Spyderling - Sascha Macht - E-Book

Spyderling E-Book

Sascha Macht

0,0
19,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Daytona Sepulveda ist Entwicklerin von Brettspielen und einigermaßen erfolgreich in ihrem Metier. In Fachkreisen wird sie ehrfürchtig »Die Verschwundene« genannt; ein Beiname, der auf tatsächlichen Ereignissen basiert: Daytona war wirklich eine Zeit lang verschollen und hat Schlimmes erlebt. Nun ist sie, genau wie sieben weitere Brettspielentwickler aus aller Welt, auf ein Weingut in der Republik Moldau eingeladen – von Spyderling, dem Guru der Spieleautoren, den allerdings noch nie jemand zu Gesicht bekommen hat. Die Tage vergehen, und die kreativen Geister sind derweil auf sich allein gestellt, denn Spyderling lässt sich einfach nicht blicken – man schmaust, säuft, liegt am Pool herum, fällt übereinander her. Doch als ein furchterregendes Brettspiel namens Maunstein auftaucht, beginnt die Wirklichkeit auf dem Weingut durchlässig zu werden: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschieben sich ineinander, wundersame Grausamkeiten geschehen, eine extremistische Rockband macht sich auf dem Anwesen breit – und plötzlich geht es für Daytona um alles. Was genau reizt Menschen daran, sich um ein Brett zu versammeln, nach besonderen Regeln zu interagieren und miteinander im Spiel neue Welten zu erschaffen? Auf einzigartige Weise entfesselt Sascha Macht diese Frage in seinem neuen Roman und er-zeugt eine faszinierende Verbindung zwischen den Kunstformen der Literatur und des Spiels. Voller Fantasie und klug komponiert jagt ›Spyderling‹ seine Heldinnen und Helden auf eine Tour de Force der Selbst- und Welterkenntnis durch den wildesten Teil Osteuropas. Ein sensationell erhellendes Buch – und ein grandios witziger Abgesang auf die Egozentrik der westlichen Zivilisation, die alles weiß und alles nimmt, unnachgiebig, rücksichtslos.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 708

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Daytona Sepulveda ist Entwicklerin von Brettspielen und einigermaßen erfolgreich in ihrem Metier. In Fachkreisen wird sie ehrfürchtig »Die Verschwundene« genannt; ein Beiname, der auf tatsächlichen Ereignissen basiert: Daytona war wirklich eine Zeit lang verschollen und hat Schlimmes erlebt. Nun ist sie, genau wie sieben weitere Brettspielentwickler aus aller Welt, auf ein Weingut in der Republik Moldau eingeladen – von Spyderling, dem Guru der Spieleautoren, den allerdings noch nie jemand zu Gesicht bekommen hat. Die Tage vergehen, und die kreativen Geister sind derweil auf sich allein gestellt, denn Spyderling lässt sich einfach nicht blicken – man schmaust, säuft, liegt am Pool herum, fällt übereinander her. Doch als ein furchterregendes Brettspiel namens Maunstein auftaucht, beginnt die Wirklichkeit auf dem Weingut durchlässig zu werden: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschieben sich ineinander, wundersame Grausamkeiten geschehen, eine extremistische Rockband macht sich auf dem Anwesen breit – und plötzlich geht es für Daytona um alles.

Was genau reizt Menschen daran, sich um ein Brett zu versammeln, nach besonderen Regeln zu interagieren und miteinander im Spiel neue Welten zu erschaffen? Auf einzigartige Weise entfesselt Sascha Macht diese Frage in seinem neuen Roman und erzeugt eine faszinierende Verbindung zwischen den Kunstformen der Literatur und des Spiels. Voller Fantasie und klug komponiert jagt ›Spyderling‹ seine Heldinnen und Helden auf eine Tour de Force der Selbst- und Welterkenntnis durch den wildesten Teil Osteuropas. Ein sensationell erhellendes Buch – und ein grandios witziger Abgesang auf die Egozentrik der westlichen Zivilisation, die alles weiß und alles nimmt, unnachgiebig, rücksichtslos.

© Ronny Aviram

SASCHA MACHT, 1986 in Frankfurt (Oder) geboren, studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Er veröffentlichte in diversen Anthologien und Literaturzeitschriften und war u.a. Stipendiat des Deutschen Literaturfonds, der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen und des Literarischen Colloquiums Berlin. Für seinen Roman ›Der Krieg im Garten des Königs der Toten‹ (DuMont 2016) wurde Sascha Macht mit dem Debütpreis der lit.Cologne ausgezeichnet. Ebenfalls 2016 wurde er zum Wettbewerb um den Ingeborg-Bachmann-Preis eingeladen. 2018/2019 war er Burgschreiber zu Beeskow. Sascha Macht lebt in Leipzig.

SASCHA MACHT

SPYDERLING

ROMAN

Von Sascha Macht ist bei DuMont außerdem erschienen:

Der Krieg im Garten des Königs der Toten

Der Autor dankt sehr herzlich dem Deutschen Literaturfonds e.V., der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen und dem Literarischen Colloquium Berlin für die Unterstützung des vorliegenden Buches.

eBook 2022

© 2022 DuMont Buchverlag, Köln

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung und -illustration: Nurten Zeren, www.zerendesign.com

Satz: Fagott, Ffm

eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

ISBN eBook 978-3-8321-8232-8

www.dumont-buchverlag.de

Nimic nu este mai important decât cunoașterea existenţei acestei dimensiuni a iadului.

Nichts ist bedeutsamer als das Wissen um die Existenz dieser Höllendimension.

THUNDERDOME

Von meinem Fenster aus sah ich den Garten in Flammen stehen. Ich hörte mich atmen, griff nach meinen Würfeln auf dem Nachttisch und lief aus dem Zimmer, den finsteren Flur entlang und die Treppen hinunter. Im Foyer, neben dem Telefonapparat an der Wand, stand Ioana, ein blaues Taschentuch in den Händen; dort, wo ihre Augen sein sollten, steckten zwei Klumpen aus ineinander verschlungenen weißen Würmern. Ihr gegenüber, im Durchgang zum Speisezimmer, hielt sich Leon am Türrahmen fest, den Mund weit aufgerissen, regungslos; sein rechtes Bein war von ihm weggeknickt, der Fuß zeigte in den Raum hinter ihm. Das alles habe ich gesehen, im Vorbeilaufen, die Hand in der Hosentasche, wo die Würfel waren, die aneinanderschlugen mit jedem meiner Schritte, weich aneinanderschlugen in meiner Hand, und ich nahm all meinen restlichen Mut zusammen, öffnete die Terrassentür und trat in die Nacht, in den brennenden Garten hinaus.

In der Mitte des Raumes steht ein Tisch. Drei Menschen sitzen schweigend auf Stühlen drum herum. Auf dem Tisch liegt ein Brett aus bemalter Pappe. Mehr braucht es nicht: die Menschen, den Tisch, das Brett. Draußen lauert der Feind, drinnen fallen die Würfel. Wir leben im Zeitalter des Spiels.

Das Weingut erreichte man nur über eine ungepflasterte Straße, die zwischen Walnussbäumen hindurchführt. Auf diese Straße kam man nur über eine andere Straße, die Orte wie Orhei, Peresecina oder Măgdăceşti mit Chişinău verbindet, der Hauptstadt der Republik Moldau. Die Hauptstadt erreichte man beispielsweise mit dem Flugzeug, das, von Berlin kommend, eine Zwischenlandung in Kiew machte, einem Flugzeug, das stundenlang über die zerklüfteten Weiten der Ukraine schnellte. Nach Berlin fuhr ein Reisebus aus München mit nächtlichem Zwischenstopp in Leipzig, wo ein schneller Zug aus Frankfurt am Main hielt, der während eines der seltenen deutschen Hochwasser geflutete Landschaften durchquerte. Von Frankfurt aus nach Dallas, Texas, in den Vereinigten Staaten von Amerika ging es wiederum nur mit dem Flugzeug, dann ein letzter Umstieg in Fort Worth, und nach zweieinhalb Stunden war man in Cheyenne, Wyoming, gelandet, wo sich am Himmel über den Ebenen die Wolken zu grauen Ungeheuern türmten. Hier begann ich meine Reise, aber wo bin ich jetzt? Es gibt keine Entfernungen mehr. Ich befinde mich noch immer an allen Orten gleichzeitig, die ich besuchte. Da ist der Himmel, da ist der Bahnhof, da ist die Leere, da sind die Walnussbäume.

Ein Brettspiel ist, auf den ersten Blick, ein Gegenstand, dessen Funktionsweise nicht selbsterklärend ist. Einen Film oder eine Musik muss jemand abspielen, damit etwas zu sehen oder zu hören ist. Wenn niemand ein Brettspiel spielt, dann bleibt es ein unbekanntes, totes Ding. Wie ein Buch, das nicht gelesen wird, oder ein Bild, das niemand betrachtet. Brettspiel, Buch und Bild benötigen zwingend die Interaktion, um stattfinden zu können. Der Film läuft, auch wenn ihn niemand sieht; die Musik spielt, auch wenn sie niemand hört. Das Brettspiel verlangt unsere gesamte Aufmerksamkeit. Wenn wir uns nicht damit beschäftigen, existiert es nur als Ansammlung von Pappe, Holz und Plastik, in bunten Farben bemalt. Ein Brettspiel zu entwickeln (ein Buch zu schreiben, ein Bild zu malen, ein Auto zu waschen, einen Mord zu begehen) bedeutet, das Chaos der Wirklichkeit zu bändigen und handhabbar zu machen. Beim Spielen gehen die Menschen einzeln mit diesem konzentrierten Chaos um, beobachten andere dabei und teilen schließlich ihre während des Spielens gemachten Erfahrungen miteinander.

Als ich fünfzehn Jahre alt war, saß ich unter den Wolken am Himmel über Wyoming und dachte mir Ideen für Brettspiele aus. Heute bin ich achtundzwanzig und stehe vor der Frage, was eigentlich Qualität bedeutet. Ich spreche meinen Namen aus, so wie es mein Vater tat: die erste Silbe betont, den Rest schnell hinterher. Daytona. Mein Name ist ein Ort, an dem Auto- und Motorradrennen stattfinden, nicht weit von einem traumhaften Atlantikstrand entfernt, ein Superspeedway, auf dem über dreißig Rennfahrer in den Tod gerast sind: Marshall Teague, Bernie Taylor, Joe »Rusty« Bradley, Friday Hassler, Charles Ogle, Neil Bonnett, Dale Earnhardt, Roy H. Weaver III. … Ich denke: Das Brettspiel macht uns die permanente Gegenwart des Lebens bewusst, ohne uns die Unendlichkeit des Todes vorzuenthalten. Sollte da wirklich was dran sein, dann glaube ich, dass ich es liebe zu spielen.

Das Herrenhaus des Weingutes war ein fahlgelber Brocken aus Sichtbeton. Als ich es zum ersten Mal sah, von der Allee mit den Walnussbäumen aus, an einem sonnigen Nachmittag, da war mein erster Gedanke, das Gebäude habe sich, bei seinem Sturz aus den Tiefen des Alls, noch im Inneren eines Asteroiden befunden, der beim Aufprall auseinanderbrach, erbarmungslos in einen der vielen Hügel gerammt, zwischen die Bäume, zwischen das Gras. Die außerirdische Strahlung des Gesteins brachte fleischige Pflanzen mit farblosen Blüten zum Wachsen, ließ die Tiere der Umgebung missgestalteten Nachwuchs zur Welt bringen und zerfraß im Laufe der Jahre den Untergrund zu Schächten, Gängen und Höhlen, aus denen in der Nacht ein dumpfes sich wiederholendes Geräusch ans Ohr des Schlaflosen drang. Großer Quatsch, meinte Leon zu mir, als ich ihm auf unserem Rundgang von meinem ersten Eindruck erzählte: Spyderling habe das Weingut vor fünfzehn Jahren zu einem Spottpreis von einem kommunistischen Baulöwen, Schlagersänger und Feinschmecker namens Antonin Brin gekauft, der es sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion als Landsitz errichtet hatte und längst außer Landes geflohen war. Das Dach bestand aus drei riesigen, wahllos zueinander positionierten Haifischflossen, auf deren porösem Gestein Staub und Regen schwarze Schlieren hinterlassen hatten. Als ich zum ersten Mal die Außenwände mit ihren abgeschrägten Flächen, zwecklosen Ausbuchtungen und willkürlich platziert wirkenden Winkeln, Nischen und Durchlässen betrachtet hatte, war mir sofort ein wenig schwindlig geworden. Die zahlreichen Fenster waren nicht mehr als dunkle Schießscharten, einige mit rostigen Metallblenden versehen, um die sich die vertrockneten Sprosse von Schlingpflanzen gewickelt hatten.

»Das Haus ist grottenhässlich, aber es lebt«, sagte Ioana einmal zu mir.

Drinnen waren die verschiedenen, mit Holzpaneelen verkleideten Räume durch enge, finstere Flure miteinander verbunden. Ein zentraler Treppenaufgang führte vom Eingangsbereich mit der Küche, dem Speisezimmer, dem Rauchsalon und dem Büro für die Verwaltung des Weingutes nach oben. Die erste Etage bestand aus den Gästeräumen, der Hunderte Brettspiele umfassenden Ludothek und dem Kaminzimmer samt Balkon, der, über der rückwärtigen Frühstücksterrasse und dem Pool gelegen, einen Blick in den Garten hinaus bot. Die einzige Treppe, über die man in das oberste Geschoss und damit in den Privatbereich von Spyderling gelangen konnte, lag hinter einer verschlossenen Tür am Ende des Flurs. Im Waschkeller unter der Küche befand sich der Zugang zum unterirdischen Höhlensystem, wo der Ertrag der Weinberge reifte. Wer wollte, konnte durch die Dunkelheit mit einem elektrischen Golfmobil zu den in den Fels gesprengten Probierräumen fahren, die dem Kommandostand eines Atom-U-Bootes, der Sixtinischen Kapelle, der postapokalyptischen Gladiatoren-Arena »Thunderdome« aus dem Film Mad Max 3 oder dem Büro des Generalsekretärs der KPdSU nachempfunden waren.

In meinem Zimmer standen ein Bett, ein Schreibtisch, ein Stuhl und ein Schrank. Es gab ein winziges Bad mit Dusche und WC, aber kein Telefon. Auf dem Fensterbrett hatte jemand den verstaubten Helm eines Samurais platziert. Solche sonderbaren dekorativen Details ließen sich überall im Haus finden, wenn auch nicht gleich beim ersten Hinsehen: das Gemälde einer Schlachtung von Menschen und Tieren in toskanischer Landschaft im Flur des ersten Obergeschosses, ein altes Steinschlossgewehr im Schirmständer nahe des Windfangs, ein blühender Ast mit drei ausgestopften Neuntötern auf dem Kühlschrank in der Küche, das Modell eines Wehrmachtpanzers als Stopper der Tür zum Verwaltungsbüro, das Bild eines lachenden Kindes ohne Augen auf dem Kaminsims, ein geschwärzter Menschenschädel in einer Vitrine im Rauchsalon.

Es gibt ein Brettspiel, in dem alle Mitspieler die Rollen von wuchernden Sträuchern in einem Stadtpark einnehmen müssen. Ich glaube, ich mag es nicht, wenn Spiele mir etwas vormachen wollen, was letzten Endes und in keiner Sekunde irgendetwas mit mir zu tun hat. Es gibt unzählige Brettspiele, die Produktions- und Warenkreisläufe im europäischen Mittelalter zum Thema haben. Solche Spiele sind nur etwas für die Sprösslinge von Professoren, Aufsichtsräten und CEOs von Unternehmen der Pharmaindustrie. Ein wirklich gutes Brettspiel versetzt dir einen Stich in deiner schwächsten Minute, zwingt dich für ein paar Stunden dazu, dich mit der unbekannten Finsternis um dich herum zu beschäftigen, lässt dich aufschreien vor Glück und, jawohl!, rührt dich zu Tränen. Es erzählt dir etwas über dich, während du es spielst. Und dann musst du auch gar nicht traurig sein, wenn du verloren hast. Gewinnen zu wollen ist etwas für Arschlöcher, Leistungssportler und Leute, die gerne Kinder anschreien.

Ronny Neugebauer hatte eine Einladung erhalten. Johanna van Tavantar hatte eine Einladung erhalten. Arno Picardo hatte eine Einladung erhalten. Der vierzehn Jahre alte Campbell Campbell hatte eine Einladung erhalten. Elke von Manteuffel hatte eine Einladung erhalten. Selbst Clark Nygård hatte eine Einladung erhalten, der Idiot. King Trakto Sherpa hatte eine Einladung erhalten. Daytona Sepulveda hatte eine Einladung erhalten. Darin stand nur ein einzelnes Wort: »Konsultation«. Darunter die Adresse des Weingutes, irgendwo im Herzen der fernen Republik Moldau. Wenige Tage später erreichte mich das Flugticket per Post. Und nun waren wir alle hier. Manche von uns hielten sich für Künstler, andere für Naturwissenschaftler, jemand behauptete, Spiele nur des Geldes wegen zu entwickeln, ein anderer füllte seine Freizeit damit. So oder so: Wir schufen etwas aus dem Nichts. Und das bedeutete: Uns allen war schmerzlich bewusst, dass wir dem Tode geweiht sind.

Ich hatte davon gehört, dass Spyderling bestimmte Leute zu sich ruft, einmal im Jahr, hielt es aber für ein Gerücht. Niemals hätte ich es für möglich gehalten, einmal eine solche Einladung zu bekommen. Wie Spyderling aussah – niemand wusste es. Spyderlings wirklicher Name – niemand kannte ihn. Spyderlings Spiele sind fanatische Großprojekte, komplex und unerbittlich. Und sie richten sich stets an nur einen einzelnen Spieler. Keine Kooperation mit zögernden Feiglingen am Tisch, kein Wettlauf um Siegpunkte mit irgendwelchen Trotteln, die glauben, sich mit taktischer Vorausplanung oder purem Würfelglück über andere erheben zu können. Nur du und das Spiel – und das Spiel gegen dich. Unter meinen Kolleginnen und Kollegen hieß es, Spyderling sei in den letzten Jahren noch radikaler geworden. Ich liebe Spyderlings Arbeiten. Es graut mir so davor. Als ich zum ersten Mal Tal des Terrors spielte, da war das wie ein schneller, unerwarteter Streich mit einem glühenden Florett, der meinen Körper in zwei Hälften teilte. Bei Der Fleischplanet gewann ich von siebenundvierzig Partien eine einzige. An Politische Polizei, das neuste Werk, hatte ich mich bisher noch nicht herangetraut. Spyderlings Nähe zu spüren bedeutet für mich, mit bloßer Hand in eine Laserstrahlschneidmaschine zu greifen, ohne Geigerzähler in die Ruine eines Atomkraftwerks zu gehen oder mit einem entsicherten Revolver unter dem Kopfkissen zu schlafen. Seit Tagen warteten wir auf dem Weingut auf Spyderlings Ankunft. Ioana und Leon vertrösteten uns, immer wieder. Wann würde Spyderling zu uns stoßen? Und was würde dann mit uns geschehen?

Die zweidimensionale Fläche des Spielbretts wird in der Vorstellungskraft der Spielenden zum dreidimensionalen Raum. Indem sich jeder Spieler auf diese Weise mit dem Spiel verbindet, wird er unwiderruflich Teil des Spiels. Die grundlegende Fähigkeit des Menschen, sich mit etwas einverstanden zu erklären, wird zur Voraussetzung dafür, einen neuen Aspekt des Lebens erfahren zu dürfen. Das Spiel verändert und erweitert die Welt – in uns und um uns herum. Vielleicht ist es das, was wir uns seit Tagen gegenseitig sagen wollten, ohne bisher die Worte dafür gefunden zu haben.

Von meinem Fenster aus sah ich den Garten in Flammen stehen. Der brennende Körper von Arno saß im Sonnenstuhl, der brennende Körper von Johanna lehnte an der Pergola, der brennende Körper von Campbell lag auf der Wiese. Wir alle wollten nur spielen. Spyderling wollte, dass wir verstehen lernen. Erst im Spiel begreifen wir die Welt. Da ist die offen stehende Tür meines Zimmers, da ist der finstere Flur, da ist Daytona Sepulveda. Ich höre mich atmen, das Spiel beginnt.

AUTOMATEN DER TRAURIGKEIT

Am späten Abend, eine Stunde nach meiner Ankunft auf Spyderlings Weingut, begab ich mich auf der Suche nach etwas zu essen und einer Flasche Bier in die Küche des Herrenhauses. Während unserer Tour durch das Haus hatte Leon mir erklärt, dass Ioana ein kaltes Büfett für uns Gäste vorbereitet und in den Kühlschrank gestellt hatte. Es gab Brot mit Streichwurst und Konservenfisch. Neben dem Herd stand ein Kasten mit Bier aus Chişinău. Wer Wein wollte, durfte sich am Regal bedienen.

Ich holte einen Teller aus dem Schrank und Besteck aus der Schublade, schmierte mir ein Brot mit Butter und Salz, griff nach einer Bierflasche und ging langsam durch den stillen Flur und das Speisezimmer zum Rauchsalon, wo eine Flügeltür hinaus zur Terrasse und zum Pool führte. Dort saß, an einem eisernen Tisch und unter einem Sonnenschirm, Ronny Neugebauer und tippte auf seinem Handy herum. Leon hatte Öllaternen entzündet und auf der Balustrade der Terrasse verteilt. Dahinter bewegten sich die Büsche in der Dunkelheit.

»Hallo«, sagte ich.

Ronny schaute auf.

»Na?«, sagte er.

Ich ging ein paar Schritte auf ihn zu, Brot und Bier in den Händen, und überlegte, ob ich mich auf den freien Stuhl an seinem Tisch setzen sollte.

»Du bist Ronny, oder?«, sagte ich und blieb stehen.

Er nickte.

»Und wer bist du?«, fragte er.

Ich setzte mich wieder in Bewegung, stellte mein Bier auf seinem Tisch ab und streckte ihm die Hand entgegen.

»Daytona. Ist ganz schön hier.«

Ronny legte sein Handy zur Seite, beugte sich über die Tischplatte und schüttelte meine Hand.

»Warst du schon mal hier?«, fragte er.

»Nein. Du?«

»Nee.«

»Du bist der mit dem Käse-Spiel, richtig? Ich habe von dir im Internet gelesen.«

»Und du bist … Nein, dich kenne ich nicht.«

»Kein Problem«, sagte ich.

»Setz dich doch«, sagte Ronny und deutete auf den freien Stuhl.

Ich nahm Platz und trank einen Schluck aus meiner Flasche. Mein Abendessen hielt ich unterhalb der Tischplatte versteckt; in diesem Augenblick war mir überhaupt nicht danach, herzhaft in das Brot zu beißen.

»Ja, ja, das Käse-Spiel«, seufzte Ronny. »Ich hätte den Leuten im Internet nichts davon erzählen sollen.«

»Warum?«, fragte ich. »Ist doch eine ganz coole Idee.«

»Auf jeden Fall. Aber manchmal frage ich mich schon, was dieser ganze Quatsch eigentlich soll.«

Ich versuchte mich daran zu erinnern, was ich noch über sein Spiel wusste. Der, zugegebenermaßen, ziemlich bekloppte Titel lautete Was für ein Käse?!. Es ging um die Herstellung und den Verkauf von – na was wohl? – Käse natürlich!, Käse in vielen Formen und Farben, also ein klassisches Wirtschaftsspiel. Doch dann, bei Einbruch der Dunkelheit, müssen sich die tags als Käsereibetreiber agierenden Spielerinnen und Spieler zusammentun und, je nach gewähltem Szenario, alles daransetzen, aus dem Nichts angreifende Heerscharen von außerirdischen Invasoren, untoten Hedgefonds-Managern oder laktoseintoleranten Ninjas zurückzuschlagen.

»Und ihre einzige Waffe«, sagte ich, »ist ihr ganzer blöder Käse. Und wer zu wenig davon produziert oder zu viel verkauft hat, den überrollen die Toten in der Nacht. Ist doch geil. Und es gibt ein doppeltes Spielbrett, oder? Das ist gar nicht schlecht.«

Ronny lächelte bemüht.

»Stimmt ja«, sagte er. »Die Piratenschiffkanone, geladen mit Kugeln aus Appenzeller Rotschmierkäse, ist mein Liebling. Aber gerade das Spielbrett kostet mich den letzten Nerv. Wie zum Teufel soll man so was umsetzen, damit es wirklich ordentlich funktioniert? Es ist das blanke Grauen.«

»Lass dir was einfallen«, sagte ich.

Ronny Neugebauer also. Der Typ mit dem Käse-Spiel. Ich kannte eines seiner frühesten Werke recht gut: Die unglaublichen Fareccis. Ein Spiel im Zirkusmilieu, bei dem die Spielerinnen und Spieler die Rollen von rivalisierenden und streng genommen ziemlich wahnsinnigen Mitgliedern der berühmten Artistenfamilie Farecci übernehmen und waghalsige Nummern auf dem Hochseil oder am Trapez vollführen, Feuer spucken, über Tiger hüpfen, mit Messern um sich schmeißen. Sieger ist, wer seinen Geschwistern als ultimativer Star des Zirkus den Rang abläuft. Alles in allem ziemlich grober Unfug, klar, aber ich mochte daran, wie grausam man seinen Gegenspielern in die Parade fahren konnte: »Unfälle« mit gerissenen Sicherungsseilen, falsch geworfenen Messern oder ausgehungerten Tigern passieren nun mal beim Artistentraining oder während der Vorstellung vor ausverkauften Rängen.

»Ist schon verrückt, hier zu sein«, sagte Ronny nach einer Weile, in der jeder für sich irgendwohin geblickt hatte, ich in die Finsternis des Gartens hinaus, er sonst wohin.

»Kennst du Spyderling?«, fragte er. »Ich meine, persönlich.«

»Nein.«

»Ich auch nicht. Mann oder Frau?«

»Wer?«

»Na, Spyderling!«

»Keine Ahnung. Ist mir aber auch eigentlich egal.«

»Der ist ein Typ. Auf jeden Fall.«

»Natürlich«, seufzte ich. »Was sonst.«

»Na ja, wie auch immer. Ziemlich nett von ihm, dass er uns zu sich einlädt. Und dass wir echt alles gezahlt bekommen: Flüge, Essen, Unterkunft, Honorar. Der muss doch nicht ganz dicht sein.«

»Entschuldigung«, sagte ich, »was heißt das: nicht ganz dicht?«

Mein Deutsch war gut, aber manchmal hakte es noch.

»Na bekloppt halt«, antwortete Ronny, »nicht ganz sauber, irre, plemplem.«

»Plemplem?«

»Total.«

»Aha«, sagte ich. »Ich finde Spyderling gar nicht so plemplem. Eher außergewöhnlich. Ja, das trifft es vielleicht ganz gut.«

»Er ist verrückt«, sagte Ronny. »Keine Fotos im Netz, keine Infos über sein Privatleben. Lebt hier in diesem kleinen verschissenen Land auf seinem Weingut und entwickelt Spiele, die einfach nur böse sind. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.«

»Diese Spiele«, sagte ich, »haben etwas Besonderes an sich.«

»Ach ja? Was denn?«

»Sie erinnern uns daran, dass wir alle sterben müssen.«

»Na schönen Dank auch!«, rief Ronny und schlug sich auf sein Schenkelchen. »Sag mal, kann ich einen Schluck von deinem Bier haben?«

»Nein«, sagte ich.

»Hast du mal Tal des Terrors gespielt?«

Ich nickte.

»Der Typ hat sie doch nicht mehr alle«, fuhr Ronny fort, ohne mich anzusehen. »Welcher Idiot macht ein Spiel, bei dem man seine eigene Spielfigur umbringen muss, um zu gewinnen?«

»Gewinnen ist was für Idioten«, sagte ich.

»Und das Thema von Der Fleischplanet«, stöhnte er auf. »Ich fand das alles einfach so widerlich.«

»Ich auch. Na und?«

Jetzt sah mich Ronny wieder an, lange. Diese kleinen Augen da hinter seiner runden Brille …

»Ich verstehe«, sagte er. »Du bist ein Fan.«

»Ja«, sagte ich. »Warum denn nicht? Spyderling hat begriffen, worum es geht: Der Tod ist im Spiel verborgen. Der Schmerz auch, die Traurigkeit auch, das Verbrechen auch und die letzte Hoffnung sowieso. Wer gewinnt, gewinnt auf Kosten anderer. Wer verliert, ist selbst daran schuld. Wenn ich beim Spielen auch nur für eine Sekunde an all das erinnert werde, dann spiele ich ein gutes Spiel. Welches Spiel konfrontiert mich heute schon damit? Keines – außer diese beschissenen Spiele von Spyderling.«

Ronny schnaufte.

»Das ist doch alles zynischer Mist«, sagte er schließlich. »Entschuldige bitte, Daytona, aber ich finde das nicht gut.«

»Ich auch nicht«, sagte ich. »Aber darum geht es überhaupt nicht.«

»Worum denn dann?«, schrie er jetzt fast.

Mein Gott, dachte ich da, so schwer ist das doch alles nicht zu verstehen, du Wurst.

»Ich glaube«, sagte ich und fing jetzt doch an, mein Brot zu essen, mit winzigen Bissen und großem Genuss, »wenn wir spielen, dann durchleben wir einen Prozess: Wir denken, wir planen, wir handeln und empfinden eine Menge Freude dabei. Das finde ich total in Ordnung. Warum? Weil wir in der kurzen Zeit des Spielens so viele Dinge auf einmal erleben: Wir sind froh, etwas vom Spiel zu erhalten, mit dem wir das Spiel weiterspielen können; wir sind traurig, wenn uns der Gegner etwas wegschnappt, was wir zum Weiterspielen brauchen. Darin zeigt sich doch schon ziemlich deutlich das Elend unserer Existenz: Wir wollen unbedingt etwas besitzen, um etwas anderes, Größeres, Neues damit anzustellen. Die Frage aber besteht darin: Wieso wollen wir das überhaupt – und von welcher Qualität ist unser Tun? Dass wir uns auch nur annähernd mit solchen Fragen beschäftigen – nicht mehr und nicht weniger sollte selbst so etwas Bescheuertes wie ein Brettspiel uns ermöglichen.«

Ronny blickte mich ausdruckslos an. Diese Augen … hinter dieser Brille …

»Wenn du meinst«, sagte er schließlich, streckte die Beine unter dem Tisch aus, die meine Füße berührten, und fuhr sich mit der Hand durchs Haar.

»Ich glaube, ich drehe noch eine Runde durch den Garten«, sagte ich und stand auf.

»Hast du Lust, noch mit auf mein Zimmer zu kommen?«, fragte Ronny.

»Nein«, sagte ich.

»Okay«, sagte Ronny.

So viele Brettspiele handeln vom Krieg. Das kann doch einfach kein Zufall sein. Irgendwo in der Dunkelheit vor mir sang ein Ziegenmelker sein Lied.

Damals wusste ich noch nicht, dass der Garten recht abschüssig war. Dass er, bei Tag betrachtet, vielleicht sogar als zerklüftet zu bezeichnen ist. Nun, in dieser Nacht, als ich ihn zum ersten Mal betrat, spürte ich lediglich unter meinen Füßen, wie die Rasenfläche mich schon nach wenigen Schritten sanft in eine Tiefe hinabführte. Ringsumher waren dichte Büsche gepflanzt worden, ein paar alte Bäume, dazwischen auch wilder Wein an einem Spalier. Die Luft war kühl und trocken, am Himmel zeigte sich ein Stern. Hier hatte es seit Wochen nicht geregnet. Ich hielt die Bierflasche an ihrem Hals, zwischen Daumen, Zeige- und Mittelfinger. Beim Gehen schlug sie mir manchmal gegen den Oberschenkel, aber das war okay. Im Gebüsch raschelte etwas, natürlich, in Gebüschen raschelt immer etwas, sei es der Wind oder ein Igel oder ein ruheloser Leichnam kurz vor seinem Herausbrechen aus der ungeweihten Erde. Ich weiß ganz genau: Meine Gedanken entstehen nicht von selbst, denn mein Verstand verbindet sich mit dem Ort, an dem ich mich gerade aufhalte, und nutzt dessen offensichtliche Merkwürdigkeiten für Sprünge, Erfindungen, Ideen, allesamt aus Faszination und Furcht geboren. Spyderlings Garten war in der ersten Nacht ein Ort der Angst, war ab dem Morgen danach ein Ort intimer Konfrontation, war in unseren letzten Tagen hier ein zerfallender Ort. Jetzt, in der Finsternis, war mir nicht vollkommen bewusst, wie uneben, scharfkantig und unwegsam er wirklich war – aber ich ahnte es bereits. Statuen gab es hier auch, die dunklen Körper zwischen die Hecken gedrückt, unförmige Installationen, Vogeltränken, Pavillons und Bänke aus ruiniertem Stein zum nachdenklichen Verweilen, Masturbieren oder Intrigieren wie in einem dieser Lustgärten von gelangweilten preußischen Prinzessinnen. Langweilig war mir jetzt auch, und Lust hatte ich sowieso. Also sah ich mich nach Ronny Neugebauer um, der bestimmt noch auf der Terrasse hockte, deren Öllaternenlichter in der Ferne zwischen irgendwelchen Blättern blinkten. Dann setzte ich mich auf eine Bank, stellte die Bierflasche neben mir ab, zog mir mein Motörhead-T-Shirt ein Stück über den Bauch und schob meine Hand unter den Bund meiner kurzen Hose, die Fingerspitzen tastend nach den Haaren dort. Wozu sollte so ein wunderschöner, finsterer Garten sonst gut sein? Kinder spielen irre gern Verstecken, erwachsene Menschen suchen ständig und zwanghaft nach Schutz. Hier fühlte ich mich sicher und unbeobachtet, doch wirklich nur für einen Moment, denn als ich einmal nach links blickte, sah ich jemanden zwischen den Büschen stehen, fünf Schritte oder so von mir entfernt, die zerzauste Frisur scharf ausgeschnitten vom Lichtschein auf der Terrasse, das Gesicht in Dunkelheit gehüllt. Es war nicht Ronny Neugebauer, der ja einen ganz ordentlichen Fassonschnitt trug. Langsam zog ich die Hand aus der Hose, wobei ich versuchte, sie wenigstens ganz kurz am Stoff trocken zu wischen, und streifte mein T-Shirt wieder zurück.

»Gott«, brachte ich leise heraus, »hast du mich erschreckt.«

Die Gestalt machte zwei Schritte auf mich zu, murmelte etwas im Vorübergehen und stolperte tiefer in den Garten hinein, mit schwerem, ungelenkem Gang, als wäre sie ein Kleinkind, das über Nacht erwachsen geworden war.

»Hey«, rief ich ihr nach, »verlauf dich nicht!«

»Da sind doch Lichter«, antwortete sie mir aus dem Unterholz. Englisch. Stimmbruch.

»Campbell?«, fragte ich.

»Campbell«, sagte Campbell.

Ich ließ ihn ziehen. Armer Junge. Nicht nur dass er, der vielleicht dreizehn oder vierzehn Jahre alt war, eine erwachsene Frau in einem nächtlichen Garten bei der Selbstbefriedigung überrascht hatte, nein: Sein Vorname war gleichzeitig auch sein Nachname. Ich fragte mich, was sich seine Eltern wohl dabei gedacht hatten. (Tage später würde Campbell mir erzählen, dass schon sein Vater, Großvater und so ziemlich alle Väter davor diese denkwürdige Namenskombination getragen hätten: Campbell Campbell. Sie alle entstammten einem äußerst fundamentalistischen Zweig des berühmten schottischen Clans Campbell und legten sehr viel Wert auf Herkunft, Tradition, Nachfolge und solchen Unfug. Alles klar so weit? Alles klar.) Und ich überlegte kurz, ob ich jetzt in diesem Land eine Straftat begangen hätte. Bestimmt keinen Kindesmissbrauch, aber sicherlich so etwas wie Erregung öffentlichen Ärgernisses. Ich wusste nichts von den gesetzlichen Bestimmungen der Republik Moldau. Vage erinnerte ich mich daran, dass die Länder im östlichen Europa ziemlich religiös waren. Na ja, wie auch immer. Campbell Campbell der Soundsovielte mit seinem komischen Namen würde schon nicht heulend zur nächsten Kirche oder Polizeizentrale rennen, um mich zu verpfeifen.

Ich blieb noch eine Weile auf der Bank sitzen, ohne mich anzufassen, und hing dem Gedanken nach, warum ich mich eigentlich so oft fremd fühlte in der Welt. Wenn ich nicht einschlafen konnte, stellte ich mir vor, allein an Bord eines kleinen Raumschiffes durch den unendlichen, eiskalten, radioaktiven Abgrund des Alls zu trudeln – dies beruhigte mich zwar immer ungemein, aber machte mich das schon zu einer Außerirdischen? Scham war kein Gefühl, das mich häufig überkam. Und mit den alltäglichen Problemen anderer und deren Moralvorstellungen konnte ich herzlich wenig anfangen. Fast fürchtete ich in diesem Moment auf der Bank in Spyderlings Garten, dass ich mich keinen Deut für meine Mitmenschen interessierte, aber das stimmte ja gar nicht. Vielleicht war es eher so, dass mir ihre persönlichen Sichtweisen (auf sich selbst, auf mich, auf andere) einfach nicht viel zu sagen hatten. Alles, was ich sehe und denke, gehört nur mir. Sich bewusst zu sein, die Dinge anders zu bewerten, als sie gemeinhin bewertet werden, befreit einen von der Last, irgendwann von den Menschen um einen herum und von ihren Ansichten, Körpern und Stimmen genervt zu sein.

Bald darauf kam Campbell auch schon wieder zurück, in etwa auf dem Weg, den er nach unserer Begegnung gegangen war, und trug etwas Schweres mit sich.

»Na, alles klar?«, fragte ich und betrachtete neugierig den großen, eiförmigen Stein, den der Junge wie ein furchtbar entstelltes Neugeborenes auf der Höhe seines Unterleibes mit beiden Händen umschlossen hielt.

»Für mein Spiel«, sagte er, »vielleicht. Mal schauen.«

Sofort musste ich mich revidieren: Natürlich zogen mich Menschen wie Campbell Campbell an. Ihr Denken, Fühlen und Verhalten waren eine Art Leuchtfeuer in einer grenzenlosen nächtlichen Steppe, an dem ich mich, längst verrückt gewordene Wanderin, orientieren konnte. Würde ich das Licht erreichen, wäre ich gerettet. Gemeinsam starb es sich leichter.

Ächzend setzte Campbell seinen Weg zurück zum Herrenhaus fort. Ich hörte ihn noch einige Sekunden lang zwischen den Pflanzen rumoren, dann war ich wieder allein. Bis auf die Kamera natürlich, die in einem der Bäume mir gegenüber hing und ihre schwarze Linse direkt auf mich gerichtet hatte. Wusste ich von vornherein, dass sie dort war, als ich mich auf die Bank gesetzt hatte? Ich weiß viele Dinge. Einiges davon habe ich mit eigenen Augen gesehen.

Nachdem ich am frühen Abend das kleine Zimmer im ersten Stock des Herrenhauses bezogen hatte, breitete ich sofort ein paar Bestandteile meines Spiels auf dem Schreibtisch in der Ecke aus. Nichts davon war in irgendeiner Weise final, weder das Material noch dessen Gestaltung, außer die vielen Würfel, nachtschwarz mit zarter Marmorierung und goldenen Augen. Ich hatte Franz Blessing, einen Freund und Künstler aus Leipzig, der sich von irgendwoher einen 3-D-Drucker beschafft hatte, gebeten, mir ein paar Untersätze zu bauen, winzige Harley-Davidsons aus dunklem Plastik, die an der Stelle der Sitzbank eine quadratische Vertiefung besaßen, worin die Würfel wunderbar eingepasst werden konnten. Nach meinem nächtlichen Ausflug in den Garten stand ich nun, beide Hände auf die Tischplatte gestützt, über meinem Material und begutachtete es im Stehlampenschein mit ebenjener gerade noch spürbaren Zuneigung, die ich imstande war aufzubringen für ein paar nichtsnutzige Gegenstände. Der Würfel mit der oben liegenden Sechs steckte schon auf seinem Motorrad: Er stellte den Präsidenten des Devil’s Dice Motorcycle Club dar; ihm zur Seite stand die Fünf, sein Vize; um beide herum gruppierten sich die Lieutenants des Clubs, alle mit oben liegender Vier: der Secretary, der Sergeant-at-Arms, der Road Captain und der Treasurer; die einfachen Clubmitglieder ohne Amt, Augenzahl drei, lagerten noch in der Schachtel, ebenso die Zweier, jene bunten Würfel der Spielerinnen und Spieler, die zu Partiebeginn den Rang von Prospects innehatten, Anwärterinnen und Anwärter auf eine Mitgliedschaft im Club; zuletzt gab es noch ein paar Einser, sogenannte Hangarounds, also Familienmitglieder, Freunde oder Sympathisanten des Clubs, denen von den Spielern bestimmte, einfache Aufgaben zugewiesen werden konnten. In der Mitte des Tisches lag das Spielbrett ausgebreitet, eine stilisierte, weit verzweigte Karte des Stadtgebietes von Cheyenne, Wyoming, und seinem Umland: Hier bewegten die Spieler ihre Würfel, etwa auf das Clubhaus in der Murray Road, die Kneipe Rollin’ Thunder, das Wyoming State Capitol, die Zentrale des Cheyenne Police Departement, den Cheyenne Regional Airport, die Opiumhöhle hinter der East High School, das Cheyenne Regional Medical Center, die Müllkippe an der Windmill Road, das Redaktionsgebäude des Wyoming Tribune Eagle, die Francis E. Warren Air Force Base oder die First Presbyterian Church. Das Spiel handelte von einer Zeit irgendwann in den 1960er-Jahren, in der sich ein anarchischer Haufen von motorradfahrenden Säufern und Raufbolden, von denen nicht wenige als blutjunge Soldaten in Europa, auf den pazifischen Inseln oder in Korea gekämpft hatten, zu einer kriminellen, militärisch strukturierten Organisation entwickelte – oder eben nicht. Je höher die Zahl des eigenen Würfels und damit auch der persönliche Rang in der Clubhierarchie stiegen, desto höher die Anzahl an Aktionen, die auf dem Brett durchgeführt werden konnten: So konnten die Spielerinnen und Spieler etwa versuchen, die Herrschaft des Clubs an sich zu reißen, indem sie den amtierenden Präsidenten in den Knast oder eben gleich um die Ecke brachten. Oder sie arbeiteten mit der Polizei, den Journalisten oder einem korrupten Lokalpolitiker zusammen, übergaben oder fälschten Beweise für die verbrecherischen Umtriebe der Biker und ließen das Clubhaus von Spezialeinheiten stürmen und alle Mitglieder festnehmen. Oder sie erwirtschafteten einfach die meiste Kohle, indem sie die legalen, halb legalen und illegalen Geschäfte des Clubs für ihre eigenen Zwecke nutzten. Oder sie machten von allem ein bisschen und ließen sich am Ende davon überraschen, was dabei herauskam. So oder so: Zum Spielziel gehörte, einen Haufen rassistischer und sexistischer Rowdys mit verrottenden Jeanswesten dabei zu begleiten, wie sie auf ihren frisierten Feuerstühlen die Ausfahrt Richtung Hölle nahmen.

Ich seufzte. Etwas an meinem Spiel war mir entschieden zu realistisch und gleichzeitig zu unrealistisch geraten. Komm schon, Daytona, ein Motorradclub – ist das wirklich dein Ernst? Und dann gleich mit Action-Elementen wie aus einem dieser müde zusammengezimmerten Hollywoodstreifen, in denen jemand sagt: ›Hey, Baby, ich liebe dich sehr, aber meine Freiheit liebe ich mehr, okay?‹ Würdest du so ein Spiel spielen wollen? Darüber musste ich nachdenken. Und ich musste mir mehr Klarheit darüber verschaffen, was ich eigentlich wollte. Und vielleicht musste ich, fuck!, meine Kolleginnen und Kollegen um Rat fragen. Ich liebte das Setting meines Spiels, die freien Gestaltungsmöglichkeiten der eigenen Spielweise, die mehr oder weniger versteckte und die mehr oder weniger offene Konfrontation aller Mitspieler. Die nuancierte Dynamik liebte ich an meinem Spiel, die komplexen Details, das Eintauchen in eine fremde, abgeschottete, zuweilen sogar bösartige Welt. Das alles wollte ich unbedingt beim Spielen erleben, das alles ging mich beim Spielen unbedingt an. Die Geschichte über die Entstehung und Entwicklung der US-amerikanischen Outlaw Motorcycle Clubs erzählt von einem eklatanten Widerspruch, nämlich dass es Menschen gibt, die sich aus einem immensen Drang nach innerer und äußerer Autonomie der Gesetzlosigkeit verschrieben haben, um sich gleichzeitig einer streng hierarchischen Gesellschaft innerhalb ihres Clubs zu unterwerfen. Mein Spiel sollte auch davon erzählen, wie mit dieser Hierarchie umgegangen werden konnte: Bestätigte man sie bloß und führte sie damit fort, schlug man aus ihr Profit, erschütterte man sie in ihren Grundfesten, sprengte man sie in die Luft? Beim Spielen geht es mir darum, die Freiheit zu haben, zu tun und zu lassen, was immer ich will. Okay, also alles halb so wild – mir war ja doch bewusst, was ich an meiner Spielidee hatte. Manchmal musste ich es mir eben nur wieder und wieder und wieder ins Gedächtnis rufen.

Die erste Nacht auf Spyderlings Weingut verlief, im Vergleich zu anderen Nächten, die ich schon erlebt hatte, unspektakulär. Auf meinem Rückweg zum Herrenhaus überkam mich der Gedanke, den leblosen Körper Ronny Neugebauers bäuchlings im Pool schwimmend vorzufinden, der Kopf malträtiert von einem großen, schweren Stein aus dem hinteren Teil des Gartens. Gott weiß, warum ich das dachte. Aber es befand sich niemand mehr auf der Terrasse, das Licht im Rauchsalon war gelöscht, alles still. Später, im Traum, kam ich mir einsam vor, eingesperrt in einer leeren, strahlend weißen Weite. Am Morgen erwachte ich davon, dass jemand an meine Tür klopfte. Ich öffnete aber nicht.

Es ging bereits auf zehn zu, als ich aufstand. Auf dem Klo sitzend lauschte ich auf Geräusche vor meinem Zimmer, aber es war nichts zu hören. Mein Fenster befand sich auf der Gartenseite; ich hatte es über Nacht offen stehen lassen und war froh, dass auch jetzt noch ein kühler Luftzug ins Zimmer wehte, den ich sogar im Bad, an meinen nackten Füßen, spüren konnte.

Nachdem ich mich angezogen hatte, öffnete ich die Tür und trat auf den Flur. Im selben Augenblick kam am anderen Ende des Ganges Ronny Neugebauer aus seinem Zimmer, sah zu mir und hob die Hand.

»Guten Morgen«, sagte ich.

Er nickte.

Ich wartete, bis er an mir vorbeigegangen war, und folgte ihm dann nach unten. Dort kreuzte Ioana unseren Weg, zwei silberne Kaffeekannen in den Händen, eine Schürze vor den Bauch gebunden. Sie blickte mich an und sagte in gebrochenem Deutsch: »Sehr schön, sehr jung«, wandte sich Ronny zu und sagte: »Du auch.«

Während sie im Speisezimmer verschwand, sahen Ronny und ich uns kurz an. Die Begegnung hatte ihn vielleicht fröhlich gestimmt, mir war so viel Aufmerksamkeit etwas zu intensiv am Morgen.

Ronny ging Ioana hinterher, die ihre Kannen auf dem Frühstücksbüfett im Speisezimmer abstellte. Ich wollte sofort auf die Terrasse, um eine Zigarette zu rauchen. An dem großen Tisch im Rauchsalon saß ein Mann mit dem Rücken zu mir, weißes Hemd, kurze, dichte schwarze Haare. Im Vorbeigehen sah ich, dass er ein Spiel ausgebreitet hatte: detailliert gestaltete Miniaturen von verkleideten Menschen auf einem Brett, das der schlammigen Fläche eines zerfurchten Sumpflandes nachempfunden war. Der Mann zuckte, als er mich bemerkte, und drehte sich zu mir. »Ah!«, rief er. »Hallo, hallo.«

Ich lächelte. Das war King Trakto Sherpa, ein Autor aus Kathmandu, bekannt für seine pompös gestalteten Miniaturenspiele, berüchtigt für seine speziellen Themenwelten.

»Was spielst du?«, fragte ich.

King fuhr mit der Hand über das Brett vor ihm, griff sich eine der Figuren und hielt sie mir unter die Nase.

»Das«, sagte er, »ist der bedauernswürdige Herr Stacheldraht. Er wünscht dir trotz alledem einen schönen guten Morgen.«

Die graue Miniatur hatte die Gestalt eines hochgewachsenen Mannes in langem Mantel. Um seinen vernarbten Kopf war eine silbern bemalte Schnur gewickelt, der Mund zum Schrei geöffnet. Zornig blickte ein rotes Auge zwischen den Dornen heraus.

»Hallo, Herr Stacheldraht«, sagte ich. »Du siehst echt furchtbar aus.«

Und King Trakto Sherpa begann mir davon zu erzählen, wie ein junger deutscher Soldat namens Werner Krappauer während der Dritten Flandernschlacht 1917 von einer Granate erwischt und in ein Stück seines gerade gelegten Stacheldrahtes geschleudert worden sei. Das Metall habe sich sofort um seinen gesamten Körper gewunden und war aufgrund der Hitze mit seinem Gesicht verschmolzen. Zurück aus dem Feldlazarett, ging Krappauer, wahnsinnig geworden, nach Berlin, wo er unter dem Namen »Stacheldraht« eine schillernde Karriere als Raubmörder, Erpresser und Anführer einer Schlägerbande begann, das Herz voll Hass und Verbitterung. Und nur eine Gruppe mutiger Außenseiter könne seinen brutalen Umtrieben noch Einhalt gebieten: die ruhmreiche Reichsheldenschar!

»Aha, echt?«, sagte ich.

King langte über das Spielbrett und griff sich eine Handvoll weiterer Miniaturen: einen Maskierten mit wehendem Cape, einen Mann mit verschwommenen Gesichtszügen, eine Dame in engem rotem Overall, einen Typen mit einer Art kastenförmiger Kamera auf dem Kopf.

»Die heroischen Verteidiger der Weimarer Republik, Streiter des Guten, Zerrissene zwischen den politischen Lagern«, sagte er. »Schau hier: der fanatische ›Reichstag‹, der ohne Rücksicht auf Verluste Recht und Gesetz verteidigt. Oder hier: ein bedauernswerter Kerl namens ›Neumensch‹ – durch geheime medizinische Experimente am Rudolf-Virchow-Krankenhaus zum Gestaltwandler gemacht. Und diese Dame nennt sich ›Propaganda‹, beherrscht verschiedene Kampfkunststile und prügelt ihren Gegnern die Lehre des Marxismus ein. Und das hier ist ›Der Kinematograph‹, der jede seiner Heldentaten auf Zelluloid brennt, aber viel mehr eigentlich nicht draufhat. Sie alle schützen die Armen und Schwachen vor solch gepeinigten Scheusalen wie Herrn Stacheldraht.«

»Entschuldige«, sagte ich, »aber das ist mir irgendwie zu viel am Morgen.«

Das sei kein Problem, meinte King und bot an, später, wenn ich Zeit hätte, mit mir den Kampf der Reichshelden gegen Stacheldraht und seine Bande auf den Rieselfeldern vor der Reichshauptstadt zu spielen. Oder wir würden uns gemeinsam dem tierhaften Riesen Mauser entgegenstellen, dem unumstrittenen Boss der Berliner Unterwelt. Oder wir würden Fräulein Propagandas Hinwendung zum Nationalsozialismus und ihre anschließende Verwandlung in die rechtsextreme Kämpferin »Swastika« erleben. Ganz wie ich Lust hätte.

»Klingt gut«, sagte ich.

»Du bist Daytona aus Amerika, nicht wahr?«, sagte King. »Ich habe dein Bild mal in einer Zeitung gesehen.«

Ich zuckte mit den Schultern. Es hatte eine Zeit gegeben, in der man Fotos von mir in vielen Zeitungen sehen konnte, aber das war lange her. Seit ich damit begonnen hatte, professionell Brettspiele zu entwickeln, hatte mich niemand mehr fotografiert.

Ich nickte King zu und wankte durch die geöffnete Flügeltür hinaus auf die Terrasse. An einem Tisch saßen eine Frau und ein Mann, die ich nicht kannte, und sprachen leise miteinander. Jemand zog seine Bahnen im Pool. Ich begrüßte die Leute am Tisch von Weitem, sie blickten zu mir herüber und führten dann ihr Gespräch fort, also setzte ich mich etwas abseits und mit dem Rücken zu ihnen auf einen freien Stuhl, zog meine Schachtel Zigaretten aus der Hosentasche, zündete mir eine Kippe an, streckte die Beine aus und lauschte den Geräuschen des Wassers im Pool, das von den Körperbewegungen des Schwimmers über den Rand gedrückt wurde. Im geöffneten Fenster des Herrenhauses sah ich Ronny Neugebauers Kopf, der mit geschlossenen Augen in ein Frühstücksbrötchen biss.

Ich kam mir wie gestrandet vor. Keine Ahnung, was heute, morgen oder übermorgen an diesem Ort geschehen sollte. In einem Forum für Brettspielenthusiasten im Internet hatte jemand namens GabboThePlayer83 mal die Bemerkung gemacht, während der einmal im Jahr stattfindenden Treffen auf Spyderlings Weingut würde der Völlerei, der Faulheit und der Wollust gefrönt und, ganz nebenbei gesagt, noch die Zukunft des Brettspiels an sich beschlossen werden. Auf die Frage eines anderen Nutzers, ob er überhaupt schon einmal bei solch einem Treffen dabei gewesen sei, war keine Antwort mehr gekommen. Niemand, der etwas im Internet schreibt, sollte in irgendeiner Weise für voll genommen werden.

»Shuuu!«, machte ich in Richtung des geöffneten Fensters vom Speisezimmer. Und nach ein paar Sekunden noch einmal: »Shuuu!«

Ronny drehte seinen Kopf zu mir.

»Wirf mir mal ein Brötchen raus«, sagte ich, laut genug, dass er mich hören konnte.

Ronny schüttelte erschrocken den Kopf.

»Na, dann eben nicht, du Penner«, sagte ich leise und ließ meine Kippe zu Boden fallen.

Ein Brettspiel – was ist das überhaupt? Ich bin der Meinung: so etwas wie komprimierte Wirklichkeit. Oder anders ausgedrückt: eine Rückschau in die Vergangenheit, ein Umgang mit der Gegenwart, ein Blick in die Zukunft. Oder anders ausgedrückt: das Leben in seiner Fülle und Komplexität, verarbeitet in bunt bemalter Pappe. Das Brettspiel veranschaulicht, macht vertraut und, ja, vereinfacht auch, meistens, leider. Es bietet uns Mittel und Wege. Nur wofür? Das ist die Frage. Ein Brettspiel besteht aus seinem Spielthema, seiner Symbolsprache und seiner Spielmechanik. Mehr braucht es erst mal nicht. Mancher glaubt, das Brettspiel sei nur etwas für Kinder und Vollidioten. Klar, für die ist es ja gedacht. Die Frage bleibt: wofür? Mancher glaubt, das Brettspiel sei nur ein nutzloser Zeitvertreib. So wie Fahrzeugtuning, soziale Medien oder Extrembergsteigen. Das ist ein Irrtum. Ein Brettspiel erzählt vom Zusammenleben der Menschen, vom Glück, von richtigen Entscheidungen, vom Überleben während des Dreißigjährigen Krieges, vom Zufall, von der Besiedlung des Asteroidengürtels, von falschen Entscheidungen, vom Elend der Eroberung Südamerikas, von der Einsamkeit des Denkens, von der politischen Alternative, von der eigenen Unzulänglichkeit. Mancher glaubt, das Brettspiel sei nichts weiter als Mathematik und bedruckter Papiermüll. Mancher glaubt, ein Brettspiel zu spielen habe mit nichts mehr als mit übertriebenem Ehrgeiz zu tun. Mancher glaubt, ein Brettspiel an sich sei totaler Quatsch. Ein Buch ist auch totaler Quatsch, ein Film ist auch totaler Quatsch, ein Theaterstück ist auch totaler Quatsch, und eine Musik ist auch totaler Quatsch. Aber: Sie dringen in unsere Köpfe ein – Buch, Film, Theaterstück, Musik. Und das Brettspiel? Das natürlich auch. Wenn der Spieler es will. Wenn die Autorin es beabsichtigt. Ein Brettspiel – was ist das überhaupt? Ich stelle mir lieber die Frage: Was könnte es noch sein?

»Na, wer macht denn hier so einen Dreck?«, hörte ich eine Stimme, nur ein paar Zentimeter entfernt von mir. Ich neigte den Kopf und versuchte aus den Augenwinkeln heraus zu erkennen, wer mich da angesprochen hatte. Kurz darauf spürte ich kalte Wassertropfen auf meinem Gesicht und den Armen. Sofort schnellte mein Oberkörper herum, und ich sah Clark Nygård in einer viel zu engen, viel zu roten Badehose neben mir stehen und sich durch seine klatschnassen Haare wuscheln. Dann deutete er auf die Zigarettenkippe zu meinen Füßen und sagte: »Dahinten steht ein Aschenbecher, junge Dame.«

Ich verrenkte mich auf meinem Stuhl, glotzte hinab, hob den Kopf, schaute Nygård ins Gesicht, brachte mich wieder in eine aufrechte Sitzposition, wandte den Blick von ihm ab und starrte schweigend gegen die Hauswand. Im Fenster war Ioana gerade damit beschäftigt, Ronny Neugebauers Frühstückstisch abzuräumen. Auf meinen Armen fühlte ich, wie sich die Härchen aufstellten.

»Öh«, machte Nygård irgendwo außerhalb meines Blickfeldes.

Wenn ich ihn nur lange genug ignorierte, würde er schon wieder abdampfen.

»Na gut«, sagte er nach einer Weile, in der ich ihn kontinuierlich schnaufen hörte, »dann eben nicht. Einen schönen Tag dir noch.«

Er schlurfte davon, ich drehte den Kopf ein wenig und linste ihm nach. Dieser Typ war einzig und allein bekannt dafür, missverständliche Spiele zu machen: Spiele, denen etwa vorgeworfen wurde, ihre Spieler dazu zu animieren, ein Bordell zu betreiben, den Sklavenhandel zu unterstützen oder die mörderischen Aktionen rechtsgerichteter Paramilitärs während des Bürgerkrieges in Kolumbien nachzustellen. Immer wieder gelang es ihm jedoch, die Einwände als bloße Irrtümer zu entkräften: Das vermeintliche Bordell entpuppte sich als historisch verbürgte Darstellung eines mittelalterlichen Heiratsmarktes, bei der angeblichen Versklavung handelte es sich um harmlose Importunternehmungen der Schwedischen Westindien-Kompanie, und die mutmaßlichen Bürgerwehren fochten lediglich einen Freiheitskampf gegen die sozialistischen, Recht und Ordnung mit Füßen tretenden und sich in Kokablätter kleidenden Guerillabewegungen im Urwald Amazoniens aus. Ich verabscheute diesen Kerl. Seine Spiele, stockkonservativ in Thema und Mechanik, verkauften sich zwar nicht überragend, aber doch einigermaßen respektabel, was dazu führte, dass er jedes Jahr aufs Neue sein Zeug auf den Markt warf, und die Leute rissen es ihm, ohne auch nur einmal nachzudenken, aus den Händen. Ich konnte mir zusammenreimen, warum er nach Moldau eingeladen worden war: Möglicherweise sah Spyderling Clark Nygård als einen Autor an, der mit seinem rechten Scheißdreck dem von allen guten Geistern verlassenen liberalen Mainstream kräftig eins auswischte. Das musste so jemandem wie Spyderling natürlich gefallen, denn Spyderlings Spiele stachen dem bürgerlichen Moralempfinden ja ebenso mühelos ins Auge. Aber anders als Nygårds Ergüsse verstörten diese Spiele ihre Spielerinnen und Spieler nachhaltig – und zwar bis in deren Selbstverständnis als menschliche Wesen hinein. Nygård brachte es lediglich fertig, die lahmsten Klischees auf dem Spielbrett zu reproduzieren und damit einen Kundenstamm zu unterhalten, der immer nur die eigenen Vorurteile bestätigt haben wollte. Ich schwor: Sollte sich mir irgendwann während unseres Aufenthaltes hier die Gelegenheit bieten, ihm eine runterzuhauen – ich würde kein einzelnes Sekündchen zögern.

Mein Magen knurrte. Also schlich ich ins Haus zurück, in der Hoffnung, im Speisezimmer noch etwas vom Frühstücksbüfett abzubekommen. Im Rauchsalon saß immer noch King Trakto Sherpa am Tisch, versunken in den Kampf seiner Superheldentruppe gegen die zahlreichen Feinde der Weimarer Republik. Einen Augenblick lang wünschte ich, das zu können, was er konnte: Die Anwesenheit anderer Menschen schien ihn nicht zu bekümmern. Vielleicht lag es aber auch bloß an der Konzentration auf sein komplexes Spiel, dass wir Autorinnen und Autoren, die ständig auf die Terrasse und wieder zurück traten, ihn nicht aus der Ruhe zu bringen vermochten. Ich hatte wirklich Lust, einmal mit ihm zu spielen, aber jetzt war nicht die Zeit dazu. Der Hunger drückte schon schmerzhaft gegen meine Bauchwand.

Im Speisezimmer war niemand mehr. Auf einem Tisch standen Essensbehälter aus Metall, in denen Würstchen, Rührei und Weißkohl warm gehalten wurden. Es gab Kaffee, Orangensaft, Milch und, was mich zunächst stutzig machte, aber dann doch erfreute, eine ungeöffnete Flasche Sahnelikör. Zwischen der Wurst- und der Käseplatte befanden sich zwei Körbe mit Brötchen und Weißbrot in Scheiben. Ich nahm einen Löffel, kostete vom Rührei und machte mir eine Tasse voll Likör mit etwas Kaffee. Dann setzte ich mich auf Ronnys frei gewordenen Platz und blickte zum Fenster hinaus. Der Garten sah großartig aus im Licht der Vormittagssonne, wie ein halbwegs sauberer, nur an wenigen Stellen zurechtgestutzter Dschungel. Zwischen den Büschen sah ich Leon stehen, eine riesige Heckenschere in die Höhe gereckt. Er machte einen entspannten Eindruck. Dem Garten wurden anscheinend nur ab und zu ein paar widerspenstige Wucherungen entrissen; ansonsten ließ man die Pflanzen hier wachsen, wie sie es wollten.

Jemand betrat das Speisezimmer, und ich löste meinen Blick vom Fenster. Campbell Campbell war hereingekommen und stierte verschlafen auf das Büfett.

»Guten Morgen«, sagte ich, bekam aber keine Antwort, also sah ich wieder nach draußen.

Die beiden Leute, die am Tisch auf der Terrasse gesessen hatten, spazierten mittlerweile am Fuße der Treppe herum. Ich überlegte, ob ich sie kannte. Bei dem Mann handelte es sich vielleicht um Arno Picardo, aber er sah sehr, sehr viel älter aus als auf den verwackelten Fotos, die ich von ihm im Internet gesehen hatte. Irgendwann hatte ich mal eines seiner Spiele gespielt, vor Jahren, wusste aber nicht mehr, welches. Mir war lediglich in Erinnerung geblieben, dass es eine ziemlich trockene Rechnerei gewesen war, in der man seine Spielzüge optimal planen musste, um gegenüber der Konkurrenz nicht ins Hintertreffen zu geraten. Die Frau kannte ich nicht, auch wenn es nur wenige Autorinnen in unserem Berufszweig gab. Zwar freute es mich, dass sie auch hier war, aber ich hatte mir in den vergangenen Jahren ein gewisses Maß an Vorsicht antrainiert, denn ganz gleich ob Frau oder Mann: Wir Autorinnen und Autoren für Brettspiele gehen – im Übrigen wie alle Menschen, die sich Dinge ausdenken – auf eine mehr oder weniger antisoziale Weise mit unseren Mitmenschen um. Wir sind scheu und schweigsam, wir verschleiern unsere Absichten, wir lauern. Viele von uns sind neidisch und kritisieren eher, als dass sie loben. Einige scheinen wie eingeschlossen in ihrem Verstand, was nicht verwunderlich ist, denn wir sind ständig am Überlegen, Tüfteln und Korrigieren. Wer uns anspricht, muss mit einer völlig überzogenen oder gar keiner Reaktion rechnen.

Ich sah wieder in den Raum hinein. Campbell hatte sich mittlerweile an einen Tisch in der Ecke gesetzt und schaufelte mit geschlossenen Augen einen Teller voll Rührei in sich hinein. Ioana kam, begrüßte ihn und fummelte an den Dosen mit Brennpaste unter den Essensbehältern herum.

»Diese Scheißdinger«, zischte sie, »gehen immer wieder aus. Die sind noch aus der Zeit des Bürgerkriegs. Wir kaufen sie auf dem Markt, von einem alten Soldaten. Wie oft habe ich Leon schon gesagt: Hör endlich auf, Geld dafür auszugeben! Ach, aber warum erzähle ich euch davon? Ihr wollt ja nur eure Ruhe haben. Hat jemand von euch ein Feuerzeug?«

Ich zog meines aus der Hosentasche und reichte es ihr. Sie nahm es mir aus der Hand und bedankte sich.

»Hat Spyderling sich schon gemeldet?«, fragte ich.

»Nein«, antwortete Ioana, während sie die Pasten neu entzündete. »Spyderling meldet sich nicht. Ist hier zu Hause. Kommt einfach vorbei.«

»Ich wollte nur wissen …«

»Warum? Keine Sorge. Ruh dich aus. Alles ist gut.«

»Ich möchte hier nicht so gern meine Zeit vertrödeln.«

»Aha. Du willst fleißig sein? Geh nach oben und räum die Spiele auf!«

Sie gab mir mein Feuerzeug zurück und ging wieder aus dem Zimmer.

»Was meint sie? Welche Spiele?«, fragte ich Campbell.

»Ludothek, erster Stock«, sagte er. »Große Sammlung. Hervorragende Sammlung.«

»Klingt gut. Kommst du mit?«

Campbell antwortete mir nicht, wischte sich den Mund mit einer Serviette ab, stand auf und trottete aus dem Speisezimmer. Ich nahm meine Tasse Kaffeelikör und folgte ihm.

Die Ludothek war vielleicht mal die Bibliothek des Vorbesitzers gewesen, ein schmaler, schachtartiger Raum mit hohen Schränken an beiden Wänden und in der Mitte, die verstaubten Regale bis auf den letzten Zentimeter gefüllt mit Spielen. Der helle Putz an der merkwürdig gekrümmten Decke ahmte eine hirnoberflächenartige Struktur nach, die sich spiralförmig um vier Punkte wand, von denen Glühbirnen an ihren Kabeln in den Raum hineinhingen. Am Fenster gegenüber der Tür standen ein Stuhl und ein kleiner Tisch mit Lampe. Ich verspürte große Lust, später mal hier ein paar Spielanleitungen zu studieren, an irgendeinem Abend, während vielleicht ein starker Regen gegen die Scheibe schlagen würde. Das Fenster führte zum Vorplatz des Herrenhauses hinaus. In der Ferne sah ich die umliegenden Weinberge und zählte vier hoch aufragende Gerüste zwischen den Reben, so etwas wie Jagdsitze oder Wachtürme; zudem ritten in diesem Moment zehn, zwölf oder noch ein paar mehr Menschen auf Eseln den Pfad zwischen Weingut und Hauptstraße entlang, die Oberkörper geduckt, als müssten sie den Zweigen der Walnussbäume ausweichen.

Campbell hatte recht: Spyderlings Sammlung war riesig. Auf den ersten Blick erkannte ich ein paar Klassiker, die längst nicht mehr nachgedruckt wurden, etwa Spiel ohne Autos von Lady Darjeeling, Hosianna del Mestres Nackt am Strand, Walter Kotzepittys Die Oma im Garten oder T.T. Tolliver’s Tennessee Tobacco Tycoon 2 von T.T. Tolliver. Eines der unteren Regale schien nur Prototypen vorbehalten zu sein, die nie veröffentlich worden waren – zumindest sagten mir Spiele wie Infizierte Reiche oder Geister auf Reisen oder Bazooka-Boy und das Geheimnis des Bösen oder In der Ferne die Hirsche nichts, und auch die selbst gebastelten Schachteln bestätigten meine Vermutung. Darüber hinaus beinhaltete Spyderlings Sammlung auf den ersten Blick scheinbar so ziemlich jedes Genre, das sich im Bereich der Brettspiele finden ließ: Es gab abstrakte Spiele, Kinderspiele, Lernspiele, Strategiespiele, Aufbauspiele, brasilianische Spiele, Wirtschaftsspiele, Konfliktsimulationen, Patience-Varianten, Gedächtnisspiele, Rollenspiele, Kartenspiele, erotische Spiele, Sammelkartenspiele, Miniaturenspiele, Legespiele, Würfelspiele, isländische Spiele, Planspiele, Erzählspiele, Monopoly-Varianten, Rätselspiele, kolonialistische Spiele, Buchstabenspiele, Tauschspiele, magische Spiele, Geschicklichkeitsspiele, sumerische Spiele, Papier-und-Bleistift-Spiele, zeitkritische Spiele, Betrugsspiele, mongolische Spiele, Kombinationsspiele, Poker-Varianten, sexistische Spiele, Verhandlungsspiele, Börsensimulationen, unansehnliche Spiele, vierdimensionale Spiele, Versteigerungsspiele, Kommunikationsspiele, protofaschistische Spiele, Reaktionsspiele, sowjetische Spiele, Fadenspiele, naturreligiöse Spiele, Stapelspiele, Quizspiele, zypriotische Spiele, Glücksspiele, Baccara-Varianten, Mehrheitenspiele, Gebietsspiele, marxistische Spiele, Bohnenspiele, indonesische Spiele, Eisenbahnspiele, zerfallene Spiele, Detektivspiele, faschistische Spiele, Magnetspiele, Angelspiele, hoffnungslose Spiele, Streichholzspiele, Wurfspiele, Kennenlernspiele, japanische Spiele, Erkundungsspiele, dämonische Spiele, Schach-Varianten, fünfdimensionale Spiele, Stichspiele, südafrikanische Spiele, Lotteriespiele, homosexuelle Spiele, Schnippspiele, nichtsnutzige Spiele, Sprachspiele, Logikspiele, Geduldsspiele, Erziehungsspiele, postfaschistische Spiele, Lückentextspiele, tschetschenische Spiele, Dominospiele, außerirdische Spiele, Puzzlespiele, Reisespiele, todessehnsüchtige Spiele, Pachisi-Varianten, stalinistische Spiele, Rennspiele, Friedensspiele, Ratespiele, vampirische Spiele, Steckspiele, Trinkspiele, neofaschistische Spiele, Spielbücher, Backgammon-Varianten, bitterernste Spiele, Wissensspiele, Partyspiele, kooperative Spiele, altägyptische Spiele, halb kooperative Spiele, ozeanische Spiele, Zweipersonenspiele, dunkle Spiele und, natürlich, Solitärspiele aller Art. Ich überlegte, ob sich Spyderling manchmal einsam fühlte, hier draußen auf dem Weingut, am frühen Abend, in der Nacht, wenn es zu schneien begann. Die allermeisten Brettspiele dienen der Interaktion zwischen zwei oder mehr Menschen. Spyderling hatte sich dazu entschieden, nur Spiele zu entwickeln, die man allein, für sich, mit niemandem sonst an seiner Seite spielen konnte. Ich hatte nicht den Eindruck, dass sich in naher oder ferner Zukunft daran etwas ändern würde. Zu bestimmend schien mir der Kampf Spieler gegen Spiel für Spyderlings spielerische Philosophie – eine extrem ausschließliche Philosophie, denn der Kampf Spieler gegen Spiel bedeutet ja letzten Endes nichts anderes als: die Spielerin gegen sich selbst.

Spyderlings bislang erschienene Spiele lagerten im mittleren Bereich jenes Regals, das links vom Tisch an der Wand stand: Ich sah Tal des Terrors und Der Fleischplanet und Von Wölfen und Massacre à la tronçonneuse d’Eguisheim und Житомир und Jonathan Brandis und Anweisung zur Bildung des Verstandes und Herzens und Serbia und Von Wölfen 2 und Schwarzwald und Tote Zonen und Würmzeit und auch Politische Polizei, Spyderlings aktuelles Werk, das erst vor ein paar Monaten auf den Markt gekommen war. Von all diesen Spielen in ihren düsteren Kartons schien eine Energie in den Raum zu strahlen, die mich frösteln ließ, schwindlig machte, erregte. Es kamen Erinnerungen an einzelne Partien in mir hoch, die sich überlagerten: War es meine Schuld, dass der Schauspieler Jonathan Brandis auf Nimmerwiedersehen in den bodenlosen Vaginalkanal des atmenden Planeten stürzte? Ließ ich während eines urzeitlichen Eissturms meine Kettensäge in den leeren Gassen von Eguisheim aufkreischen? Folgte ich der wolfsköpfigen Schwadron durch die Ruinen von Novi Sad, oder verfolgte sie mich? Brachte ich das zu Stein erstarrte Tal mit meinem vergossenen Blut zum Erblühen? Herrschte ich gerecht oder tyrannisch über das einsame Land Kineseret? Begegnete ich den gut gekleideten Kannibalen in den Wäldern oder auf dem Grat des Berges? Trug ich das pumpende Herz der Revolutionärin in den Thronsaal des Weinkönigs? Zerschmetterte ich die Hoffnungen der Ureinwohner am gefrorenen Strand? Sah ich wirklich den Hundsstern vom Himmel stürzen? Verlor ich alles bei der Schlacht am Glaswaldsee?

Reglos saß ich auf dem Stuhl beim Fenster und sog die staubige Luft tief durch die Nase ein, die Kaffeetasse fest in beiden Händen haltend. Erst als jemand das Zimmer betrat, lösten sich meine erstarrten Glieder. Campbell war hereingekommen. Er ging an den Regalen entlang, zog hier und dort eine Schachtel heraus, öffnete die Deckel, griff sich eine Handvoll Spielmaterial und stopfte es in einen gelben Plastikbeutel, der um seine Schulter hing.

Währenddessen fragte ich ihn: »Weißt du, was Ioana damit meinte, dass ich hier aufräumen soll? Sieht mir eigentlich alles ganz gut sortiert aus. Ein bisschen verstaubt vielleicht. Will sie etwa, dass wir hier putzen? Unglaublich.«

Campbell fuhr unbeirrt damit fort, die Inhalte der Schachteln durchzugehen, ohne meine Frage zu beantworten.

Minuten später, nachdem er eine Weile wie ein verwirrtes Kind in seinen Beutel geschaut hatte, sah er zu mir und sagte: »Sie meint mich. Ich arbeite. Das bringt Unordnung. Immer.«

Und schon verließ er die Ludothek wieder. Auf dem Flur hörte ich ihn wie wild geworden mit seinem Beutel rascheln.

Diese Spiele sind mein Leben – ich kann es gar nicht anders beschreiben. Nichts interessiert mich so sehr wie dieses Zeug. Alles lässt sich darin auffangen. Alles lässt sich davon ableiten. Was in den Spielen geschieht, betrifft die ganze Welt und all ihre Bewohner. Das klingt vielleicht erst mal blöd, aber es ist so.

Die Tür zum Kaminzimmer, dem Raum direkt neben der Ludothek, war einen Spalt breit geöffnet. Ich stand im Flur und lauschte den Geräuschen, die Campbell dahinter machte: das Rascheln seiner Plastiktüte, das Schneiden einer Schere, ein Husten, ein Summen. Langsam bewegte ich mich auf die Tür zu und schob sie ein Stück weit auf, erst dann klopfte ich leicht gegen das Holz des Rahmens. Campbell blickte nicht auf. Er saß, den Rücken zur geschlossenen Balkontür, an einem breiten Tisch, der mit Häufchen aus Spielfiguren, Karten, Würfeln, Plastikchips und Papierbögen bedeckt war. Dazwischen ragte der Stein auf, den er in der Nacht aus dem Garten ins Haus geschleppt hatte. In der linken Hand hielt Campbell einen Pinsel, den er immer mal wieder über ein paar Papiere oder die graue Oberfläche des Steins vor ihm strich; in der rechten eine Schere, die er, einem nur ihm bekannten Takt folgend, öffnete und schloss, als zerschneide er etwas in der Luft. Sein linker Fuß steckte in der gelben Plastiktüte unter dem Tisch und wühlte darin; um den rechten herum lagen weiteres Spielmaterial, Papierreste, geöffnete Farbdosen, Ausstanzbögen und leere Plastikverpackungen auf dem Teppich verteilt. Ioana musste heute Morgen bei diesem Anblick die Krise gekriegt haben.

»Was machst du?«, fragte ich ihn.

»Ich spiele«, sagte er, ohne aufzusehen.

»Mit dem Stein?«

»Noch nicht.«

Von der Treppe her waren Stimmen zu hören. Ich drehte mich um und sah den Kopf von Ronny Neugebauer zwischen den Sprossen des Geländers auftauchen, kurz darauf auch den Kopf von King Trakto Sherpa. Sie quasselten miteinander, Ronny erzählte irgendeine Geschichte über ein Dorf im Gebirge, seinen Großvater und ein brennendes Huhn, King kicherte dabei ohne Unterlass. Als beide die oberste Treppenstufe erreicht hatten, blickten sie mich an.

»Daytona Sepulveda«, sagte King.

»Gibts da was Interessantes?«, fragte Ronny.

Sie kamen näher und schauten ebenfalls ins Kaminzimmer.

»Ach so«, sagte Ronny, »Campbell arbeitet.«

»Er ist der Fleißigste von uns«, sagte King.

»Ich glaube, er saß hier die ganze Nacht«, sagte Ronny. »Bist du auch so fleißig, Daytona?«

Ich reagierte nicht.

»Hey, Campbell«, rief Ronny in den Raum hinein, »räum mal ein bisschen was auf! Nachher solls regnen, und wir wollen eine Runde spielen.«

»Was spielt ihr?«, fragte ich.

»Erst mal eine Partie Space Congress 2815. Kennst du das?«

»Das ist doch das Spiel von Adolfo Campioni, wo der Wiener Kongress nicht 1815 in Wien, sondern auf einer Raumstation in der Umlaufbahn des Merkur stattfindet, richtig? Das ist ziemlich cool.«

»Genau«, sagte Ronny. »Napoleon als galaktischer Imperator, preußische Weltraumraketen, der kaiserlich-königliche Asteroidengürtel, die interstellare Doppelmonarchie und so.«

»Und danach will Clark uns sein neues Spiel vorstellen«, sagte King. »Irgendwas mit Waffenhandel und Migrantenströmen. Und dass der Klimawandel nur ausgedacht ist, um uns alle …«

»O mein Gott«, sagte ich.

»Ach, komm schon«, sagte Ronny. »Clark tut doch keinem was.«

»Finde ich nicht«, sagte ich.

»Na ja«, sagte Ronny – und ich bemerkte ganz genau, wie dieser Blödmann ein wenig die Augen verdrehte –, »jedenfalls treffen wir uns nach dem Mittagessen, um eins. Wenn du dabei sein willst …«

»Ich schau mal«, sagte ich. »Muss noch was arbeiten. Oder schlafen.«

»Daytona wartet lieber auf Spyderling, sehnsüchtig auf der Fensterbank hockend«, sagte Ronny zu King, der daraufhin wieder zu kichern begann. »Sie ist nämlich sein allergrößter Fan.«

In diesem Moment kam Campbell zur Tür gestürzt und schlug sie mit einem kräftigen Ruck vor unseren Nasen zu.

»Ey!«, rief Ronny und griff sofort nach der Türklinke. »Der hat sie doch nicht mehr alle!«

»Lass ihn in Ruhe«, sagte ich.

»Armer Campbell«, seufzte King, »immer beschäftigt, immer verrückt.«