Stallschwalben - Ulrike Siegel - E-Book

Stallschwalben E-Book

Ulrike Siegel

0,0

Beschreibung

Wenn Landwirtschaft und Natur ein Leben prägen Als Kind träumte Ulrike Siegel gerne den Zugvögeln hinterher. Nie hat sie den Tag ver-passt, wenn die Schwalben den Stall verließen und sich versammelten, um gemeinsam gen Afrika zu fliegen. Für sie, die Bauerntochter, war das ein Tag voller Sehnsucht: Wie es sich wohl anfühlt, einfach so den Bauernhof zu verlassen und die Welt zu erkunden? Ihr Leben hingegen wird vom elterlichen Hof und von den langen Tagen mit harter Ar-beit in der Landwirtschaft geprägt. In ihrem Buch "Stallschwalben" zeigt uns Ulrike Sie-gel, wie vielschichtig das Leben auf dem Land ist. Dabei scheut sie nicht vor heiklen Themen zurück und lenkt den Blick bewusst auf Widersprüche: - Landwirtschaft früher und heute – ein spannendes Stück Zeitgeschichte - ein Leben in und mit der Natur – eine Bäuerin erzählt - schnörkellos, anrührend, ehrlich – Geschichten vom Leben auf dem Bauernhof Bauerntochter – Erinnerungen an ein Leben auf dem Land 15 Jahre lang hat Ulrike Siegel die Geschichten anderer Bauerntöchter gesammelt und aufgeschrieben. Freimütig erzählten ihr die Frauen, was es bedeutet, als Kind auf ei-nem Bauernhof aufzuwachsen oder als Erwachsene auf dem Land zu leben. Es ist der besondere persönliche, authentische Ton, der die Bücher "Immer regnet es zur falschen Zeit" oder "Gespielt wurde nach Feierabend" zu Bestsellern machte. Jetzt lässt uns Ulrike Siegel zum ersten Mal an ihren eigenen Erinnerungen teilhaben. Gemeinsam mit ihr erleben wir eine Kindheit und Jugend auf dem Bauernhof. Wie sieht der Alltag in der Landwirtschaft aus? Welche Wertvorstellungen prägen ihr Leben? Wie geht sie mit Schicksalsschlägen um? Ulrike Siegel gibt uns sehr persönliche Einblicke in ihr Verständnis von Glück, Zufriedenheit und letztlich Lebenssinn. Ihre autobiografischen Erzählungen berühren uns mit ihrer Ehrlichkeit und laden uns zum Erinnern und Nachdenken ein.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 218

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Für Johannes und Paulina

Inhalt

Vorwort

Stallschwalben

Hypothekenburg

Kinderängste

Oma

Erster Schultag

Susebill tut, was sie will

Schulweg

Wir haben alle alles überlebt

Der Wert einer Baumwiese

Die Schluchtenbäuerin

Waldtage

Vier Töchter

Milchhäusle

Haustürgeschäfte

Ohne Beruf

Im Schatten der Weltgeschichte

Regentage

Nachbarn

Schlachtvieh

Kirschen Sommer 1982

Plötzlich war es ganz still

Angesichts des Lebens

Dank

Vorwort

„Man sollte nie vergessen, wo man herkommt“ – das war ein viel zitierter Rat meiner Mutter: Ich mochte ihn nicht leiden, denn er kam immer als Kritik. Er kam, wenn ich gegen die bäuerlichen Tugenden wie Sparsamkeit und Fleiß rebellierte oder Wünsche äußerte, die unsere finanziellen Verhältnisse überstiegen. Er kam auch, wenn ich die Freundinnen beneidete, die zu Hause nicht mithelfen mussten, die bei schönem Wetter ins Freibad gingen und die in den großen Ferien mit ihren Eltern in den Urlaub fuhren.

Die Idee, darüber zu schreiben, wurde geboren, als mir bewusst wurde, wie sehr sich mein Nebenher-Großwerden auf dem Bauernhof unterschied von dem Aufwachsen gleichaltriger Freundinnen. Ein Jahrzehnt später wurde der Wunsch stärker, etwas über diese Zeit festzuhalten, als ich in Gesprächen mit meiner jüngsten Schwester bemerkte, wie viel sich in diesem kurzen Zeitraum verändert hatte. So hat sie den monatlichen großen Waschtag oder die Handarbeiten bei der Zuckerrübenernte schon nicht mehr miterlebt.

Und erst recht ist das Leben meiner Kinder heute ganz anders: Sie sprechen mehrere Sprachen fließend, bewegen sich mit großer Selbstverständlichkeit in fremden Ländern und stehen rund um die Uhr mit ihren Freunden auf der ganzen Welt per Internet in Verbindung. Auf ihrer Arbeitsliste ist neben Rasenmähen und Spülmaschine-Ausräumen nichts geblieben. Kein Holz für den Küchenherd, keine Rüben für die Kühe, kein Ferkelhüten unter der Rotlichtlampe. Was für ein Unterschied zu meinem Aufwachsen damals mit den seltenen Familienausflügen auf die Baumwiese und meinen Träumen, wenigstens einmal mit den Zugvögeln gen Süden zu ziehen.

Den entscheidenden Impuls gaben die widersprüchlichen Bilder in den Medien: glückliche Tiere auf der Wiese oder tierquälerische Massentierhaltung, eine behütete Kindheit inmitten einer Großfamilie oder harte Kindheit, geprägt von der Mitarbeit im Stall und auf dem Feld.

All das festigte in mir den Wunsch, diesen Bildern vom Leben auf den Höfen ein eigenes, von meinem Erleben geprägtes Bild entgegenzusetzen. Die Entscheidung, mich zuerst mit anderen Bauerntöchtern aus meiner Generation darüber auszutauschen, war die beste meines Lebens. Daraus entstanden neben drei Bauerntöchterbänden die Freundschaften zu 70 Frauen in ganz Deutschland. Sieben weitere Bücher mit den Geschichten von Bauernsöhnen, Bauern und Bäuerinnen schlossen sich an. Mit ihren Geschichten beschreiben sie ein buntes Bild jenseits von Romantik und Verteufelung: vom Alltag auf den Bauernhöfen mit all seinen schönen und harten Seiten. Und sie beschreiben, was sie von dort mitgenommen haben, was sie stark gemacht hat für das Leben.

Nach kindlichem Hadern und jugendlicher Rebellion bin ich heute stolz eine Bauerntochter zu sein und erzähle gerne, wo ich herkomme.

Stallschwalben

Nie wäre mir der Tag entgangen, an dem die Schwalben unseren Stall verließen. Schon an den Nachmittagen zuvor waren sie aufgeregt hin und her geflogen, hatten im Garten über den leuchtend gelben Sonnenblumen ihre Runden gezogen und kamen manchmal sogar zwischen den hochragenden Buschrosendolden hervorgeschossen, um in der schräg stehenden Septembersonne nach Fliegen zu schnappen.

Auf der Stromleitung wurden es immer mehr. Während der Sommer mit farbenfrohem Finale den Herbst begrüßte, riefen die Schwalben zum Aufbruch. Ihr „wip wip“-Gezwitscher, das viele Sommertage mit seinen Melodien untermalt hatte, war jetzt lauter, aufgeregter und ohne Melodie. Jung und Alt, Schwalbeneltern und ihre Jungen, die im Laufe des Sommers hier geschlüpft waren, gefüttert wurden und das Fliegen gelernt hatten, versammelten sich, um aufzubrechen in eine ferne fremde Welt.

Wie habe ich sie beneidet um das, was sie in der Zwischenzeit erleben würden, bis sie im Frühjahr wieder zurückkämen. Einfach aufzubrechen und für ein paar Monate was ganz anderes sehen und erleben, das erschien mir ebenso sehnsuchtsvoll wie unerreichbar. Nach Afrika würden sie fliegen, wo es Wärme und ausreichend Fliegen gab, während bei uns wegen der Kälte die Stallfenster geschlossen blieben.

Afrika war fern, unendlich fern und fremd. Außer unseren Schwalben kannte ich niemanden, der jemals dort war. Ob es dort wohl auch Kinder gab, die auf sie warteten? Und dann fühlte ich mich diesen Kindern sehr nahe – es waren ja unsere gemeinsamen Schwalben.

Jedes Frühjahr dasselbe Ritual: Die ersten Schneeglöckchen, die tapfer ihre weißen Blüten zwischen den verharschten Schneeresten der noch kraftlosen Februarsonne entgegenhielten, waren die ersten Anzeichen, dass die Tage gezählt waren, an denen in der guten Stube das halbfertig zusammengesetzte Puzzle auf dem Backbrett unter dem Buffet auf den nächsten Familienspieleabend wartete. Bald schon würde die Heizung im Wohnzimmer abgedreht, die Spiele im geheimnisvollen Weihnachtsschrank oben in der Kammer verschwinden, um dort auf den nächsten Heiligabend zu warten. Die Schneeglöckchen läuteten den Beginn des Endes ein, die Krokusse verstärkten das Geläute und mit den Osterglocken war es nicht mehr zu überhören: Die gemütlichen Wintertage waren unwiderruflich vorbei. Jetzt fingen sie wieder an, die langen Tage mit all der Arbeit draußen, die nie aufhörte bis zum nächsten Frost.

Sicher waren die Schwalben auch schon längst auf dem Weg. Ob sie sich wohl aufs Heimkommen freuten? Wo sie wohl in Afrika gewohnt hatten? Und tatsächlich! Spätestens, wenn die Märzveilchen blühten, kam auch immer von irgendwoher die Nachricht, dass die ersten Schwalben gesehen worden seien. Sofort wurden im Stall die dickwandigen Milchglasscheiben bis zum äußersten Rand der Plastikhalterung gekippt, um unseren Sommerbewohnern die Einflugschneise zu ihren Nestern freizugeben. Und wie immer dauerte es nicht lange, bis aufgeregtes Gezwitscher im Stall zu hören war. Drei Nester gab es. Vater hatte dafür extra kleine Brettchen an die Balken über den Schweinebuchten genagelt.

Zuerst kamen die Männchen, flogen ihre Runden: im Stall über die wiederkäuenden Kühe, etwas höher über die Schweinebuchten, um von dort in einer exakten S-Linie durch das gekippte Fenster ins Freie zu fliegen, in größeren Runden über die braunen Gartenbeete, wo die letzten Ackersalatröschen in die Höhe schossen und die ersten Radieschen ihr Grün aus dem Boden spitzten, und dann über die Dächer. So, als ob sie nachschauen wollten, ob hier noch alles in Ordnung sei. Ob ihnen ihre alte Heimat auch für diesen Sommer wieder eine Kinderstube bieten könnte, mit Kühen, Schweinen und Fliegen in den Ställen, mit Bauern, die ihnen die Fenster öffneten und Bretter an die Balken unter das Dach nagelten, und Kindern, die auf sie warteten.

Nur wenige Tage später kamen die Weibchen an, und es war ein fröhliches Gezwitscher im Stall. Wiedersehensfreude und sogleich emsiges Arbeiten. Dort, wo die Traktorreifen auf dem Erdweg hinter dem Haus ihre Spur in den Schlamm gewalzt hatten, fanden die Schwalbenweibchen ihr perfektes Baumaterial: Mit den Grashalmen von den Pfützenrändern im Schnabel flogen sie wie Pfeile hin und her und flickten ihr Nest, wo es über den Winter etwas abgebröselt war.

Mutter, unterm Dach ist ein Nest dort gebaut!

Schau, schau, schau, ja schau!

Dort hat der Dompfaff ein Pärchen getraut!

Trau, trau, trau, ja trau!

Da sieh nur, wie glücklich die beiden sind.

Sie fliegen hin und her, sie fliegen hin und her.

Ach, Mutter, ach wär ich ein Schwalbenkind.

Wie schön, wie schön das wär, das wär!

Heintjes klare Stimme, mit der er das Lied viele Male aus dem Grundig-Radio, an dem man angeblich wegen Altersschwäche nicht mehr am Senderknopf drehen durfte, schmetterte in meinem Kopf weiter, wenn ich die Schwalben beim Hin- und Herfliegen beobachtete. „Ach, Mutter, ach wär ich ein Schwalbenkind. Wie schön, wie schön das wär, das wär!“ Ja genau, damit traf Heintje, der sicher noch nie in einem Stall Scheiße geschoben hatte, mitten ins Herz. Die Schwalben faszinierten mich: Ein Nest zu haben, von den Eltern umsorgt zu werden und schon bald ermuntert, diese Flügel zu nutzen, um in die Welt zu fliegen. Die Sehnsucht wegzufliegen schien schon früh in mir zu keimen. Ich liebte sie, diese Gegensätze von Bodenhaftung und Höhenflügen, Geborgenheit und Aufbruch, Wurzeln und Flügeln.

Waren es die ungelebten Träume meiner Mutter, die in mir weiterkeimten und in meinem ganzen Leben nie mehr unterdrückt werden konnten? Sie war mit Leib und Seele Bäuerin. „Großer Gott, wir loben dich“ auf dem Traktor und „Geh aus mein Herz und suche Freud“ im Stall auf dem Schemel bei den Kühen. Und trotzdem gab es darunter verschüttete Wünsche, über die sie nur selten sprach. Wie sehr hatte sie sich gewünscht, auf eine höhere Schule gehen zu dürfen. Der Lehrer hatte die Eltern drum gebeten. Wenigstens ein Instrument wollte sie erlernen, um ihre Welt mit Musik zu füllen. Aber mit „du heiratest ja doch“ war ihr Weg vorgegeben, der dann fern von Fremdsprachen und Klavierunterricht verlaufen sollte.

Hypothekenburg

Fotos in meinem Album. Schwarz-Weiß mit gezacktem Rand. Auf dem Foto Vater und Mutter auf Holzbrettern stehend, die wohl zum Loch in der frisch gemauerten Wand hochführen, das später die Haustür im Wohnhaus unseres Aussiedlerhofes werden soll. Vater in festlichem Anzug mit weißem Hemd und Krawatte. Mutter in einem Wollmantel, beide mit frisch eingewichsten Lederschuhen. Stolz sehen sie aus! Wie auf einem Laufsteg zum Ziel ihrer Träume. Dieses Ziel nimmt im Hintergrund schon Konturen an: Das Küchenfenster – von dem aus Mutter später unzählige Male ihren Blick über den Hof schweifen lassen wird, um zu sehen, wer auf den Hof fährt, ob der Traktor mit der nächsten Fuhre in der Anfahrt ist oder ob wir Kinder auch keinen Blödsinn machen – ist noch mit einer Plastikplane abgeklebt. Davor sieht man Haufen mit Sand und Steinen; an das Holzgerüst der Scheune im Hintergrund sind Bretter gelehnt.

Auf dem Foto daneben, ein gutes Jahr später und in der Zwischenzeit am Ziel der Träume angekommen, sieht man Vater, Mutter mit Dorothea und mir. Wir stehen vor der Haustür unseres frisch bezogenen Aussiedlerhofes. Der Hof noch unbefestigt, lange Holzdielen liegen als Steg über der aufgewühlten matschigen Erde bis zu den Treppenstufen, die zur Haustür führen. Vor der Tür stehen mein Vater im dunklen Anzug mit weißem Hemd und Krawatte, meine Mutter in handgewebtem Rock mit passender Kurzjacke und weißer Bluse. Dorothea und ich in gleichen Kleidern, dunklen Kleidchen mit Krägchen, vorne in der Mitte ein Rüschenbesatz mit glänzenden Knöpfen und selbstverständlich darüber Schürzen. Weiße Sonntagsschürzen mit Blumenmuster darauf. Es ist dasselbe Blumenmuster wie auf den Bettüberzügen. Ein idyllisches Familienbild, fast schon typisch: Eltern mit zwei Kindern vor neu gebautem Haus, Ziel eines Traumes und gleichzeitig am Start einer Zeit voller Arbeit und Geldnot.

Wieder und wieder musste uns Mutter die Geschichte erzählen: von der harten Arbeit der beiden Jahre des Bauens, alles in Handarbeit ganz ohne Kran; davon, wie Stein für Stein von Hand in einer Menschenkette weitergegeben wurde; wie viele mitgeholfen haben: Verwandte, Freunde und Nachbarn; vom Jeden-Pfennig-dreimal-Umdrehen in dieser Zeit und den vielen kleinen Entscheidungen; davon, wie sich das Pfennigumdrehen am Ende gelohnt hat und wie sogar noch Geld übrig war, damit im oberen Stockwerk noch Flur und ein Zimmer mit Parkett ausgelegt werden konnten, obwohl das erst später hätte ausgebaut werden sollen. Sie erzählte, wie neben der Arbeit im Stall, auf dem Feld und in den Weinbergen jede freie Minute auf dem Bau verbracht wurde, wie Onkel Schorsch, der als Maurer beim Suppen-Knorr in Heilbronn arbeitete, jeden Samstag kam, um hier den Oberbefehl zu übernehmen, und wie er immer wieder stolz Besucher über „seine Baustelle“ führte; wie Dorothea und ich oft bei Oma oder Tante Elsa abgegeben wurden, damit Mutter die Hände frei hatte. Oma gab der Kindergärtnerin Tante Luise manchmal 50 Pfennig und wir durften einen Nachmittag dafür in den Kindergarten gehen, damit Oma ihre Hände frei hatte. Ich fand es abenteuerlich und ging gerne hin, obwohl alle Kinder die Hälfte des Mittags still auf ihren Liegen verbrachten und Mittagsschlaf machen sollten.

Die Entscheidung für einen Antrag auf Aussiedlung war leicht gefallen. Die Eltern waren sich einig: Sie wollten Bauern bleiben. Um jeden Preis! Nie wäre ihnen in den Sinn gekommen, zum Arbeiten zu gehen, zur Druckerei Kohl oder zur Nähgarnfabrik Amann, wie viele andere jüngere Bauern im Dorf. Ein Dach über dem Kopf, eine geregelte Arbeitszeit, Feierabend und den Lohn am Wochenende in der Tüte, das schien damals für viele das Bessere zu sein. Vor allem einen Lohn, der nicht mehr von Frost, Mehltau und Hagel abhing. Das war verlockend.

Nach Sicco Mansholt, dem damaligen EG-Agrarkommissar, war der Siegel’sche Hof noch nicht einmal der Rede wert. Er gehörte in den 1960er Jahren zu den vier Millionen Betrieben, die nach seiner Meinung aufgeben sollten, um den restlichen zum Überleben zu helfen. Übrig bleiben sollten Betriebe mit mindestens 80 ha Land oder 60 Kühen. In den Realteilungsgebieten Süddeutschlands, in denen die Höfe Generation um Generation unter allen Kindern aufgeteilt wurden und wo deren höchstens 10 ha Fläche in unzählige Parzellen mit der sprichwörtlichen Handtuchbreite verteilt waren, war der Mansholtplan so weit jenseits jeglicher Vorstellungskraft, dass man ihn unter den Bauern nicht ernst nahm und die Diskussion den Studenten überließ, die nichts Besseres zu tun hatten, als ihre Zeit mit derlei Unsinn totzuschlagen.

Vier Kühe standen im alten Siegel’schen Stall, die Kälber dahinter im Gang. In der Mauer zwischen Kuhstall und Scheune waren oben an der Decke einfach ein paar Backsteine ausgespart, sodass die Glühbirne mit ihrem spärlichen Licht beide Räume so weit erhellen konnte, dass man das Notwendigste sehen konnte. Notwendig war nicht viel. Die Handgriffe saßen im Schlaf. Misten, melken, füttern. Auch tagsüber war es dunkel im Stall. Menschen und Tiere hatten sich daran gewöhnt. Es ging allen so. Die Tiere waren angekettet im Stall, 365 Tage im Jahr, die Menschen waren angekettet an ihre Tiere – ebenfalls 365 Tage im Jahr. Ohne auch nur einen Tag frei.

Am Tag ließ ein kleines Fenster ein wenig Licht in den Stall. Dieser lag immer im Schatten des Nachbarhauses, das Mauer an Mauer gebaut war. Im engen Durchgang dazwischen verirrten sich eher Kinder beim Versteckspiel als Sonnenstrahlen, die den Stall wenigstens stundenweise hätten freundlicher erscheinen lassen. Diese engen Durchgänge, dieses Eingeklemmt-Sein zwischen Nachbarhäusern und -ställen, führten letztlich zur Entscheidung, die Hofstelle hier aufzugeben und an anderer Stelle neu zu erbauen.

An der Grenze der Gemarkung wurde die räumliche Enge auf der alten Hofstelle eingetauscht gegen finanzielles Eingeklemmt-Sein auf der neuen Hofstelle. Aber darüber wurde nie geklagt. Stattdessen wurde gespart. An Kaffeebohnen und Butter unter der Woche, das gab es nur sonntags, an Klopapier, Spülmittel, Badewasser, Strom, an Kleidung – so trug Mutter auf allen Fotos ihren handgewebten Rock. Das wenige, was gekauft wurde, musste von bleibendem Wert sein. Damit schied auch jeglicher modische Firlefanz aus. Als billige Fetzen aus der Stadt wurden unsere Lieblingsteile aus dem Witt Weiden Katalog, den wir hin und her geblättert hatten, dass die jeweiligen Seiten sich schon von alleine aufschlugen, barsch abgetan und wir könnten uns nicht leisten, billig einzukaufen, war die Erklärung dafür. Also bekam ich nicht den ersehnten Badeanzug, sondern ein Dirndl. Und Mutter trug nach dieser Ausgabe ihren handgewebten Rock ins nächste Jahrzehnt. Gebadet wurde weiterhin im aufgestauten Bach mit geblümter Unterhose.

Und sie waren stolz auf den neuen Hof. Nach dem Einheitsplan der Landsiedlung, mit zinsverbilligtem Darlehen und viel Eternit, war alles unter einem Dach praktisch untergebracht. Es gab nur zwei Türen zwischen dem Kuhstall und der Küche. Im Kuhstall standen zehn Kühe nebeneinander und 40 Mastschweine grunzten in ihren Buchten dahinter. Damit war der Tierbestand gegenüber dem alten Stall im Dorf um mehr als das Doppelte gestiegen. Mit ihm auch die Arbeit. Denn anstelle von vier Kühen mussten nun eben zehn gefüttert und gemolken werden. Noch immer 365 Tage im Jahr morgens und abends und noch immer von Hand. Denn nach dem Bauen war das Konto leer und erst nach und nach, so wie mit dem Verkauf von Milch, Schlachtvieh, Getreide und Trauben Geld reinkam, wurde weiter investiert. Zuerst in die Melkmaschine, die die Kühe gar nicht mochten – was zu jeder Melkzeit in einem Geschrei endete. Aus Lotte, Olga, Marga und wie sie alle hießen wurden unisono „Schindmähren“, die sich mit Tritten gegen das Melkzeug und mit Schwanzwedeln gegen den Melker und all die teuflischen technischen Neuerungen zur Wehr setzten. Danach kam ein Traktor mit Zapfwelle – unser Fendt-Geräteträger – mit einer Ladepritsche über der Vorderachse. Fendt-Einmannsystem stand in Großbuchstaben auf einem kleinen Blechschild, das vorne auf dem Schlag der Pritsche angebracht war, dahinter ein Mann mit weißem Hemd, aufgekrempelten Ärmeln und weit ausgebreiteten Armen, die die Buchstaben FENDT-EINMANNSYSTEM fast umfassen konnten. Es folgten die Maschinen für dieses Einmannsystem. Wobei keine Maschine dieser Welt unser Mann-Frau-Kinder-System ersetzen konnte.

Und noch lange Zeit gab es kein Auto. Wozu auch? Alles ließ sich genauso gut mit dem Traktor erledigen. Zeit für Fahrten, die uns außerhalb des Traktorradius hätten führen können, gab es ohnehin nicht.

Wenigstens der Misthaufen war hinter den Stall gewandert und somit außerhalb der geruchsübertragenden Nähe zum Wohnhaus. Eigentlich hatte das Wohnhaus vieles von dem, was die neu gebauten Einfamilienhäuser in den Siedlungen der Dörfer auch hatten: ein Badezimmer, eine Zentralheizung und sogar einen Rasen ums Haus. Nur eben sparsamkeitshalber unter der Woche kein warmes Wasser. Weder fürs Baden noch für die Heizung. Und so blieb es dabei, dass im Winter nur Küche und Esszimmer warm waren und die Tür zum Wohnzimmer fest geschlossen blieb. Auch das Kinderzimmer blieb unbeheizt und wurde nur zum Schlafen genutzt. Auf dem Rasen sollten wir nicht spielen. Denn er musste zweimal im Laufe des Sommers von Vater mit der Sense gemäht werden und durfte nicht zertrampelt sein.

Auf den Werbefotos für diese Aussiedlerhöfe stand immer ein Liegestuhl auf dem Rasen und eine vierköpfige Familie saß beim Kaffee auf der Terrasse, der Hofhund brav daneben. Einen Liegestuhl hat unser Rasen nie gesehen, da niemand Zeit gehabt hätte, drauf zu liegen, und selbst wenn, wäre zu allen Zeiten dem Bett der Vorzug gegeben worden. Zum einen, weil man darin angeblich besser lag, und zum anderen, weil man dort von niemandem gesehen werden konnte. Kaffee auf der Terrasse gab es auch nicht. Weil es keine Gartenmöbel gab und am Sonntagmittag, der einzigen Zeit, in der – wenn überhaupt – an gemütliches Kaffeetrinken zu denken war, die Sonne auf die Terrasse brannte und sich freiwillig nie jemand der Sonne ausgesetzt hätte. Auch der Hofhund lag tagein, tagaus an der Leine im Hof und niemals im Garten oder auf der Terrasse.

Dort war Hasso auch angeleint, als im Winter die Truppe Bauern, eine Ackerlänge entfernt von ihm, am Herrenwiesenbach entlangarbeitete. Vater hat die Geschichte immer wieder erzählt. Wie in jedem Winter war er mit den Bauern des Dorfes zum Frondienst eingeteilt. Jeder musste ein Pensum an Stunden ableisten. Tags zuvor hatten sie den Feldweg am Galgenberg ausgebessert. Die anhaltende Regenzeit des vorausgegangenen Sommers hatte die Bauern gezwungen, noch bei feuchtem Boden ihr Heu einzufahren. Die Fuhrwerke der beladenen Anhänger hatten tiefe Rinnen in den Wegen hinterlassen, deren tiefste Stellen nun mit Schotter aufgefüllt wurden. Mit Ziegelbruch, den die Bauern von der nahe gelegenen Ziegelei abgeholt hatten. Die Hohle in der Sommerhälde stand noch auf der Arbeitsliste, sie musste von der Überwucherung durch Dornen und Gestrüpp freigehalten werden. Außerdem war das dorfeigene Wäldchen draußen an der Cleebronner Gemarkungsgrenze zu hegen. Der Fronmeister, ein älterer Mann, der die Gemarkung besser kannte als seine Westentasche, notierte im Laufe des Sommers die Arbeiten, zu denen er dann im arbeitsärmeren Winter die Männer des Dorfes einlud. Es waren wie in jedem Jahr die Bauern, die seiner Einladung Folge leisteten; die anderen Männer kauften sich durch Bezahlung eines Stundensoldes vom Frondienst frei.

An jenem Tag war die Truppe beim Ausputzen des Herrenwiesenbachs, der sich, von Cleebronn kommend, eine Ackerlänge von unserem Hof entfernt nach Botenheim schlängelte und das Dorf in unregelmäßigen Abständen überschwemmte, bevor er im Wiesental bei Meimsheim in die Zaber mündete. Die Bauern waren wie schon tags zuvor mit Hacken, Schaufeln und Sägen ausgestattet am Arbeiten. Die Stimmung war gut. Es gab viel zu erzählen. In der winterlichen Stille waren nur menschliche Stimmen zu hören. Als die Fronarbeiter auf der Höhe unseres Hofes waren, schlug unser Hofhund an. Hasso war beim Schuppen angekettet, lag meist apathisch in seiner Hütte und schlug lediglich mit lautem giftigen Bellen Alarm, sobald ein Fremder auf den Hof fuhr. Die Stimmen, die drüben am Bach entlang näherkamen, herüberschallten und sich durch das Echo des Tales verdoppelten, weckten seinen Bewacherinstinkt. Er kläffte, sein Bellen mischte sich mit den Männerstimmen und hallte zurück bis zum Bach.

Es wurde viel erzählt bei diesen gemeinschaftlichen Arbeitseinsätzen. Wie immer ging es um die Traubengeldabrechnungen, die von der Genossenschaft vierteljährlich ausbezahlt wurden, es ging um die Frostschäden im vorletzten Jahr, die sich auf der letzten Abrechnung erstmalig bemerkt machten, ein Wort gab das andere. Bis sich der Fronmeister unvermittelt und lautstark über den Kläffer von der Hypothekenburg ausließ. Wahrscheinlich hatte er nicht gesehen, dass Vater so nah hinter seinem Rücken arbeitete. Die anderen Bauern taten wohl so, als ob sie es nicht gehört hätten. Aber sie mussten es gehört haben. Hypothekenburg, der Begriff traf meinen Vater damals mitten ins Herz. Auch, weil er so leicht über die Lippen des Fronmeisters kam, so als wäre es ein gepflogener Begriff im Dorf.

Es dauerte Jahre, bis aus dieser Geschichte der verletzende und bittere Unterton verschwand und wir Hasso schmunzelnd zum Bewacher unserer Hypothekenburg erklärten. Er hat dies immer prima gemacht. Zur Belohnung bekam er eine Laufkette, an der er den ganzen Hof überqueren und mit anhaltendem Kläffen dafür sorgen konnte, dass alle Fremden in ihren Autos sitzen blieben, bis sie von uns daraus befreit wurden oder auch nicht. Vom Küchenfenster aus konnte man dies – von Fall zu Fall – entscheiden.

Kinderängste

Wie laut kann eine Uhr ticken? Lauter als später die Düsenjets, die im Tiefflug über unseren Bauernhof jagten, viel lauter. Diese konnte man schon aus weiter Entfernung hören und den zunehmenden Lärm bis hin zum Überschallknall einschätzen. Es half ein kurzes „die Ohren zuhalten“, bis der Spuk vorüber war. Das Ticken der Uhr über der Eckbank im Esszimmer hatte kein Ende, wurde immer lauter und drohte mein Trommelfell zu zerreißen.

Mit meinen drei jüngeren Schwestern saß ich im Wohnzimmer, das durch die offen stehende Flügeltür mit dem Esszimmer verbunden war. Die Eltern hatten sich zum Gottesdienst am Altjahrabend verabschiedet. Die Weihnachtsstube war warm und gemütlich, die Kerzen am Weihnachtsbaum schon halb abgebrannt. Die Kerzen erzählten von Heiligabend und den Tagen – vor allem den Abenden – zwischen den Jahren. Von der schönsten Zeit des Jahres, den glücklichsten Tagen meiner Kindheit. Die einzigen Tage, an denen die Gute Stube beheizt und gemütlich warm war, an denen die Hof- und Stallarbeiten auf das Notwendige beschränkt wurden und die Eltern abends nach der Stallzeit früher ins Haus kamen. Dann wurde im Wohnzimmer gespielt.

Spiele, die nach dem Erscheinungsfest wieder weggeräumt wurden und in einem Schrank darauf warteten, vom Christkind im kommenden Jahr wieder unter den Christbaum gelegt zu werden.

Auch an diesem Silvesterabend wartete ich mit meinen Schwestern auf das Motorengeräusch des Traktors, der die Heimkehr unserer Eltern ankündigen würde. Von allen Traktoren des Dorfes hätte ich unseren an seinem Tuckern unterscheiden können. So oft hatte ich mich schon nach diesem Geräusch gesehnt. Vor Angst gelähmt. Spätestens gegen acht Uhr wollten sie wieder da sein. Nur eine Stunde würde der Gottesdienst dauern. Stattdessen war nur das Heulen des Sturmes zu hören, der um das Haus pfiff. Irgendetwas klapperte gegen die Hauswand – oder gar gegen das Fenster? Je mehr ich mich auf das Klappern konzentrierte, desto überzeugter war ich davon, dass da jemand ums Haus schlich. Ein Einbrecher. Die zugezogenen Vorhänge würden zwar keinen Blick ins Haus ermöglichen, aber wenn es jemand wirklich darauf anlegte, würde er an den Einbuchtungen der Falten einen klitzekleinen Ausschnitt des Sofas sehen können. Exakt die Stelle, auf der ich regungslos saß und kaum zu atmen wagte. Das unerträglichste aller Geräusche kam jedoch von der Esszimmeruhr, deren Minutenzeiger sich nicht von der Stelle rührte, deren Ticken in den Ohren dröhnte und damit alles andere übertönte. War da nicht das Klirren eines Fensters? Oder klopfte jemand an die Tür?

Eigentlich hätte ich – wie so oft – auf meine jüngeren Schwestern aufpassen sollen und mit ihnen spielen, bis die Eltern kamen. Zum Glück spielten sie ganz ohne mich und fühlten sich in der Obhut ihrer älteren Schwester sicher. Noch nicht einmal meine Anweisung, doch einfach in die Hose zu pinkeln, da ich mich in meinem gelähmten Zustand außerstande sah, sie zur Toilette zu begleiten, ließ die Angst auf sie überspringen.

Endlich, der Traktor fuhr auf den Hof, der Schlüssel drehte sich im Schloss und langsam kehrte das Leben zurück in meine erstarrten Glieder. Meine Mutter, eine begeisterte Kirchenchorsängerin, summte das Lied „Das alte Jahr vergangen ist, wir danken dir, Herr Jesu Christ, dass du uns in großer G’fahr so gnädiglich behüt’ dies Jahr“. Der Pfarrer habe die Abendmahlfeier ausnahmsweise in den Gottesdienst integriert und damit war die gute halbe Stunde Verspätung ganz einfach begründet.

Der Sturm hatte einen Fensterladen aus seiner Arretierung gelöst und ihn abwechselnd gegen Fenster und Hauswand schlagen lassen, die Uhr tickte wie immer – fast nicht hörbar – und der Minutenzeiger rückte unaufhaltsam vorwärts. Nur die Angst hatte sich tief in mir festgefressen und rührte sich nicht vom Fleck.

Die Angst saß schon lange dort. Meine allerersten Erinnerungen – ich muss gerade mal zwei Jahre alt gewesen sein – sind voll davon. Ich liege in meinem Gitterbettchen im Schlafzimmer meiner Eltern, damals noch in unserem alten Haus in der Dorfmitte. Die Vorhänge sind zugezogen und das ausgesperrte Tageslicht lässt den ganzen Raum in einem fadgelben Dämmerlicht erscheinen. Ich brülle mir die Kehle aus dem Leib. Aber es hilft nicht – ich bin alleine. Die Eltern sind auf dem Feld. Meine Mutter kommt erst zum Kochen in der Mittagszeit oder gegen Abend zur Stallzeit nach Hause. Draußen auf der Straße höre ich Stimmen, halte immer wieder den Atem an, wenn sich auch nur die geringste Hoffnung