SPY (Band 1) - Highspeed London - Arno Strobel - E-Book

SPY (Band 1) - Highspeed London E-Book

Arno Strobel

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Beschreibung

Das ist doch alles nur ein verrücktes Spiel, denkt Nick, als ihm der mysteriöse Herr Schmitt eröffnet, dass er von heute an eine versteckte Schule des BND besuchen soll. Ja klar, Geheimagent! Das hat sich sein Vater ausgedacht, um ihn zu überraschen. Denn Nicks Vater bereist als Diplomat alle Länder der Erde und hat nur selten Zeit für ihn.   Aber cool ist die Schule schon: Nahkampfunterricht mit echten Gegnern. Lektionen in Tarnen und Täuschen, Sportstunden wie bei den Navy SEALs. Doch dann erfährt Nick, dass sein Vater verschwunden ist. Die Gefahr für ihn selbst ist viel zu groß, als dass er in sein altes Leben zurückkönnte. Und diese Schule ist alles andere als eine lustige Geburtstagsüberraschung. Jahre später bei seiner Zwischenprüfung erhält Nick einen Hinweis auf seinen Vater – und der führt ihn mitten in ein dramatisches Highspeed-Abenteuer nach London.   Bestsellerautor Arno Strobel zeigt sich hier mit einem turboschnellen, actionreichen Abenteuer von einer ganz neuen Seite. Ideales Lesefutter für Jungen und Mädchen.

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Für Laura, Christine und Alexander

1

Es war ein Sonntag wenige Tage vor seinem dreizehnten Geburtstag, der Dominiks Leben völlig auf den Kopf stellte.

Er war auf dem Weg zur Kletterhalle, und während er durch die Adamstraße im Berliner Stadtteil Spandau schlenderte, nahm er sich vor, dass er heute zum ersten Mal den roten Weg an der Kletterwand versuchen würde. Zwölf Meter, zweithöchster Schwierigkeitsgrad. Nur für Profis. Wäre Dominik schon fünf Zentimeter größer gewesen, hätte er die Tour längst versucht – und auch geschafft, das wusste er. Er war geschickt und er war flink, nur mit der Körperlänge haperte es noch ein wenig.

Gerade malte er sich aus, wie er den Überhang im oberen Drittel überwinden würde, als sich ein Junge an ihm vorbeidrängte. Dunkelhaarig, vielleicht vierzehn Jahre alt. Er steuerte mit schnellen Schritten auf ein Mädchen zu, das an einer Bushaltestelle stand und auf seinem Handy herumtippte.

Ohne sich dessen bewusst zu sein, blieb Dominik stehen und beobachtete die Szene, die sich mit seltsamer Klarheit vor ihm abspielte. Wie in einem Film, in dem die spannendste Stelle in Zeitlupe gezeigt wurde, hob sich der Arm des Jungen, als er noch zwei Schritte von seinem Ziel entfernt war. Noch einen Schritt. Die Finger spreizten sich, schlossen sich in der nächsten Sekunde um das Smartphone und rissen es dem Mädchen grob aus der Hand. Die Augen in dem von langen, blonden Haaren umgebenen Gesicht weiteten sich vor Schreck, der Mund öffnete sich zu einem Schrei, doch da hatte der Dieb sich bereits abgewandt und rannte davon.

Dass Dominik sofort hinter ihm herstürmte, wurde ihm erst bewusst, als er die ersten Meter schon zurückgelegt hatte.

Der Kerl hatte etwa zwanzig Meter Vorsprung und verschwand um die Ecke in einer Seitenstraße. Während Dominik alle Energie in seine Beine legte, um noch ein bisschen schneller zu werden, fragte er sich, was zum Teufel er da gerade tat. Ja, vielleicht schaffte er es, den anderen einzuholen, und dann? Der Junge war mindestens zwei Jahre älter und um einiges kräftiger. Wenn Dominik ihn freundlich bat, das geklaute Handy wieder zurückzugeben, bestand immerhin die Chance, dass es ihm vor Lachen aus der Hand fiel.

Er schob den Gedanken beiseite, erreichte die Ecke, hielt sich an der Stange eines Verkehrsschildes fest und nutzte den Schwung, um rechts abzubiegen. Sein Blick huschte über die Gehwege und fand den Dieb auf der anderen Straßenseite. Der Mistkerl war schnell, er hatte seinen Vorsprung schon ein Stück weit ausgebaut.

Ok, aufgeben kam trotzdem nicht infrage, das war jetzt eine Sache des sportlichen Ehrgeizes. Ohne sein Tempo zu verlangsamen, sah Nick sich nach einer Abkürzung um. Die Straße mündete etwa zweihundert Meter weiter in eine Querstraße. Der Handydieb war auf die linke Seite gewechselt, also würde er wahrscheinlich auch nach links abbiegen. Statt ihm nachzurennen, musste Dominik versuchen, ihm den Weg abzuschneiden, und er hatte auch schon eine Idee, wie er das anstellen konnte.

Er wandte sich ab und folgte der Straße ein weiteres Stück bis zu einem Grundstück, das von einem halb verfallenen Bauzaun umgeben war. Die alte, baufällige Ruine dahinter gab es schon, solange Dominik sich erinnern konnte. Er war oft mit Freunden auf dem Gelände gewesen, obwohl mehrere Schilder darauf hinwiesen, dass das Betreten verboten war. Aber: Ein Schild war für jemanden wie Dominik kein Hindernis. Und ein hoher Bretterzaun schon gar nicht. Er nahm kurz Anlauf, sprang ab und setzte mit einer halben Drehung über den Zaun. Auf der anderen Seite rannte er sofort weiter auf das düstere Gebäude mit den glaslosen, dunklen Fensteröffnungen zu. Rechts führte ein überwucherter Weg vorbei, an den sich auf der anderen Seite eine Wiese anschloss. Sie endete genau an der Querstraße, in die der Dieb – hoffentlich – einbiegen würde.

Eine knappe Minute später hatte Dominik die Straße erreicht. Schwer atmend blieb er stehen, blickte sich nach beiden Seiten um und erschrak, als er den Kerl nur wenige Meter rechts neben sich entdeckte. Auch sein Gegenüber zuckte zusammen, offenbar hatte er nicht mehr mit ihm gerechnet. Doch die Überraschung dauerte nur einen Augenblick, dann warf er sich herum und rannte in die entgegengesetzte Richtung los. Etwas löste sich von seiner Jacke und segelte zu Boden. Ein Zettel vielleicht oder eine dieser Plastikkarten, die man überall bekam. Dominik verlangsamte seinen Lauf, hob das Teil auf und ließ es in seiner Hosentasche verschwinden, während er schon wieder beschleunigte. Vielleicht konnte man damit ja später herausfinden, wer der Typ war.

Etwa fünfzehn Meter lagen jetzt wieder zwischen ihnen und der Abstand vergrößerte sich langsam, aber stetig weiter. So würde er den Größeren nicht zu fassen kriegen. Bei dem Gedanken stellte er sich erneut die Frage, was er überhaupt tun wollte, falls er ihn doch noch einholte.

Plötzlich schlug der Handydieb einen Haken und rannte quer über die Straße zur anderen Seite. Als Dominik sich im Laufen umwandte, um sich zu versichern, dass kein Auto kam, stieß er gegen einen Pflasterstein, der ein Stück weit hervorstand, kam ins Stolpern und schaffte es nur knapp, sich zu fangen. Als er wieder hochsah, war der Dieb verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt.

Dominik ließ seinen Blick aufmerksam über die Häuserzeile wandern, aber da war nichts. Keine Seitenstraße, kein Weg … bloß eine Öffnung in der Häuserwand, eine Art Rundbogen, durch den ein Durchgang führte. Zu schmal für ein Auto, aber ausreichend für ein Fahrrad oder ein Motorrad. Oder für jemanden, der zu Fuß unterwegs war und ein Versteck suchte.

Dominik näherte sich vorsichtig, blieb am Rand des Eingangs stehen und spähte hindurch. Soweit er erkannte, mündete der Weg in einen Hinterhof, der von mehrstöckigen Häusern umschlossen war.

Er zog den Kopf zurück und blickte sich noch einmal nach allen Seiten um. Nein, es gab hier sonst keine Möglichkeit, zu verschwinden oder sich zu verstecken. Der Kerl musste dort drin sein. Und das bedeutete, dass Dominik ihm in diesem Hinterhof wahrscheinlich gleich alleine gegenüberstehen würde.

Was, wenn der andere sofort die Fäuste schwang? Dominik hatte sich noch nie geprügelt und würde wahrscheinlich schon ein blaues Auge haben, bevor er noch den Arm heben konnte. Dann aber stand ihm wieder das entsetzte Gesicht des Mädchens vor Augen, dem der Typ das Smartphone geklaut hatte, und er setzte sich in Bewegung. Heldenhaft war das nicht, eher dämlich, aber nun war er schon zu weit gekommen, als dass er einfach den Rückzug hätte antreten können.

Obwohl er langsam durch den gewölbten Durchgang ging, kam ihm das Knirschen der kleinen Steinchen unter seinen Schuhen überlaut vor.

Der Hof war nicht besonders groß, vielleicht fünfzehn Meter breit und zehn Meter lang – und er war menschenleer. Keine Spur von dem Handydieb, dafür jede Menge Spuren des Verfalls. Tiefe Risse zogen sich durch den geteerten Boden, das Unkraut darin wucherte knöchelhoch. Die unterste Fensterreihe der Häuserrückseite gegenüber war ebenso zugemauert wie die einzige Tür, die einmal von der Rückseite aus in das Gebäude geführt haben musste. Nur zwei Meter davor waren mit glänzend gelber Farbe Hüpffelder auf den Teer gemalt, die im Vergleich zu allem anderen hier noch recht frisch aussahen. Sie bildeten die Form eines Kreuzes und waren mit den Zahlen von eins bis sieben beschriftet.

Mädchenkram, dachte Dominik. Seine Freunde und er hatten früher ganz andere Sprünge gemacht. Aber für einen Parkour bot dieser karge Innenhof definitiv zu wenige Hindernisse.

Er ging ein paar Schritte weiter in den Hof hinein und sah sich um. Auch auf dieser Seite waren die Fenster der unteren Etage zugemauert. Nichts deutete darauf hin, dass hier noch jemand wohnte.

Viel spannender aber als diese Feststellung war eine andere: Der Dieb musste vom Erdboden verschluckt worden sein. Es gab nichts, wo er sich hätte verstecken können, keine Tür, durch die er verschwinden, kein Fenster, durch das er hätte klettern können. Aber wie war das möglich?

Frustriert blickte er sich noch einmal um. Hier herumzustehen hatte keinen Sinn und er war sowieso schon spät dran. Als er schon wieder halb aus dem Hof hinaus war, fiel ihm die Karte wieder ein, die er aufgehoben hatte. Vielleicht stand ja eine Adresse darauf. Dominik zog sie mit fahrigen Fingern hervor und betrachtete sie. Sie war schlicht in Weiß gehalten, es gab weder ein Logo noch einen Namen darauf. Lediglich das Wort SPRINGFIELD stand in Druckbuchstaben am oberen Rand, darunter die Zahlenkombination 2-4-2-3-6, die Rückseite war leer.

Enttäuscht ließ er die Hand sinken und drehte sich ein letztes Mal um die eigene Achse. Hohe Mauern, zugemauerte Fenster und Türen, der an manchen Stellen aufgeplatzte Teerboden mit den kindischen Hüpffeldern.

Moment. Hüpffelder … SPRINGFIELD … Nein, das war Quatsch. Springfield war keine Übersetzung von Hüpffeld, sondern eine Stadt in Amerika, in der die Simpsons wohnten, das wusste er genau. Aber die Ähnlichkeit der beiden Worte …

Er betrachtete die Karte erneut. 2-4-2-3-6. Sein Blick richtete sich auf die aufgemalten Rechtecke am Boden. Vom Start aus ein Feld überspringen zur Zwei, dann zur Vier, wieder zurück …

Das war doch lächerlich. Ein fast Dreizehnjähriger, der auf einem Hüpffeld herumsprang … Wenn ihn jemand dabei beobachtete, konnte er sich ebenso gut gleich einen Schnuller in den Mund stecken. Andererseits … Er gab sich einen Ruck, schwang die Arme nach hinten und sprang auf das Feld mit der Zwei, dann zur Vier, zurück zur Zwei und das kleine Stück weiter auf die Drei. Schließlich kam der letzte, große Sprung zur Sechs. Dominik landete sicher, richtete sich auf, wartete. Ein, zwei Sekunden lang geschah nichts, natürlich nicht, die Hüpferei war eine total alberne Idee gewesen. Er wollte sich schon enttäuscht abwenden, als ein reibendes, dumpfes Geräusch zu hören war. Er hielt den Atem an.

Gleich vor ihm, die vermeintlich zugemauerte Tür in der Hauswand … sie schob sich langsam ein Stück zurück, glitt dann zur Seite und gab schließlich ein gähnendes, schwarzes Loch frei.

2

Vorsichtig näherte sich Dominik dem Eingang, hielt inne und kniff die Augen zusammen, als könne er dadurch die Finsternis hinter der Öffnung mit seinem Blick durchdringen.

Er wandte sich um und betrachtete zum wiederholten Mal den leeren Innenhof. Es nutzte nichts. Wenn der Dieb in diesen Hof gelaufen war – und Dominik war sicher, dass er das getan hatte –, blieb keine andere Möglichkeit. Dann musste er durch diesen verborgenen Eingang verschwunden sein.

Vielleicht entdeckte er ja gleich ein Lager voller Diebesgut? Noch während er die Finsternis betrat, sagte er sich, dass es wohl vernünftiger wäre, jetzt einfach die Polizei zu rufen und mit verschränkten Armen dabei zuzusehen, wie die den Kerl da rausholte. In der nächsten Sekunde verwarf er den Gedanken aber wieder. Es konnte ewig dauern, bis die Polizei eintraf, immer vorausgesetzt, sie würden auf seinen Anruf hin überhaupt jemanden schicken. Außerdem hatte er den Jungen jetzt schon so weit verfolgt, nun würde er die Sache auch zu Ende bringen.

Entschlossen zog er sein Handy heraus und schaltete die Taschenlampenfunktion ein. Der Schein reichte nicht sehr weit, zeigte aber die ersten Stufen einer steil nach unten führenden Treppe.

Dominiks Herz wummerte gegen seine Brust, als er den ersten Schritt tat und dann noch einen. Nun stand er schon ein Stück weit hinter der Türöffnung. Noch einen Meter … Der Lichtschein riss weitere der ausgetretenen Steinstufen aus der Dunkelheit, doch ein Ende der Treppe war nicht zu sehen.

Ein leises Geräusch hinter ihm ließ ihn herumfahren und aufstöhnen. Der Eingang hatte sich zu einem schmalen Schlitz verengt, und noch bevor Dominik reagieren konnte, schloss er sich komplett. Er saß fest.

Na toll, das hatte er ja wieder super hinbekommen. Der große Verbrecherjäger Dominik Nader …

In einem Winkel seines Verstandes fragte er sich, wie die Tür sich so schnell und vor allem so leise schließen konnte, nachdem das Öffnen doch recht langsam und geräuschvoll vonstattengegangen war. Aber das war jetzt egal. Viel wichtiger war die Frage, wie er aus diesem dunklen Loch wieder herauskam, bevor das beklemmende Gefühl, das langsam in ihm aufstieg, noch schlimmer wurde.

Er ließ den Schein des Handys über die Ränder der Tür wandern, tastete mit der freien Hand über die staubige Oberfläche, drückte hier und dort, wenn er glaubte, eine leichte Erhebung zu spüren, doch es nutzte nichts. Er fand keinen Öffnungsmechanismus. Der einzige Ausweg, der sich ihm anbot, war der über die Treppe nach unten.

Vorsichtig setzte er einen Fuß auf die erste Stufe. Sie fühlte sich rutschig an. Er tastete an der rauen Wand nach Halt, zog den anderen Fuß nach. Eine weitere Stufe, noch eine … Er zählte mit, aber die Treppe wollte und wollte kein Ende nehmen. Er war schon bei siebenundzwanzig angekommen, als der Lichtschein endlich die Umrisse einer schmalen Tür erkennen ließ. Noch sechs Stufen, dann hatte er das Ende erreicht.

Die Tür schien aus Metall zu sein, einen Griff gab es nicht. Dominik legte eine Hand auf das glatte, kalte Material und drückte dagegen, woraufhin die Tür ein zischendes Geräusch von sich gab und zu seiner Überraschung sanft zur Seite glitt. Das Licht, das ihm aus der entstandenen Öffnung entgegenschlug, ließ ihn die Augen zusammenkneifen und sich zur Seite wegdrehen. So blieb er zwei, drei Atemzüge lang stehen, bevor er es wagte, die Lider blinzelnd ein Stück zu öffnen. Entweder war das Licht deutlich heruntergedimmt worden oder aber seine Augen hatten sich schnell an die Helligkeit gewöhnt. Vor ihm lag eine Art Gewölbe, das durch einen Graben in der Mitte geteilt wurde. Darin stand ein Gefährt, wie Dominik es noch nie gesehen hatte. Es sah aus wie die verkleinerte Version einer ICE-Lok in Schwarz, vielleicht drei Meter lang, vorne und hinten stark abgeflacht, das Gehäuse komplett verglast, sodass Dominik die beiden hintereinander angebrachten Ledersitze im Inneren erkennen konnte. Als er sich vorsichtig näherte, sah er, dass auf dem Grund des Grabens eine glänzende Metallschiene verlief, auf der das seltsame Fahrzeug offenbar stand. Die Schiene führte bis zum Ende des Gewölbes und verschwand dann in einem Tunnel.

»Willkommen, Dominik!«

Die männliche Stimme schien von überall her zu kommen und durchschnitt die Stille wie ein scharfes Messer. Dominik zuckte heftig zusammen und sah sich irritiert nach allen Seiten um. Woher kannte der Mann am Mikrofon seinen Namen? Und wie konnte er wissen, dass er in dieses unterirdische Gewölbe kommen würde?

»Wer … wer sind Sie?« War das wirklich seine Stimme? Sie kam ihm in diesem Moment eher wie die eines kleinen Mädchens vor. Statt einer Antwort hob sich der verglaste Teil des seltsamen Fahrzeuges summend ein Stück an und schob sich so weit zurück, dass der Einstieg frei wurde. Das Innere der Kabine wurde beherrscht von einem Monitor, der sich über die gesamte Breite des Armaturenbrettes vor dem vorderen Sitz befand.

»Steig ein«, forderte die Stimme ihn auf. Es klang eher wie eine Bitte als wie ein Befehl.

»Warum? Wo fährt dieses … Ding hin?«

Er bekam keine Antwort, hatte aber auch nicht wirklich damit gerechnet. Hier war gerade etwas Unheimliches im Gange. Etwas, das ihn zwangsläufig an seinen Vater denken ließ und an Dinge, die er mit ihm schon erlebt hatte. Das gab für ihn den Ausschlag. Ohne weiteres Zögern schwang er sich auf den Sitz und starrte auf den flimmernden Bildschirm. Sekunden später schob sich die Kuppel über ihn und schloss sich mit einem satten Schmatzen. Dann geschahen mehrere Dinge gleichzeitig.

Zu beiden Seiten seiner Schultern fuhren teleskopartige, gepolsterte Stangen heraus, wölbten sich über seine Brust und verbanden sich über seiner Hüfte mit zwei weiteren, die links und rechts neben seinen Oberschenkeln ausgefahren waren. Der Bildschirm vor ihm erwachte zum Leben und zeigte die Schiene und den Tunneleingang vor dem Gefährt, aber so, als sei der Tunnel hell erleuchtet. Was er allerdings immer noch nicht war, wie Dominik sich mit einem Blick am Monitor vorbei versicherte.

In der linken, unteren Ecke des Bildschirms war eine digitale Anzeige eingeblendet, die auf 0,0 km/h stand, eine Anzeige daneben zeigte 00:07:23 an. Das sah nach einer Uhrzeit aus.

Noch ehe Dominik sich den Bildschirm genauer ansehen konnte, pressten sich die gepolsterten Stangen mit sanftem Druck gegen seinen Oberkörper, es gab einen kurzen Ruck, dann schoss das Fahrzeug mit einer Geschwindigkeit in den Tunnel hinein, die Dominik den Atem raubte. Die wahnwitzige Beschleunigung drückte seinen Körper derart fest gegen den Sitz, dass er keinen Finger rühren konnte. Dabei war außer einem kaum wahrnehmbaren Summen kein Geräusch zu hören.

Als sich die Kabine nach einer Weile nach links neigte und durch eine lang gezogene Kurve schoss, hatte Dominik sich so weit von seinem Schreck erholt, dass er einen Blick auf den Bildschirm werfen konnte.

Die vermeintlich hell erleuchtete Tunnelwand schoss mit solch absurdem Tempo an ihm vorbei, dass ihm schwindlig wurde. Was ihn aber ernsthaft an seinem Verstand zweifeln ließ, war der Tachometer. Dort wurde gerade eine Geschwindigkeit von 856,3 km/h angezeigt, im nächsten Moment schon 871,7, und sie stieg immer noch weiter. Die Uhr daneben stand nun auf 00:05:43, wobei die Sekunden heruntergezählt wurden.

964,2 km/h. Wieder legte das Gefährt sich in die Kurve, dieses Mal nach rechts und so weit, dass es fast waagerecht durch die Röhre schoss. Bei 1000,0 km/h blieb die Anzeige schließlich stehen. Dominik starrte fasziniert auf die Zahl. Wie war dieses krasse Tempo bloß möglich?

Er sah nach links, nach rechts, legte den Kopf in den Nacken, soweit es der Sitz zuließ. Überall bot sich ihm das gleiche Bild. Dunkelheit, während der Tunnel auf dem Monitor nach wie vor hell erleuchtet war. Vielleicht stammte das Bild von einer Art Nachtsichtkamera, die außen an der Vorderseite des Fahrzeugs angebracht war. Also konzentrierte er sich weiter auf den Bildschirm, obwohl es auch dort nichts zu sehen gab außer helle, gewölbte Wände, die vorüberrasten.

Dominik überschlug, dass das Gefährt eine Strecke von rund 80 Kilometern zurücklegte, wenn es für die Dauer von fünf Minuten mit 1000 km/h dahinschoss. Addierte man noch die Beschleunigungs- und Abbremsphase hinzu, durfte das Ziel wohl rund 100 Kilometer von seinem Startpunkt entfernt liegen. Also ein gutes Stück außerhalb Berlins.

Als die Uhr bei 00:01:30 angelangt war, kam wie erwartet wieder Bewegung in die Anzeige der Geschwindigkeit. Das Gefährt bremste ab.

973,4 … 945,6 … Dominiks Faszination für das Tempo wich der Neugier auf das, was gleich kommen und hoffentlich die vielen Fragen beantworten würde, die ihm unter den Nägeln brannten, seit die Stimme ihn zum Einsteigen aufgefordert hatte.

Die Tunnelwände verschwanden so plötzlich, dass er erschrocken zur Seite durch die Glaskuppel blickte. Erste helle Schimmer durchzogen die Dunkelheit, waren aber noch zu schwach, um Einzelheiten erkennbar zu machen. Das Fahrzeug bewegte sich jetzt nur noch langsam vorwärts und wurde stetig weiter abgebremst. Sekunden später kam es zum Stehen.

Während die Haltebügel vor seiner Brust und neben seinen Oberschenkeln sich fast geräuschlos zurückzogen und der Monitor erlosch, wurde es um ihn herum schlagartig hell. Dominik sah sich blinzelnd um und stellte fest, dass er sich in einem Gewölbe befand, das dem, von dem er gestartet war, zwar ähnelte, aber um ein Vielfaches größer war. Auf der linken Seite parkten drei weitere der Fahrzeuge in den typischen Schienengräben. Diese Gewölbehalle schien eine Art Bahnhof für die Dinger zu sein.

Und noch etwas unterschied diesen Ort vom ersten: der Mann, der mit ausdrucksloser Miene neben Dominiks Gefährt stand, bei dem sich in diesem Moment die Kuppel zurückschob.

Er war nicht sehr groß, leicht untersetzt und hatte kurze, braune Haare. Ein von grauen Fäden durchzogener Vollbart bedeckte große Teile seiner rundlichen Wangen. Das Auffälligste an ihm aber waren seine stahlblauen Augen, mit denen er Dominik auf eine Art und Weise musterte, als könne er direkt in seinen Kopf schauen und seine Gedanken lesen. Diese Augen passten so gar nicht zu dem restlichen Erscheinungsbild. Unheimlich war das erste Wort, das Dominik dazu einfiel. Das wurde ja immer besser. War er jetzt im geheimen Hauptquartier der X-Men gelandet?

»Glückwunsch, du warst bisher in diesem Jahr der Zweitschnellste.« War das die gleiche Stimme, die ihn zuvor aufgefordert hatte, in das Fahrzeug einzusteigen?

»Was?«, fragte Dominik verwirrt und deutete auf den Bildschirm vor sich. »Der Zweitschnellste? Mit diesem … Ding?«

»Nein.« Der Mann verdrehte die Augen. »Die Prüfung. Du hast die Prüfung als Zweitschnellster gemeistert.«

Die Prüfung? Dominik verstand überhaupt nichts mehr, doch bevor er weitere Fragen stellen konnte, deutete der Mann neben das Gefährt. »Bitte …« Das sollte wohl die Aufforderung sein, auszusteigen, aber Dominik dachte überhaupt nicht daran. Er fühlte sich in dieser futuristischen Höllenmaschine gerade sicherer, so, als könne er selbstständig damit davonfahren, wenn er es wollte. Oder wenn es gefährlich wurde.

»Ich weiß nichts von einer Prüfung. Wer sind Sie? Und woher kennen Sie meinen Namen?«

Der Mann legte die Hände hinter den Rücken. »Du kannst mich Herr Schmitt nennen, und jetzt steig bitte aus.«

Herr Schmitt … schon klar. Und er selbst hieß Luke Skywalker.

Dominik rührte sich nicht vom Fleck und auch Herr Schmitt machte keine Anstalten, sich zu regen, sondern sah ihn weiter mit seinen Ich-sehe-was-du-denkst-Augen an.

Als der stumme Blick unerträglich wurde, verschränkte Dominik die Arme vor der Brust. »Ich steige erst aus, wenn Sie mir sagen, woher Sie meinen Namen kennen und warum ich hier bin. Und was Sie mit der Prüfung meinten.« Angriff war die beste Verteidigung.

»Du wirst alles erfahren, was du wissen musst, Dominik. Aber nicht hier. Also bitte, steig jetzt aus.«

In Dominiks Innerem tobte ein Kampf. Einerseits wünschte er sich, wieder zurück zu sein auf dem Weg zur Kletterhalle, weit weg von diesem seltsamen Ort und diesem … Herrn Schmitt. Auf der anderen Seite hatten die Verfolgungsjagd und die abenteuerliche Fahrt bis in diese Halle seine Neugier geweckt und er hätte zu gerne gewusst, was hinter all dem steckte. Immerhin kannte Schmitt seinen Namen. Und er hatte die Prüfung – was auch immer damit gemeint war – als Zweitbester in diesem Jahr bestanden.

»In zwei Minuten wird der Black Arrow seine Fahrt wieder aufnehmen und zu der Stelle zurückkehren, von der du kommst.« Schmitts Stimme klang nach wie vor sachlich ruhig. »Wenn du bis dahin nicht ausgestiegen bist, fährst du wieder mit zurück, wovon ich dir allerdings dringend abrate.«

Als Dominik noch immer nicht reagierte, fügte Schmitt deutlich leiser hinzu: »Dein Vater würde allerdings etwas anderes von dir erwarten.«

3

Dominik fuhr hoch und stand in der nächsten Sekunde aufrecht in dem Gefährt. »Mein Vater? Was hat mein Vater damit zu tun?«

Schmitt deutete ungerührt neben sich. »Kommst du?«

Mit einem Satz schwang sich Dominik aus dem – wie hieß das Ding noch mal? – Black Arrow und blieb dicht vor Schmitt stehen. »Jetzt habe ich’s kapiert. Mein Vater würde etwas anderes von mir erwarten … Das ist eine besondere Geburtstagsüberraschung, stimmt’s?« Vor Aufregung redete er viel schneller als sonst. »Ich habe recht, oder? Nun sagen Sie doch bitte was. Wo ist mein Vater?«

Statt zu antworten, wandte sich Schmitt ab und ging los, sodass Domink nichts anderes übrig blieb, als ihm zu folgen, wenn er mehr erfahren wollte.

Sie verließen die Halle durch eine Metalltür, die automatisch zur Seite glitt, als Schmitt darauf zuging, und betraten einen langen, hell erleuchteten Flur, an dessen Ende zwei weitere Türen abgingen. Schmitt deutete auf die linke. »Hier hinein.«

Das fensterlose Büro war nur spärlich eingerichtet und sah aus, als würde es nicht häufig benutzt. Neben einem leeren Regal und einem hüfthohen Schrank mit einem Laserdrucker darauf gab es nur noch einen weißen Schreibtisch in der Mitte des Zimmers, der von einem riesigen Flachbild-Monitor dominiert wurde. Dahinter stand ein Lederstuhl mit hoher Rückenlehne, ein etwas kleinerer davor.

»Setz dich.« Schmitt ging an Dominik vorbei, ließ sich in den Stuhl hinter dem Schreibtisch fallen und sah sein Gegenüber ernst an. »Das Mädchen mit dem Handy, der Junge, der es ihr weggenommen hat und dem du gefolgt bist, der Innenhof mit dem Hüpffeld … Das war dein Test. Gratulation noch mal, du hast ihn mit Bravour bestanden.«

»Mein Test?«

»Ja.« Schmitt verdrehte die Augen und stieß einen tiefen Seufzer aus. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie mühsam es ist. Die meisten sind viel zu bequem, um einem Dieb nachzulaufen, und von denen, die es doch tun, verliert die Hälfte schon nach zwei Straßen die Spur. Kaum jemand hebt die Karte auf, und selbst von denen, die es bis zum Ende schaffen, stehen immer noch die meisten ratlos herum und gehen irgendwann einfach nach Hause.«

Dominik verstand noch immer nicht so richtig, wovon Schmitt überhaupt redete. Nervös rutschte er auf seinem Stuhl nach vorne. »Das ist ein Spiel. Ein Liverollenspiel, habe ich recht? Ist das meine Geburtstagsüberraschung? Ist mein Vater hier?«

Statt ihm eine Antwort zu geben, tippte Schmitt auf einer Tastatur herum und starrte dabei angestrengt auf den Bildschirm. »Dominik Nader«, murmelte er. »Geboren am …« Er richtete seinen Blick an dem Monitor vorbei. »Du hast in vier Tagen Geburtstag.«

»Ja, und deswegen hat mein Vater das hier alles auch in die Wege geleitet, stimmt’s? Wir machen doch jedes Jahr an meinem Geburtstag solche …«

»Mutter bei der Geburt gestorben«, las Schmitt ungerührt weiter vom Bildschirm ab, was Dominik verstummen ließ. »Aufgewachsen bei Pflegeeltern, Peter und Elisabeth Kramer. In der Schule eher unauffällig.« Erneut richtete sich Schmitts Blick auf Dominik. »Hast du in der letzten Zeit irgendetwas Besonderes bemerkt? Hast du dich verändert, nimmst du Dinge wahr, die du sonst nicht sehen, hören oder fühlen konntest? Hast du im Sport Leistungen erzielt, die du dir nicht erklären konntest?«

»Nein, alles ist ganz normal. Aber was soll das? Was hat das hier mit meiner Mutter zu tun? Wo ist mein Vater?«

»Erzähl mir von ihm.«

»Was? Warum soll ich von meinem Vater erzählen? Ich dachte, Sie … Das hier, das war doch seine Idee, oder?«

»Erzähl mir, was du von ihm weißt.«

Täuschte er sich oder lag plötzlich so etwas wie Güte in Schmitts Blick? Dominik verstand gar nichts mehr. »Aber warum? Ich …«

Schmitt hob eine Hand. »Egal, was du denkst. Erzähl mir von deinem Vater. Es ist wichtig.«

Dominik atmete tief durch. Also gut, wenn es dazu beitrug, dass er endlich erfuhr, was das alles sollte …

»Mein Vater ist Diplomat. Er reist durch die ganze Welt, nimmt an Konferenzen teil und trifft sich mit wichtigen Leuten. Politikern. Mein Vater redet mit ihnen und hilft dabei, den Frieden in der Welt zu sichern. Deswegen können wir uns auch nur einmal im Jahr sehen. An meinem Geburtstag. Dann treffen wir uns an entfernten Orten, verbringen eine Woche zusammen und machen tolle Sachen. Wir waren schon Fallschirmspringen in den USA und Hochseefischen vor Hawaii. Letztes Jahr waren wir in Tibet, weil … weil meine Mutter von dort stammte.« Als führe sie ein Eigenleben, wanderte Dominiks Hand zur Brust, wo unter dem Shirt an einem Lederriemen ein Medaillon mit dem Foto seiner Mutter hing. Das einzige, das er besaß. »Reicht das?«

Schmitt nickte und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.

»Ja, das reicht.« Der Blick, mit dem er Dominik sekundenlang musterte, wurde wieder durchdringend. »Dann werde ich dir jetzt auch ein paar Dinge anvertrauen. Was man dir über deinen Vater erzählt hat, stimmt nur zum Teil.«

»Was?« Dominik rutschte aufgeregt nach vorne, doch Schmitt deutete mit einer Handbewegung an, er solle sich zurückhalten. »Auch dein Vater selbst hat dir nicht alles über sich erzählt, und das aus gutem Grund. Richtig ist, dass er in der ganzen Welt unterwegs ist, um den Frieden zu sichern. Er arbeitet für das Auswärtige Amt, aber er führt nicht nur Gespräche und nimmt an Konferenzen teil.«

Nach einer erneuten Pause von drei, vier Atemzügen fuhr Schmitt in verschwörerischem Ton fort: »Dein Vater ist einer der besten Mitarbeiter unseres Auslandsnachrichtendienstes, Dominik. Er nutzt seine engen internationalen Kontakte, um für unsere Regierung wichtige Informationen aus den Krisengebieten dieser Erde zu beschaffen. Über die Jahre hat er engmaschige Netzwerke mit Kontaktpersonen in Nordkorea und Tschetschenien aufgebaut und einige der despotischen Führer im mittleren und südlichen Afrika gehören zu seinen Duzfreunden. Mit anderen Worten: Dein Vater ist einer besten Agenten, die unser Land hat, Dominik.«

Dominik starrte Schmitt an und versuchte zu verstehen, was er gerade gehört hatte. Er wusste gar nicht, was er dazu sagen sollte. Sein Vater, ein Agent? »Das ist doch …«, stotterte er. »Ich möchte … Ich soll morgen abgeholt werden, um mich mit ihm zu treffen. Irgendwo. Dann werde ich ihn fragen.«

Schmitt stieß einen tiefen Seufzer aus. »Du wirst morgen nicht abgeholt. Wir kennen noch nicht alle Zusammenhänge, aber … Dein Vater wird morgen nicht kommen.«

Dominik fühlte, wie sein Herz einen Schlag aussetzte.

»Das ist nicht wahr«, stieß er hervor. »Sie haben doch überhaupt keine Ahnung oder Sie lügen. Ich möchte jetzt sofort wieder nach Hause.«

»Das geht leider nicht. Du bist hier an einem Ort, der einer so hohen Geheimhaltungsstufe unterliegt, dass nur ganz wenige hochrangige Leute davon wissen. Oder sie glauben, davon zu wissen, aber finden würden sie ihn vermutlich nicht.« Er beugte sich vor und verzog seinen Mund zu etwas, das einem Lächeln ähnelte, die Augen allerdings nicht erreichte. »Es ist an der Zeit, dass du deine Ausbildung bei uns aufnimmst.«

Was sollte das denn heißen? Dominik besuchte die siebte Klasse des Kant-Gymnasiums in Spandau. Er war nicht sehr fleißig und seine Noten waren mäßig, aber er wollte sowieso Profisportler werden. Wenn er jetzt gleich zurückfuhr, wäre es noch nicht zu spät für das Training in der Kletterhalle. Er sollte jetzt wirklich gehen.

»Wir möchten dir ein Angebot machen, Dominik. Wie du dir vielleicht denken kannst, brauchen wir für die Auslandsaufklärung die besten und fähigsten Mitarbeiter. Die Bundesregierung unterhält daher eine eigene Schule für begabte Nachwuchskräfte. Wir rekrutieren hier Jugendliche, von denen wir glauben, dass sie für eine Aufgabe bei uns besonders geeignet sind, und bilden sie in allen Bereichen aus, die die internationalen Nachrichtendienste benötigen: Informationsbeschaffung, verdeckte Ermittlung, Waffentechnik, Nahkampf. Nach deinem erfolgreichen Abschluss hier steht dir eine Karriere beim BND oder einem anderen befreundeten Geheimdienst offen. Dein Vater war einer unserer besten Absolventen und es war sein ausdrücklicher Wunsch, dass du diese Schule besuchst. Deshalb haben wir dich heute deiner Aufnahmeprüfung unterzogen.«

Dominik glaubte, seinen Ohren nicht zu trauen. Das konnte doch nur ein Witz sein. Natürlich war das ein Witz! In diesem Moment schob sich eine Erkenntnis in Dominiks Bewusstsein, die alle anderen Gedanken verdrängte.

»Das war mein Vater, stimmt’s? Er hat das alles inszeniert. Das ist mein Geburtstagsgeschenk. Ein reales Abenteuerspiel.«

»Es stimmt, es war dein Vater.«

Ja! Er hatte es doch geahnt. »Wo ist er?«, fragte Dominik aufgeregt und sprang auf. »Warum ist er nicht hier?«

Schmitt deutete mit einer ungehaltenen Geste auf den Stuhl. »Könntest du dich wieder setzen? Bitte?«

Dominik ließ sich auf seinen Platz zurücksinken, während die Gedanken einen wilden Reigen in seinem Kopf tanzten.

»Ich werde dir jetzt ein paar sehr wichtige Dinge erklären«, zog Schmitt Dominiks Aufmerksamkeit wieder auf sich. »Also, bist du bereit?«

Dominik nickte. Er war zu allem bereit, wenn es zu diesem Spiel gehörte, das sein Vater sich für ihn ausgedacht hatte. Ein Agentenabenteuer. Und dafür der ganze Aufwand. Wahnsinn.

»Gut. Es stimmt leider, was ich dir eben gesagt habe. Der Kontakt zu deinem Vater ist vor einigen Tagen abgerissen. Wir wissen nicht, wo er jetzt steckt.«

Ok. Dominik war bereit, mitzuspielen, und er würde gut spielen. In einer übertriebenen Geste riss er die Augen auf. »Aber … Was heißt das, der Kontakt ist abgerissen?« Er holte tief Luft. »Ist er …?«

Schmitt schüttelte den Kopf. »Wir können mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass er noch am Leben ist.« Schmitt spielte seine Rolle wirklich gut.

»Aber woher wollen Sie das wissen, wenn er doch verschwunden ist?«

»Das ist eine geheime Verschlusssache.«

Geheim, schon klar. Es ging hier schließlich um ein supergeheimes Geheimagentenabenteuer, vermutlich würde sein Vater schon morgen früh mit einem Fallschirm vom Himmel schweben, im Smoking und mit Fliege wie James Bond, und mit ihm an irgendeinen exotischen Ort fahren, wie jedes Jahr.

»Nun weißt du, warum du hier bist«, fuhr Schmitt fort. »Mir ist klar, dass die Situation für dich nicht einfach ist, aber glaube mir, das wird in Zukunft noch oft so sein.« Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und hielt Dominiks Blick dabei mit seinem fest. »Eines musst du wissen: Ob du an dieser Schule bleibst, ist deine Entscheidung. Die Ausbildung ist hart und manchmal gefährlich. Aber die Chance, Ja zu sagen, erhältst du nur ein einziges Mal. Wenn du jetzt ablehnst, wirst du nie wieder von uns hören.« Er machte eine kurze Pause. »Wenn du aber zusagst, ist dieser Entschluss unumkehrbar.«

»Unumkehrbar? Was heißt das?«

»Dass du es dir danach nicht mehr anders überlegen kannst.«

Dominik dachte darüber nach und fand, dass das ein bisschen zu übertrieben war, um glaubwürdig zu sein, aber egal. Dieses Spiel war trotzdem krass und er wollte es gut spielen. »Falls ich wirklich bleiben möchte – kann ich mich denn wenigstens noch von meinen Pflegeeltern und meinen Freunden verabschieden?«

»Deine Pflegeeltern werden von mir die Nachricht erhalten, dass dein Vater dich schon heute zu eurer gemeinsamen Woche abgeholt hat. In ein paar Tagen erfahren sie dann, dass er entschieden hat, dich zu Verwandten in die Vereinigten Staaten zu schicken, wo du ab jetzt leben wirst.«

Dominik überlegte. Eine entfernte Cousine seines Vaters lebte wirklich in den USA. Die Story war verflixt gut durchdacht.

»Wenn du dich entschließt, an unserem Programm teilzunehmen, wirst du für deine Pflegeeltern und deine Freunde weit weg sein, aber nach einer gewissen Zeit wirst du sie ab und zu kontaktieren können.«

»Nach welcher Zeit?«

»Das hängt von der Entwicklung deiner Fähigkeiten und deines Verantwortungsbewusstseins ab. Normalerweise nach ungefähr drei Jahren.«

4

»Es ist an der Zeit, deine Entscheidung zu treffen.« Schmitt drückte sich aus seinem Stuhl hoch. »Ich bringe dich jetzt in einen anderen Raum, dort hast du eine halbe Stunde Zeit, über deine Zukunft nachzudenken.«

»Eine halbe Stunde?«, fragte Dominik gespielt überrascht und überlegte, dass er, wenn er die Geschichte tatsächlich glauben würde, die Schmitt ihm aufgetischt hatte, spätestens jetzt einen Verdacht hätte, dass da etwas nicht stimmen kann. Wie sollte man in so kurzer Zeit eine Entscheidung treffen, die das ganzes Leben verändern würde?

»Ja. Wenn du bedenkst, dass es der ausdrückliche Wunsch deines Vaters ist, dem wir folgen, dann sollte eine halbe Stunde doch mehr als ausreichend sein.«

Klar, und wenn man nur ein, zwei Tage hatte, das komplette Spiel durchzuziehen, wollte man mit solchen Dingen keine Zeit verplempern.

Schmitt ging an ihm vorbei, verließ das Büro und blieb vor der gegenüberliegenden Tür stehen. »Nutze die Zeit«, sagte er knapp, öffnete die Tür und trat einen Schritt zur Seite.

Der Raum stellte sich als eine Art Cafeteria heraus, in der gleichmäßig verteilt einige Tische standen. Zwei von ihnen waren besetzt. An dem gleich neben der Tür saßen zwei bekannten Gestalten, die ihm unverhohlen entgegengrinsten. Es waren das Mädchen mit dem Handy und der Typ, der es geklaut hatte. Etwas weiter hinten saß ein bulliger Junge, der ihn mit unverhohlener Abneigung musterte.

»Hi!« Der Handydieb hob eine Hand. »Ich bin Julian. Wir haben schon gehört, dass du es geschafft hast. Und dass deine Zeit extrem gut war.«

»Ja, angeblich«, murmelte Dominik und wunderte sich erneut über den Aufwand, den die Erfinder dieses Spiels betrieben. Sein Vater hatte sicher eine ganze Stange Geld dafür bezahlt.

»Ist ja witzig, dass ich euch hier wiedersehe. Eine Überraschung nach der anderen.«

Julian lachte. »Gewöhn dich dran.«

»Vielleicht auch besser nicht«, stieß der kräftige Kerl am anderen Tisch aus. »So wie du aussiehst, hältst du keine zwei Wochen durch.«

Julian warf ihm einen kurzen Blick zu und wandte sich dann wieder an Dominik. »Das ist Jan. Er kommt gerade von einem kleinen Ausflug zurück und ist offensichtlich nicht bester Laune.«

»Ein Ausflug?«

»Ja, belassen wir es dabei. Du heißt Dominik, nicht wahr? Das ist Mia. Sorry, dass ich dich so durch Berlin gehetzt habe.«

»Na ja«, nun konnte sich Dominik ein Grinsen nicht verkneifen. »Eigentlich war ich es ja, der dich gehetzt hat.«

»Stimmt auch wieder.« Julian deutete auf die beiden Automaten, die links von ihm an der Wand standen, ein Getränkeautomat und einer mit kleinen Snacks darin. »Nimm dir was zu trinken, ist kostenlos.«

Die Verfolgungsjagd hatte Dominik tatsächlich durstig gemacht. Er entschied sich für eine Apfelsaftschorle und trank gleich einen großen Schluck davon.

»Wie lange hat Schmitt dir Zeit gegeben?«, wollte Julian wissen, nachdem Dominik die Flasche abgesetzt hatte.

»Eine halbe Stunde.«

Als ob Julian das nicht wüsste, schürzte er die Lippen. »Oh, das ist wenig.«

»Ich glaube, das reicht für ihn«, bemerkte Mia im Plauderton und strich sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht. Jetzt wirkte sie alles andere als schüchtern oder verzweifelt, sondern recht forsch. »Du hast doch gesehen, wie schnell er reagiert hat. Das war unglaublich. Wir haben das Spielchen ja schon oft durchgezogen, aber so was habe ich noch nie gesehen. Er ist schon losgespurtet, da hattest du dir das Handy noch gar nicht richtig gegriffen.«

Julian nickte und warf Dominik einen anerkennenden Blick zu. »Ja, das stimmt, ich wette, er hat in drei Jahren seinen Decknamen.«

»Meinen Decknamen? Was bedeutet das?« Dominik tat nicht nur interessiert, er war wirklich gespannt, wie sehr alles ausgeschmückt wurde und wie es weiterging.

»Ich schätze, das wirst du bald erfahren.«

Sehr auskunftsfreudig war Julian nicht, aber trotzdem waren die beiden wohl seine beste Chance, mehr über dieses Spiel zu erfahren und über Schmitt, bevor er seine Entscheidung treffen musste. Seine unwiderrufliche Entscheidung. Er grinste innerlich.

Vielleicht war das ja sogar wieder so eine Prüfung innerhalb des Spiels und Schmitt wollte, dass Dominik nachfragte. Er setzte sich zu Mia und Julian an den Tisch. »Wie lange seid ihr denn schon hier?«

Julians Grinsen wurde breiter. »Wo, hier? In diesem Raum?«

»Nein, ich meine auf diesem … Agenten-Internat.«

»Ah, ok.« Julian kratzte sich am Kinn. »Hier lernt man übrigens auch zielgerichtete Fragestellung und taktische Gesprächsführung.« Wieder dieses breite Grinsen. Dominik stellte fest, dass er die beiden mochte, auch wenn sie ihn gerade ein bisschen aufzogen. Ob sie viel Geld mit ihrer Rolle verdienten?

»Aber um deine Frage zu beantworten: Wir sind seit zwei Jahren hier.«

»Und diese Nummer mit dem Handyklauen, die macht ihr öfter?«

Mia lachte. »Ja, für die teilen sie uns immer wieder gerne ein. Julian ist der schnellste Läufer in der Schule und ich sehe wohl so aus, als müsse man mir helfen.«

»Bei dir hatte ich echt Mühe, rechtzeitig wegzukommen«, warf Julian ein. »Du hast wirklich unglaublich schnell reagiert.«

»Könnt ihr mir etwas über das Internat sagen? Ist es wirklich so, wie Schmitt …«

»Klar könnten wir.« Julian nickte Mia zu und stand auf. »Werden wir aber nicht. Du musst deine Entscheidung aufgrund der gleichen Informationen treffen, die wir alle hatten.«

Ja, schon klar. Das war hier wahrscheinlich das erste Level und mit seiner Entscheidung gelangte er ins nächste. Dominik war gespannt, ob sein Vater irgendwann auftauchte.

Als die beiden die Tür erreicht hatten, drehte Julian sich noch einmal um. »Wir sehen uns entweder bald oder überhaupt nie wieder. Aber so, wie ich dich einschätze, würde ich sagen: Bis später.« Sekunden danach schloss sich die Tür hinter ihnen und Dominik war allein.

Er starrte noch eine Weile auf die geschlossene Tür und dachte über das nach, was Schmitt ihm erzählt hatte. Das konnte im weiteren Verlauf vielleicht wichtig sein, das wusste er aus taktischen Computerspielen.

Sein Vater war also angeblich kein Diplomat, sondern ein Geheimagent. Seltsamerweiser würde dieser Job sogar gut zu ihm passen. Wenn Dominik an all die verrückten Sachen dachte, die sein Vater schon mit ihm gemacht hatte. Er war sehr sportlich und konnte viele erstaunliche Dinge. Fallschirmspringen, Bogenschießen, Tauchen … Sogar in dem Hubschrauber, mit dem sie drei Jahre zuvor über die Niagarafälle geflogen waren, hatte er selbst am Steuer gesessen.

Außerdem sprach er unglaublich viele Sprachen fließend. Egal in welchem Land sie ihre gemeinsame Woche verbracht hatten, sein Vater hatte sich mit den Menschen dort in ihrer Sprache unterhalten können. Dominik musste grinsen. Klar, als Superagent konnte man so was. Wirklich gut durchdacht, das Ganze.

Und jetzt sollte er also in dieses seltsame Internat gehen. Weil sein Vater es so wollte. Sein Vater, der verschwunden war. Plötzlich schlich sich ein neuer Gedanke in seinen Kopf und der war so aufregend, dass er es fast nicht wagte, ihn zu Ende zu denken: Vielleicht war es ja Sinn des Spiels, dass er nach seinem Vater suchte und ihn befreite?

Er dachte an seine Pflegeeltern, Peter und Elisabeth. Ob sie eingeweiht waren? Natürlich waren sie das, beantwortete er sich die Frage selbst. Wenn er sich nicht täuschte, würde diese Sache über mehrere Tage gehen, so wie der jährliche Abenteuerurlaub mit seinem Vater sonst auch. Ja, sie waren eingeweiht.

Dominik war schon sein ganzes Leben lang bei ihnen und sie hatten ihm ein Zuhause voller Geborgenheit und Zuneigung gegeben. Sein Vater hatte die beiden gleich nach Dominiks Geburt als Pflegeeltern für ihn ausgesucht. Kurz nachdem seine Mama …