenen Leid ergötzender Elefant, denn schließlich war Jupp ja selbst gerade noch in blendender Laune gewesen. Allerdings hätte Andrea auch ein wenig mehr Feingefühl aufbringen können, schließlich musste sie bemerken, dass es um mehr als bloß eine kindische Geheimniskrämerei zwischen ihm und seinem Bruder gegangen war. Eigentlich aber war er es selbst gewesen, der Jupps Stimmungsumschwung mit der Bemerkung, dass es wohl um eine Frau ginge, ins Lächerliche gezogen hatte. Es war wohl vermessen, von ihr mehr Einfühlung in seinen Bruder zu erwarten als er selbst gezeigt hatte!

Mond fühlte sich miserabel. Es war das erste Mal, dass ihn Andrea verärgert stehen ließ. Er kannte sie erst seit drei Wochen, und wie das bei jungen Beziehungen nun einmal ist, folgt schon der kleinsten Unstimmigkeit stets die Angst, den anderen vielleicht zu enttäuschen und seine Zuneigung zu verlieren. Noch mehr als Andreas Ärger aber hatte ihn Jupps Bemerkung, er sei immer schon ein Verdränger gewesen, getroffen. Einem Psychoanalytiker vorzuwerfen, er sei ein Verdränger, war ungefähr so, als würde man einem Feinmechaniker motorische Ungeschicklichkeit oder einem Schwimmer Wasserscheu vorwerfen. Aber eigentlich war es gar nicht das, was ihn so betroffen machte. Sondern die Tatsache, dass sein Bruder in diesem einen besonderen Fall recht hatte: Nicht einen Augenblick war ihm der nächstliegende Grund, der Jupp veranlasst haben könnte, so plötzlich in Wien aufzutauchen, in den Sinn gekommen.

„Heißt das, du bist nur wegen …“

„Natürlich, was sonst?“ unterbrach ihn Jupp. „Und das mit der Frau, die »sicherlich dahintersteckt«, hättest du dir wirklich sparen können! Du weißt ganz genau…“

„Es tut mir leid, Jupp!“ Mond hatte die Hände in seinen Hosentaschen vergraben und sah zu Boden. „Du hast wohl recht, offenbar habe ich mit der Sache wirklich ein Problem. Und ein wenig“, fügte er nach einer kurzen Pause hinzu, „hat es auch mit Andrea zu tun.“

„Mit Andrea?“

„Ja! Wir kennen uns erst kurz und – na ja, ich bin ziemlich in sie verliebt. Und da erscheinst plötzlich du… also schlicht und einfach: ich war eifersüchtig!“

„Eifersüchtig? Auf mich? Wegen Andrea?“

„Sicher! Schließlich lagen dem großen Jupiter immer schon alle Göttinnen zu Füßen, und dein sagenhafter Charme ist schließlich bei Andrea auch glänzend angekommen.“

„So ein Unsinn“, murmelte Jupp dazwischen, war jedoch sichtlich geschmeichelt.

„Eigentlich war meine Bemerkung gar keine so schlechte Idee: denn mit einer geheimnisvollen Liebesgeschichte fällst du als Konkurrent aus.“

„Mond, ich habe nicht im entferntesten die Absicht…“

„Weiß ich doch. Ich bin ja auch nicht wirklich eifersüchtig. Aber das schützt einen doch mitunter nicht vor plötzlichen irrationalen Impulsen und Reaktionen, oder?“

„Ein wenig von deiner Selbsterkenntnis täte mir von Zeit zu Zeit wohl auch nicht schaden. Das vorhin – du seist immer schon ein Verdränger gewesen – hab ich übrigens nicht wirklich so gemeint…“

„Ist schon in Ordnung, Jupp.“

„Aber ich habe mich wirklich über dich geärgert. Ich hab, ganz ernsthaft, ein Problem damit, dass du über diese Sache so hinweggehst, während sie mir keine Ruhe lässt“

„Können wir das nicht im »La Luna« besprechen? Ich glaube wir sind Andrea eine Erklärung schuldig.“

„Ist es dir ernst mit ihr?“

„Ja schon, sehr sogar. Und sie ist keine Plaudertasche.“

„Ok, gehen wir.“

Als sie das »La Luna« betraten, bemerkte Mond Andreas unruhig auf die Eingangstür gerichteten Blick. Als sie die beiden Männer eintreten sah, wandte sie den Kopf abrupt ab und versenkte sich in das vor ihr liegende Buch. Sie sah erst wieder auf, als sich die beiden zu ihr an den Tisch setzten. Ihre Miene war nicht unfreundlich, aber doch abwartend-herausfordernd, wie eben jemand dreinschaut, dem man etwas schuldig ist.

„Es tut mir leid, Andrea“, begann Mond. „Ich denke, ich bin dir eine Erklärung schuldig.“

„Das denke ich auch.“

„Also“, fuhr Mond mit einem kurzen Blick auf Jupp fort, „begonnen hat das ganze ziemlich genau vor drei Jahren…“

„Ja, nachdem Tante Agathe gestorben war,“ setzte Jupp mit an Andrea vorbei gerichtetem Blick fort, wobei er sich gedankenverloren die rechte Schläfe rieb. „Tante Agathe war die Schwester unseres Vaters,“ fügte Mond zu Andrea gewandt hinzu.

In diesem Moment kam der Kellner, um die Bestellung aufzunehmen. Verwirrt sahen ihn die drei zuerst an, bestellten dann doch Getränke und, ohne näher nachzufragen, für jeden ein Menü. Danach schwiegen sie – Andrea bemerkte, wie die beiden Brüder ihren Erinnerungen nachhingen. Sie sagte nichts, sondern betrachtete die Bilder an den Wänden, Aquarelle mit Ansichten von Venedig und lächelte. Kurz nachdem sie einander kennen gelernt hatten, waren Andrea und Mond miteinander dort gewesen und hatten eine wunderbare Zeit verbracht. Diese lauen Abende mit den romantischen Sonnenuntergängen, wenn das Wasser mit dem Himmel eins zu werden schien…

Der Kellner brachte die Getränke und die Gedecke. Mond hatte Andreas Blicke offenbar doch bemerkt, denn er drückte sanft ihre Hand. Jupp steckte sich gedankenabwesend ein Stück Weißbrot in den Mund.

Plötzlich begann er wieder zu sprechen: „Tante Agathe hatte keine Kinder, unser Vater war schon tot und so mussten Mond und ich ihre Verlassenschaft verwalten. Und die schien zunächst aus nichts anderem als ein paar mittelwertvollen Möbeln zwischen Altdeutsch und Artdeco und aus Porzellangeschirr zu bestehen.“

„Zunächst?“ Jupps letzte Worte hatten Andreas Freude an spannenden Geschichten geweckt.

„Ja, zunächst. Denn dann fanden wir in einem Geheimfach ihres Schreibtisches den Brief, den sie an Mond und mich adressiert hatte. Tante Agathe liebte nämlich das Verstecken. Jedesmal, wenn wir sie als Kinder besuchten, hatte sie für uns etwas versteckt, meistens Süßigkeiten, Mickymaus-Hefte, später Abenteuer-Comics, jedenfalls immer Sachen, über die sich unsere Mutter ärgerte, weil sie sie für unsere gedeihliche körperliche und geistige Entwicklung schädlich fand. Ich hab noch deutlich vor Augen, wie sie vor Freude in die Hände klatschte, wenn wir wieder einmal unseren Schatz gefunden hatten. Wie gesagt, sie hatte keine eigenen Kinder und war jedesmal ganz glücklich, wenn sie sah, dass sie uns eine Freude machen konnte. Wobei ich mir nicht ganz sicher bin“, fügte Jupp lachend hinzu, „ob ihr größtes Vergnügen nicht in der Entrüstung unserer Mutter bestand.“

„Da kannst du recht haben!“ stimmte Mond in Jupps Lachen ein. „Du musst wissen, Tante Agathe war immer schon das schwarze Schaf in der Familie. Sie war eigensinnig, schrill, kümmerte sich nicht darum, was die Leute von ihr dachten und verachtete alles Konventionelle. Unsere Mutter sei, sagte sie immer wieder, eine Biedermeierin oder Lustphobikerin.“

„Und Unterwasserrose.“

„Richtig! Unsere Mutter war eigentlich eine attraktive Frau, aber sie verhüllte sich mehr als sie sich kleidete. Dagegen erstrahlte Tante Agathe in allen Farben. Kaum gebändigte schwarze Locken, tadelloses Makeup, tief ausgeschnittenes Decolleté – auch noch als Achtzigjährige –, wallende oder hautenge Kleider, stets umgeben von einer betörenden Wolke von Moschus und Jasmin. Wo immer sie erschien, sie kam nicht einfach, sie trat auf.“

„Erinnerst du dich, wie sie mir zu meinem 16. Geburtstag ein Penthouse versteckte? Übrigens in eben der Lade, in welcher der Brief lag.“

„Und wie ich mich erinnere! Leider hat uns Mutter dann bei …, naja… überrascht, und wir durften die gute Tante fast ein Jahr lang nicht mehr besuchen.“

„Aber was stand denn nun in dem Brief?“, versuchte Andrea die beiden aus ihren erotischen Bubenerinnerungen zurückzuholen. „Was hat sie euch denn nun vererbt? Eine Schatzkarte aus Taka-Tuka? Ein Haus in Montevideo?“

„Das ist es ja: Wir wissen es nicht!“ Mond runzelte, halb belustigt, halb ärgerlich die Stirn. „Der Brief ist der Gipfel ihrer Versteckspiele.“

„Jetzt sag doch endlich, was drin stand!“

„Den Wortlaut weiß ich nicht mehr, aber ungefähr…“

„Kein Problem“, fiel ihm Jupp ins Wort und entnahm seiner Brusttasche ein Kuvert und diesem ein zusammengefaltetes hellblaues Blatt Papier. „Lies selbst.“

Ein Gefühl von Ehrfurcht ließ Andrea einen Augenblick lang zögern. Aber natürlich war sie viel zu neugierig auf das offenbar so geheimnisvolle Vermächtnis der Tante Agathe. Sie nahm den schon etwas abgegriffenen und in altmodisch wirkender kalligraphischer Schrift verfassten Brief zur Hand und las:

Meine lieben Neffen! Vor 15 Jahren hatte ich ein Erlebnis, das mein Leben veränderte. Es war geradezu eine Obsession, die mein weiteres Leben bestimmte und es aufregender machte als meine Jugend je gewesen war. Leider ist dabei schließlich auch mein ganzes kleines Vermögen draufgegangen, sodass Euch zunächst nicht mehr zufällt als das, was ihr in meiner bescheidenen Wiener Wohnung findet. Solltet ihr allerdings fortführen wollen, was ich begonnen habe, könnte sich meine Leidenschaft als Investition herausstellen, deren Nutznießer Ihr wäret. Aber, lieber Jupp, lieber Mond, wie immer habe ich Eure Schokolade versteckt. Ich zweifle keinen Augenblick daran, dass Ihr fähig seid, mein Geheimnis zu lüften. Weniger sicher bin ich, ob ihr noch den lebendigen Forschergeist habt, der Euch als Buben so auszeichnete. Obwohl ich oft und für lange Zeit aus Wien weg war, und wir daher kaum mehr Kontakt hatten, habe ich den Eindruck, dass Ihr der Umwelt, gegen deren rigide Regeln Ihr stets bereit ward zu rebellieren, sehr ähnlich geworden seid – ein wenig zu satt, ein wenig zu zufrieden mit dem was ist. Vielleicht auch zu ängstlich, es aufs Spiel zu setzen?

Dass Ihr diesen Brief in einem der alten Verstecke finden werdet, bezweifle ich nicht, was Ihr damit anfängt, wird sich weisen. Jedenfalls habe ich auch für den Fall, dass Ihr das alles nur lächerlich findet, meine Vorkehrungen getroffen. Ihr braucht Euch also für nichts verantwortlich zu fühlen!

Eure (Euch liebende) Agathe

PS: Ein kleiner Hinweis: Sucht nicht in Zermatt, St. Tropez oder Funchal – das waren falsche Spuren, die ich gelegt habe. Prost, Ihr beiden!

„Was meint sie mit Zermatt, St. Tropez und Funchal?“

„Von dort hat sie uns häufig Ansichtskarten geschickt. Alle dachten, sie wäre dort auf Kur.“

„Und das ist alles?“ fragte Andrea, nachdem sie den Brief ein zweites Mal aufmerksam gelesen hatte.

„Ja! Das heißt, dieses Foto war noch in dem Umschlag.“

Fasziniert betrachtete Andrea die Schwarzweißfotografie, die ihr Jupp über den Tisch geschoben hatte. Die Frau im Vordergrund schien irgendwie versonnen auf etwas oder jemanden neben der Kamera zu schauen. Mit der ernsten Mundpartie kontrastierten lachende Augen, aus denen Übermut und Lebensfreude strahlten. Wie alt mochte die Frau sein? Vielleicht 45, vielleicht auch schon 55? Schwer zu sagen. Mit Sicherheit aber war es das Bild einer schönen Frau. Es kam nicht oft vor, dass Andrea ein Gesicht schön fand. Hübsche und attraktive Frauen, auch Männer, begegneten ihr immer wieder. Sie selbst fand sich eigentlich auch sehr hübsch. Um aber schön zu sein, musste ein Gesicht interessant sein, etwas ganz Besonderes, Persönliches ausstrahlen. Und das war bei dieser Frau der Fall. Andrea drehte das Foto um. In schwungvoller Schrift stand da „For A.“, ohne Unterschrift und auch ohne Datum. Lediglich in der rechten unteren Ecke ein kleiner, kaum mehr zu entziffernder Stempel. PH stand da, und daneben MCI. In römischen Ziffern würde das 1101 heißen, was wohl kaum das Aufnahmedatum sein konnte.

Als hätte er ihre Gedanken erraten, sagte Jupp: „Sie muss 75 gewesen sein, als das Bild geschossen wurde. Wir haben ein ganz ähnliches in einer Fotoschachtel gefunden, allerdings ohne Widmung, dafür mit Jahreszahl.“

75! So möchte ich mit 75 auch aussehen. Unbeabsichtigt blieben ihre Augen auf Monds Gesicht hängen. Wie er wohl mit 75 aussehen würde? Werden wir dann noch zusammen sein? Vielleicht können wir uns aber gar nicht mehr aneinander erinnern… Irritiert gab sie sich einen Ruck und kehrte in die Gegenwart zurück. Sie nahm das Foto nochmals zur Hand. Der Ausschnitt zeigte Agathe bis zur Taille. Der runde, volle Busen beeindruckte Andrea, und das tief ausgeschnittene T-Shirt zeugte davon, dass Agathe wohl selbst ihre Freude an ihm hatte. Der Hintergrund war nur verschwommen wahrnehmbar: ein See, von Bergen eingerahmt, vielleicht im Salzkammergut oder der Königssee? Sie gab Jupp das Foto zurück. „Eine schöne und überaus erotische Frau, eure Tante Agathe!“ Die Brüder wechselten kurz einen stolzen Blick, als hätte Andreas Kompliment ihnen gegolten.

„Sonst fällt dir nichts dazu ein?“ Mond sah sie lächelnd an. Er schien die Sache immer noch bei weitem nicht so ernst zu nehmen, wie sein Bruder.

„Soll ich Ihnen ein paar Assoziationen aus meiner frühen, unschuldigen Kindheit erzählen, mein lieber Herr Doktor? Also, als ich acht war, schnallte ich mir im Geheimen immer den BH meiner älteren Schwester…“

„Nein, nein, hör auf“, lachte Mond, „deine sexuellen Fantasien beichte uns später, wobei die, die dich 5 Jahre später beschäftigten, wohl viel interessanter sein dürften…“

„…die ich euch aber ganz bestimmt nicht erzählen werde!“ unterbrach ihn Andrea.

„Auch gut“, fuhr Mond fort, „erzählst sie halt nur mir. Nein, wir haben natürlich damit gerechnet, dass du uns nach der Lektüre des Briefes sagst, wo wir Agathes Schatz finden können, und worin er besteht.“

Monds Bemerkung schien Jupp ein weiterer Beweis dafür zu sein, dass sich sein Bruder mit Agathes Vermächtnis nicht wirklich ernsthaft auseinandersetzte und er zischelte ihm ärgerlich etwas zu.

Andrea hingegen war in nachdenkliches Schweigen verfallen. Von Mond hatte sie gelernt, dass es in den Erzählungen und Assoziationen der Patienten oft die dramaturgischen Schwächen, das Fehlende, das Nicht-dazu-Passende ist, das den Schlüssel zum verborgenen Sinn liefert. Bei den Patienten ist das Verborgene das, was sie verdrängen, in diesem Brief könnte es das von Agathe Geheimgehaltene sein… „Was soll das ‚Prost‘ im Postskriptum bedeuten?“

Andreas Frage schien die Männer nicht sonderlich zu beeindrucken. „Sie hat sich wohl am Ende des Briefes einen Schluck ihres geliebten Scotchs gegönnt.“

„Genau“, stimmte Jupp seinem Bruder zu, „sie hatte immer eine ganze Kollektion auf ihrem Nachttisch stehen.“

„Gib mir das Bild!“ Andrea war aufgestanden, steckte das Kuvert mit dem Foto, das ihr Jupp – nun doch etwas erstaunt – hinübergeschoben hatte, in ihre Handtasche. „Ich bin spätestens in einer Stunde zurück!“

„Was ist denn mit deinem Essen?“ Aber sie war bereits durch die Eingangstür verschwunden. Nachdem Andrea so plötzlich auf und davon war, schwankten Mond und Jupp noch einige Minuten zwischen ratloser Verblüffung und bemühter Belustigung über weibliche Irrationalität, einigten sich aber schnell auf ein seufzendes, mitleidig lächelndes, tiefgründiges „Frauen…!“, bestellten, als der Kellner mit den Getränken und der Minestrone kam, Andreas Menü ab und begannen Erinnerungen aus ihrer Jugend und an Tante Agathe auszutauschen.

40 Minuten später stand Andrea wieder vor ihnen. Sie waren so in ihrem Gespräch vertieft gewesen, dass sie ihr Kommen zunächst gar nicht bemerkten. „Wisst ihr, wo wir die Pfingstfeiertage verbringen?“ In Andreas Frage mischte sich Belustigung und Triumph. Ohne eine Antwort abzuwarten, knallte sie eine E-Mail-Reservierung für einen British-Airways-Flug von Wien nach London und von London weiter nach Inverness, Schottlands größter Hafenstadt, auf den Tisch.

„Bist du völlig übergeschnappt?“ Mond schien fassungslos, Jupp nicht minder, der sogar vergaß, seinen Mund zuzumachen.

„Keine Spur übergeschnappt. Miss Marple war nur wieder einmal klüger!“

„Wenn dem so ist, hat sich Miss Marple offenbar einer beeindruckenden Verjüngungs- und Schönheitskur unterzogen.“ Jupp schien seinen Charme wiedergewonnen zu haben, Monds Gesicht hingegen war nach wie vor schiere Entgeisterung.

„Hört zu!“ Andrea holte tief Atem. „Meine Wiener Wohnung und ihre wiederkehrenden langen Abwesenheiten deuten doch darauf hin, dass sie noch einen anderen Wohnsitz haben musste. Nicht in Zermatt, St. Tropez oder Funchal. Also wo? Dann aber das Prost am Ende des Briefes: Das passte einfach nicht! Es war natürlich ein Hinweis auf ihr Lieblingsgetränk, den Whisky und der Whisky auf Schottland. Also mailte ich Agathes Foto an das schottische Konsulat, auch die seltsame Buchstaben-Kombination auf der Rückseite. Und ich hab umgehend Antwort bekommen. Hier.“ Damit legte sie ein Mail auf den Tisch.

Murmelnd las Mond vor: „Sehr geehrte Frau Kern! Wieso Kern?“

„Nun ich wollte anonym bleiben, man weiß ja nie – bei einem Schatz.“

„Gerne beantworten wir Ihre Anfrage. Das Foto, das sie uns schickten, dürfte vom nordöstlichen Ufer des Loch Ness gemacht worden sein. Der Stempel auf der Rückseite verweist auf »Photographs McIntosh« die renommierteste Fotoagentur Schottlands, mit Sitz in Inverness. Mit der Hoffnung, Ihnen gedient zu haben… usw. usw.“

Jupp war der erste, der seine Fassung wiederfand. „Sie ist ein Genie! Mond, hörst du, sie ist ein Genie! Andrea, meine Hochachtung!“

Andrea konnte sich vor Freude und Stolz kaum halten. Jeden Augenblick platze ich, dachte sie. Als sie Mond ansah, konnte sie sich freilich nicht mehr beherrschen und lachte lauthals los: Mond saß da wie ein begossener Pudel. Zwar bewunderte er Andrea in diesem Augenblick grenzenlos und liebte sie mehr als zuvor. Aber wie den meisten Männern machte es ihm schwer zu schaffen, wenn sich eine Frau als wirklich überlegen erweist: Es entwertete ihn komplett. Unsicher schaute er auf. Was er aber sah, war alles andere als eine von ihrem impotenten Liebhaber enttäuschte Frau. In ihrem Gesicht war nichts als unschuldige Freude und Zärtlichkeit zu entdecken. Und wie als Beweis beugte sie sich vor und küsste ihn. Das war nun genau die Therapie, die er in diesem Moment gebraucht hatte. Er sprang auf, zog sie mit beiden Händen von ihrem Stuhl zu sich hoch und begann zu einem italienischen Schmachtfetzen, der aus dem Radio über der Bar ertönte, unter den neugierigen und belustigten Blicken der anderen Gäste mit ihr durchs ganze Lokal zu tanzen.

Jupp grinste und stand auf: „Darf ich bitten?“ Und schon tanzte er mit Andrea durchs Lokal. Die wenigen anderen Gäste applaudierten, Mond kratzte sich verlegen am Kopf und setzte sich nieder. Dann lachte er und rief laut:

„Prosecco für alle!“ Aber irgendwo und irgendwie haftete diesen ausgelassenen Minuten ein bitterer Beigeschmack an, eine kaum wahrnehmbare Unruhe. Mond hätte, als er Andrea und Jupp beim Tanzen zusah, nicht einmal sagen können, ob diese Unruhe eher mit Andreas Strahlen oder mit seinem Bruder zusammenhing.

2. Aufbruch

Sie hatten – natürlich – Whisky bestellt. Einen Glenfiddich, 15 Jahre in Eichenfässern gereift, der edelste »Malt« der östlichen Highlands, wie der freundliche Kellner ihnen versicherte.

„Auf unsere Tante Agathe!“ Mond hob sein Glas.

„Auf unsere Tante Agathe!“

„Auf eure Tante Agathe!“

In diesem Augenblick brach zwischen den schweren, tiefliegenden Regenwolken die Sonne durch und spiegelte sich hundertfach im regennassen Asphalt der Academy Street. Ein paar Strahlen verirrten sich durch die kleinen Fenster des Lokals und ließen den Scotch feurig erglühen.

„Das war ja jetzt fast wie ein Zeichen!“ Andrea lachte zwar, doch war in ihren Worten auch ein Stück Ehrfurcht zu spüren. Und überraschender Weise kam weder von Mond noch von Jupp ein belustigter Kommentar zu weiblichem Aberglauben.

„Liebe Andrea“, hob Mond stattdessen feierlich an, „in meinem und im Namen meines Bruders erteilen wir dir das große Privileg, in Zukunft ebenfalls unsere Tante Agathe sagen zu dürfen. Du hast es dir ja redlich verdient, dass wir sie mit dir teilen.“

„Oh! Danke! Ich weiß diese Ehre zu schätzen! Also: Auf unsere Tante Agathe!“

„Auf unsere Tante Agathe!“

Ein paar Minuten später traten sie auf die Straße. Vor etwa 2 Stunden waren sie am Flughafen von Inverness gelandet und mit dem Taxi ins Zentrum gefahren. Schottland hatte sie empfangen, wie man sich vorstellt, in Schottland empfangen zu werden: mit Regen. Jetzt aber lachte die Sonne, die Luft roch herrlich frisch und es war plötzlich so warm, dass sie ihre Jacken auszogen. Im Lokal wollten sie die nächsten Schritte abstimmen, aber eigentlich verstand es sich von selbst, wo sie beginnen mussten: bei »McIntosh Photographs«.

Die Agentur war nicht schwer zu finden. Sie war im Zentrum in einem alten Ziegelbau, der ein wenig höher war als die Nachbarhäuser, untergebracht. Unübersehbar prangte zwischen erstem und zweiten Stock ein schwarzes Holzschild mit einer roten Randleiste und, in Goldbuchstaben »McIntosh. Photographs & Films«. Erst als sie eintraten und sich in dem hellen, modern ausgestatteten Verkaufsraum umblickten, wurde allen dreien bewusst, dass sie sich, ohne je davon gesprochen zu haben, ein antiquiertes, geheimnisumwittertes Geschäft mit historischen Foto-Utensilien vorgestellt hatten. Zu dieser Enttäuschung trug auch der Mann bei, der hinter dem gläsernen Verkaufspult stand und sie freundlich begrüßte. Statt eines großen rothaarigen Schotten, in dessen „unergründbaren Gesichtsausdruck sich Agathes Geheimnis spiegeln mochte“ – so beschrieb Mond später seine Erwartung – lächelte ihnen ein untersetzter, etwas dicklicher, ca. 40jähriger elegant gekleideter Herr entgegen, dessen offene Freundlichkeit keine Spur von Unergründlichkeit oder Geheimnis erkennen ließ.

Mond zeigte ihm das Foto von Tante Agathe. Der Mann warf einen kurzen Blick darauf, drehte es um und gab Mond die Fotografie zurück.

„Ja, das Bild wurde von unserem Haus ausgearbeitet. Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Die Frau auf dem Bild ist meines Bruders (wobei er auf Jupp deutete) und meine Tante.“ Andrea bemerkte, dass sich Mond bemühte, sein bestes Englisch aus dem Gedächtnis hervorzuholen. „Sie starb vor etwas über drei Jahren. Das Foto fanden wir in ihrer Hinterlassenschaft. Wir würden nun gerne etwas über die Umstände, unter denen es entstand, erfahren. Und vielleicht darüber hinaus Leute finden, die unsere Tante gekannt haben.“

„Leider kann ich Ihnen dazu gar nichts sagen. Die Fotografie stammt noch aus der Zeit meines Vaters Sean James McIntosh des Dritten. Ich darf mich vorstellen: James McIntosh der Vierte. Ich habe das Geschäft erst vor 2 Jahren übernommen, als sich mein Vater in den Ruhestand zurückzog. Sie müssten also eigentlich ihn fragen.“ Während der letzten Worte veränderte sich sein Gesichtsausdruck, und nahm jetzt tatsächlich einen etwas untergründlichen und geheimnisvollen Zug an. Es entstand eine Pause, in der alle drei James McIntosh IV erwartungsvoll ansahen.

„Mein Vater, müssen Sie wissen, ist etwas eigen“, fuhr McIntosh schließlich fort. „Vielleicht empfängt er sie freundlich, es kann aber auch passieren, dass er sie davonjagt.“ Nach einer Gedankenpause drehte er sich zu Andrea: „Am besten wäre es, Sie würden reden. Mein Vater hatte immer schon eine Schwäche für schöne Frauen.“

‚Sie etwa nicht?’, ging es Andrea durch den Kopf. Stattdessen fragte sie aber: „Könnten Sie uns anmelden?“

„Leider nein, er hat kein Telefon.“ Sie müssten ihn auf gut Glück besuchen, erklärte McIntosh. Sein Vater würde hinter Drumnadrochit, nahe Urquhart Castle wohnen und dort seine Schafe hüten.

„Und wie kommen wir zu diesem Ur…, Uqua…“ mühte sich Jupp mit der so ganz eigenen schottischen Aussprache ab, „diesem Schloss?“

„Urquhart Castle. Zwar seit 300 Jahren eine Ruine, aber einer der berühmtesten Zeugen unserer Geschichte.“ McIntoshs Erklärung verriet eine leichte Verstimmung, dass der Ruhm des Wahrzeichens des Great Glen, des großen Grabens, der Schottland von West nach Ost durchzog, offenbar noch nicht bis Mitteleuropa durchgedrungen zu sein schien. „Urquhart erhebt sich auf einem Felsen direkt am Nordufer des Loch Ness, circa 15 km von Inverness entfernt. Normalerweise fährt man mit dem Bus, aber die Straße ist wegen eines Erdrutsches seit zwei Tagen gesperrt. Aber“, fuhr er nach kurzem Nachdenken fort, „ich kann einen Freund bitten, Sie mit seinem Boot hinzufahren.“

Als sie mit dem Taxi in der Marina ankamen, wurden sie bereits erwartet.

„Sehr erfreut! Isac, mein Name. Bitte kommen sie weiter“ begrüßte sie der großgewachsene, gutaussehende Mann in wohlklingendem Deutsch, das nur von einem leichten, charmant klingenden schottischen Akzent begleitet wurde. Er drückte Andrea, dann Jupp und Mond die Hand.

„Oh, Sie sprechen deutsch?!“ Jupp schien erfreut, er tat sich mit dem Englisch doch deutlich schwerer als Mond und Andrea.

„Meine Großmutter stammt aus Berlin. Ich selbst habe in der Schweiz studiert…“

Von all dem bekam Andrea allerdings nichts mehr mit. Isacs Händedruck, seine Stimme und der Blick, mit dem er sie dabei ansah, waren wie eine lähmende Injektion in sie eingedrungen. Zum Glück war er durch Jupp abgelenkt und merkte nicht, wie sie ihn anstarrte. So dachte sie jedenfalls ein paar Minuten später. Im Augenblick wäre sie eines solchen Gedankens überhaupt nicht fähig gewesen. Sie war tiefrot geworden, was ihr bei einem Mann seit ihrem 12. Lebensjahr - damals war der von fast allen Mädchen angehimmelte Englisch-Lehrer der Grund gewesen – nicht mehr passiert war. Sie zitterte am ganzen Leib – zumindest kam es ihr so vor – und ein so noch nie gekanntes Kribbeln fuhr wie ein Schauer durch ihren Körper.

„Vielen Dank, nicht nötig“, murmelte sie unsinnigerweise vor sich hin, denn niemand hatte ihr etwas angeboten. Dann stand er plötzlich wieder vor ihr und fragte sie lächelnd – was für ein Lächeln! – ob er ihren Koffer nehmen dürfe. Dabei sah er sie wieder mit diesem Blick an, der sich geradezu in sie hineinwühlte. Andrea brachte kein Wort heraus. Krampfhaft versuchte sie zurückzulächeln und betete dabei zu allen Göttern, dabei nicht allzu dümmlich dreinzuschauen.

Wenige Minuten später saßen sie, Mond und Jupp auf der Heckterrasse der Motoryacht, während Isac alles zum Ablegen vorbereitete. Immer noch nahm sie rund um sich nichts wahr und war ausschließlich damit beschäftigt, gleichzeitig Isacs Augen zu suchen und ihnen auszuweichen. Trafen sich ihre Blicke dennoch, gab es Andrea jedesmal einen Stich und das Blut fuhr ihr in den Unterleib. »Ich saß wie auf Pölsterchen« – so oder so ähnlich hatte sie einst in den Lebenserinnerungen von Dorothea Zeemann, der Lebensgefährtin von Heimito von Doderer, gelesen, ein Satz, der sie seinerzeit faszinierte. Die Vorstellung hatte sie amüsiert, weil sie für sich einen solchen Zustand für ausgeschlossen gehalten hatte, ein Amüsement, dem damals freilich auch ein Schuss Neid und Sehnsucht beigemischt war. ‚So ist das also’, ging es ihr nun durch den Kopf.

Endlich legten sie ab und die Männer unterhielten sich über Yachten, Schottland und Berlin. Andrea war froh, dass Isac dadurch abgelenkt war. Sie versuchte sich zu beruhigen. Das war gar nicht so einfach, aber mithilfe einiger Atemübungen, die sie einst in einem Yogakurs gelernt hatte, wurde sie schließlich ein wenig gelassener.

Es war wunderschön hier auf dem glitzernden See zu fahren und die Landschaft in der Ferne zu betrachten. Das Dunkel der Felsen und das leuchtende Grün der Pflanzen erschienen Andrea märchenhaft. An die Artussage musste sie denken und an die Zeiten, in denen Damen von Minnesängern gehuldigt worden war. Plötzlich sah sie einen schönen Jüngling vor sich wie er vor ihrer Burg stand, auf dessen Söller sie sich befand, und ihr ein Liebeslied darbrachte. Sollte sie ihn erhören oder nicht? Er kam ihr bekannt vor… Es war Isac!

Mit einem kleinen Schrei fuhr Andrea aus ihren Träumen, Bugwasser war ihr ins Gesicht gespritzt.

Die Männer lachten. Die Dusche spülte nicht nur das Traumbild hinweg, sondern zum Glück auch die Konfusion, in die sie ihre erotischen Wallungen gestürzt hatten. Eine kindliche Freude überkam sie. Mit einem Male wusste sie, woran sie die Situation – drei Männer und sie als einzige Frau auf einem Boot – erinnerte: an die aufregenden und ausgelassenen Schlauchbootfahrten, mit ihren drei älteren Brüdern. Übermütig zeigte sie den drei Seefahrern die Zunge und lachte.