Stadt und Rassismus -  - E-Book

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Beschreibung

Das Jahr 2020 wird als der Beginn der weltweiten Covid-19-Pandemie in die Geschichte eingehen. Wird dies auch für die rassistische Gewalt gelten, die zeitgleich in den USA, der Bundesrepublik Deutschland und vielen weiteren Ländern stattfand? Im Frühjahr und Sommer 2020 nahmen die Proteste der Black-Lives-Matter-Bewegung zunächst in den USA und bald darauf weltweit eine Dimension an, wie es sie seit den Tagen der afroamerikanischen Bürger*innenrechtsbewegung nicht mehr gegeben hat. In Deutschland forderte der Rechtsterrorismus im Februar 2020 in Hanau neun Todesopfer – alle mit Migrationsgeschichte. Mit diesem Buch sollen die Zusammenhänge zwischen den Strukturen der Stadt und denen des Rassismus sowohl charakterisiert als auch analysiert werden. In welcher Weise wirkt sich Rassismus im städtischen Alltag, im Bildungswesen, im öffentlichen Raum, bei der Wohnungssuche oder gegenüber Institutionen wie der Polizei aus? Und in welcher Weise kann dagegen vorgegangen werden? Schließlich ist die Stadt nicht nur der Ort des rassistischen Geschehens, sondern auch der Raum für den antirassistischen Kampf.

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Frank Eckardt und Hamidou Maurice Bouguerra (Hg.)

Stadt und Rassismus

Analysen und Perspektiven für eine antirassistische Urbanität

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

Frank Eckardt und Hamidou Maurice Bouguerra (Hg.):

Stadt und Rassismus

1. Auflage, November 2021

eBook UNRAST Verlag, Februar 2023

ISBN 978-3-95405-138-0

© UNRAST Verlag, Münster

www.unrast-verlag.de | [email protected]

Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung

sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner

Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter

Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Diese Publikation wurde gefördert durch die Fakultät Architektur und Urbanistik

an der Bauhaus-Universität Weimar.

Die der Publikation zugrunde liegende Vorlesungsreihe an der Bauhaus-Universität

Weimar wurde gefördert vom Lokalen Aktionsplan Weimar.

Umschlag: Unrast Verlag, Münster

Satz: Andreas Hollender, Köln

Inhalt

Frank Eckardt und Hamidou Maurice BouguerraEinführung: Der Rassismus und die Stadt

Anja WeißRassismus wider Willen? Rassismus als soziale Ungleichheit

Kien Nghi HaHybridität und Widerstand – Konstruktionen von Identität und Kultur im Zeitalter der kolonialen Globalisierung

Benjamin OpratkoZwischen Verdrängung und Thematisierung: Herausforderungen der Rassismusforschung in Deutschland

Femke Hannah Jansen, Simon René Kliem, Laura Meinert, Jenny Oltmann und Paula Liz StockburgerWir vermieten fair, aber ... – Rassistische Diskriminierung beim Zugang zum deutschen Wohnungsmarkt

Hamidou Maurice BouguerraRassistische Stigmatisierung von (post-)migrantischen Stadtteilen als ›soziale Brennpunkte‹ – Über den sozial-räumlichen Wert ›ethnischer Kolonien‹ für die (Stadt-)Gesellschaft

Simin JawabrehRace regieren – (post-)koloniale Regierungsweisen: Polizeiliche Grenzziehungen im städtischen Raum

Anais Rana Temur, Sönke von der Ahe, Artur Meier und Kaya PetersSolidarische Nachbarschaften gegen rassistische Polizeigewalt

Arnisa HaliliHandlungspotenzial von (Anschlags-)Städten im Umgang mit Rechtsterrorismus

Hamidou Maurice Bouguerra und Kaya PetersGeschichte und Gegenwart (post-)migrantischer Selbstorganisierung gegen Rassismus

Timon JahnSozialraum als Kampfplatz: Rap, Identitätskonstruktionen, Gewaltkritik und die Stadt

Caspar Leder, Helena Khalil, Jannis Wagner und Valentin von der HaarKontakt als Chance – Transformation segregierter Stadtteile in Thüringen?

Anton Gnamm, Janina Hain, Lena Herz und Emanuel Sandritter Ländliche Räume im Spannungsfeld zwischen Idylle und Rassismus

Christiane DrosteStrategien und Interventionen gegen Rassismus auf dem Wohnungsmarkt: Die strategische Arbeit der Berliner Fachstelle gegen Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt

Remzi UygunerDiskriminierung auf dem Wohnungsmarkt: Erfahrungsbericht aus der Beratungspraxis und rechtliche Grundlagen

Mirijam KruppaAnkunftserfahrungen und Rassismus: Das Beispiel Thüringen

Christoph Lammert»Burgen im Feindesland« – Extrem rechte Räume in Thüringen

Robert FriedrichBetroffene von rechter Gewalt in Thüringen – Warum ein spezifisches Beratungsangebot notwendig ist

Malte PannemannAufsuchende Distanzierungsarbeit – Zielgruppe, Zugang und methodischer Ansatz

Joel Schülin und Theresa StahlFür eine rassismuskritische Öffentlichkeit – mögliche Interventionen gegen Alltagsrassismus im öffentlichen Raum

Milena Marjun Hufnagel, David Muñoz Hasselbrink und Anna Lotta PhilippiRassistische Diskriminierung per Grundgesetz?

Paulina Foht, Hanna Tost, Leonie von Brock, Lester Malte Pott, Lars Fissahn, Nele Mangels und Theresa Moraht»An unserer Schule gibt es kein Rassismusproblem!« – (Ver-)Lernen von strukturellem Rassismus

Hannah WellpottUrbane Dekolonisierung – Die Entdeckung von Erfurts kolonialem Erbe

Über die Autor*innen

Anmerkungen

Frank Eckardt und Hamidou Maurice Bouguerra

Einführung: Der Rassismus und die Stadt

Das Jahr 2020 wird in die Geschichte als der Beginn der weltweiten Covid-19-Pandemie eingehen. Wird dies auch für die rassistische Gewalt gelten, die zeitgleich in den USA, der Bundesrepublik Deutschland und vielen weiteren Ländern stattgefunden hat? In den USA nahmen die Proteste der weltweiten ›Black Lives Matter‹-Bewegung im Frühjahr und Sommer in ihrer Größe und in ihrer Beständigkeit eine Dimension an, wie sie es seit den Tagen der afroamerikanischen Bürger*innenrechtsbewegung nicht mehr gegeben hat. Die Polizeigewalt, die in der US-amerikanischen Stadt Minneapolis zum Tod von George Floyd führte, wurde durch ein Video in ihrer Brutalität für viele Menschen sichtbar und erreichte große Teile der Öffentlichkeit. In Deutschland wiederum forderte der Rechtsterrorismus am 19. Februar 2020 in Hanau neun Todesopfer mit türkischer, rumänischer, bulgarischer, bosnischer, kurdischer und Rom-Migrationsgeschichte: Ferhat Unvar, Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Vili Viorel Păun, Mercedes Kierpacz, Kaloyan Velkov, Fatih Saraçoğlu, Sedat Gürbüz und Gökhan Gülteki. Das Jahr 2020 war dementsprechend nicht nur durch die Pandemie gekennzeichnet, sondern auch vom Kampf gegen den Rassismus in der Gesellschaft.

Das zeitliche Zusammentreffen von pandemischer Krise und Rassismus mag erst einmal Zufall und im Kontext der anhaltenden Radikalisierung im rechten Spektrum vom Infektionsgeschehen unbeeinflusst sein. Denn die deutsche Geschichte zeigt eine Kontinuität des rechten Terrors auf: Das antisemitische Attentat auf die Synagoge in Halle mit zwei Toten im Oktober 2019 oder der Mord am CDU-Politiker Walter Lübcke in Kassel im Juni 2019 sind nur die aktuellen Beispiele. Diese Attentate stehen in einer Kontinuität, zu der auch der rassistische Anschlag in und am Olympia-Einkaufszentrum in München im Jahr 2016, bei dem neun (post-)migrantische Menschen getötet wurden, zählt. Gleiches gilt für die Mordserie des ›NSU‹, bei der zwischen 2000 und 2007 neun Menschen mit Migrationsgeschichte mit Schusswaffen und Bomben getötet wurden: Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat.

»Die Liste lässt sich verlängern: Oury Jalloh aus Sierra Leone, der in einer Gefängniszelle in Dessau 2005 verbrannte; die Familie Genç, die beim Anschlag von Solingen 1993 zwei junge Frauen und drei Mädchen verlor; die beiden Mädchen Yeliz Arslan und Ayşe Yılmaz und ihre Großmutter Bahide Arslan, die in Mölln 1992 in den Flammen starben; die vietnamesischen Vertragsarbeiter:innen, die 1992 in Rostock-Lichtenhagen im Sonnenblumenhaus verbrennen sollten; die mosambikanischen und vietnamesischen Vertragsarbeiter:innen, deren Wohnheim in Hoyerswerda 1991 mit Steinen und Molotowcocktails angegriffen wurde, während Anwohner:innen sich dazugesellten und tatenlos zusahen oder Beifall klatschten; die Opfer des Brandanschlages in Duisburg 1984, bei dem sieben Menschen starben und weitere 23 verletzt wurden – in dem Wohnhaus hatten überwiegend Eingewanderte aus der Türkei gewohnt; der 22-jährige Ngoc Nguyen und der 18-jährige Anh Lan Do, die in Hamburg 1980 an furchtbaren Verbrennungen durch Nazisprengsätze starben. Diese Aufzählung verdeutlicht: Es handelt sich nicht um Einzelfälle« (Foroutan 2021).

Rassismus in Zeiten der Pandemie

Der Rassismus, der sich unter anderem in rechter Gewalt manifestiert, fällt dennoch auffallend zeitgleich mit Formen des Rassismus zusammen, die sehr wohl mit der Pandemie auftreten. Die mediale und politische Verortung des Ausbruchs der Covid-19-Epidemie in der chinesischen Stadt Wuhan führte schnell dazu, dass alte Vorurteile und Narrative über die ›gelbe Gefahr‹ wieder aktiviert wurden und sich der Rassismus gegenüber asiatisch gelesenen Menschen im Alltag der Gesellschaft verstärkte (Suda et al. 2020). Im Folgenden wurden aber nicht nur die asiatischen Minderheiten zum Ziel von rassistischen Praktiken und Diskursen, die vermeintlich mit der Pandemie zu begründen wären. Selbst der Direktor des Robert Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler, sonst immer um die Belegbarkeit seiner Aussagen bemüht, verkündete ohne Verweis auf existierende Daten und auf der Basis von vier Statements von Intensivmedizinern, dass Migrant*innen auf den Intensivstationen überrepräsentiert seien und man deshalb »harte Sozialarbeit in Moscheen« forcieren müsse (taz 2021). Als die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfalldisziplin diesen Aussagen widersprach, rechtfertigte der RKI-Chef seine Äußerungen als »Überlegungen«.

Wenn so prominente und gebildete Menschen wie Lothar Wieler ungeprüft und unüberlegt Vorstellungen übernehmen und in der Öffentlichkeit verbreiten, die angeblich einen Zusammenhang zwischen dem Verhalten einer ethnischen Minderheit und ihrem somit selbstverschuldeten Erkranken an Covid-19 begründen, dann deutet dies darauf hin, dass rassistische Denkmuster in der Gesellschaft keine Randerscheinung sind, sondern auch in ›intellektuellen und bürgerlichen‹ Teilen der Gesellschaft vorhanden sind. In der Rassismus-Forschung sind solche Befunde keine neue Erkenntnis und werden durch zahlreiche Studien immer wieder bestätigt (vgl. Zick, Klein und Melzer 2019; Grau und Heitmeyer 2013, Decker und Brähler 2020). Rassismus als ein vereinzeltes Phänomen zu deklarieren und dessen Vorhandensein einzig innerhalb der politischen Rechten zu sehen, erschwert hingegen, rassistische Strukturen zu erkennen und diesen entgegenzuwirken.

Die stigmatisierenden Aussagen Wielers zeigen darüber hinaus auf, dass ein Grundverständnis über rassistische Marginalisierungsprozesse in der deutschen (Mehrheits-)Gesellschaft nicht vorhanden ist. Darüber zu reden, dass mehr Menschen mit Migrationsgeschichte von einer Covid-19-Erkrankung betroffen sind, ist nicht, wie Wieler behauptet, eine ›Unsagbarkeit‹, sondern vielmehr ist es wichtig zu verstehen, warum eine Kausalität zu vermuten ist. Problematisch ist hierbei die Zuschreibung auf kulturelle oder religiöse Orientierungen der betroffenen Menschen. Vielmehr ist es in der BRD ein ›Tabu‹, den Zusammenhang mit der sozialen Position der Minderheiten aufzuzeigen und soziale Ungleichheiten in der Gesellschaft dafür verantwortlich zu machen.

Rassismus als soziale Ungleichheit

Dieser Zusammenhang ist durchaus sehr gut erforscht. So hat die Berliner Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung eine Studie zum Covid-19-Infektionsgeschehen in Berlin veröffentlicht, die deutlich aufzeigt, dass es »statistisch signifikante positive Zusammenhänge der COVID-19-Inzidenz [gibt] mit dem Anteil der Transferbeziehende […]. Je höher der Anteil der Arbeitslosen bzw. Transferbeziehende in den Bezirken ist, desto höher ist die COVID-19-Inzidenz. Außerdem ist die COVID-19-Inzidenz in den Bezirken positiv assoziiert mit dem Anteil der Einwohnerinnen und Einwohner mit einem Migrationshintergrund sowie mit dem Anteil der nicht EU-Ausländer und -Ausländerinnen.« (SenGPG 2021: 8). Dass ethnische Minderheiten häufiger an Covid-19 erkranken, ist eine international zu beobachtende Erscheinung (OECD 2021) und wurde insbesondere in den USA schon früh konstatiert (Shihipar 2021). Während Schwarze US-Amerikaner*innen und Angehörige der Latinx-Minderheit nur 13 bzw. 18 % der Bevölkerung ausmachen, repräsentieren sie mehr als die Hälfte aller Krankhauspatient*innen. In Los Angeles sind dreimal mehr Menschen mit Latinx-Hintergrund gestorben als weiße US-Amerikaner*innen.

In vielen Diskussionen wird in den USA deshalb schon länger der Zusammenhang von Rassismus und Gesundheit diskutiert. Abdullah Shihipar, vom People, Place & Health Collective (PPHC) an der Brown University School of Public Health, forderte darum, dass Rassismus als Notfall für die öffentliche Gesundheit eingestuft wird. Nach seiner Vorstellung würden damit Mittel zur Verfügung gestellt werden können, die nicht individuelle Gesundheitsmaßnahmen, sondern auch die Unterstützung lokaler Gemeinschaften ermöglichen könnte: »Untersuchungen ergaben, dass überwiegend weiße Landkreise die niedrigsten Coronavirus-Infektionsraten aufwiesen. Das ist keine Überraschung, da die hohen Krankheitsraten bei Schwarzen und Latinex-Menschen teilweise auf die rassistische Wohnungspolitik zurückzuführen sind« (Übers. d. Hg.).

Eine Studie von Public Health England (2020) bestätigt, dass Angehörige von ethnischen Minderheiten eine bis zu 50 % höhere Chance haben, an dem Virus zu erkranken. Die britischen Forscher*innen legen ihrer Studie eine multivariate Analyse zugrunde, mit der sie auch erkennen können, welche anderen Faktoren dieses erhöhte Erkrankungsrisiko mitproduzieren: Erstens befinden sich Mitglieder der Black, Asian and Minority Ethnic (BAME)-Communitys wahrscheinlicher in der räumlichen Nähe von Orten mit erhöhtem Infektionsrisiko. Dies liegt der Studie zufolge daran, dass BAME-Menschen wahrscheinlicher in städtischen Gebieten, in überfüllten Haushalten und in benachteiligten Stadtteilen leben und arbeiten, die sie einem höheren Risiko aussetzen. Mitglieder der BAME-Communitys sind auch mit höherer Wahrscheinlichkeit im Ausland geboren, was bedeutet, dass sie durch kulturelle und sprachliche Unterschiede Schwierigkeiten beim Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen wie sozialen oder gesundheitlichen Dienstleistungen haben könnten. Zweitens besteht für Menschen in BAME-Gemeinschaften ein erhöhtes Risiko, ärmer zu werden, sobald sie eine Infektion erfahren. Die britischen Forscher*innen verweisen zudem auf einige Begleitkrankheiten, die das Risiko von Covid-19 für bestimmte ethnische Gruppen erhöhen. Menschen mit bangladeschischer und pakistanischer Migrationsgeschichte haben in Großbritannien z.B. höhere Raten von Herz-Kreislauf-Erkrankungen als weiße Menschen; Menschen aus der Karibik und der afrikanischen Diaspora weisen eine im Vergleich zu anderen ethnischen Gruppen höhere Hypertonie auf (a.a.O.).

Wenn man diese Faktoren zusammen in Betracht zieht, ergibt sich ein Bild von der vielfältigen und gegenseitigen Beeinflussung verschiedener Risiko- und Benachteiligungsprozesse, die sich als Zusammenspiel von Armut, prekären Jobs, kulturellen und sprachlichen Schwierigkeiten und schlechten Wohn- sowie Lebensbedingungen manifestieren. Anstelle einer kulturalistischen oder biologischen Erklärung für die überdurchschnittliche Gefährdung von Menschen ethnischer Minderheiten durch die Covid-19-Pandemie ist deshalb ein intersektionales Verständnis von gesellschaftlichen Ungleichheitsdynamiken (vgl. Weiß 2013) notwendig. Prozesse der Benachteiligung bedingen sich gegenseitig und bringen Menschen in den verschiedenen Feldern der Gesellschaft wie Gesundheit, Bildung, Arbeit, Wohnen und Kultur vielfach in Schwierigkeiten. Die Besonderheit der sozialen Probleme von Menschen, die mit Rassismus konfrontiert werden, ergeben sich durch die Akkumulation von Benachteiligungen in diesen gesellschaftlichen Teilbereichen. In diese gesellschaftliche Position, die eine erhöhte Gefahr der Erkrankung an Covid-19 bedeutet, sind Minderheiten jedoch nicht per Zufall oder erst seit Kurzem gelangt. Ihre gesellschaftliche Marginalisierung und Ausgrenzung ist Ergebnis einer kontinuierlichen Fortsetzung einer gesellschaftlichen Ordnung, in der sie abgewertet und untergeordnet werden. Diese historische Kontinuität von Rassismus lässt sich auf die koloniale Geschichte und die »Geschichte des Weißseins« (Hund 2017) zurückführen. Sie setzt sich fort durch verschiedene Formen der gesellschaftlichen Ordnung, die sich in Sprache, Stereotypen und Vorurteilen, tradierten Handlungsmustern, Wertvorstellungen und der ungleichen Verteilung von knappen Gütern abbildet. Die gesellschaftliche Unterordnung von Minderheiten und ›Anderen‹ geht aber seit dem Kolonialismus auch mit Zwang und Gewalt einher. Im demokratischen Rechtsstaat werden diese zwar formal nicht geduld, sie sind aber als eine Form der Selbst-Ermächtigung nach wie vor eine Handlungsoption und in diskursiver oder epistemischer Weise in der Gesellschaft verbreitet (vgl. Brunner 2020). Dieses Fortbestehen von kolonialer Ordnung ist die strukturelle Dimension von Rassismus, die sich jedes Mal reproduziert, wenn es um die Verteilung von Arbeits-, Lebens- und Wohnchancen geht, und die die Ungleichbehandlung von Menschen durch Segregation, Stigmatisierungen, Abwertungen und Praktiken der Nichtsichtbarkeit aufrechterhält.

Die Stadt als struktureller Rassismus

Strukturen der rassistischen Diskriminierung werden in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft sichtbar. Kontinuitäten in Sprach- und Denkgewohnheiten werden gegenwärtig viel diskutiert und stehen meist stark im Vordergrund der aktuellen Rassismus-Debatte. Rassismus in Institutionen wie Parteien, der Polizei, den Vereinen und Organisationen der Kultur und im Freizeitwesen werden immer wieder publik und inzwischen erfreulicher Weise oft auch skandalisiert. Die strukturellen Benachteiligungen im Bereich von Bildung und Arbeit gehören sicherlich zu den härtesten und wichtigsten Feldern der antirassistischen Arbeit, weil gerade hier die Lebenschancen der Menschen auf lange Sicht entschieden werden. Zu den gesellschaftlichen Strukturen, die Rassismus und postkoloniale Ordnungen der Ungleichheit über die Zeit aufrechterhalten und diese generationenübergreifend verfestigen, gehört aber auch der urbane Raum (Eckardt/Hoerning 2012). Die Stadt ist letztlich der Ort, an dem die Intersektionalität der Ungleichheiten sich räumlich abbildet und zugleich verstärkt.

Wie die schon zitierte Studie von Public Health England hervorhebt, sind es vor allem die benachteiligten Stadtteile, in denen Menschen an Covid-19 erkranken und sterben. Der Berliner Senat hat diesen Zusammenhang ebenfalls eindeutig herausgestellt:

»Die Zusammenhangsanalysen zwischen den COVID-19-Inzidenzraten und Indikatoren des Wohnumfeldes auf Bezirksebene zeigen statistisch signifikante positive Zusammenhänge zwischen einer höheren COVID-19-Inzidenz je 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner und einem höheren Anteil von Einwohnerinnen und Einwohner in einfacher Wohnlage, einer höheren Bevölkerungsdichte und einem höheren Anteil der Siedlungs- und Verkehrsfläche. Negative Zusammenhänge zeigen sich zwischen einer niedrigeren COVID-19-Inzidenz und einer größeren Erholungsfläche je Einwohner und tendenziell mit einer größeren Freifläche. Grundsätzlich ist festzustellen, dass Bezirke, die eine ungünstigere Sozialstruktur aufweisen sowie dichter besiedelt sind und in denen weniger Frei- und Erholungsfläche zur Verfügung steht, signifikant stärker von der COVID-19-Epidemie betroffen sind« (SenGPG 2020: 8).

In diesen Stadtteilen sind Migrant*innen deutlich überrepräsentiert. Sie leben dort, weil diese Nachbarschaften für sie bezahlbar sind. In der Regel arbeiten Migrant*innen in Bereichen, in denen nur geringe Einkommen zu erzielen sind, die Arbeitsumstände prekär sind und in Zeiten der Epidemie wenige Chancen für das Home-Office bieten. Das gilt insbesondere für das Gesundheitswesen, die Pflege, in der Reinigungsbranche und im Verkehrs- und Logistikbereich, in denen überdurchschnittlich viele Menschen mit Migrationshintergrund und häufiger für einen Niedriglohn als Beschäftigte, die in Deutschland geboren wurden, arbeiten (Grabka/Schröder 2019). Die allgemeine Lohnentwicklung in Deutschland seit den 1990er-Jahren hat diese Ungleichheiten noch weiterwachsen lassen und insbesondere Migrant*innen betroffen. Der wachsende Anteil an prekären Beschäftigungsverhältnissen, der politisch durch die sogenannte ›Agenda 2010‹ gewollt war, wurde hauptsächlich von Migrant*innen besetzt, die somit unter schwierigen (Start-)Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt verkehren und sich aus dieser Position – entgegen der Agenda-2010-Logik – nicht herausarbeiten können. Ironischerweise finden sich ausgerechnet in den Berufen, die wir heute in der Pandemie als systemrelevant erfahren, solche prekären Arbeitsbedingungen (Khalil et al. 2020).

Doch Rassismus ist nicht nur über den Arbeitsmarkt strukturell im urbanen Raum verankert, er hat viele Erscheinungsformen und ist in allen Bereichen der Stadtgesellschaft eine Realität. Mit den Beiträgen in diesem Buch sollen die Zusammenhänge zwischen den gesellschaftlichen Strukturen der Stadt und den vielfältigen Formen von Rassismus und Benachteiligung aufgezeigt und analysiert werden. Wir verfolgen hierbei ein breites Rassismus-Verständnis, das sich in erster Linie über ein Verständnis von sozialer Ungleichheit ergibt und sich nicht an einer wie auch immer zu charakterisierenden Gruppe, die von Rassismus betroffen ist, ausrichtet. Es ist das Anliegen der Herausgeber*innen und Autor*innen, mit diesem Buch einen Beitrag zur aktuellen Rassismus-Debatte in Deutschland zu leisten, in dem der Blick auf das Thema Stadt gelenkt wird, weil wir glauben, dass die lokale Stadtgesellschaft noch zu wenig Aufmerksamkeit erhält, wenn es um die Diskussion über die Ursachen des strukturellen wie des alltäglichen Rassismus geht und auch um die Frage, was konkret vor Ort dagegen getan werden kann. Es ist der Schnelligkeit dieses Publikationsprojekts geschuldet, dass die Beiträge dieses Buches nicht alle wichtigen Themen aufgreifen können, die in diesem Zusammenhang wichtig sind. Wir bedauern insbesondere, dass der zunehmende Antisemitismus und die Diskriminierung von Sinti*zze und Rom*nja in unseren Städten nicht durch eigene Beiträge aufgegriffen werden konnten. Wir hoffen aber, dass mit diesem Buch dennoch Einsichten in die stadtgesellschaftliche Dimension des Rassismus ermöglicht werden, die bislang im öffentlichen Diskurs nicht in einer stadtsoziologischen Perspektive gedacht werden. Das Buch ist das Ergebnis eines studentischen Forschungsprojektes im Fach Urbanistik an der Bauhaus-Universität Weimar, das im Wintersemester 2020/2021 durch eigenständige Arbeiten der Student*innen sowie Expert*innen aus Wissenschaft und Praxis umgesetzt wurde. Ziel des Buches ist es, die Stadt und die Räume der Gesellschaft als den Ort zu verstehen, an dem sich Rassismus manifestiert und an dem er auch bekämpft werden kann. Nicht zuletzt, weil die öffentliche Diskussion meist aus einer privilegierten weißen Sicht geführt wird, kommen in den einzelnen Kapiteln entsprechend auch Autor*innen zu Wort, welche als People of Color selbst von rassistischer Erniedrigung, Beleidigung oder Diskriminierung – z.B. auf dem Arbeitsmarkt, bei der Wohnungssuche, im Bildungsbereich oder von Racial Profiling der Polizei – betroffen sind. Wir hoffen, dass die Leser*innen sich durch die nachstehenden Texte unterstützt fühlen, den Kampf gegen Rassismus fortzusetzen.

Literatur

Brunner, Claudia (2020) Epistemische Gewalt: Wissen und Herrschaft in der kolonialen Moderne. Bielefeld: transcript.

Decker, Oliver und Elmar Brähler (2020). Autoritäre Dynamiken. Alte Ressentiments – neue Radikalität. Gießen: Psychosozial-Verlag.

Eckardt, Frank und Johanna Hoerning (2012) Postkoloniale Städte. In: F. Eckardt (Hg.) Handbuch Stadtsoziologie. Wiesbaden: VS Springer, S. 263–288.

Foroutan, Naika (2021): Die Bedrohung ist allgegenwärtig. https://www.spiegel.de/kultur/hanau-die-bedrohung-ist-allgegenwaertig-ein-kommentar-von-naika-foroutan-a-9aeb9146-93dc-4dce-94bc-4f08fb119a1f (26.03.2021)

Grabka, Markus M. und Carsten Schröder (2019) Der Niedriglohnsektor in Deutschland ist größer als bislang angenommen. DIW Wochenbericht Nr. 14/2019 https://www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.618178.de/19-14-3.pdf

Grau, Andreas und Wilhelm Heitmeyer (Hg.) (2013) Menschenfeindlichkeit in Städten und Gemeinden. Weinhein: Beltz Juventa.

Hund, Wulf D (2017) Wie die Deutschen weiß wurden: Kleine (Heimat)Geschichte des Rassismus. Stuttgart: J.B. Metzler.

Khalil, Samir, Almuth Lietz und Sabrina J. Mayer (2020) Systemrelevant und prekär beschäftigt: Wie Migrant*innen unser Gemeinwesen aufrechterhalten. DeZIM Research Notes DRN 3, https://dezim-institut.de/fileadmin/Publikationen/Research_Notes/DRN_3_Systemrelevante__Berufe/ResearchNotes_03_200525_web.pdf

OECD (2020) All Hands In? Making Diversity Work for All. OECD Publishing: Paris.

Public Health England (2020) Disparities in the risk and outcomes of COVID-19. https://assets.publishing.service.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/908434/Disparities_in_the_risk_and_outcomes_of_COVID_August_2020_update.pdf

SenGPG/Berliner Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung (2020) Das SARS-CoV-2-Infektionsgeschehen in Berlin – Zusammenhang mit Soziodemografie und Wohnumfeld, https://www.berlin.de/sen/gesundheit/service/gesundheitsberichterstattung/veroeffentlichungen/kurz-informiert/#Corona20

Shihipar. Abdullah (2021) Declare racism a public health emergency. In: New York Times, 9. März 2021.

Steinbacher, Sybille (Hg.) (2016) Rechte Gewalt in Deutschland: zum Umgang mit dem Rechtsextremismus in Gesellschaft, Politik und Justiz. Göttingen: Wallstein Verlag, [2016]

Suda, Kimiko, Sabrina J. Meyer und Christoph Nguyen (2020) Antiasiatischer Rassismus in Deutschland. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 44

taz (2021) RKI-Chef Wieler zu Corona und Migration: Ungleichheit macht krank, in: https://taz.de/RKI-Chef-Wieler-zu-Corona-und-Migration/!5756163/

Weiß, Anja (2013) Rassismus wider Willen: Ein anderer Blick auf eine Struktur sozialer Ungleichheit. Wiesbaden: Springer.

Zick, Andreas; Klein, Anna; Melzer, Ralf ( Hg.) (2019) Fragile Mitte – feindselige Zustände: rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2018/2019. Bonn: Dietz.

Anja Weiß

Rassismus wider Willen? Rassismus als soziale Ungleichheit

Rassismus zeigt sich in sehr vielen soziale Phänomenen. Es geht einerseits um die Erfahrung von Rassismus subtiler Art, wie er sich zeigt, wenn Menschen ›anderen‹ Aussehens nach ihrer Herkunft gefragt werden. Andererseits auch um Gewalterfahrungen wie der rechte Terroranschlag in Halle im Oktober 2019. Es geht um institutionelle Diskriminierung: Zum Beispiel ist es Lehrer*innen mit Kopftuch selten möglich, ihren Beruf auszuführen, obwohl das Verfassungsgericht Kopftuchverbote in Schulen mit hohen Auflagen versehen hat. Institutionelle Diskriminierung besteht aber nicht nur in Gesetzesform, sondern sie ist auch in die informelle wie auch formelle Kultur von Organisationen eingewoben. Es geht um rechtspopulistische Politik und um alle Arten von Diskursen. Bei Rassismus handelt es sich also um ein ausgesprochen komplexes Phänomen. Dementsprechend uneinig sind sich Wissenschaft sowie Gesellschaft darüber, was Rassismus eigentlich ist und wie sich Rassismus letztlich bekämpfen lässt. In der Forschung hat sich in den letzten Jahren die diskursanalytische Herangehensweise etabliert. Mit Diskursanalysen kann sehr gut gezeigt werden, wie sich Rassismen inhaltlich wandeln, welche historischen Wurzeln diese Wissensbestände haben, wie immer wieder neue soziale Gruppen rassifiziert werden, also als rassistisch Andere konstruiert werden. Auch lässt sich auf der Grundlage von Diskursanalysen Rassismus sehr gut aufzeigen und kritisieren. Dennoch sehe ich einige Gründe, die dagegensprechen, Rassismus allein mit Hilfe von Diskursanalysen zu untersuchen. Rassismus sollte auch als Form sozialer Ungleichheit untersucht werden. Mit Hilfe von Bourdieus Theorien der symbolischen Gewalt und symbolischer Kämpfe habe ich einen Vorschlag dazu vorgelegt, wie wir Rassismus als Struktur sozialer Ungleichheit verstehen können (Weiß 2013). Ich schließe dann mit einigen Empfehlungen dazu an, wie wir Rassismus erforschen sollten und was dies für antirassistische politische Strategien bedeutet.

Diskursanalysen gehen davon aus, dass Wissensbestände ihre eigene Dynamik haben, dass sich Diskurse ohne das Handeln und das Einverständnis von einzelnen Menschen weiterentwickeln. Dies wird oft vergessen, was diese Perspektive jedoch sehr interessant macht, um eine historisch langfristige und tiefsitzende Struktur wie Rassismus zu untersuchen. Diskursanalysen sind nicht nur auf Sprache fokussiert, wie häufig angenommen, sondern sie sind, wenn man den Diskursbegriff Foucaults verwendet, auch an Materialität interessiert. Foucault hat sich z.B. damit beschäftigt, wie im Übergang zur Neuzeit der Gedanke aufkam, dass Individuen durch Strafe gebessert werden könnten, und er konnte zeigen, dass dieser Gedanke schließlich in der Gefängnisarchitektur umgesetzt wurde: Gefängnisse also so konstruiert waren, dass die Gefangenen ständig beobachtet werden konnten. Das heißt, Foucault hat nicht nur Sprache und sprachliches Wissen untersucht, sondern auch die Materialität von Wissen, und dadurch sehr stark unterstrichen, wie machtvoll Diskurse sind. Außerdem zwingt uns eine diskursanalytische Forschungsperspektive dazu, eine kritische Haltung einzunehmen und die eigene Position zu reflektieren. Wenn festgestellt wird, dass Diskurse vermachtet sind, dann kann man nicht so tun, als könnte man diese neutral erforschen.

Trotz dieser vielen Vorteile von Diskursanalyse denke ich, dass Diskursanalysen alleine nicht ausreichen, um Rassismus zu erfassen. Zum einen werden Diskursanalysen oft so verstanden, dass in erster Linie kulturelle Kämpfe reflektiert werden. Meines Erachtens sollten wir uns auch stärker damit beschäftigen, wie wir Institutionen sowie Organisationen und Materialität in den Blick bekommen. Dies ist mit Foucault zwar möglich, aber es wird nur selten der Versuch unternommen. Das zweite Problem, das ich sehe, kann man relativ deutlich an der Intersektionalitätsforschung aufzeigen, weil diese ähnlich wie Foucault besagt, dass Identitätskonstruktionen nur ein Aspekt von Diskursen sind. Die Intersektionalitätsforschung hebt hervor, dass auch soziale Strukturen untersucht werden sollen, u.a. Klassen. Allerdings fällt es in der Forschungspraxis dann schwer, tatsächlich Klasse zu untersuchen, denn letztlich werden eben symbolische Kämpfe und kulturelle Fragen in den Blick genommen. Infolgedessen gelingt es intersektionalen Analysen in vorbildlicher Weise, Zusammenhänge zwischen Geschlecht und ethnischer Herkunft zu untersuchen. Aber wenn Institutionen unsichtbar im Hintergrund der Akteur*innen wirken, dann wird es schwierig, sie mit Ansätzen zu erfassen, die sichtbar kulturelle Kämpfe fokussieren. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: In der Bundesrepublik Deutschland sind sich eigentlich alle einig, dass Bildungsnachteile bei Schulkindern oft durch die Folgen von Migration zu erklären sind. Sowohl die ›Mitte der Gesellschaft‹, als auch der ›rechte Rand‹ sind sich diesbezüglich einig. Und auch viele (Post-)Migrant*innen finden, dass ihre Benachteiligung etwas mit ihren Erfahrungen und ihrer Identität zu tun hat. Wenn dies mit multivariaten Analysen betrachtet wird, dann sieht man, dass die Nachteile überwiegend mit Armut, Arbeitslosigkeit oder der geringen Bildung der Eltern zusammenhängen. D.h., weil viele Migrant*innen und ihre Kinder sozialstrukturell benachteiligt sind, sind sie auch im Bildungswesen benachteiligt. Und anscheinend ist es sowohl für die etablierten weißen Deutschen in der Mittelschicht, die ihre Kinder von Migrant*innen fernhalten wollen, als auch für Migrant*innen naheliegender, das Problem zu ethnisieren, als sich mit den materiellen Ungleichheiten zu beschäftigen, die viel wichtiger für Bildungsbenachteiligung sind. Solche Dynamiken bekommt man nur in den Blick, wenn nicht nur Identitätspolitik untersucht wird, sondern auch, über welche Ressourcen – wie Arbeit oder Geld – Menschen verfügen. Natürlich geht es auch um Rassismus: Z.B. sind Migrant*innen auch deshalb ärmer, weil ihre Bildung nicht anerkannt wird oder weil sie bei der Stellensuche diskriminiert werden. Das ist das, was die intersektionale Theorie richtigerweise herausstellt, aber es ist für eine Analyse, die sich primär auf kulturelle und symbolische Kämpfe richtet, schwierig, institutionelle Dynamiken zu erfassen. Das führt dann zu den sogenannten ›Sackgassen der Identitätspolitik‹. Ein relativ aktueller Fall ist ein Roman einer US-amerikanischen Autorin, die über die undokumentierten Migrant*innen aus Mexiko geschrieben hat. Danach wurde kontrovers darüber diskutiert, wie sie als Weiße das Elend der Mexikaner*innen für den eigenen literarischen Erfolg ausbeuten kann. Die Autorin fragt sich in einem Artikel selbstkritisch, ob sie wohl die richtige Person gewesen sei, diesen Roman zu schreiben. Sie habe zwar eine Oma aus Lateinamerika, aber eigentlich sei sie weiß und ein Mensch mit dunklerer Hautfarbe hätte diesen Roman schreiben müssen. Das scheint mir das Gegenteil von antirassistischer Kritik zu sein, denn hier werden durch eine kritische Bewegung Sprecher*innenpositionen nicht nur essenzialisiert, sondern auch verkörperlicht. Und das bringt selbstverständlich einige Probleme mit sich, wenn Rassismus bekämpft werden soll; darüber gibt es gegenwärtig zurecht interessante Debatten.

Es genügt also nicht, sich allein mit der Diskursanalyse zu beschäftigen. Bourdieus Theorie der sozialen Ungleichheit finde ich hilfreich, weil er keine traditionelle Klassentheorie vorgelegt hat. Er untersucht nicht nur verschiedene Kapitalsorten, auf die ich im Folgenden kurz eingehen werde, sondern er beschäftigt sich auch sehr intensiv mit kulturellen Fragen, und dann auch noch mit der sogenannten symbolischen Gewalt. Mit Blick auf die Kapitalsorten geht es Bourdieu nicht nur um ökonomisches Kapital, sondern auch um kulturelles und soziales Kapital. Hinzu kommt ein symbolisches Kapital, dass bei Bourdieu eher unbestimmt ist. Einerseits schreibt er, alle Kapitalsorten werden zu symbolischem Kapital, wenn sie anerkannt sind. Andererseits behandelt er symbolisches Kapital als eigenständige Kapitalsorte, was ich in meiner Theorie ebenfalls annehme. Bei Bourdieu sieht der soziale Raum in der eigenen Darstellung so aus, dass es auf der einen Seite eine Ungleichheitsachse gibt, die die Quantität von Kapital anzeigt. Auf der anderen Seite ist das Verhältnis zwischen ökonomischem und kulturellem Kapital wichtig. In den herrschenden Klassen gibt es, Bourdieu zufolge, eine Klassenfraktion mit viel Geld und wenig Bildung und eine Klassenfraktion mit nicht ganz so viel Geld, jedoch viel Bildung. Und vereinfacht gibt es noch die unteren Klassen – natürlich sind seine Theorien im Detail differenzierter. Bourdieus Einsicht, dass männliche Herrschaft und symbolisches Kapital wichtige Dimensionen sozialer Ungleichheit bilden, übersetzt er jedoch nicht in seine Klassentheorie. Er selbst hat sich nie mit Migration beschäftigt, weswegen Bourdieu weitergedacht sowie erweitert werden muss, wenn man sich im Sinne seiner Theorie mit Rassismus beschäftigen möchte.

In Weiß (2013) habe ich seine wissenschaftlichen Arbeiten zu männlicher Herrschaft und symbolischer Gewalt aufgegriffen. Bourdieu argumentiert in Bezug auf symbolische Herrschaft ganz ähnlich wie die Diskurstheorie, dass es Wissensbestände gibt, die selbstverständlich erscheinen und mit sozialen Strukturen, mit der Arbeitsteilung, mit der Organisation von Raum und Zeit, mit dem, was wir psychisch sowie physisch lernen, kongruent sind. Dies beschreibt er als symbolische Gewalt, was, wie gesagt, Foucaults Diskursbegriff zumindest ähnelt. Wichtig ist dabei noch, dass Bourdieu zwischen symbolischer Macht und symbolischen Kämpfen unterscheidet. Eine symbolische Macht liegt vor, wenn etwas als selbstverständlich erscheint, wenn Menschen also einfach davon ausgehen, dass ein Sachverhalt so sei und es keinen Raum für Gedanken oder Diskussionen gibt. Loïc Wacquant (1994), ein Schüler Bourdieus, hat als Beispiel für symbolische Gewalt angeführt, dass sich in den USA die sogenannte One-drop-rule durchgesetzt hat. Das bedeutet, dass alle Menschen, die afroamerikanische oder afrikanische Vorfahren haben, in den USA als Schwarz gelesen werden – sowohl von sich selbst als auch von anderen. Das ist ein Alleinstellungsmerkmal des Rassismus auf dem nordamerikanischen Kontinent, ganz anders als im südamerikanischen Raum. Es handelt sich um eine historische Besonderheit, die auf die Praxis zurückgeht, dass die weißen Sklavenhalter ihre Sklavinnen vergewaltigt haben und dann die eigenen Kinder als Sklav*innen verkauft haben. Diese historische Praxis der One-drop-rule diente der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung zur Mobilisierung möglichst vieler Schwarzer für ihre Anliegen. Insofern hat es in den USA nie einen Zweifel an dieser eindeutigen Aufteilung der Menschen gegeben, denn auch Menschen wie US-Präsident Barack Obama, dessen Mutter eine weiße Frau gewesen ist und der im Wesentlichen bei seiner Mutter und seinen Großeltern aufgewachsen ist, sehen sich ganz selbstverständlich als Schwarz. Das ist ein deutliches Beispiel für symbolische Gewalt – dass nämlich eine ganz bestimmte Art der rassistischen Klassifikation sowohl bei denjenigen selbstverständlich ist, die Rassismus fortschreiben wollen, als auch bei denen, die Rassismus kritisieren und bekämpfen. Rassismus kann als symbolische Gewalt gesehen werden. Indem ich Rassismus als symbolische Gewalt sehe, kann ich auch erklären, was rassistisches symbolisches Kapital ist. Von rassistischem symbolischem Kapital sollte dann die Rede sein, wenn Menschen auf einer sehr grundsätzlichen und selbstverständlichen Ebene das Recht abgesprochen wird, als Gleiche zu partizipieren. Das genügt, um sie auch sozialstrukturell schlechterzustellen (Fraser 2003). Diesen Mechanismus kann man gut an den insistierenden Fragen nach der Herkunft verdeutlichen: Denn mit ihnen wird ja gesagt: Gehörst du eigentlich dazu? Nein, Du gehörst nicht wirklich dazu. Du musst erst zeigen und erklären, dass und inwiefern Du dazugehörst. Drastischer wird das bei gewalttätigen Übergriffen sichtbar und wenn staatliche Institutionen rassifizierte Menschen ungleich behandeln. Es gibt also eine Bandbreite von subtilen und sehr expliziten Ausschlüssen, die in Zusammenhängen wirksam werden, die eigentlich ein universalistisches Gleichheitsprinzip zum Ziel haben. Wenn Menschen, die rassistisch konstruiert werden, nicht immer selbstverständlich als Gleiche partizipieren können, bezeichne ich das als rassistisches symbolisches Kapital.

Wenn man rassistisches symbolisches Kapital in die Sozialstrukturanalyse miteinbezieht, verändert sich die Struktur des sozialen Raums. In manchen Fällen entstehen Klassenfraktionen und feine Unterschiede wie Bourdieu sie theoretisiert: Zum Beispiel berichten Schwarze Ärzt*innen davon, dass sie hoch angesehene Mittelschichtsangehörige sind, aber im Krankenzimmer als Putzkräfte angesprochen werden (Essed 1991). Das ist eine stark demoralisierende Erfahrung, die einen großen Unterschied macht, aber sie sind wahrscheinlich trotzdem noch im Wesentlichen gut bezahlte Fachkräfte. Auf der anderen Seite gibt es Klassenpositionen, die sich zentral danach unterscheiden, ob jemand rassifiziert wurde oder nicht. Wenn man Rassifizierung nicht nur auf Hautfarbe bezieht, sondern z.B. auch auf Staatsangehörigkeit, dann sieht man sofort, dass Ausländer*innen oder undokumentierte Migrant*innen in so vielen Hinsichten benachteiligt sind, dass sich ihre gesamte sozialstrukturelle Situation deutlich von jener der unteren Klassen mit sicherem Rechtsstatus unterscheidet.

Mein theoretischer Vorschlag hat zur Folge, dass sich unser Nachdenken über Rassismus erweitert. Es bleibt wichtig, über direkte interpersonale und institutionelle Diskriminierung zu arbeiten, insbesondere dann, wenn offensichtlich ist, dass rassistische Delegitimierung im Vordergrund von Hassverbrechen oder von offensichtlicher Ungleichbehandlung steht. Hier gibt es weiterhin großen Aufklärungsbedarf. Es gibt aber auch indirekten institutionellen Rassismus, bei dem die Grenzen zwischen Ungleichheit und indirekter institutioneller Diskriminierung undeutlich werden. Ich hatte schon das Beispiel der Bildungsbenachteiligung genannt: Wenn Migrant*innen aus vielen Gründen, die von Arbeitsverboten über Diskriminierung bis hin zu selektiver Zuwanderung reichen, meist arm sind und ihre Kinder auf ein Bildungssystem treffen, das alle armen Kinder strukturelle benachteiligt, ist das zunächst eine klassische Ungleichheit. Wenn in diesem Bildungssystem dann alle – einschließlich der Migrant*innen – denken, dass es v.a. um ›kulturelle‹ Unterschiede geht, dann ist das Rassismus. Letzterer macht es schwerer für diese Kinder aufzusteigen und Rassismus trägt darüber hinaus zu weiteren Konflikten bei. Solche Teufelskreise sind auch ein wesentlicher Bestandteil des Rassismus

So zu denken, ist im öffentlichen Diskurs kontraintuitiv, weil viele Menschen davon ausgehen, dass es Leistungsgerechtigkeit gibt und dass es richtig ist, dass gebildetere Menschen mehr Geld verdienen. Wenn Migrant*innen ›nun mal leider‹ im Durchschnitt weniger gebildet sind, dann wird es als richtig angesehen, dass sie schlechtere Chancen haben. Dabei wird aber ausgeblendet, dass deren Bildung oft zu Unrecht entwertet wurde, dass sie arm sind, weil sie Arbeitsverboten unterlagen usw. Auf der anderen Seite gibt es Hass und extreme Formen von Rassismus, die in sich vollkommen unlogisch und nicht erklärbar sind. Und wenn man historisch ins Detail geht, dann fällt auf, dass beides ineinandergreift. Es gibt einen wichtigen Autor zu institutioneller Diskriminierung, Joe Feagin (2006), der in den letzten Jahren über systemic racism geschrieben hat. Er erzählt die Geschichte mehrerer Generationen einer schwarzen Familie in den USA und man sieht, wie sich struktureller Rassismus über Generationen hinweg verfestigt. Wenn weiße Menschen, die heute in den USA leben, ihre Familiengeschichte erzählen, können sie sagen, wann ihre Eltern es erstmals geschafft haben, ein Haus zu bauen oder wann in der Familie erstmals jemand zur Universität gegangen ist. Es gab Gelegenheiten zum Aufstieg und viele konnten sie ergreifen. Dann erzählt Feagin, wie die Geschichte für Schwarze US-Amerikaner*innen aussieht. Ihre Familiengeschichten beginnen mit der Freilassung von Sklav*innen. Und dann wurden die Schwarzen eben nicht gleichgestellt, sondern sie konnten über einen langen Zeitraum viele Berufe nicht ergreifen. Selbst als sie in den Norden wanderten, um dort Arbeit zu finden, durften sie nicht Gewerkschaftsmitglied werden und konnten daher viele der besseren Jobs in der Industrie nicht bekommen. Ihr Zugang zu Bildung war lange Zeit massiv eingeschränkt, und auch wenn sie schließlich – ein bis zwei Generationen später als ärmere Weiße – auf gute Schulen oder Universitäten gelangen konnten, erlebten sie dort und im Beruf rassistische Feindseligkeiten und Übergriffe. Eine solche Verwobenheit von ökonomischen Ungleichheiten, von rechtlichen Ausschlüssen und von direkten hasserfüllten Diskriminierungen lassen sich letzten Endes wenig auseinanderhalten. Deswegen sollten wir Rassismus auch als Dimension sozialer Ungleichheit untersuchen.

Abschließend würde ich gerne nochmals unterstreichen, dass ich mich nicht gegen Diskursforschung ausspreche. Im Gegenteil meine auch ich, dass Rassismus eine symbolisch vermittelte Dimension sozialer Ungleichheit ist, und dann muss man sich natürlich mit Diskursen und mit symbolischen Kämpfen auseinandersetzen. Bourdieu hilft dabei, zwischen symbolischer Gewalt und symbolischen Kämpfen zu unterscheiden. In der Forschung sehen wir oft nur die Spitze eines Eisberges symbolischer Gewalt, also das, was aktuell umkämpft ist. Andere institutionalisierte Ungleichheiten entziehen sich unserem Blick. Ein Beispiel in der Bundesrepublik Deutschland ist auch hier wieder das Thema Migration und Bildungswesen: Soziale Arbeit und soziale Einrichtungen sind hierzulande nach dem Subsidiaritätsprinzip organisiert, sind also in kirchlicher Hand. Das Geld kommt zu einem großen Teil vom Staat, weil ja eine Leistung für die Allgemeinheit erbracht wird, beispielsweise in einer katholischen Kindertagesstätte. Aber die Entscheidung darüber, wer in der katholischen Kindertagesstätte arbeitet, obliegt der Kirche und die Kirche darf dann auch entscheiden, nur Christ*innen einzustellen. Immer wieder kommt es zu Klagen, die dann von der Justiz abgewiesen werden, denn das Subsidiaritätsprinzip hat Verfassungsrang. Solche Beispiele zeigen, dass die Rassismusforschung in die Irre geht, wenn sie nur symbolische Kämpfe untersucht. Sie sollte auch Institutionen fokussieren, die häufig sehr verdeckt und mit großer Selbstverständlichkeit massive Konsequenzen hervorbringen.

Um nochmals zu illustrieren, worin ich das Problem sehe: Wenn man identitätspolitisch argumentiert, plädiert man dafür, dass endlich einmal denjenigen Menschen zugehört werden sollte, die von Rassismus betroffen sind. Zugleich haben Theoretiker der Cultural Studies wie Stuart Hall (1997) schon vor Jahrzehnten darauf hingewiesen, wie schwierig eine Politik der Repräsentation ist. Auch in der postkolonialen Theorie wird darüber reflektiert, ob und wie zum Beispiel ein*e Schwarze*r behaupten kann, für Schwarze Menschen zu sprechen (Castro Varela und Dhawan 2003). Und es liegen wirklich interessante Arbeiten dazu vor, welche Methoden wir brauchen, um die eigene Position zu reflektieren (Shinozaki 2012).

Allerdings lenkt das Interesse an Identität und Selbstreflexion auch in die falsche Richtung und es kann sogar denen in die Hände spielen, die soziale Probleme ethnisieren wollen, weil dies ihre rassistischen Haltungen stützt. Vor einigen Jahren gab es intensive Diskussionen über eine kleine Zahl konservativer muslimischer Väter, die ihren Töchtern nicht erlaubten, den Schwimmunterricht zu besuchen. Die Wogen schlugen hoch, aber zur gleichen Zeit wurden in vielen Kommunen, insbesondere in den armen Kommunen und den Vierteln der armen Bevölkerung, die Schwimmbäder geschlossen. Dies betrifft Hunderttausende von Kindern, die deswegen nicht mehr schwimmen lernen. Natürlich unterscheiden sich die Probleme und auch ich würde mich eher darüber empören, wenn Mädchen von Patriarchen an Bildung gehindert werden. Wenn eine Stadt ›nun mal‹ über keine ausreichenden finanziellen Mittel für den Erhalt von Schwimmbädern verfügt, kann man darüber auf den ersten Blick nur Bedauern äußern. Aber wenn man genau hinsieht, erkennen wir, dass man auch an den Schwimmbadschließungen eine Logik des Ausschlusses erkennen kann. Es wird eben breit akzeptiert, dass es gerade die Kinder sozial benachteiligter Klassen sehr viel schwerer haben. Und das hat eine institutionelle Seite, die auch ganz anders aussehen könnte. Hierzu ein letztes Beispiel: Das Bildungs- und Teilhabepaket wurde ja eingerichtet, damit arme Kinder gezielt gefördert werden. Leider sind die Formulare aber so kompliziert, dass es immer noch sehr schlecht angenommen wird. Vor einigen Jahrzehnten waren Schwimmbäder und Musikschulen und andere Bildungsangebote kostenlos – teils mit dem einfachen Nachweis, dass ein Kind Sozialhilfe bezieht. Das war unkompliziert und es funktionierte. Wenn man diese Problemlagen insgesamt ansieht, dann kann man sagen, dass der Fokus auf Kulturkämpfe von institutionellen Benachteiligungen und Diskriminierungen ablenkt. Hier sollte die Forschung wirklich mehr tun.

Was heißt das für antirassistische politische Strategien? Wir sollten neben der Diskurskritik auch Strukturen sozialer Ungleichheit in den Blick nehmen. Und mit Strukturen sozialer Ungleichheit meine ich nicht, nur Klassenunterschiede zu betrachten – das ist das große Versäumnis der politischen Linken, dass diese immer entweder Klasse oder Rassismus thematisiert: Letztendlich greift beides ineinander und es ist meist einfacher, Menschen von Ressourcen auszuschließen, wenn man sie rassistisch diskreditiert. Diesen Punkt mache ich auch deshalb so stark, weil das Plädoyer, die eigenen Vorurteile zu reflektieren, Weiße oft in eine Position bringt, von der aus sie kaum noch weiterkommen können. Wenn Menschen als Andere in einer Gesellschaft markiert und somit ausgrenzbar sind, dann wissen das alle sozialen Akteur*innen und sie verhalten sich entsprechend. Wenn Weiße wohlmeinend sind, versuchen sie, die Benachteiligung durch besondere Freundlichkeit zu kompensieren, aber das ist ebenso rassistisch. Vorurteile sind also zu erwarten und es ist wenig weiterführend, sich in christlicher Manier an die Brust zu schlagen und seine kollektive Schuld zu bekennen. Es würde sehr viel mehr helfen, wenn die Wissenschaft zumindest den wohlmeinenden Weißen klarer sagen würde, wo massive institutionelle Ungleichheiten bestehen, die dringend abgebaut werden müssen. Dann müsste man auch mal ernst machen, und in der Folge würden wir sehen, wer sich nur selbstkritisch an die Brust schlägt, weil man so Konflikte vermeiden kann, und wer wirklich bereit ist, den Kuchen zu teilen. Ich gehöre also zu dem Teil der antirassistischen Bewegung, der breite Bündnisse schließen will. Die Herausforderung besteht darin, in diesen Bündnissen Positionsunterschiede anzuerkennen, aber sie nicht zu essenzialisieren.

Literatur

Castro Varela, María do Mar und Nikita Dhawan (2003): Postkolonialer Feminismus und die Kunst der Selbstkritik. In: Hito Steyerl und Encarnación Gutiérrez Rodríguez (Hg.). Spricht die Subalterne deutsch? Migration und postkoloniale Kritik. Münster: Unrast Verlag, S. 270–290.

Essed, Philomena (1991): Understanding everyday racism. An interdisciplinary theory. London, Thousand Oaks, New Delhi: Sage.

Feagin, Joe R. (2006): Systemic racism: a theory of oppression. New York: Routledge.

Fraser, Nancy (2003): Soziale Gerechtigkeit im Zeitalter der Identitätspolitik. In: Nancy Fraser and Axel Honneth (Hg.). Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 13–128.

Hall, Stuart (1997): The work of representation. In: ders. Representation. Cultural Representation and Signifying Practices. London, Thousand Oaks, New Delhi: Sage, S. 13–74.

Shinozaki, Kyoko (2012): Transnational dynamics in researching migrants: self-reflexivity and boundary drawing in fieldwork. In: Ethnic and Racial Studies 35(10) 1810–27.

Wacquant, Loïc J. D. (1994): Who Is Black? One Nation’s Definition. Theory & Society 23(6) 902–908.

Weiß, Anja (2013): Rassismus wider Willen. Ein anderer Blick auf eine Struktur sozialer Ungleichheit. 2. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Kien Nghi Ha

Hybridität und Widerstand – Konstruktionen von Identität und Kultur im Zeitalter der kolonialen Globalisierung

In den letzten drei Jahrzehnten hat das Thema der komplex zusammengesetzten Kulturen, die sich mit ihren ambivalenten Überschneidungen von Geschichte, Identität und Macht jenseits organischer oder linearer Konzeptionen bewegen, verstärkte Aufmerksamkeit erfahren. Folglich hatte gerade dieser Theoriemarkt viele Neuerungen wie diskursive und institutionelle Wachstumsprozesse zu verzeichnen. Inzwischen ist dieser Forschungsbereich durch ein kaum noch zu überschauendes Angebot an konkurrierenden und alternativen Terminologien geprägt, die Prozesse der kulturellen Überlagerungen und Grenzüberschreitungen thematisieren. Das vor allem durch die Schriften von Homi Bhabha (2000) stark popularisierte Konzept der Hybridität dürfte mittlerweile nicht nur dem akademischen Mainstream bekannt sein. Wie erfolgreich diese Begriffskarriere verlief, wird deutlich, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass die Integration von Hybridität in den wissenschaftlichen Kanon längst eingesetzt hat – obwohl gerade das Hinterfragen jeglicher Kanonbildung einen zentralen Ausgangspunkt poststrukturalistischer wie postkolonialer Kritik bildet.

Vor diesem Hintergrund rekonstruiert dieser Beitrag die sich wandelnden kulturhistorischen Vorstellungen über das Hybride, die gesellschaftlich relevante Ängste, Hoffnungen und Begierden offenlegen. Dieser Essay fasst meinen diskursanalytisch, kulturhistorisch und kulturtheoretisch angelegten Ansatz zur Rekonstruktion der Kulturgeschichte der Hybridität in meinem Buch Unrein und vermischt (Ha 2010) zusammen. In dieser Studie wird anhand von zahlreichen Beispielen der Versuch unternommen, die kolonialen Aspekte der hybriden ›Rassenvermischung‹ aufzuarbeiten und mit einer kritischen Analyse der gegenwärtigen Obsession um kulturelle Hybridität als revolutionäres Technologiemodell, kulturindustrielle Massenkonsumware und Phänomen des postkolonialen Signifyings zu verbinden.

Meine Untersuchung der Kulturgeschichte der Hybridität ist innerhalb der postkolonialen Kritik verortet. Homi Bhabhas vielschichtiger Hybriditätsbegriff verfügt über unterschiedliche Bedeutungsdimensionen, in denen Hybridität als Zeichen kolonialer Ambivalenzen, aber auch als offenes Kulturmodell jenseits binärer Zuordnungen theoretisiert wird. Im Zuge der deutschsprachigen Rezeption des Begriffs der kulturellen Hybridität findet jedoch häufig eine problematische Bedeutungsreduktion statt. So zeigt sich, dass sich mit der Popularisierung und Assimilation dieses Begriffs im sozial- und kulturwissenschaftlichen Diskurs ein Verständnis eingebürgert hat, in dem Hybridität aufgrund einer verkürzten und instrumentalisierenden Rezeptionsweise oftmals als postmoderne Theorie der Vermischung der Kulturen angesehen wird, die mit zweifelhaften Implikationen einhergeht. Auf diese Weise werden jedoch das kritische Potenzial und die politische Interventionskraft des postkolonialen Diskurses durch kulturalisierte und zum Teil auch essenzialisierende Übersetzungs- und Aneignungsprozesse im deutschsprachigen Raum erheblich neutralisiert (vgl. Ha 2010: 43–107).

In der deutschsprachigen Rezeption kultureller Hybridität spielt die kritische Reflexion ihrer kolonialen Dimensionen eine untergeordnete Rolle. Die mangelnde Berücksichtigung dieses grundlegenden Aspekts ist angesichts der fundamentalen Bedeutung kolonialer Verhältnisse mit ihren globalen Auswirkungen ein erstaunliches Defizit. Die koloniale Dimension in der Diskussion postkolonialer Diskurse aus dem Blick zu verlieren, bedeutet, eine wesentliche Grundlage der globalen, der westlichen und zweifelsohne auch der deutschen Kultur- und Sozialgeschichte unsichtbar zu machen. Eine solche diskursive Konstellation ist jedoch kaum in der Lage, eine vielschichtig angelegte Diskussion über kulturelle Hybridität anzuregen. Die Gründe für diesen Missstand sind sicherlich vielfältig. Die lange verdrängte Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte spielt dabei zweifellos eine ebenso wichtige Rolle wie ein Gesellschaftsbild, das bis heute den deutschen Rassismus als ein strukturelles Problem mit historischem Ausmaß negiert. Darüber hinaus wird die Kultur des Rassismus viel zu selten mit dem Diskurs über die Nation in Zusammenhang gebracht.

Hybridität im kolonial-rassistischen Kontext

Hybridität als Allegorie der sozialen Grenzüberschreitung und kulturellen – seit der kolonialen Neuzeit oftmals auch ›rassischen‹ – Vermischung war immer mit obsessiven Fantasien besetzt, die die gesellschaftliche Machtsignatur ihrer Zeit in sich bargen. Die Einführung von ›Rassenkategorien‹ in der kolonialen Welt, die fest an hierarchisierte Gesellschaftspositionen gekoppelt waren, schuf ein neues bevölkerungspolitisches Paradigma von epochaler Tragweite, das eine entsprechende Biopolitik ermöglichte. Durch die Erfindung biologischer ›Rassen‹ entstand unter kolonialer Herrschaft, nicht zuletzt durch massenhafte Vergewaltigungen Schwarzer und indigener Frauen forciert, das Phänomen der ›Rassenvermischung‹.

Vor diesem geschichtlichen Hintergrund ist es notwendig, die Konstruktion kultureller Hybridität als abzulehnende ›Rassenvermischung‹ in der Kolonialgeschichte nicht zu vergessen. Gerade die deutschen Beiträge zur kolonialwissenschaftlichen Konstruktion des ›Rassenbastards‹ waren weitreichend und bedeutsam. An der sozialen Erfindung von ›Rasse‹ und ›Rassenvermischung‹ hatten führende europäische ›Masterminds‹, die sich selbst als humanistische Anhänger des Rationalismus und der Aufklärung begriffen, einen beachtlichen Anteil. Kolonial-rassistische Ansätze, angefangen bei berühmten Werken der westlichen Aufklärung über die Eugenik und den Sozialdarwinismus im 19. Jahrhundert bis zur nationalsozialistischen ›Rassenhygiene‹, fokussierten sich obsessiv auf den ›Rassenbastard‹ als eine sozialpathologische Figur, die als besonders minderwertig, degeneriert und gefährlich konstruiert wurde. Die uneingestandene ideologische Komplizenschaft begünstigte Forschungsdisziplinen, die sich aufgrund ihrer politischen Wirkungsmacht gerade in Deutschland als fatal erwiesen. Die Geburt der modernen Wissenschaften aus dem Geist des Kolonialismus stellt bis heute eine schwere Hypothek dar und verweist auf die Notwendigkeit zur selbst-reflexiven und herrschaftskritischen Wissenschaftspraxis.

Im Zuge der qualvollen Geburt der Moderne wurde der Kolonialdiskurs über ›Rassenvermischung‹ aus dem Geist der europäischen Antike heraus eingeleitet. In diesem Negativierungsprozess, in dem die soziokulturelle Vermischung als gesellschaftlicher Niedergang interpretiert wurde, spielten sowohl die Reanimierung antiker Vorstellungen über die Monstrosität des Hybriden als auch die durch mittelalterlichen Adel und Christentum konstruierte Unrechtmäßigkeit, Sündhaftigkeit und Minderwertigkeit des unehelichen ›Bastards‹ eine bedeutsame Rolle. Wie stark das moderne Verständnis einer ›rassischen‹ Hybridisierung als biologische Kreuzung von Anfang an von einer ›widernatürlichen Degenerationserscheinung‹ ausging und die philosophisch-naturwissenschaftlichen Diskurse der Aufklärung durch die Verquickung von Biologismus, Dämonisierungsängsten und antiken Mythologien geprägt wurden, lässt sich etwa in den ideengeschichtlich überaus einflussreichen Werken von Platon, Immanuel Kant, Johann Gottfried Herder, Friedrich Nietzsche und anderen in Erfahrung bringen. Ihre Überzeugungen entsprachen einer Evidenz, die ihre Autorität durch eine interessensgeleitete Definitionsmacht erlangte und sich mit der Ausweitung kolonialer Imperien universalisieren konnte (vgl. Ha 2010: 129–194).

Mit der westlichen Expansion in außereuropäische Räume wurde die globalisierte Neuzeit eröffnet, die unsere heutige Gegenwart immer noch miteinschließt. Die Grundlagen dieser selbstherrlichen Epoche beruhten maßgeblich auf Besitz- und Herrschaftsansprüchen; darunter Ansprüche auf Land, Natur und dehumanisierte Menschen, die sich auf die angebliche ›Entdeckung‹ der ›Neuen Welt‹ stützten und einen ungeheueren Prozess der Macht- und Wissensproduktion einleiteten. Aufbauend auf der nachhaltigen Destruktion außereuropäischer Gesellschaften wurde in einer bis dahin historisch einmaligen Entwicklung die millionenfache Versklavung und Kolonialisierung von indigenen Menschen in Amerika, Afrika und anderen Teilen der Welt erzwungen. Der transatlantische Sklavereihandel und die mit ihm verbundene Kolonialökonomie bildeten nicht nur eine wesentliche Voraussetzung für die ursprüngliche Kapitalakkumulation Europas, sondern markierten auch einen Auftakt, der zum Aufbau weltumspannender Kolonialreiche unter der Einbeziehung von Asien, Australien und der pazifischen Inselwelt führte. Mit den Kolonialgesellschaften entstanden nicht zuletzt neue Normen, Werte und Diskurse, die vielfach darauf abzielten, die durch diese Gesellschaftsform ermöglichte soziale Herrschaft und kultur-ökonomische Ausbeutung zu rechtfertigen und zu festigen. Zu den sozialtechnischen Innovationen kolonialer Vergesellschaftung zählte auch die Naturalisierung sozialer Verhältnisse in Form von unterschiedlich privilegierten bzw. unterdrückten ›Rassen‹ (vgl. etwa Geiss 1988).

Vor diesem epochalen Hintergrund sind die weitreichenden kolonial-rassistischen Diskurse über sogenannte ›Rassenbastarde‹ als ideologische Fix- und Brennpunkte der Kolonialgesellschaft zu kontextualisieren. Ihre gesamte Weltanschauung beruhte auf dem Glauben an eine biologisch oder metaphysisch verabsolutierte ›Rassenpyramide‹. Diese Hierarchisierung drohte durch verschiedene Formen der Grenzüberschreitungen ins Wanken zu geraten. Weit davon entfernt, nur ein neu entdecktes Phänomen der kulturellen Fusion in der postmodernen Ära zu sein, wurde die Idee der soziokulturellen Vermischung mit der Etablierung kolonialer Diskurse und Praktiken in ein ›rassisches‹ Konzept eingebettet und mit dem ›Bastard‹-Diskurs verknüpft. Dies ermöglichte, soziokulturelle Transgressionen aus einer ideologischen Perspektive zu deuten, die oftmals explizit von einem Recht auf weiße Vorherrschaft und Schwarze Sklavenökonomie ausging. Die Idee der ›Rassenvermischung‹ setzt die Existenz von vermeintlich reinen und voneinander getrennten ›Rassen‹ voraus, die diskursiv konstruiert, durch ein Wahrheitsregime legitimiert und in national bzw. regional unterschiedlich ausgestalteten Rechtssystemen legalisiert wurden. In dem Maße, in der die Vorstellung einer primordial vorgegebenen ›Rassenzugehörigkeit‹ sich als essenzielle Eigenschaft des menschlichen Körpers durchsetzte und sich durch die anthropologische Vorstellung einer Rassenpyramide‹ zur Abwertung von People of Color weltweit hegemonialisierte, konnte der Rassismus als gesellschaftliches Ordnungsmodell stabilisiert und durch vielfältige Machtverhältnisse wie normierende -praktiken wirksam werden – etwa in Form von Gesetzen gegen ›Mischehen‹ in Europa und in den Kolonien (vgl. El-Tayeb 2001).

Ausgerechnet mit der zunehmenden Rationalisierung und Verwissenschaftlichung des Sozialen erlebte der Hybridbegriff im 19. Jahrhundert seine diskursive ›Wiedergeburt‹ in der aufkommenden Evolutionsbiologie und kolonial-rassistischen Anthropologie. Ausgangspunkt für diese Entwicklung in den Naturwissenschaften waren die Darwin’schen und vererbungstheoretischen Paradigmen in den Biowissenschaften des 19. Jahrhunderts. Mit der Publizität, die die ›Wiederentdeckung‹ des Hybriden zur Jahrhundertwende in Folge der verspätet einsetzenden Anerkennung der Mendel’schen Vererbungsgesetze (1866) in den Lebenswissenschaften begleitete, wurde auch die Rassenanthropologie und sozialdarwinistische Eugenik aufgewertet. Diese international bis Mitte des 20. Jahrhunderts weithin anerkannten Wissenschaftsbewegungen sahen darin eine naturwissenschaftliche Fundierung ihrer rassistischen Positionen, die dezidiert den ›Rassenbastard‹ als biologisches wie kulturelles Problem mit hoher Priorität konstruierte und pathologisierte. Im Zeitalter des Imperialismus konnten sich kolonial-rassistische Denkmuster auf einen breiten gesellschaftlichen Konsens stützen, der oftmals zur Grundlage staatlicher Praxis wurde. Überzeugungen, die wie selbstverständlich von der Überlegenheit der ›weißen Rasse‹ ausgingen und vor den vielfältigen Gefahren der ›Rassenschande‹ warnten, galten zu dieser Zeit weitgehend als gesichertes Wissen. In Deutschland fand die rassistische Eugenik um die Jahrhundertwende besonders viele Anhänger*innen, die oft gesellschaftlichen Eliten angehörten (vgl. Kühl 1997).

Auf dieser Grundlage formierte sich in Deutschland eine international führende rassistische Bewegung, die ihr gesellschaftlich kaum hinterfragtes Prinzip der umfassenden Diskriminierung bzw. Vorherrschaft qua Rassenkategorien mit wissenschaftlichem Anspruch, aber pseudo-rationaler Wissensgrundlage vertrat. Im Zeitalter des Imperialismus wirkte sich der wissenschaftliche Rassismus über die westlich beherrschte Welt und darüber hinaus gesellschaftsstrukturierend aus. Gerade deutsche Akademiker waren in Kooperation mit anderen Trägern der sozialen Elite an der internationalen Verwissenschaftlichung eines eugenischen Rassismus führend beteiligt. In der sozialdarwinistischen Eugenik und ›Rassenhygiene‹ entwickelten sich diskursive Praktiken, die sich manisch exzessiv mit der Konstruktion, Pathologisierung und Bekämpfung der ›Rassenvermischung‹ beschäftigten (vgl. Kühl 1997). Eine herausragende Figur im rassenbiologistischen Diskurs war Eugen Fischer, der 1913 die Ergebnisse seiner ›wissenschaftlichen‹ Feldexpedition im kolonialen ›Deutsch-Südwestafrika‹ unter dem Titel Die Rehobother Bastards und das Bastardisierungsproblem beim Menschen veröffentlichte. Unter den damaligen Bedingungen wurde dieses Buch rasch zu einem Standardwerk, und sein Autor stieg zu einem international geachteten Gelehrten auf. Fischers zeitgenössischer Ruhm resultierte vor allem daraus, dass er die Ergebnisse der Mendel’schen Regeln, die bis dahin nur für Kreuzungen mit Pflanzen und Tierarten als bestätigt galten, auch auf die menschliche Spezies übertrug. Trotz konträrer Ergebnisse wollte Fischer die weitverbreiteten Behauptungen über die nachteiligen bis gefährlichen Auswirkungen der ‹rassischen‹ und kulturellen Vermischung beim Menschen bestätigen. Fischer ist nur ein Beispiel dafür, wie biologistischer Rassismus in Deutschland verwissenschaftlicht wurde und aufgrund der gesellschaftlichen Nachfrage akademische Karrieren nicht nur während der NS-Zeit ermöglichte (vgl. El-Tayeb 2001: 83-92).

Umkämpfte Hybridisierungen: Zwischen Konsumkultur und postkolonialem Signifying

Im Zuge der Entwicklung anti-kolonialer Kritik und postkolonialer Diskurse entwickelt Homi Bhabha in seiner Analyse der Ambivalenz kolonialer Diskurse eine poststrukturalistisch beeinflusste Perspektive auf den Begriff der Kultur selbst. Damit ist ein Denkansatz umrissen, der den Blick vom Zentrum hin zu den Rändern verlagert und die gegenseitigen Überlappungen von Innen und Außen thematisiert. Sein Ansatz sucht die dualistische Behauptung festgeschriebener Identitäten und Differenzen zu zerstreuen und theoretisiert die Unvollkommenheit und Durchlässigkeit von dynamischen Grenzziehungen. Bhabha betont, dass er sich explizit von der Vorstellung eines Multikulturalismus auf der tradierten Basis von Ethnien und nationaler Zugehörigkeit abwendet. Ihm geht es vielmehr um die Ermöglichung eines Denkens ohne fixe Demarkationslinien, in der die Bedeutung kultureller Differenz nicht vorausgesetzt, sondern erst im Raum dazwischen durch Momente der Übersetzung und Aushandlung entsteht.

Der Aufstieg und der Bedeutungswechsel des Hybriden zeigt einen ernst zu nehmenden Wertewandel in der Kulturgeschichte der westlichen Moderne an. Denn die neue Wertschätzung der Hybridisierung ist bislang eine einzigartige Erfahrung im vermeintlich streng aufgeklärten europäischen Denken, in dem die diktatorische Logik des Entweder-Oder-Prinzips gerade in der wissenschaftsbasierten Moderne unangefochten als pure Vernunft galt. Im Unterschied zu den vorherrschenden Machtkategorien der binären Unterscheidung baut die Idee der Hybridisierung nicht auf ausschließlichen Prinzipien wie Singularität und Totalität auf, sondern geht von unhintergehbaren Differenzen und Uneinheitlichkeit aus. Statt mit exkludierenden Gegensätzen zu operieren, werden Konzepte der Grenzauflösung in den liminalen third spaces favorisiert. Mit dieser Neuorientierung ist ein Paradigmawandel verbunden, der statt von der uniformen Bewahrung imaginärer Authentizität nun von der Dynamik der Vermischung ausgeht. Dieser Perspektivwechsel könnte gerade für die kulturelle Geschäftsgrundlage ›des Westens‹ zu einem veränderten Verhältnis zur Differenz führen, die den bislang peripherisierten Anderen nicht mehr per se außerhalb des dominanten Selbst verortet und kategorisch innerhalb der Metropolen ausgrenzt. Die Folgewirkungen wären weitreichend und widersprüchlich zugleich.

Aus dieser Vorstellung hat sich infolge einer häufig universalisierenden, ahistorischen und gleichzeitig verkürzten Rezeption, die von Bhabhas konkretem Bezug auf koloniale Machtverhältnisse absieht, ein postmodernes Image von Hybridität entwickelt, das weit über die Grenzen des postkolonialen Diskurses hinaus populär geworden ist. Gerade in der euphorischen Anfangsphase der Rezeption erschien Hybridität in dieser reduktionistischen Sichtweise fast ausschließlich als produktiver third space, der als neuer Grenzraum des transkulturellen Austauschs und der interkulturellen Vermischung im Zeitalter der Globalisierung und Migration fetischisiert wurde. In dieser merkwürdig freien Welt des grenzenlos gedachten Austauschs sind Dominanz und Diskriminierung scheinbar weitgehend getilgt und der Fokus ist ganz auf neue Möglichkeiten der Produktivität und Neuschaffung gerichtet. Verstärkt wird dieses Verständnis von Hybridität durch eine eindimensionale Perspektive, die beispielsweise die Innovationsfreudigkeit des transnationalen Kinos feiert, das von Migrationskulturen und ihren Zwischenwelten erzählt, oder die unendlichen transkulturellen Kombinationsmöglichkeiten durch Sampling und Cut’n’Mix in der Musik bejubelt. Was dabei allzu leichtfertig aus dem Blick gerät, ist, dass die transkulturelle Populärkultur sowohl die veränderten Konsumbedürfnisse des zahlungskräftigen Publikums als auch die neuen Strukturen, Produktionsmöglichkeiten und Märkte der Kulturindustrie reflektiert. Dadurch entstehen aber auch neue soziale Ausschließungen und kulturelle Hierarchien. Gegenwärtig findet in der Diskussion über die Chancen und Potenziale der kulturellen Globalisierung eine epistemologische Umdeutung statt, in der Hybridität eine sehr positive Wertschätzung und Anerkennung erfährt. Dieser radikale Wertewandel macht eine Analyse unumgänglich, in der Fragen nach kulturindustriellen Verwertungsinteressen in der spätkapitalistischen Produktionsweise und ihr Bedürfnis nach permanenten Innovationen, konsumptiven Differenzen und uneingrenzbarer Vielfalt als Motor für technische Entwicklung und gesellschaftlichen Fortschritt in den Vordergrund gestellt werden.

Angesichts dieser geschichtlichen und theoretischen Hintergründe ist es besonders problematisch, wenn, wie im deutschsprachigen Raum, Hybridität nicht selten ohne die grundlegenden historischen und politischen Kontexte einfach als ›kulturelle Vermischung‹ vorgestellt und euphorisch als alternativer Vergesellschaftungsmodus zelebriert wird, der die bisherigen Forderungen nach kultureller Assimilation und Einordnung von Migrant*innen ersetzen soll. Obwohl das Modell der ›Vermischung der Kulturen‹ sich gegen die hegemonialen Homogenisierungsbestrebungen des völkisch definierten Nationalstaats wendet, sind die prinzipiellen Probleme des Multikulturalismus auch in dieser (post-)modernisierten Variante weiterhin ungelöst. Nicht zuletzt wird kulturelle Differenz – trotz des häufig postulierten Anti-Essenzialismus und der oft verwendeten Konstruktionsmetapher – immer noch anhand nationaler und ethnisierter Grenzen festgelegt. Die Gefahr, dadurch einen national wie ethnisch aufgeladenen Kulturbegriff zu verwenden, ist offensichtlich. Im Unterschied zum völkischen Ethnopluralismus der Neuen Rechten wird dabei nicht ›Rasse‹ über ›Ethnie‹/›Nation‹ in ›Kultur‹ übersetzt, aber Kultur durch ihre Ethnisierung essenzialisiert und für biologisierende Denkweisen geöffnet.

Verschärft wird das Problem der kulturellen Ethnisierung des Sozialen besonders dann, wenn Hybridität unter Ausblendung seiner kolonial-rassistischen Kontexte verwendet wird. Wenn überhaupt, wird diese historische Blindstelle, die gerade im deutschen Kontext charakteristisch für den gesellschaftlichen Umgang mit der eigenen Kolonialgeschichte ist, euphemistisch überdeckt, indem auf die vergleichsweise ›geringe‹ Verantwortung Deutschlands und auf die Ermöglichung kultureller Kreolisierungsprozesse im kolonialen Zeitalter hingewiesen wird. Herrschafts- und Widerstandsprozesse, die untrennbar mit den gewaltigen Massenverbrechen der Kolonialisierung verbunden sind, bleiben dagegen bei der ästhetisierenden Rezeptionsweise von Hybridität meist unberücksichtigt. So drängt sich der Verdacht auf, dass die kritische Aufarbeitung des Hybriditätsbegriffs und seiner Kolonialgeschichte nicht nur dem gesellschaftlich Verdrängten zum Opfer fällt, sondern auch als irrelevant und unerwünscht betrachtet wird.

Auffällig ist zumindest, wie diese Geschichtsvergessenheit und die Verdrängung von Kolonialgeschichte in der deutschsprachigen Rezeption postkolonialer Kulturkritik mit einer kulturalistischen Perspektive korreliert, die sich Hybridität vor allem unter den Vorzeichen gesellschaftlicher Modernisierung, erweiterter Konsummöglichkeiten und postmoderner Ästhetik für kosmopolitische wie kunstbeflissene Eliten in den Metropolen aneignet. Ebenso können dominante Repräsentationstechniken durch kulturelle Diversität und bunte Vermischung ein Bild der Gesellschaft suggerieren, in der die tatsächliche Ausgrenzung oberflächlich unsichtbar gemacht wird. Repräsentationen, welche die hegemonialen Machtebenen stabilisieren, ohne die Erfahrungen gesellschaftlicher Exklusion und Diskriminierung zu tangieren, verfestigen die bestehenden Hierarchien. Im Zusammenhang mit dem offiziell auf soziale und kulturelle Selektion setzenden Migrationsregime, das ganz offensichtlich mit rassistischen Effekten einhergeht, werden bestimmte einwanderungswillige Gruppen mit dem Charme der kulturellen Vielfalt in den Dienst der nationalen Standortsicherungspolitik wie der staatlichen Imagepflege gestellt. Während der Grand Prix Eurovision sich als Fallbeispiel für eine nationalökonomische Strategie zur Gewinnung kulturellen Kapitals lesen lässt, zeigt der Berliner Karneval der Kulturen die Aufwertung lokaler Räume durch diversity management. Kulturindustrielle Popkonsumprodukte wie die Retortenbands No Angels, Bro’sis, Overground und Preluders versuchten in den letzten Jahren unterschiedlich erfolgreich durch die Zurschaustellung ›rassischer‹ Diversität belanglose Musikprodukte durch Sexappeal und Exotik kommerziell zu vermarkten (vgl. Ha 2010: 229–254).

Die Hoffnung, durch nicht festlegbare In-Between-Kategorien hegemoniale Konzepte und gesellschaftliche Machtverhältnisse zu hinterfragen und zu destabilisieren, erweist sich in ihrer gesellschaftlichen Modernisierungswirkung als durchaus inkorporierbar. Nicht zuletzt können die transformativen Effekte der Hybridisierung affirmativ im Rahmen des Bestehenden verbleiben und müssen nicht notwendigerweise die Grenzen zwischen dem Dominanten und dem Marginalisierten überschreiten. Allerdings deuten andere populärkulturelle Phänomene wie der ›Kanaken‹-Diskurs darauf hin, dass die politischen Effekte kultureller Hybridisierung sich insgesamt doch ambivalenter auswirken. Seitdem Feridun Zaimoğlu in Kanak Sprak (1995) diese Figur durch die rhetorische Übernahme und Abwandlung einer neorassistischen Chiffre allmählich gesellschafts- und diskursfähig machte, kann ihr Image sowohl als popkulturelle Ware verwertet wie als anti-rassistische Allegorie postkolonialen Signifyings genutzt werden.

Mimikry als postkoloniales Widerstandsmodell

Obwohl kulturelle Hybridisierung auf der einen Seite oftmals warenförmig ist und politisch durch die Dominanzgesellschaft vereinnahmt werden kann, ist der uneindeutige Raum kultureller Ambivalenz auf der anderen Seite prinzipiell unabschließbar und umkämpft. Er bietet immer noch Platz für subversive Praktiken, die etwa mit den Strategien der Adbusters und Culture Jammers operieren. Als Kommunikationsguerilla zielen solche kulturpolitischen Taktiken auf ironische Verfremdungen und Umkehrungen von dominanten Zeichen und Symbolen im Diskurs marginalisierter Akteur*innen. Ihre Entstellungen kritisieren dominante Machtverhältnisse, indem sie eine unsichtbar gemachte Realität offenlegen und sich Räume, Artikulationsmöglichkeiten und Identitäten aneignen, auf die marginalisierte Akteur*innen ohne diese Brechungen keinen Zugriff hätten. Daher nutzen sowohl globalisierungskritische Aktionsformen als auch migrantische Taktiken der Selbst-Kanakisierung ambivalente Techniken der kulturellen Hybridisierung und des Signifyings.

Selbst-Kanakisierung als strategische Diskurspolitik geht von der zentralen Einsicht aus, dass rassistisch Marginalisierte von der Dominanzkultur als ›Kanaken‹ mit all ihren negativen Abwertungen konstruiert werden. Das heißt, ob sie sich selbst als ›Kanaken‹ bezeichnen oder nicht, ist letztlich unerheblich, für die deutsche Dominanzgesellschaft bleiben sie immer ›Kanaken‹. Bei der Aneignung und Umkehrung im migrantischen ›Kanaken‹-Diskurs geht es daher gerade nicht um eine freie Identitätswahl, sondern darum, ein aufgezwungenes Selbstbild zu unterlaufen. Da Marginalisierte nicht über die Macht verfügen, den fremdbestimmten ›Kanaken‹-Diskurs voluntaristisch zu beenden, versuchen sie innerhalb der rassistischen Diskurse zu intervenieren. Gerade in seinen Anfängen konnte die offensive Übernahme der Selbstdefinitionsmacht für Überraschungseffekte sorgen und zur diskursiven Entschleierung beitragen. In diesen Situationen wurden die Machtansprüche des liberalen Diskurses und die etablierten rassistischen Konventionen mit einer Präsenz konfrontiert, die sich weigert, den ihr zugewiesenen Platz einzunehmen. Indem das kanakische Sprechen über ethnisch-nationale Begrenzungen hinweggeht und identitätspolitische Verbote ignoriert, wird es für die bestehenden Ordnungsmuster der deutschen Gesellschaft ›gefährlich fremd‹. Entgegen dem kosmopolitischen Selbstbild achten die weisungsberechtigten Instanzen und deutschen Alltagsregulationen sehr sorgfältig auf die Zuschreibung und Bewahrung ethnisierender Differenzierungen. Schließlich bildet die Wiedererkennbarkeit nationalstaatlich produzierter Identitätspositionen die politische Geschäftsgrundlage der westlichen Moderne. Vor dem Hintergrund dieses Ordnungsgefüges lösten die kanakischen Grenzverletzungen des deutschen Reinheitsgebots zuweilen auch aggressive Reaktionen auf deutscher Seite aus, die um Fassung und Kontrolle rang. Diese unangepassten Identitätsverschiebungen versuchen mit ihrer Uneindeutigkeit eine neue Unübersichtlichkeit in der Kartografie identitärer Geopolitik ins Leben zu rufen und die durchorganisierte Verwaltung nationaler Zugehörigkeiten zu verunsichern. Dadurch konnten sie für kurze Augenblicke den allgegenwärtigen, sich liberal und staatstragend gebenden Rassismus zum Vorschein bringen. Als Selbst-Repräsentationspolitik wirkten sich kanakische Selbstinszenierungen in ihren besten Momenten tatsächlich verstörend aus, weil die kanakische Selbstbenennungspraxis die Grenzen zwischen dem Eigenen und dem Fremden hinterfragt und die eingefleischten Muster der SubordiNation konterkariert. In diesen seltenen Momenten der geglückten SubVersion werden aus Sprechakten tatsächlich gesellschaftlich relevante SprachAttakken.

Die politische Logik der kulturellen Praxis der Verschiebung und Neuaneignung ist theoretisch nur dann verständlich, wenn wir sie in einem transnationalen und postkolonialen Rahmen situieren. Auch andere anti-rassistische Ansätze operieren mit einer hybridisierten Identitätspolitik der Selbst-Kanakisierung, die über historische Vorläufer verfügt. So weist eine Reihe historischer Entwicklungen darauf hin, dass das umkämpfte Terrain der Identität nicht nur das Ziel, sondern auch die gemeinsame Ausgangsbasis für politischen Aktivismus von People of Color darstellt. Durch anti-rassistische und anti-koloniale Entwicklungen wie die Civil Rights-Bewegung und die Black Power Movement konnte in den USA der 1960er-Jahre erstmals massenhaft ein positiver Bezug zur Schwarzen Identität gebildet werden. Angetrieben durch Slogans wie ›Black is beautiful‹ und ›I’m black and I’m proud‹ diente die Identitätsmarkierung Schwarz-Sein (Blackness) durch die selbstbewusste Brechung der inferiorisierten Subjekte nicht mehr länger, wie in der bis dahin vorherrschenden kulturellen Tradition des Rassismus, als negatives Symbol. Dieser politische Bewusstwerdungsprozess wurde durch ein populärkulturelles Umfeld verstärkt, das sich aktiv an der Um- und Aufwertung von Blackness beteiligte. Die identitätspolitische Selbstaneignung wurde als gesellschaftlich transformierende Kraft sowohl für die Schwarze Diaspora in Europa als auch für andere kolonialisierte Communitys von People of Color bedeutsam (vgl. Ha 2007).