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"Nia saß auf einmal ganz aufrecht, hellwach. Was war das? Wer war das? Sie hatte nicht erwartet, hinter dem altmodischen Dateiformat eine Videoaufnahme zu entdecken. Oder eine Botschaft?" Eine extreme Hitzewelle in den 2040er Jahren. Nia entdeckt zufällig eine heimliche Verbindung ihrer Mutter zum Bürgermeister der Stadt, mit dem sie früher in der Klimabewegung aktiv war. Politische Ziele und private Erinnerungen mischen sich in der Gegenwart auf eine Weise, die Nia nicht einschätzen kann: Ist ihre Mutter einem politischen Skandal auf der Spur? Hat sie eine Affäre? Beides kann ihre Familie bedrohen. Nia bittet ihren besten Freund Ferhat, mit ihr auf Spurensuche zu gehen, aber auch er verbirgt ein Geheimnis vor ihr ... Wie wird unsere Zukunft aussehen? Ein spannender Jugendroman, der dieser Frage und einer herausfordernden Freundschaft nachgeht.
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Seitenzahl: 190
Veröffentlichungsjahr: 2023
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I
Problem Nummer vier
Recherche
Underdog mit Uptowngirl
Küchenkomplott
Immer noch verliebt
II
Bringing a boyfriend home …
No man is an island
Papa-Kind
Traumpaare
Känguru-Baby
III
Der König spricht
Dieser eine Plan
Tempo scaduto: Time out
Besuch
IV
Nichts Ernstes
Draußen vor der Tür
Und dann kamst du
Unten und oben
V
Zwischen den Türen
Den Umständen entsprechend
Etwas anderes
Problem Nummer vier
I pray thee, good Mercutio, let’s retire: The day is hot, the Capulets abroad, For now, these hot days, is the mad blood stirring.
(Shakespeare, Romeo and Juliet, III,1)
»Hey Guys, willkommen zu unserem neuen Video.«
Nia saß auf einmal ganz aufrecht, hellwach. Was war das? Wer war das? Sie hatte nicht erwartet, hinter dem altmodischen Dateiformat eine Videoaufnahme zu entdecken. Oder – eine Botschaft? Nia stellte reflexartig den Ton leiser. Für sie war die Botschaft offenbar nicht bestimmt.
»In den letzten drei Wochen haben wir euch verschiedene Szenerien vorgestellt, wie es mit unserem Planeten weitergehen wird. Ihr habt gesehen, dass auch bei einem begrenzten Anstieg der Temperatur um 1,5 Grad im Mittel und einem deutlich verminderten CO2-Ausstoß gravierende Folgen und vor allem Einschränkungen auf uns alle warten.«
Nia kroch beinahe in den Bildschirm. Was der Junge sagte, nahm sie mehr nebenbei wahr, so gefangen war sie von seiner ausdrucksstarken Stimme. Wie alt mochte er sein? Vielleicht ein wenig älter als sie. Nia schätzte ihn auf siebzehn. Er trug ein verwaschenes Baumwoll-T-Shirt, Schnitt und Material irgendwie altmodisch. Ihr fiel auch auf, dass er offenbar keinen Filter für das Video verwendet hatte, warum nicht? Er sprach direkt in die Kamera, aufrecht und trotzdem entspannt vor einer Abbildung stehend … War das eine Karte? Tatsächlich. Mit einem wahrnehmbaren Schimmer über Kleinasien. Nia hielt das Bild an, sie hatte sowieso schon den Faden im Gesagten verloren. Ja, der Junge stand vor einem altmodischen Kartenständer, der die Wand hinter ihm verdeckte, gegenüber musste es ein Fenster geben, durch das Licht auf die glatte Fläche fiel. Unbewusst schüttelte sie den Kopf. Wenn das eine Schülerarbeit sein sollte, war sie schlampig. Zumindest würde man ihr das sagen. Heute.
Wer? Was? Wann? Und warum hatte Mama das hier gespeichert? Nia hatte nur vorgehabt, Ferhat ihr Paper aus dem letzten Bio-Freshup zu schicken. Das hatte sie doch hier abgelegt. Oder eben nicht hier. In dem Ordner »Schule«, aber nicht in »Schule/Vermischtes«. Sie wechselte das Fenster. Dieser Ordner war neu, erst vor zwei Wochen angelegt, und Mama ging nicht davon aus, dass Nia ihr Gerät oft benutzte. Nur, wenn ihr eigener Akku Leerstand hatte, was selten vorkam. Schließlich war sie gut organisiert und aufmerksam.
Aufmerksam genug, um sich zu wundern. Tabellen, ein Paper voll nur mit Links und Datierungen aus den letzten Wochen, Dateien, die Nia nicht öffnen konnte und deren Namen ihr nichts sagten.
Mist, sie knibbelte schon wieder. Ständig kratzte sie an ihrem rechten Daumennagel herum, wenn sie aufgeregt war. Nia steckte die rechte Hand in die Hosentasche, sah sich um, spitzte die Ohren. Allein. Die Sammlung war nicht für sie bestimmt, das war klar, aber Mama hatte diesen Bereich nicht geschützt, aus Eile? Fehlender Sorgfalt? Oder weil es sich letztlich um – ja, um was handelte? Unverfängliche Erinnerungsstücke? An … was?
Sie untersuchte das Video, fand keinen Hinweis auf seine Datierung, nur, dass es vor Kurzem hier gespeichert worden war. Besah sich den Jungen. Ließ ihn wieder sprechen.
»Euch allen ist mehr als klar, dass unsere Privilegien auf dem Prüfstand stehen. Wasser, Nahrung, Strom, Schutz vor Naturgewalten: Alles wird knapp bei weiterhin wachsender Weltbevölkerung.«
Nia schmunzelte. Das mit der Alliteration hatte er raus. Und er war sehr charismatisch. Nichts in dem Video, das war deutlich, lenkte von seinem klaren, durchdringenden Blick und seiner kraftvollen Stimme ab. Bestimmt waren zu seiner Zeit alle Mädchen hinter ihm her und …
»Wenn ihr euch unsere Ergebnisse aus den letzten Wochen vor Augen führt, sollte euch ebenso klar sein wie unseren führenden Politikern – wenn man diese denn als im besten Sinne führend bezeichnen will – dass wir neue Konzepte benötigen, um den zu erwartenden Strom an Klimaflüchtlingen abzufangen …«
… und …
»Wir können sie schließlich nicht alle ins Mittelmeer schubsen und so tun, als wäre nichts gewesen. Das fangen auch steigende Meeresspiegel nicht ab.«
Wie bitte? Nia hatte wieder nur mit halbem Ohr hingehört, gefangen von der Präsenz und den knappen Bewegungen des Jungen. Was er zu sagen hatte, klang verdächtig nach den frühen Zwanzigerjahren. Als ihre Mutter so alt war wie dieser Junge. Den sie unter »Schule/Vermischtes« abgelegt hatte und der Nia nun doch irgendwie bekannt vorkam. Oder lag das an seinem einprägsamen Auftreten, dass man nach wenigen Sekunden das Gefühl hatte, ihn zu kennen? Sie dimmte den Ton noch weiter hinunter und studierte sein Gesicht: kantig für sein Alter, hellblaue Augen, wahrscheinlich dunkle Haare, die zu kurz geschoren waren, um den Farbton genau zu erkennen. Er war einer dieser unverwechselbaren Typen, jemand, den man aus dem Gedächtnis zeichnen könnte. Nias Hand in der Tasche schloss sich unwillkürlich um einen nicht vorhandenen Bleistift, mit der anderen rieb sie sich gleich darauf die Augen.
Jemand, den man auf einem Foto oder einer Karikatur wiedererkennen würde.
Jemand, der wichtig genug war, um fotografiert und karikiert zu werden.
»… diese Informationen hat wie üblich die Forschungsgruppe Climate for Future der KGS Augustenweg für euch …«
Und den ihre Mutter schon kannte, als man genau das noch nicht tat.
»Bis nächste Woche, euer Pete.«
Nia kniff die Augen zusammen. Pete …? Natürlich! Auch Peter Schratt war einmal jung gewesen.
»Bis nachher, Großer.« Nia grinste über Noriks trotz der frühen Uhrzeit schon leicht verschwitzte Frisur hinweg. Dann lief sie ein Stück zurück zum Abteil der U-Bahn, in dem sie Ferhat und die anderen aus der Klasse traf, die täglich ein oder zwei Stationen vor ihr einstiegen. Als sie über die Schulter zurück zu Norik schielte, schlüpfte er gerade in sein Abteil. Alles gut. Mit zwölf wollte man nicht mehr von der großen Schwester begleitet werden. Auch beim Aussteigen würde er sie keines Blickes würdigen, wie üblich. Dabei war er gestern Abend ungewohnt nett zu ihr gewesen. Hatte ihr beim Abendbrot neue Eiswürfel für ihr Wasser geholt. Wer weiß, was ihm da im Kopf herumging …
Wortlos ließ sich Nia neben Ferhat auf den Sitz fallen, lehnte sich wie zum Gruß kurz bei ihm an und schielte ihrem besten Freund dabei über die Schulter. Mathe-LernApp, soso. Es war angenehm kühl und ruhig hier drin. Die Schüler in ihrem Alter nutzten den zwanzigminütigen Weg zu den Schulgebäuden außerhalb der überhitzten Stadt, um sich auf den Unterricht am Morgen vorzubereiten, während weiter vorn bei Norik noch ganz schön herumgekaspert wurde.
Tunnel. Vom Rauschen umfangen schloss Nia die Augen und sortierte sich. Seit gestern Nachmittag hatte ihr Kopf keine Ruhe gefunden. Seit wann interessierte sich Mama für Schratt? Seit der Schulzeit? Vielleicht. Aber dann war ihr Kontakt offenbar abgebrochen, und vor ein paar Wochen hatte ihre Mutter anscheinend begonnen, alle möglichen Informationen zu sammeln. Zu seinen letzten Vorhaben, seiner Planung der nächsten Amtsperiode. Warum? Und weshalb hatte sie das alte Video dazwischen gespeichert? Gestern hatte sich Nia ohne zu zögern alle Dateien des Ordners gemailt, um später darüber brüten zu können. War das richtig? Vermutlich nicht, aber jetzt ließ es sie auch nicht mehr los.
»Was Neues?« Ferhat war im Sitzen langsam mit dem Hintern nach vorn gerutscht und sie mit ihm. Jetzt ruckelte er sich wieder zurecht. Bestimmt war ihm klar, dass er sie dabei in ihren Gedanken unterbrach, und wandte sich ihr zu. »Nnnn – nöh.« Gab es etwas Neues? Das wusste sie selbst noch nicht. Und war es überhaupt wichtig, was sie da glaubte, gefunden zu haben? Nia ging in Gedanken die Dateien noch einmal durch. Dass Schratt große Pläne mit ihrer Stadt hatte, war kein Geheimnis. Er würde es selbst nicht so ausdrücken, aber letztlich schwebte ihm eine klimaneutrale Mustermetropole vor. Vieles hatte er dazu als Oberbürgermeister in den letzten zwei Jahren in die Wege geleitet. Es gab Beifall, aber auch hohe Kosten und Kritik. Diese vor allem hatte Mama gesammelt. Aber zu welchem Zweck?
»Hast du nicht was vergessen?« Ferhat klang ganz entspannt, wie immer. Kein Vorwurf, und doch – sie hatte vergessen, ihm das Paper für Bio zu schicken, natürlich.
Nia suchte nach einer Erklärung – aber Ferhat etwas vorzulügen, war keine Option. »Gestern bin ich einfach davon abgekommen, weil … Es ist blöd zu erklären. Es gibt da was Komisches mit meiner Mama, was mich sehr beschäftigt hat. Und dann war der Faden einfach weg.«
»Ist schon ok. Ich hätte ja nochmal anrufen können.« Was Ferhat nie tun würde, das war ihr klar – wie sie selbst nahm er ungern Hilfe an, selbst wenn es nötig war. In der Schule lief es schleppend bis holprig für ihn, aber er saß das lieber aus und stand zu seinen Schwächen, als sich von anderen durchschleifen zu lassen. Nia nahm sich vor, ab jetzt öfter an ihn zu denken. Ihr selbst fiel fast alles zu, da vergaß sie manchmal, dass es ihm anders ging. Und dass er auch manchmal darunter litt. Eltern und so.
»Was war denn Komisches?« Bevor Nia antworten konnte, hatte Ferhat ihren Gesichtsausdruck studiert, gedeutet und das Thema gewechselt. »Naja, erzähl’s mir halt, wenn es besser passt. Mathe wird dich vielleicht ein bisschen ablenken.«
Noch ein paar Minuten Fahrt, sie starrten einträchtig vor sich hin – das tat gut. Nia checkte das Abteil, aus ihrer Klasse schienen alle da: die Cliquen, die Paare, die Einzelgänger und sie beide. Unzertrennlich wie Zwillinge, praktisch seit Ferhats Geburt. Alle anderen nahmen sie als feste Einheit wahr. War einer krank, wurde der andere bemitleidet. Der Stoff von Ferhats Hose kitzelte sie am Knöchel, ihre Atemzüge gingen während ihres Schweigens im selben Takt. Etwas, worauf man sich verlassen konnte. Schön.
Ob es … Ihre Gedanken schweiften wieder zu Mama und Schratt. Nein, bei denen war es sicher anders gewesen. Nicht so friedlich und vertraut vielleicht. Sicher aufregender. Wie nahe sie einander damals wohl standen? Was hatte sie auseinandergetrieben?
Unsinn, ihre Gedanken trieben auseinander, sie musste das ordnen. Problem Nummer eins: Was war damals zwischen den beiden gelaufen? Dazu könnte sie hintenrum Oma Judith aushorchen. Aber vielleicht sollte sie das auch nicht überbewerten, überlegte Nia. Dass Mama irgendwann mal ein Auge auf den charismatischen Kerl im Video geworfen hatte, musste nicht mit ihrem jetzigen Interesse in Verbindung stehen. Es ging um politische Entscheidungen, und wahrscheinlich gab es irgendwelche Bezugspunkte zu Mamas Arbeit im Sozialsektor Klimaflucht. Da würde sie sich genauer einarbeiten müssen. Problem Nummer zwei. Und Nummer drei folgte daraus: Schratt stand in der Kritik. Weshalb genau? War Mamas Arbeit von möglichen Fehlentscheidungen betroffen? Wollte sie ihn vielleicht warnen? Um Schaden abzuwenden oder aus alter Loyalität heraus – das war alles möglich.
Die Bahn hielt, nach und nach schwangen sich alle auf die Füße, streckten sich noch einmal im klimatisierten Abteil. Gleich würden Rucksäcke an Rücken anschwitzen. Trotz der frühen Stunde war es heiß in der Maisonne, die fünf Minuten bis zum Schulgebäude genügten, um warme, geschwollene Hände zu bekommen. Seit Jahren schon fand der Klassenunterricht zu dieser Jahreszeit nur am frühen Vormittag statt, gegen elf trotteten alle Schüler wieder zurück zur Bahn, um sich nach der Siesta in ihre Online-Kurse einzuloggen. Täglich bis Mitte Juni, in knapp drei Wochen begann die Sommerpause. Von Ferien sprach man nicht mehr, worüber sich Oma immer wunderte. Aber die meisten von ihnen belegten online Auffrischungs- und Intensivkurse, um nicht bis Mitte September wieder alles Gelernte zu vergessen und in den Prüfungen alt auszusehen.
Nia schnaubte unwillkürlich, ihre Nase fühlte sich trocken an in der heißen Luft, und der Gedanke an den Sommer erinnerte sie daran, dass es wohl wieder ihr zufallen würde, Norik im Tritt zu halten und an seine Aufgaben zu erinnern. Ja, ältere Geschwister waren manchmal praktisch für Eltern. Ferhat als Einzelkind und geliebter Kronprinz musste sich mit so etwas nicht herumschlagen.
Jetzt stemmte er sich in die schwere Tür und ließ Nia ins kühle Gebäude schlüpfen – und nach ihr gefühlt noch fünfzig Schüler, weil er einmal so günstig stand. Entschuldigend lächelte Ferhat zu ihr herüber, da sie auf ihn wartete – wie jeden Tag. Er konnte nicht nein sagen, niemandem etwas abschlagen, und die Tür wurde er auch nicht los. Ihre Welt wäre traurig ohne ihn.
Röte huschte ihr ins Gesicht, und das nicht wegen der Temperaturveränderung. Was hing sie heute so an Ferhat? Lag es an der Irritation von gestern, dass Nia heute froh über alles Vertraute war, oder gab es da noch etwas anderes? Die Frage allein genügte, um ihr Herz schneller schlagen zu lassen. Super: Problem Nummer vier.
Es war ruhig in der Klasse: Nur Mathe konnte so leise sein. Nia meldete sich gewohnheitsmäßig zum Vergleich der Hausaufgabe, aber Vlad war schneller und präsentierte umständlich seine Lösung am Board. So konnte sie ihren Blick schweifen lassen. Fast im Gleichtakt wanderten die vielen Augenpaare zwischen Vlads Gleichungen vorn und den eigenen Notizen hin und her, so auch bei Ferhat, der nach ein paar Zeilen hörbar seufzte und offenbar den Faden verlor. Nia machte sich ein Zeichen an der passenden Stelle in ihrer Rechnung. Sie konnte es ihm später noch einmal erklären.
Nia hätte nicht sagen können, ob die anderen mit Mathe klarkamen oder eher nicht. Gesprochen wurde wenig, und freiwillig trugen nur die üblichen Leuchten etwas zur Stunde bei. »Das war schon immer so«, würde Oma Judith dazu sagen, »aber ihr kommt damit heute besser durch.« Das stimmte, denn der Klassenunterricht am Morgen war eine Art Formsache geworden, fast eine Vorlesung. Der Online-Kurs am Nachmittag, Ferhats »Kummerkasten-Stunde«, wie er es nannte, offenbarte den Lehrkräften mehr. Von ihm wusste Nia auch, dass sich Frau Wollmann wirklich Zeit nahm für ihre Schützlinge und mit jedem einen einfachen Weg zum Ziel durchging, bis es »klick« machte. Zumindest für den Moment und die aktuelle Aufgabe.
Ausgehend von Vlads Ergebnis stellte Frau Wollmann eine allgemeine Formel dar, die es zu beweisen galt. Nun musste auch Nia sich zusammennehmen, die Variablen tanzten ein bisschen vor ihren Augen und versuchten, sich in Tabellenwerte zu verwandeln, die … Nein, das alles war erst heute Nachmittag dran. Ferhat tippte auf ihr Phone, sie war die letzte, die die Tafelwerk-App öffnete. Jetzt aber los. Beweise lagen ihr doch. Und Mathe hatte den unschätzbaren Vorteil, dass man immer genau wusste, was man beweisen sollte. Alles andere im Leben war komplizierter.
Noch zwei Stunden Englisch, Mittwoch war Hauptfachtag. Ein Wiederholungsquiz, ein Text im Buch, dazu sollten sie einen Dialog zwischen den Hauptfiguren entwickeln. Das Denken und Sprechen in der anderen Sprache tat dem Gehirn gut, Nia und Ferhat bauten einen kleinen Gag in ihr Gespräch ein, und sie war nun endlich bei der Sache. Wie sie es von sich kannte. Nia hatte sich gelegentlich gefragt, weshalb manche von ihnen sich anscheinend besser konzentrieren konnten als andere. War das Veranlagung? Übung? Oder hatten einige Mitschüler einfach ein interessanteres Leben als sie? Probleme zu wälzen, von denen sie nichts mitbekam? Ihre wenigen Freundinnen tickten wie Nia: Behütet aufgewachsen und einigermaßen ehrgeizig. Wenn sie sich trafen und nebenher zusammen ein Schulprojekt abwickelten, kam meistens etwas Vorzeigbares dabei heraus.
Heute war sie diejenige, die abgelenkt war und nach dem Dialog auf das Pausenzeichen wartete.
Vor der Tür: heiße Luft, wie eine Glocke aus erhitztem Metall.
»Handball?«
»Hm.« Ferhat nickte. Nia hatte ihn schon öfter zum Training begleitet. Wenn er spielte, wirkte er sofort viel schwungvoller und zielstrebiger als sonst.
»Kommst du mit?«
»Heute nicht. Norik und ein paar Aufgaben. Wir sprechen später nochmal, ja?«
Das fiel ihr jetzt schwer, aber sie musste zügig Ordnung in diese Sache bringen. Vielleicht platzte der Knoten in ihrem Kopf schon heute Nachmittag und es gab für alles eine einfache, harmlose Erklärung – wie Oma Judith zu sagen pflegte, wenn sie sich als kleines Mädchen vor einem Geräusch oder etwas anderem gegruselt hatte.
Papas Auto stand nicht in der Einfahrt, er war also unterwegs. Nia ging am Haus vorbei durch den Garten, um hinten über die Terrasse in die Küche zu schlüpfen. Ihr Magen knurrte, obwohl es erst halb zwölf war, das Frühstück war zu lange her. Morgen würde sie auch eine kleine Brotdose mit in die Schule nehmen, was ihr bisher für die paar Stunden zu umständlich war. Norik schleppte natürlich ungeniert ganze Berge belegter Brote mit sich herum, sie hätte ihn fragen können, ob er etwas für sie übrig hatte, bevor er in seinen Sportclub abgedampft war. Fast alle Trainings fanden schülerfreundlich in klimatisierten Hallen während der Siesta statt. Was geht eigentlich nicht in der Halle?, überlegte Nia grinsend, während sie die Kühlschranktür öffnete. Kanufahren? Tatsächlich kannte sie niemanden, der Wassersport betrieb – mit den sinkenden Flussbetten sank auch das Interesse an so etwas.
»Na, wie war’s heute?« Mama hatte die Küchentür vom Flur her geöffnet und mit ihr fiel Licht aus dem gegenüberliegenden Wohnzimmer herein. Nia richtete sich auf und strahlte zurück, es ging gar nicht anders. Solange sie sich zurückerinnern konnte, hatte sie Mama immer im Licht gesehen. Allein mit ihrer hellen, gepflegten Haut schien sie immer ein bisschen zu leuchten, und auch ihre Vorliebe für helle, kühle Farben in ihrer Nähe verstärkte gefühlt das Licht um sie herum. So jemandem flogen die Herzen zu, und als Nia klein war, hatte sie einmal gefragt, ob Mama ein Engel sei. Das fand Oma Judith ausgesprochen komisch, aber Nia konnte sich nicht mehr erinnern, warum.
»Nichts Besonderes. Englisch war ganz lustig.«
»Schön. Erzählst du mir heut Abend mehr? Ich habe jetzt zwei Beratungsgespräche und muss nachher einmal kurz weg. Guckst du bei Norik schnell noch über die Hausaufgaben?«
»Immer.«
»Ich weiß …« Mama strich ihr kurz über die Schulter. »Danke. Wollt ihr etwas Bestimmtes essen abends? Sonst würde ich Eintopf auftauen.« Dabei nahm sie schon den großen Plastikbehälter aus der Tiefkühltruhe.
»Nö, ist gut. Bis später!«
Mama verschwand im Lichtspalt der Tür und mit ihr das taubenblaue Leinenkleid, das ihr so gut stand und sie selbst ohne die gebräuchlichen Filter in Online-Meetings unheimlich frisch und sympathisch aussehen ließ. Da bemerkte man auch nicht die vielen Falten und Knitter in der unteren Hälfte, die den Saum des Kleides unvorteilhaft nach oben wandern ließen wie bei einem sich schließenden Fächer. Als sie ihrer Mutter hinterher sah, fühlte sich Nias eigenes Lächeln plötzlich aufgesetzt an. Da gab es eine Fassade von Selbstverständlichkeiten – wollte sie wirklich dahinter sehen?
War das klug? Konnte sie irgendetwas entdecken, was ihr gefallen würde? Vermutlich nicht.
Schnell hatte sie den Rest Nudelsalat vom Dienstagabend vertilgt, danach saß Nia noch einen Moment unschlüssig am Küchentisch. Sie sollte jetzt beginnen. Im Flur lauschte sie automatisch auf die Sprechmelodie, die aus Mamas Arbeitszimmer drang – oft erkannte sie durch die geschlossene Tür zuerst am Tonfall, in welcher Sprache Mama gerade redete. Arabisch klang viel härter als Französisch, und auf Englisch sprach sie ein kleines bisschen höher als sonst, fand Nia.
Als sie in der Schule anfing, Sprachen zu lernen, hatte sie das unheimlich faszinierend gefunden und auch manchmal gelauscht. Irgendwann hatte dann einmal die Lehrerin Mama darauf angesprochen, dass Nia einen eigenartigen Tonfall zeige im Unterricht, und dass sie auch Vokabeln verwende, die – nun ja … Ob man denn darauf achte, dass sich Nia nur mit altersgerechten Filmen oder Serien sprachlich, hm, fortbilde? Das ließ sich leicht auflösen. Damals war ihre Mutter gerade in diese Initiative des Amtes für Migration gerutscht, in der sie viel von zu Hause arbeiten konnte. Mit den Ratsuchenden besprach sie eben, was deren Herkunft, Familienleben und oft auch deren Flucht betraf. Wovon nicht alles für kindliche Ohren bestimmt war.
Nia bremste kurz vor der Tür und ihr Herz schien einen Schlag lang über sich selbst zu stolpern. Mama stritt sich mit jemandem auf Deutsch. Und sie kannte die Stimme – eine Stimme, die sonst klang wie warme Karamellsoße. So sprach nur Feyza, Ferhats Mutter.
»Es betrifft zu viele!«, schmetterte Mama jetzt Feyza entgegen und Nia zuckte zusammen. Schnell weg hier. Nicht, dass Mama in Rage aus der Videokonferenz stürmte und sie vor der Tür fand.
Im Zimmer: atmen. Und Klimafixx an.
»Optimale Kühlungsleistung bei siebenundzwanzig Grad«, meldete das Gerät, was bedeutete, dass sie ihr Zimmer im Obergeschoss heute Nachmittag konstant auf siebenundzwanzig Grad halten durfte, ohne die Energiekosten dekadent in die Höhe zu treiben. Nia wischte sich die Stirn. Die meisten Menschen in der Stadt hatten es wärmer, und sie konnte später hinunter in den kühleren Wohnraum gehen, also kein Grund, sich zu beklagen. Besser wäre es, sich auf ihr Vorhaben zu konzentrieren, dann würde sie die Temperatur bald nicht mehr wahrnehmen – ließ man sich einmal ins Siesta-Tief fallen, kam man nicht wieder hoch. Jeder kannte das.
Aus den Dokumentennamen konnte man nicht schlau werden, anscheinend willkürliche Zahlen- oder Buchstabenkombinationen, war das Absicht? Darinnen Tabellen, Tabellen, Tabellen. Nia vergrößerte die Zahlen in der ersten, schob die Dateiansicht hin und her. Hm. In der Kopfzeile Jahreszahlen, es ging also um eine Entwicklung, eine Tendenz der letzten Jahre – aber von was? Nia legte ein Blatt Papier quer neben die Tastatur und deutete mit dem Bleistift einen Zeitstrahl an. Wenn sie sich jede Datei einzeln besah, würde sie vermutlich gar nichts verstehen. Sie musste versuchen, den Zusammenhang zu finden.
Beim nächsten Dokument stöhnte sie unwillkürlich auf. Über so einer Funktion hatte Ferhat heute Morgen schon die Nerven verloren, und nun ging es ihr genauso, weil Nia mit den Variablen nichts anfangen konnte. Die Recherche erwies sich schwieriger als gedacht – genau deswegen durfte sie jetzt nicht aufgeben. Mama war eine viel beschäftigte Frau, die sich wenig Ruhe gönnte. Wenn sie nicht gerade eine erkrankte Kollegin vertrat oder sonst ganz dringende Überstunden machte, pflegte sie Haus und Garten, ihre grüne Insel mit Schatten und Gemüsezucht. Oder war für ihre Kinder da. Warum sollte Mama zwischen Zähneputzen und Schlafengehen irgendwelche Zahlen interpretieren, wenn es gar nicht wichtig war? Fragezeichen über dem Zeitstrahl, nächste Datei.
Die erste Tabellenspalte bestand wieder aus Zahlen, Zahlen ohne Maßeinheit, aber … Das waren Stadtgebiete! Postleitzahlen, die hot spots ganz oben.
Nia ärgerte sich unwillkürlich, dass sie dieses Wort gedacht hatte – aber diese Gebiete wurden in jeder Hinsicht so genannt. Eng bebaute Wohnviertel mit den höchsten Temperaturen, der höchsten Sterblichkeit, der höchsten Zuwanderung, der höchsten Kriminalität. Oma Judith hatte sich lange gegen das Zureden von Tochter und Schwiegersohn gestemmt, aus dem Viertel wegzuziehen, das hier an zweiter Stelle genannt wurde. Sie hing an der Wohnung, in der sie vierzig Jahre verbracht hatte, in der sie ihre Tochter allein aufzog. Eine lange Zeit, auf die Oma Judith sehr stolz war. Nachdem Mama endgültig ausgezogen war, hatte sie alle Zimmer ganz allein renoviert. Mama durfte ihr damals nur ein paar neue Vorhänge schenken.