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Ronja und Elio teilen ihre Faszination für die Natur, frisch verliebt beginnen sie ein gemeinsames Leben in einer Kleinstadt am Fuße der Alpen. Doch schon bald werden auch sie von einem Phänomen eingeholt, das die Welt seit einigen Jahren in Atem hält: der willkürlichen Entwicklung erwachsener Menschen zu Bäumen. In ihrem neuen Roman nähert sich Alina Lindermuth einer Zukunftsvision, die gleichzeitig aufrüttelt und tröstet. Wie erleben Betroffene die sogenannte Dendrose und wie gehen ihre Familien damit um? Wie reagiert die Gesellschaft, was bedeutet das Phänomen für Politik, Unternehmen oder auch Krankenhäuser? Allmählich wird klar, dass die bestehenden Risse in der Bevölkerung dadurch immer tiefer werden. Eine feinfühlige Liebesgeschichte im Zentrum der größten Herausforderung unserer Zeit: Die Autorin denkt angesichts der Klimakrise zu Ende, was geschehen würde, wenn die Natur auf sanfte, aber irreversible Art ihren größten Widersacher zu einem Teil von sich selbst zurückbildet.
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Seitenzahl: 407
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Für Simon, meinen Hochgebirgssee
Alina Lindermuth
Roman
1 | Du
2 | Wir
3 | Sie
4 | Ich
Danke
Zuerst war ich Gas, Staub, Hitze und Stein,
meine Vielfalt war chemisch und lange Zeit klein,
Jahrmillionen nur Stick-, Wasser- und Kohlenstoff,
meine Meere unendlich, das Land kahl und schroff.
Mit dem Licht kam das Grün, zuerst nur als Zellen,
schwamm im Ozean auf, brandete an den hellen
Stränden, wo es wurzelte, wuchs und gedieh,
mir langsam einen ersten Hauch Leben verlieh
und ich nicht mehr nur aus Elementen bestand,
doch fein verzweigt über Wasser, Luft und an Land
die Gesamtheit allen Seins umschloss
anorganisch atomklein bis riesengroß,
vom Salzkristall bis zum Kalkalpenbogen,
organisch ganz gleich, vom Mikroorganismus im Boden,
über Gräser, Farne, Sträucher und Dschungelwälder,
über Kolibris, Raubkatzen und Mammutkälber,
über Schimpansen, Eisvögel bis hin zum Känguru,
ein Zeitalter verging noch, und dann kamst du.
Kribbeln ihre Zehen wie die Nasenspitze kurz vor dem Niesen, fragt sich Ronja, wie es wohl ist, Wurzeln zu haben. Sofort werden ihre Finger klamm und Hitze durchpulst ihre Ohren, die Angst ist wieder da. Sie atmet ein paar Mal tief durch und schaut aus dem Fenster, versucht sich abzulenken, doch es gelingt ihr nicht. Dabei funktioniert Ablenkung von hier aus eigentlich sehr gut, denn betrachtet man die Welt aus einem fahrenden Zug, dann reichen die Farben des Augenblicks meistens dafür aus, um akute Grübeleien zu verscheuchen. Sie konzentriert sich auf die Landschaft, Bäume, Felder, Berge, einen Hof. Es dauert, aber langsam beruhigt sie sich.
Für gewöhnlich arbeitet Ronja auf Zugfahrten, vor allem auf längeren so wie heute, von der Hauptstadt zurück nach Farnburg. Drei Stunden achtundvierzig sind es laut Fahrplan und es ist davon auszugehen, dass dieses Versprechen auf die Minute eingehalten werden wird. Doch heute arbeitet Ronja nicht. Sie sitzt allein an einem Vierertisch in Fahrtrichtung und schaut in den Spätnachmittag hinaus. So sitzt sie am liebsten. Denn sitzt sie gegen die Fahrtrichtung, dann beginnt ihr die Aussicht schon nach wenigen Metern zu entgleiten. Ähnlich, als würde man über vergangene Jahre nachdenken; zuerst kommt die Überraschung, dass schon wieder Tage und Monate verlebt sind, dann die Enttäuschung, dass sie unwiederbringlich vorbei sind. Manchmal folgt dann das Gefühl, um die Zeit betrogen worden zu sein, weil sie zu schnell vorbei war.
In Fahrtrichtung hingegen hat alles seine Ordnung, die Welt draußen wird über die Netzhaut logisch aufeinanderfolgend Bild für Bild in das Hirn hineingefaltet, eine ewige Ziehharmonika aus Landschaft, die sich langsam, aber verlässlich schließt.
Den Laptop hat Ronja gar nicht erst ausgepackt, auf dem grau metallenen Tisch liegt nur die Wochenzeitung, ein Roman in blauem Einband und eine Packung Taschentücher. Gestapelt, in eben dieser Reihenfolge und mit der rechten Kante am Fenster ausgerichtet. Zwei Stunden sind vergangen, seit sie diese Pyramide so arrangiert hat. Ein seltener Moment ist das, denn sie hält das Nichtstun, den Stillstand nicht gut aus, hätte eigentlich spätestens an der Stadtgrenze die Wochenzeitung aufgeschlagen und wäre mittlerweile beim Roman angelangt. Eine seltsame Schwere liegt ihr auf der Brust, die Wälder am Rand des Gleiskörpers scheinen abweisender zu sein als bei der Hinfahrt vor zwei Tagen, das Farbspektrum kühler. Sie sortiert ihre Gedanken, versucht einzelne zu Ende zu denken, doch sie entgleiten ihr immerzu, mischen zwischen die Bäume und Felder eine Bildkollage der letzten Tage.
Der bundesweite Dendrosen-Kongress lief überraschend konstruktiv ab. Für knapp zweihundert Personen hatte das Ministerium für Gesundheit und Soziales das Programm sowie Räumlichkeiten und Unterkünfte organisiert. Der Kongress war eine Zusammenkunft von Vertreter:innen der regionalen Teams, die sich in ihrer Heimat ehrenamtlich um Menschen mit Dendrose kümmerten.
Vormittags gab es Vorträge im Plenum zur aktuellen Entwicklung der Fälle im Land, nachmittags Workshops in Kleingruppen zu spezifischen Fachthemen. Ronja nahm teil an Gezielte Kommunikation mit Angehörigen und Zwischen Metamorphose und Biosynthese – neue Ergebnisse zum Verlauf. An beiden Abenden fand ein gemeinsames Essen statt, um die Teilnehmenden auch auf persönlicher Ebene zu vernetzen und den Austausch über die Bundesländergrenzen hinweg zu verbessern.
Vor allem, weil er eine willkommene Abwechslung zu ihrem Alltag in der Klinik versprach, war Ronja als Vertreterin des Farnburger Dendro-Teams zu dem Kongress gefahren.
Im Stadtkrankenhaus von Farnburg ist immer ein bisschen zu viel los, ein Einmachglas, das sich auch unter dem Druck des Oberkörpers, der sich darauf stemmt, nicht schließen lässt. Ein paar Menschen zu krank, eine Pflegekraft zu wenig, ein Dienstrad nicht voll. Ronja wusste um die Probleme im System, schon als sie ihr Studium begonnen hatte. Bereits damals wurde im Gesundheitswesen ein Notstand nach dem anderen ausgerufen, regelmäßig der Kollaps prognostiziert. Auf den Titelseiten der Tageszeitungen schauten ernste Oberärzte aus den Fenstern ihrer Abteilungen auf regnerische Städte hinaus und erzählten im Interview, dass dieselbe trübe Stimmung auch in den Spitälern nicht mehr wegzubekommen sei. Nicht selten wurden trotz der groß angelegten Kampagnen zur Bewerbung des Pflegeberufs Menschen porträtiert, die diesem früher nachgegangen waren, mittlerweile aber ein erfüllteres und vor allem stressfreieres Arbeitsleben im Projektmanagement, der Floristik oder gar in der IT führten.
Einen Kollaps hatte es schlussendlich nicht gegeben, obwohl beim ersten Auftreten einer Dendrose in der Hauptstadt und kurz darauf auch in Farnburg vor acht Jahren alles darauf hingedeutet hatte. Binnen kürzester Zeit belegten Betroffene monatelang die Stationen, Menschen in Panik, die sich einbildeten, sie seien ebenso erkrankt, verstopften die Notaufnahmen und so mancher tatsächliche Notfall wurde bei der Triage so weit nach hinten gedrängt, dass es am Ende zu spät für ihn war. Doch schon bald zeichnete sich ab, dass die Fälle im Krankenhaus weder behandelt werden konnten noch dass sie dort besser aufgehoben waren als zu Hause. Die anfangs überhörten botanischen Institutionen wurden in der öffentlichen Debatte präsenter und bald schon stand man, wie künftig so oft, vor mehr Fragen als Antworten. Wie zum Beispiel: Wer war denn jetzt eigentlich zuständig für die Dendrosen? Die Medizin? Oder die Botanik?
Ronja, die zu dieser Zeit als junge Turnusärztin bereits mit den herkömmlichen Aufgaben der Allgemeinmedizin überfordert war, kam die Debatte sehr gelegen. Noch mehr Chaos und noch seltenere Rücksprachen im Team hätten sie am Ende vielleicht ebenfalls von ihrem langjährigen Berufswunsch abgebracht. Doch es wurde leichter. Die Betreuung der Dendrosen wurde zunächst auf eine einzelne Abteilung je Krankenhaus beschränkt, mit sinkender Nachfrage dann nur noch ambulant durchgeführt und schließlich vollständig in den privaten Bereich verlegt. Heute waren die häufigsten Krankheitsbilder, die Ronja diagnostizierte, die gleichen wie vor dem ersten Fall: Magendarmvirus, Angina, Lungenentzündung, Blinddarm.
Der erste Fall. Sie konnte sich gut daran erinnern, wie sie, noch vor den meisten anderen, von Ajani Majok gelesen hatte. Im Newsletter des medizinischen Fachjournals, das sie abonniert hatte, waren die höchst außergewöhnlichen Symptome des Südsudanesen aus Yirol beschrieben worden, abgeschwächt durch den Vermerk, dass der Fall vorerst nicht unabhängig bestätigt werden konnte.
Es sollte ein paar Monate dauern, bis sie erneut davon hörte, doch diesmal überrollte der Fall sie und den Rest der Welt mit solch einem medialen Echo, das sonst höchstens die US-Präsidentschaftswahl oder andere Naturkatastrophen mit sich brachten.
Mehrere internationale Teams hatten Majok in der Zwischenzeit untersucht, mittlerweile war er in Südsudans Hauptstadt Juba und dann in Kapstadt behandelt worden. Nach einigem Tauziehen internationaler Organisationen wurde er an die Charité in Berlin verlegt. Die behandelnde und nun vielfach zitierte Oberärztin, die einen ganzen Stab von interdisziplinären Fachleuten anführte, sprach in einer Aussendung von einer völlig neuen und womöglich einzigartigen Erkrankung mit dem vorläufigen Namen Dendrose. Abgeleitet wurde der Begriff notdürftig aus der Kombination der altgriechischen Begriffe Dendron und Metamorphoses, also Baum und Umwandlung. Ihre ersten Erkenntnisse beherrschten tagelang die Schlagzeilen: »Es sieht so aus, als würden sich Majoks Muskeln in zelluloseähnliche Fasern umwandeln.«
Wäre er der einzige Fall geblieben, hätte er vermutlich kaum jemanden weiter interessiert. Doch nur Wochen, nachdem Majok erstmals in dem kleinen Krankenhaus einer Hilfsorganisation wegen seiner Beschwerden aufgenommen worden war, klagten Menschen in nahegelegenen Siedlungen, dann in anderen ostafrikanischen Ländern, schließlich auch in Mittelamerika und Südasien über dieselben Symptome: kribbelnde Zehenspitzen, steife Sprunggelenke, trockene, sich verfärbende Haut an den Füßen. Eine erste Welle der Panik brandete über den gesamten Globus hinweg, dicht gefolgt von der tatsächlichen weltweiten Ausbreitung der Dendrosen.
Heute, acht Jahre später, ist die Welt eine andere: Nichts – keine Katastrophe, keine Pandemie und kein bewaffneter Konflikt – hat das Weltgeschehen der letzten Jahrzehnte derartig beben lassen wie die Dendrosen. Dennoch hat diese neue Welt sehr schnell ihre eigene Normalität entwickelt, das Phänomen integriert wie ein Naturgesetz: Ab fünfzig kann es jeden Menschen treffen, egal wo und wie er lebt. Die Menschheit hat sich angepasst, Methoden entwickelt, damit umzugehen, wenn auch nicht immer reibungslos, aber doch so gut, dass sich Ronja manchmal fragte, wie das überhaupt möglich war. Auch bei ihr selbst.
Einen Rückblick auf Majok hielt auch der Kongress am Vortag bereit: Ein junger Historiker mit, wie er sich selbst vorstellte, großer Begeisterung für kreative Datenvisualisierung hatte einen kurzen Slot während der Plenarvorträge ergattert, um seine Dissertation Die erste Dekade des Anthrodendrenzeitalters vorzustellen. Auf einer beeindruckend detaillierten, digitalen Zeittafel hatte er archiviert, was seit dem ersten Fall geschehen war, weltweit, mit zusätzlichem Fokus auf das Inland. Die Zeittafel war auf den ersten Blick eine Gerade mit senkrecht gesetzten Trennstrichen, die die wichtigsten Ereignisse markierten: Majok, Ausbreitung in der Sahel-Zone, Ausbreitung in den gesamten Tropen, erste vollständige Dendrose, erster Fall in Europa, 100 000 dokumentierte Fälle, das Kalkutta-Phänomen, eine Million dokumentierte Fälle, der Beginn des US-Süd-Konflikts und so weiter. Zoomte er in ein Ereignis hinein, wurde eine weitere Detail-Zeitleiste sichtbar, zudem Bildmaterial, Presseausschnitte und Kurven, die quantitative Entwicklungen abbildeten. Zoomte er erneut, kamen Quellen und Erläuterungen zum Vorschein. »Alles Open Source«, schloss er, »für mehr Transparenz.« Ronja hatte sich schnell den Link zur Plattform gespeichert, bevor ein drängender Nachredner den Historiker mit diskreter Handbewegung der Bühne verwies.
Im Zugabteil ist es ruhig, Ronja versucht zu schlafen, wenigstens zu dösen, möchte sich ihren Gedanken entziehen. Doch als sie die Augen schließt, kommen nur noch mehr Bilder auf – der Kongress, Majok, die Arbeit –, wie in einer digitalen Fotogalerie scrollt ein gnadenloser Daumen durch ihr Gehirn. Sie schlägt die Augen sofort wieder auf.
Hunderte von Bäumen faltet die Zugfensterziehharmonika in Ronja hinein. Viele stehen so nah an den Gleisen, dass sie nicht einzeln erkennbar sind, sondern durch die Fahrtgeschwindigkeit zu einem endlosen grünbraunen Band verwoben werden. Weiter oben bedecken sie die Rücken der Hügel und, je steiler es wird, die Hänge der Berge. Sie sehen aus, als würden sie die steinernen Gipfel einkleiden, dunkelgrüne Rollkragenpullover unter weißen Krägen aus Schnee.
Ronja zieht ihr Telefon aus der Tasche und entsperrt den Bildschirm mit einem Lächeln. Zwei Nachrichten von Nina, die wissen will, wie die Konferenz gelaufen ist. Ein Mail als erstes Follow-up von den Organisatoren. Mehrere blinkende Kugeln, die auf Neuigkeiten im sozialen Netzwerk hinweisen. Sie schiebt alles mit einem Wischen fort. Die kleine Flucht in die digitale Zerstreuung trägt unterm Strich nicht viel Positives zu ihrer Stimmung bei.
Ins Telefon versunken bemerkt sie zuerst gar nicht, dass der Zug einen Bremsvorgang eingeleitet hat. Doch dann schnappt sie reflexartig nach dem Stapel auf dem Tisch, den sie gerade noch festhalten kann, am Ende war es eine Vollbremsung. Flüche und Getuschel werden laut, einige Reisende sind wohl nicht schnell genug gewesen und vom Inhalt halb voller Becher auf dem Hemd geweckt geworden. In der regnerischen Dämmerung draußen ist nichts Außergewöhnliches zu erkennen: Mischwald mit mehr Nadelbäumen, wie er häufig in dieser Gegend vorkommt, hauptsächlich Fichten, dazwischen einige wenige Rotbuchen.
Sie sind Farnburg schon sehr nahe, vielleicht noch zwanzig Fahrminuten entfernt. Im Waggon wird es wieder ruhiger, dann ertönt eine Durchsage: »Liebe Fahrgäste, dies ist ein außerplanmäßiger Halt, bitte halten Sie die Außentüren geschlossen, unsere Fahrt wird in Kürze fortgesetzt.« Zustimmendes Brummen wabert über die Sitzreihen hinweg. Immerhin, denkt sich Ronja und verschränkt die Arme vor der Brust. Eine längere Verspätung hätte sie heute nicht mehr vertragen.
In einem Zug zu sitzen, der jeden Moment wieder losfahren sollte, es aber nicht tut, ist eine Qual. Man steht auf den Fersen, will loslaufen, darf aber nicht abrollen. Um dieses Gefühl zu betäuben greift sie nun doch nach der Zeitung und faltet sie auf, sodass die Titelseite vor ihr liegt, überfliegt die Schlagzeilen und faltet gleich noch ein zweites Mal, sodass das Papier nicht nur den gesamten Tisch einnimmt, sondern auf beiden Seiten darüber hinausragt. Das Rascheln beruhigt sie schnell, wie immer. Jahrelang hat sie darüber nachgedacht, wo dieses kleine Glück seinen Ursprung hatte. Ob es an der porösen Haptik des Papiers lag. Oder daran, dass es an Geschenkpapier erinnerte. Bis sie eines Tages verstand, erst im letzten Sommer. Sie war bei den Großeltern zu Besuch und ihre Großmutter Karolina zog sich nach dem Mittagessen, wie seit Jahrzehnten üblich, auf die Terrasse zurück, die Tageszeitung unter dem Arm. Das Zeitungsrascheln war das Hintergrundgeräusch leichter Kindheitsnachmittage.
Auf jener Terrasse, die hinter dem schmalen Reihenhaus der Großeltern auf einen üppig bepflanzten Gartenstreifen führt, hat Ronja viel Zeit verbracht. Schon früh interessierte sie sich für alles Grüne, fand in der Gesellschaft von Pflanzen eine Geborgenheit, mit der es kein Mensch aufnehmen konnte. Stundenlang gab sie sich dort ihren ersten Versuchen im Gärtnern hin. Serafin, ihr Großvater, ein bis heute leidenschaftlicher Gärtner, hatte ihr Interesse früh erkannt. Am vorderen Eck der Terrasse, überschattet von einem alten Kirschbaum, hatte er mehrere alte Obststeigen zusammengetragen, gestapelt und mit einem breiten Brett verbunden. So war nicht nur eine wunderbare Werkbank auf Kinderhöhe entstanden, sondern auch Stauraum für die unterschiedlichsten floristischen Ambitionen. Hier topfte Ronja an manchen Nachmittagen dasselbe Büschel Unkraut mehrfach in verschiedene Gefäße um, einfach nur des Umtopfens wegen, mit einer Hingabe, wie andere Kinder ihre Puppen oder Stofftiere kleideten. Hier zog sie, zwar meist erfolglos, aber nichtsdestotrotz mit größtem Eifer, Sprösslinge aus dem Grünschnitt des Gartens: Hortensien, Kriech-Rosen und Efeu, Hartriegel, Johannesbeere und Ginster.
Serafin war bis heute ein Mann mit klaren Vorstellungen davon, wie die Dinge zu sein hatten. Allem voran geordnet und sauber, eine Einstellung, die auch vor dem Gärtnern nicht Halt machte. Die drei Bäume des Gartens, die Kirsche, der Feld- und der Spitzahorn, wurden zur rechten Zeit geschnitten, die Bepflanzung der Rabatten, die entlang der nachbarlichen Thujenhecken angelegt waren, wurden mehrmals im Jahr erneuert. Im Frühling sprossen dort weiße Tulpen und Hyazinthen, im Sommer folgten Dahlien und Gerbera. Dazu kamen mehrere Hortensien- und Rosensträucher sowie Grüppchen von japanischem Blut- und Federgras, die je nach Jahreszeit gebunden oder geschnitten wurden. Die wenigen Quadratmeter Rasen, die dazwischen übrig waren, mähte Serafin mit einem alten Handrasenmäher. Oft griff er am Ende eines Tages im Garten noch zur Küchenschere und schnitt die Grashalme an den Rändern der Blumenbeete so zurecht, dass sich der aufgeräumte Charakter bis unter das überhängende Grün der Zierpflanzen zog.
Während er vor den Sträuchern kniete, verbrachte Karolina die Nachmittage lesend auf dem Terrassenstuhl. Ob sie wirklich las oder döste, war schwer zu sagen, die schwarzen Gläser der Sonnenbrille ließen nie etwas erkennen. Diese Tage waren für Ronja bis heute ein gut zugekorktes botanisches Terrarium, ein intaktes, eigenes Ökosystem aus Geborgenheit und Schaffensmöglichkeiten, das sie unbewusst mit dem Begriff Kindheit gleichsetzte.
Die Schwere wird endlich leichter, als sie nach wenigen Seiten auf eine Reportage stößt, die Fernradfahrende auf Touren um die ganze Welt begleitet. Sie betrachtet die Bilder und liest den schweißdurchtränkten Erfahrungsbericht einer Journalistin, die zwei Reisende auf einer Etappe entlang der alten Seidenstraße durch Usbekistan begleitet hat. Ronja testet die Namen der Städte mit Lippenbewegungen aus, Taschkent, Samarkand, Buchara, wie schön, denkt sie sich.
Als sie den Blick hebt, um in die Ferne zu schauen, merkt sie, dass der Zug weiterfährt. Doch nur für eine Sekunde, dann erkennt sie, dass auf dem Nebengleis ein Güterzug in entgegengesetzter Richtung unterwegs ist, und sie ärgert sich. Im Hintergrund steht derselbe Bergrücken wie vorhin still, nur der Himmel darüber ist jetzt fast dunkel. Die andere Lokomotive zieht nach zahllosen Containern noch eine Handvoll Waggons hinter sich her, die dicht beladen sind mit dicken, aufeinandergestapelten Baumstämmen. Seltsam, denkt sie, wie grotesk die Fracht heutzutage wirkt, wie Rümpfe ohne Gliedmaßen, früher hätte sie nicht einmal aufgeschaut.
Ein Blick auf die Uhr bestätigt, dass sie längst in Farnburg hätten ankommen sollen. Da kommt die schlechte Laune zurück. Sie schlägt die Zeitung zusammen, zu schnell, es entsteht der ungünstige Knick des achtlosen Faltens, der mittelfristig das ganze Blatt ruinieren wird. Sie stemmt sich aus dem Sitz hoch und schaut über die Reihen. Wo der Schaffner ist, fragt sie sich und weiß, dass sie ihren Groll vor ihm kaum wird verbergen können. Doch niemand mit rotem Lanyard um den Hals ist in Sicht, nur ein paar Haarschöpfe. Sie fühlt sich selbst wie ein gefaltetes Stück Papier, streckt sich und marschiert dann in Fahrtrichtung los. Als sie bereits den übernächsten Waggon durchquert, aber noch immer keinen Schaffner entdeckt hat, ertönt eine weitere Durchsage: »Liebe Fahrgäste, unsere Weiterfahrt ist leider nach wie vor behindert, Grund dafür ist ein Hindernis im Schienenbereich. Ein Husten. Aus aktueller Sicht wird sich unsere Ankunft in Farnburg um etwa neunzig Minuten verspäten. Wir bitten um Entschuldigung.«
Ronja macht auf dem Absatz kehrt, dreht sich so energisch um, dass sie beinahe einen schlafenden Mann anrempelt. Neunzig Minuten! Warum sagt er nicht gleich eineinhalb Stunden. Das wird sie ihm als Erstes sagen, wenn sie ihn erwischt.
Zurück auf ihrem Platz zieht sie wieder das Telefon hervor, öffnet direkt ihr soziales Netzwerk und gibt den Code, der sie davon abhalten soll, zweimal falsch ein. Beim dritten und letztmöglichen Versuch klappt es und sofort schieben sich kurze Videos zwischen sie und ihre Wut: ein Welpe, der aus einem Strohhalm trinkt, Werbung für Algenchips, die aktuelle Innenpolitik in einer Minute, zwei junge Otter, die rücklings Arm in Arm in einem Fluss treiben, Werbung für eine neue Dendrosen-Applikation, die Ajani-App.
»Entschuldigung!«, ruft sie. Fast hätte er es geschafft, an ihr vorüberzueilen.
Sie rappelt sich aus ihrem Sitz und knallt das Telefon auf den Tisch, wo zum Glück noch die Zeitung liegt und den Aufprall abfedert.
»Ja, bitte?«, fragt der Schaffner, ein älterer Herr mit schlohweißem Haar, den Halteriemen für das Tablet um die auffallend schlanke Taille geknöpft.
»Wann geht’s denn jetzt weiter?«
»In etwa fünfzig Minuten. Wir arbeiten unter Hochdruck daran, die Fahrt wieder aufzunehmen.«
»Ich verpasse einen Termin!« Ronja bemüht sich um einen ruhigeren Ton, es gelingt ihr nicht.
»Das tut uns sehr leid, bitte wenden Sie sich mit Ihrer Buchungsnummer an den Kundenservice.«
»Einen Anschluss, meine ich. Meinen Anschluss!«
»Wo soll’s denn hingehen? Ich suche Ihnen die nächsten Verbindungen heraus.« Er lächelt noch immer, doch seine Augenbrauen deuten darauf hin, dass er langsam ungeduldig wird.
»Nicht nötig, ich schau selbst nach«, sagt sie patzig, sie muss den Blick abwenden, weil sie sich plötzlich dafür schämt.
»Machen wir gerne, es ist uns ein Anliegen –«
»Kleinfeld«, lügt sie.
»Nach Kleinfeld?« Seine Augenbrauen entspannen sich wieder. »Da kann ich sie beruhigen. Dieser Anschluss ist nicht gefährdet. Die Regionalbahn fährt jede halbe Stunde von Farnburg, unabhängig vom restlichen Fahrplan. Sogar am selben Bahnsteig, an dem wir ankommen werden, nur gegenüber.«
»Ok.« Ronja sinkt tiefer in ihren Sitz hinein und tut so, als wäre ihr diese Information neu. Der Schaffner nickt und geht endlich weiter.
»Wohin musst du denn wirklich?« Sie fährt zusammen. Die Frage dringt dicht an ihrem Ohr aus dem Schlitz zwischen den beiden Sitzen hervor. Sie dreht sich um, späht mit einem Auge. Ein Mann mit dunklen Haaren sitzt hinter ihr, er muss etwa in ihrem Alter sein.
»Ich parke in Farnburg und fahre weiter nach Schönau.« Seine Stimme ist jetzt dünner, der Satz klingt eher wie eine Frage.
»Nein, nein. Ich muss, ehrlich gesagt, nur in die Stadt.« Sie schaut jetzt mit dem anderen Auge. »Aber danke.«
»Ach so. Ja dann.«
Als Antwort versucht sie ein Lächeln, denn, sollte es eine Frage gewesen sein, war es ja wohl gleichzeitig auch ein Angebot. Mehr noch aber, weil ihr der Fragensteller, mit beiden Augen einzeln betrachtet, überraschend gut gefällt. Dann erst wird ihr bewusst, dass er ihren Mund gar nicht sehen kann. Sie streckt sich und wirft das Lächeln über beide Sitze nach hinten. Sofort sinkt sie zurück auf ihren Platz. Die schlechte Laune ist fort.
Der schöne Fragensteller hat sie beim Lügen ertappt, und zwar ohne sie überhaupt gesehen zu haben. Das heißt, das Erste – und vermutlich Einzige –, was er je über sie wissen wird, ist, dass sie eine Lügnerin ist. Noch dazu eine Lügnerin, die ohne große Notwendigkeit lügt, kein Notlügnerin, keine, die nur durch eine Unwahrheit etwas Lobenswertes hätte retten können, etwas Edles vielleicht. Nein, einfach eine profane Lügnerin. Was, auch wenn sie streng mit sich wäre, auf ihr gesamtes Dasein gerechnet aber eine absolute Ausnahme ist. Die vergangenen Sekunden beginnen in Dauerschleife vor ihr abzulaufen wie ein Kurzfilm, der damit endet, dass sie über den Sitzen auf- und wieder abtaucht wie das Krokodil mit breitem Grinsemaul im Kaspertheater.
Mit einem Ruck setzt sich der Zug unangekündigt wieder in Bewegung. Fast zeitgleich ist ein Aufprall zu hören, Metall auf Hartplastikboden, danach ein Kullern und ein leiser Fluch. Im nächsten Moment stößt eine Edelstahlflasche gegen Ronjas Fuß, reflexartig stellt sie den zweiten drauf und hebt sie auf.
»Ist das –«
»Meine, ja, danke«, kommt es wieder von hinten.
Sie kniet sich auf den Sitz und reicht die Flasche nach hinten. Innerhalb weniger Minuten schaut sie zum zweiten Mal in sein Gesicht. Der Abstand der Zugreihen ist für zwei Fremde eigentlich zu eng, fast schon intim.
»Sonst lüge ich eigentlich nie«, sagt Ronja, weil ihr nichts anderes einfällt und er ihren Blick so direkt erwidert, als wäre das Gespräch noch nicht beendet.
»Ich weiß.« Ein verschmitztes Lächeln, bei dem die Augen fast nicht mehr zu sehen sind.
»Aha?«
»Weil’s schlecht war. Hat auch der Schaffner gemerkt.«
Das ist einfach nicht ihr Tag. »Ja dann«, sagt sie und etwas in ihr entlädt sich plötzlich in einem Lachen.
»Aber keine Sorge, hab mir noch kein moralisches Urteil gebildet.«
»Großzügig«, sagt sie, jetzt doppelt beschämt. Ist es schlimmer, eine Lügnerin zu sein oder nicht einmal ordentlich lügen zu können? »Dann dreh ich mich jetzt wieder um.«
»Ich bin übrigens Elio«, sagt er und streckt ihr die Hand entgegen.
»Ronja.«
»Schön, dich kennenzulernen, Ronja. War mit Abstand das Beste an der Verspätung.«
»Ja.« Sie muss schlagartig wieder an das Kaspertheater denken und lässt sich schnell zurück auf ihren Platz fallen. Elio, denkt sie, was das wohl für ein Name ist.
Erst jetzt beeilt sich der Schaffner, die wieder aufgenommene Fahrt durchzusagen. Sie hat richtig gelegen, es war nicht mehr weit bis Farnburg. Bis zur Einfahrt in den Bahnhof sind es nur noch ein paar Minuten, ein Grüppchen Seniorinnen, heimgekehrt von einem Kulturausflug in die Hauptstadt, steht schon im Gang bereit zum Ausstieg und drapiert Schals über Steppjacken in erdigen Tönen. »So schön, so interessant, na, und alles blüht dort schon, einmalig.«
Ob sie im Alter auch so ängstlich sein wird, dass sie schon weit vor der Stadtgrenze aufsteht. Sie lehnt sich zurück und wartet. Was sie noch mehr stört als das muntere Gerede, ist, dass die Damen genau vor ihrem Platz Halt gemacht haben und sie selbst am Aufstehen hindern. Umständlich zieht sie ihre Jacke zwischen Sitzlehne und Fenster hervor. »Schöner Name« könnte sie beim Aussteigen sagen. Ja, schöner Name.
Als der Zug endlich zum Stillstand kommt, machen sich die Damen nun wider Erwarten in aller Gemütlichkeit auf den Weg zur Tür, sie meint, ein »Ciao« zu hören, doch bis sie sich erheben kann, ist der Platz hinter ihr leer.
Im Bus vom Bahnhof zu ihrer Straße stehend wippt sie ungeduldig mit den Beinen auf und ab. Sie greift nach dem Schlüsselbund und lässt ihn in ihre Jackentasche gleiten. Neugierig wäre sie gewesen, auf Elio. Das muss sie sich eingestehen. Selten ist sie neugierig auf jemanden, im besten Fall interessiert. Und jetzt ist sie einmal neugierig und wird es wohl bleiben. Eine kleine Chance, etwas über ihn zu erfahren, gibt es zwar noch, sie hat auf der Flasche das Firmenlogo eines Sportgetränkeherstellers aus der Region erkannt. Und Elio ist ein seltener Vorname. Vielleicht arbeitet er dort?
Sie steigt aus, steuert die wenigen Meter unter den Lichtkegeln der Straßenlaternen auf ihr Wohnhaus zu. Im zweiten Stock angelt sie nach dem Schlüssel, froh, endlich angekommen zu sein. Als sie ihn aus der Jacke zieht und ins Schloss steckt, segeln zwei zusammengefaltete Rechnungen auf den Fußabtreter. Sie steigt darüber hinweg und betritt die Wohnung, lässt ihre Tasche endlich von der Schulter gleiten und atmet so tief aus, als hätte sie zwei Tage lang die Luft angehalten. Bevor sie die Tür zudrückt, geht sie doch noch hinaus, verteufelt dabei das Belegesammeln für die Spesenabrechnung und überlegt schon, sie einfach liegen zu lassen. Aber das wäre schon die zweite schlechte Tat an einem Tag, darum hebt sie sie auf und schließt die Welt endlich aus. Auf dem Weg zu ihrem Schreibtisch wirft sie einen Blick darauf. Doch nur eine der Rechnungen ist ein Beleg. Die andere ist ein stärkeres, liniertes Stück Papier, irgendwo herausgerissen, von Hand beschrieben, wie im Film, wie im Fernsehen, vielleicht ein Scherz, aber jedenfalls unmöglich. Elio, steht dort, dann eine Telefonnummer, dann nicht gelogen. Ronja lacht auf und schaut sich um, als würde sie beobachtet. Denn: Würde das so in einem Buch stehen, es läse sich wie ausgedacht.
Während der Reis gart, hackt sie Knoblauch und Pakchoi, beides brät sie in Sesamöl. Wirklich hungrig ist sie nicht, doch das Werken der Hände lenkt sie ab von den vergangenen Kopftagen. Beim Wenden des Gemüses überlegt sie Formulierungen für eine Textnachricht, die sie gleich nach dem Abendessen verfassen möchte. Noch vor wenigen Jahren hätte sie eher überlegt, wie viele Tage sie verstreichen lassen sollte, bevor sie eine Nachricht sendet. Doch diese Zeiten waren lange vorbei.
Sie sucht nach Wortspielen rund um die Lüge. Dreht die gängigen Begrüßungsformeln hin und her. Sie entwirft eine Reihe von Kurznachrichten und denkt immer noch darüber nach, als der Reis und das Gemüse aufgegessen und auf dem Teller nur noch Schlieren von Öl und Sojasoße übrig sind. Dann gibt sie sich einen Ruck.
Schöner Name.
Danke. Auch schön, dass du antwortest. Das kam schnell.
Beides gern.
Textnachrichten sind ehrlich gesagt nicht so meins.
Ihres auch nicht, denkt sie, doch sie wartet, die drei Punkte hüpfen noch auf und ab.
Hast du Lust, am Sonntag mit auf eine Wanderung zu kommen? Wetter wird gut.
Sie stutzt, das kommt jetzt doch etwas direkt. Aber ja, will sie. Schon tippen ihre Finger, ohne dass sie viel nachdenken kann. Klingt, als hättest du schon eine Route im Kopf.
Wollte auf die Steinbergspitze.
Von Schönau, oder?
Genau. Würde vorschlagen vom Bodenbauer aus, kennst du den Steig?
Jetzt überschlagen sich die Textnachrichten und passen nicht mehr chronologisch zusammen.
Ok.
Ich glaube schon.
Ok.
Ja, machen wir so, schreibt sie schließlich. Ist er ein Unbekannter aus dem Zug oder ein lange bekannter Arbeitskollege, mit dem sie manchmal Bergtouren unternimmt? Gerade ist das schwer zu unterscheiden.
Ich kann dich gerne in Farnburg abholen, wenn du möchtest. Öffentlich ist es mühsam.
Danke, ich komm mit dem Rad. Das wäre ihr jetzt doch zu viel.
Um elf?
Gut.
Bis dann. Elio schickt ein lächelndes Gesicht hinterher, fast wie im Zug. Ronja steht auf, wischt einen Soßentropfen mit dem Finger weg, leckt ihn ab, räumt Teller, Gabel und Glas in den Geschirrspüler. So einfach war das noch nie, findet sie. Sollte sie das skeptisch machen? Ein kurzer Schauer überkommt sie, die gängigen Warnungen drängen sich auf: fremd, erstes Treffen, Wald. Doch sie wirft die Klappe des Geschirrspülers mit Schwung zu und sperrt diese Gedanken in die feuchte Kammer mit ein. Im Bad denkt sie nur noch an ihre Neugierde und der Dampf in der Dusche wird zur Verheißung, dass sie gestillt werden wird.
Um halb elf trägt Ronja ihr Fahrrad durch das Stiegenhaus hinunter. Nach einem kurzen Blick auf die Karte fährt sie los, sie kennt den Weg ohnehin. Es ist ein Frühlingstag, wie sie schon lange auf ihn gewartet hat. Von überallher riecht es endlich wieder nach etwas, nach Blüten, Grashalmen, die sich aus der feuchten Erde schieben, nach Pollen, die aus den ersten Knospen hervorbrechen, nach Sonne, die auf dem feuchten Asphalt zerfließt. Das Hochgefühl der ersten Fahrradmeter lässt heute nicht nach. Auch nach einem, zwei, drei Kilometern nicht und sie bemüht sich gar nicht darüber nachzudenken, woran das liegen könnte. Auf der Landstraße nähert sie sich zügig jenem Parkplatz, von dem aus ein Feldweg zum Bodenbauern und dann hinauf auf den Wanderweg führt. Schon von Weitem sieht sie eine Gestalt, die an einem Brunnentrog steht und sich einen Schuh bindet, das Bein auf dem Holzblock abgestellt. Drei Autos stehen dort, aber keine anderen Menschen sind zu sehen. Sie bremst, parkt ihr Rad und schließt es an einer jungen Buche ab, er hat sie noch nicht bemerkt, bindet sich jetzt den anderen Schuh.
»Hi«, ruft sie ihm zu.
»Hallo, Ronja.« Elio richtet sich auf.
Sie bleiben mit etwas Abstand voneinander stehen, er nickt leicht, um seine Begrüßung zu untermauern, sie nickt zurück. All die Leichtigkeit, die sie bis hierhergeführt hat, ist jetzt fort. Dagegen hilft, etwas zu tun, zum Beispiel die Daunenjacke im Wanderrucksack zu verstauen. Ohne den Fahrtwind ist es so warm, als wäre es schon Sommer. Er scheint ihr Unbehagen zu spüren und redet über das Wetter, über die Vorhersage für die kommende Woche und über den Wandersteig, den sie gehen werden.
»Du warst schon mal oben?«, fragt er.
»Ja, ein paar Mal sogar, aber ist ewig her.« Sie erinnert sich, die Wanderung mit den Großeltern unternommen zu haben, zu einer Zeit, als es für sie noch möglich war.
Sie marschieren los, zuerst über den Feldweg. Zwischen Äckern hindurch, die noch brachliegen vom Winter, gehärtete Erdklumpen, die darauf warten, von schwerem Landgerät umgepflügt zu werden. Bald führt der Weg auf eine Forststraße, die sich in lang gezogenen Serpentinen den Bergrücken hinaufschlängelt. Nach einer Weile zweigt rechts ein markierter Wanderweg ab, der Pfad ist hier so schmal, dass man hintereinander gehen muss.
»Nach dir«, sagt Elio. Sie geht gerne voraus, auch mit dem Fahrrad ist sie lieber vorne, weil sie es nicht mag, wenn ihr etwas die Aussicht nimmt. Die Fremdbestimmung, die sie im Krankenhaus lebt, die in der Natur von Teamarbeit liegt, soll dortbleiben. Dort ist sie gut. Aber nicht auf ihren Wanderwegen.
Der Steig lenkt sie durch einen Nadelwald und wird immer steiler, zwischendurch sind kleinere Abhänge zu überwinden, mit einem Schritt über Wurzeln zu klettern, dann wieder eine Serpentine, dann ein kleiner Bach. Der Wald wird wieder lichter und der Weg flacher, sie haben den Sattel erreicht, von dem aus man langsam auf einem breiten Grat in Richtung Gipfel wandert. Vereinzelte Fichten werden abgelöst von Latschenkiefern, die in niedrigen Gruppen den Weg säumen. Diesen Teil des Aufstiegs hat sie immer gemocht, er riecht nach heißen ätherischen Ölen, wie kurz vor einem Saunagang.
Der Beschaffenheit des Weges folgend hat sich ihr Gespräch entwickelt. Unten auf den Feldern waren es noch Höflichkeiten und jene generischen Floskeln, die man mit Unbekannten jederzeit vorbehaltlos teilen konnte. Schönes Wetter, extra für uns, ja, wirklich schön, ich freu mich schon auf die Aussicht. Doch als der Weg in die Forststraße einmündete, verließen sie das uneindeutige Terrain. Bald gingen sie zu Privaterem über, mit jedem weiteren Schritt nach oben lernte sie etwas über ihn. Bist du in Schönau aufgewachsen? Ja? Und wie ist es, noch hier zu leben? Wolltest du nie in Farnburg leben? Oder ganz wo anders? Nein, ich hab keine Geschwister. Du schon? Sogar Zwillinge? Wie war das? Die Abzweigung auf den Wanderpfad brachte eine neuerliche Wendung, denn hintereinander gehend blieben die Seitenblicke aus, die ihnen am Anfang geholfen hatten, die Aussagen des anderen einzuordnen. Ein Lächeln, das etwas Gesagtes abschwächte, eine Handbewegung, die etwas zu ausführlich Erzähltes fortwischte, das Zucken mit den Schultern, um lässige Gleichgültigkeit bei einem heiklen Thema zu suggerieren. Auf dem Pfad gab es nur noch Elios Stimme über ihrer Schulter. Ich hab den Wald schon als Kind geliebt, war nur draußen, es war immer ein kleines Abenteuer. Ich finde, sogar heute fühlt sich das oft noch so an.
Auf dem Sattel angekommen wird der Weg langsam ebener, zeitweise verlieren sie sogar leicht an Höhe, immerzu fallen links und rechts die Wiesen ab, durchbrochen nur noch selten von Vegetation, die über Kniehöhe hinausgeht. Zwei Täler breiten sich gleichzeitig unter ihnen aus, weiter oben sind Bergbauernhöfe zu sehen, das Vieh noch nahe in den umzäunten Ställen, bald wird Almauftrieb sein. Weiter unten stehen die Häuser in größeren Grüppchen, am Talboden formiert in Dörfer, Kleinstädte, Farnburg. Durch beide Täler fließt ein Fluss gleich einer Ader, von groben Baumaschinen begradigt, dann wieder wild mäandrierend, fast überall dicht bewachsen, als würden die Sträucher und Bäume der Böschung ihr Wasser beschützen wollen. Geradlinig angelegt verlaufen die Hauptstraßen, die Nebenstraßen und Wege, führen als feines Geflecht in die Ortschaften hinein, verbildlichen, wie sich der Mensch in kleinsten Schritten die Umgebung unterworfen hat, wie er hineingewachsen ist in die Natur. Schaut man genau, sieht man die gerodeten Flächen und dass der Talboden fast gänzlich von bewirtschafteten Äckern durchzogen ist, dass die Waldränder unnatürlich präzise verlaufen, dass die Hochspannungsleitungen das Land noch in der Luft zerschneiden.
Dass man so klein wird beim Wandern, dass man Teil wird vom großen Ganzen, dass man gleichzeitig nichtig und doch da ist, das mag sie so an den Bergen. Nichts sonst hat sie bisher gefunden, dass das tatsächliche eigene Maß so deutlich sichtbar macht, es dem Kopf erlaubt, nicht nur zu sehen, sondern auch zu begreifen, dass man als Mensch nicht Ameise unter Baum, sondern Mikrobe vor Gipfel ist. Ein Gefühl, das unten im Tal im besten Fall heraufbeschworen werden kann, in den allermeisten Fällen jedoch unter den zähen Schichten des täglichen Tuns gut vergraben bleibt.
»Wie kommt man darauf? Ist ja jetzt kein ganz gängiger Beruf.« Ronja ist dort stehen geblieben, wo das letzte Stück des Weges Richtung Gipfel hinauf auf einen recht schmalen Grat übergeht. Sie nimmt ihren Rucksack ab und greift nach der Wasserflasche.
»Auf mein Forschungsfeld meinst du?«
»Insgesamt. Wieso Sprichwörter?« Sie wischt sich mit dem Handrücken den Mund ab, schraubt den Deckel zu und verstaut die Flasche wieder.
»Steinreich. Das wars.« Er lacht. Sich direkt gegenüberzustehen ist, als wäre die Umgebung weicher. Ein Umstand, der an dieser Stelle nicht unbedingt von Vorteil ist. Ronja macht eine Kopfbewegung, nickt ihm weiterzugehen.
»Erzähl«, sagt sie und schaut nicht zurück. Wegen dem Weg und wegen dem Weichen.
»Als ich klein war, hab ich den Begriff aufgeschnappt, als sich mein Papa mit meinem Opa unterhielt. Papa war bei der Bahn, er erzählte von seinem Chef dort. Und mein Opa sagte so etwas wie ›Für euch bleibt nichts übrig, aber selbst müssen die reich sein, sag ich dir, steinreich.‹ Ich glaube, es ging um einen Streik. Das Wort hat sich bei mir festgesetzt. Ich hab gefragt, was es bedeutet. Denn Steine waren nicht unbedingt was Gutes. Auf den Feldern vom Opa haben sie gestört, manchmal musste ich helfen, sie wegzutragen. Papa hat gesagt, das sagt man eben so, ein Sprichwort. Ein paar Monate später lag dann ein Ausschnitt aus der Tageszeitung auf dem Frühstückstisch. Es gab damals eine Rubrik, wo einmal wöchentlich Sprichwörter erklärt wurden, zufällig war es wohl die Wendung steinreich sein. Er hat es mir ausgeschnitten.«
Sie hört ihm zu, ist schon in seiner Kindheit angelangt und betrachtet den Kiesel unter ihren Füßen.
»Ja und?«, fragt sie.
»Na ja, so hat es begonnen. Ich wurde leidenschaftlicher Sammler dieser Sprichwortkolumne, ich hab sie bis heute aufbewahrt. Doch leider erschien sie bald nicht mehr. Irgendwann bekam ich dann das Buch Deutsche Phrasen und Sprichwörter geschenkt. Und damit war es besiegelt.«
Eigentlich hat sie das steinreich gemeint, aber sie möchte nicht unhöflich sein.
»Um es kurz zu machen: Es folgte die Schullaufbahn eines Strebers, ich war der Erste, der bei uns in der Familie studiert hat, und dann noch dazu so ein Orchideenstudium. Aber meine Eltern haben nie was dagegen gehabt.«
Sie gehen schweigend hintereinander her.
»Schöne Geschichte. Und das steinreich?«
»Das kommt aus dem Mittelalter. Damals konnte sich nur der Adel behauenen Stein aus den Steinbrüchen leisten, um damit stabilere Häuser zu bauen. Jemand, der sich diese Steine leisten konnte, war also steinreich.«
Wie oft hat sie das Wort wohl schon verwendet, ohne seinen Ursprung zu kennen? So sättigend ist dieses Wissen, sie probiert das Wort im Stillen aus und sieht Pferdefuhrwerke, die holpernd Geröllbrocken transportieren, hört das Hauen der Steinmetze und kann jetzt ein bisschen erahnen, wie aus einem einzelnen Wort eine ganze Forschungskarriere zu Sprichwörtern entstehen kann.
Auf den letzten Metern zum Gipfelkreuz sprechen sie nicht mehr, zweimal geht Ronja auf alle Viere, um ein Stück zu klettern. Dann folgt ein letzter Grat bis zum Plateau, auf dem das Holzkreuz errichtet wurde. Mit Stahlseilen ist es am Boden fixiert, das verwitterte Kästchen am Rumpf enthält wohl das Gipfelbuch.
Sie setzen sich mit dem Rücken an einen Felsvorsprung gelehnt, die Sonne im Gesicht, das Tal unter ihnen ausgebreitet wie ein Hochflorteppich, geknüpft aus den Farben des Frühlings. Sie holt zwei Äpfel und Müsliriegel aus dem Rucksack, Elio nimmt einen Apfel dankend an und bietet im Gegenzug eine Nussschnecke, die er zuvor mit einem Taschenmesser in zwei Teile geschnitten hat. Er lenkt sie ab vom Ausblick und sie ist froh, dass sie sicher sitzt, wälzt im Kopf die Fakten, die sie über ihn erfahren hat, schaut sich jedes Detail gierig an.
Sie ist wach und klar und spürt das Dopamin nach dem Aufstieg, wie die Anspannung ihrer Beinmuskulatur langsam nachlässt, saugt die frische Luft ein, riecht auch ihn. Lange war sie nicht mehr so neugierig darauf, jemanden besser kennenzulernen, vielleicht überhaupt noch nie, eine Gänsehaut überzieht ihren Nacken. Ein Sprichwortforscher also, sie hat nicht einmal gewusst, dass so etwas ein Beruf sein kann. Ein Mensch aus Bergen und Büchern.
Später, unten im Nadelwald, folgen sie dem Rundweg und gehen langsamer, als es beim Abwärtsgehen sein müsste.
»Und was ist das Beste daran?«, will Elio wissen. Sie erreichen wieder den Forstweg. Er sieht sie von der Seite an.
»Die Abwechslung, schätze ich. Jeder Tag ist anders. Ich weiß, das sagen viele, aber im Krankenhaus ist es wirklich so. Zumindest als Allgemeinmedizinerin.«
»Schön zu hören. Ich finde, das sagen nicht viele.«
»Vielleicht weil der Beruf alles sein muss, heute. Bestimmung, Berufung, Goldesel.« Sie gehen weiter und Ronja fragt sich, ob er auf den Goldesel eingehen wird.
»Nein, ich greife nicht jede Wendung auf«, sagt er. Sie lacht. »Und was machst du, wenn du nicht im Krankenhaus bist?«
»Nichts Besonderes. Rad fahren, Kochen.« Sie überlegt. Und überlegt. Was macht sie? Die dringende Notwendigkeit, etwas Spannendes, etwas Außergewöhnliches über sich zu erzählen, überkommt sie mit überraschender Wucht. Doch so sehr sie sich auch anstrengt, sie findet nichts. »Ich mag Pflanzen«, sagt sie schließlich. »Und ich bin im Dendro-Team von Farnburg, du weißt schon, diese Regionalgruppen zur Unterstützung der Betroffenen.«
Nach einer Weile hält das Schweigen an und geht wie ein unsichtbarer Dritter zwischen ihnen her. Sie steigen weiter ab, springen über ein kleines Rinnsal, das den Forstweg kreuzt, überqueren einen Weiderost, der im Sommer die Kühe davon abhält, die Almen zu verlassen, Fahrzeuge aber ungehindert passieren lässt. Sie erntet im Gehen bereits das dritte Farnblatt, grüne Ränder zeichnen sich unter ihren Fingernägeln ab, als würde das Ernten ihre Worte ersetzen. Die Stille, die auch beim Aufwärtsgehen von Zeit zu Zeit auftrat und sich dort wie eine Atempause anfühlte, ist jetzt unangenehm. Wie ein Stein im Schuh, ein kleines Steinchen ganz vorn. Es drückt Ronja in die weiche Haut des großen Zehs knapp unter dem Nagel, der beim Abwärtsgehen gegen die Schuhspitze drängt. Und sie weiß nicht, wie es rauszubekommen ist. Sie haben sich also jetzt schon nichts mehr zu sagen, eine Welle der Enttäuschung schwappt über Ronja hinweg. Sie macht noch zwei Versuche, fragt ihn etwas zu seiner Arbeit, dann zu seiner Familie, beides führt zurück ins Schweigen.
Die Forststraße bricht aus dem Wald hervor, sie sind zurück, unten in der Ebene, am anderen Ende von Schönau. Sie kennt den Weg zum Bodenbauer, zu ihrem Fahrrad, doch Elio macht keine Anstalten, sich zu verabschieden.
»Du musst mich nicht begleiten«, sagt sie.
»Es liegt auf dem Weg«, sagt er. Sie kann ihn nur schwer einschätzen, kann ihn nicht noch öfter von der Seite ansehen.
Die Dorfstraße liegt unbefahren und ruhig da, führt sie zum Kirchplatz, zwei Bänke stehen dort im Schatten einer Kastanie. Niemand ist zu sehen, trotz des Wetters, trotz des Sonntags. Der Kirchenwirt gegenüber hat schon vor Jahren zugesperrt, Ronja kann sich noch erinnern, wie sie nach den Wanderungen damals manchmal hier eingekehrt waren. Die Tische draußen unter roten Sonnenschirmen mit Kräuter-Limonaden-Logo drauf, an der grob verputzten Hausmauer hing ein Automat, gefüllt mit Gummibällen und ungenau bemalten Spielzeugtieren. Nie durfte sie eine Münze einwerfen und daran drehen, trotzdem kontrollierte sie immer die Ausbuchtungen unter den Metallklappen. Ein einziges Mal hatte sie Glück, tatsächlich lag ein grüngelblicher Gummiball mit eingeschlossenen Glitzerpartikeln dahinter. Gut möglich, dass ihn jemand dort gelassen hatte, weil er so hässlich war, er erinnerte in Farbe und Konsistenz an trockene Nasenschleimhaut, doch für Ronja war es der schönste Ball auf der Welt. Die Euphorie, die sie packte, hatte irgendwo eingekapselt bis heute überlebt, denn geht sie an solch einem Automaten vorüber, kommt er ihr fast immer verheißungsvoll vor. Wenn sie sich unbeobachtet fühlt, überprüft sie noch immer aufgeregt die Klappen, als wäre dort ein Urlaubstag oder ein Restaurantgutschein versteckt, ein altersgemäßer Gummiball. Doch auch der Automat ist fort.
Auf der gewundenen Straße kommen ihnen Wanderer entgegen, zwei Pärchen um die vierzig. Der Weg führt vorbei an Bauernhöfen, deren Ställe die Straße säumen. Aus den tiefliegenden Fenstern dringt der säuerlich warme Geruch großer Tiere heraus, ihr Schnauben und das Geräusch metallener Ketten, die gegen metallene Stangen schlagen. Es folgen ein paar Einfamilienhäuser aus den Siebzigern, dann Streuobstwiesen, dann noch zwei kleinere Bauernhöfe.
Irgendwann bleibt Elio stehen und deutet hinter das Gebüsch an der Straße. »Siehst du das Haus?« Er zieht ein paar Zweige beiseite. »Häuschen muss man wohl sagen.«
Ronja stellt sich auf die Zehenspitzen und schaut über die Sträucher hinweg. Mit großem Abstand zur Straße, fast schon verloren auf dem verwilderten Grundstück, steht ein kleines Haus. Weiter vorn fällt der Grund zum Steinbach ab. Eine gewaltige Trauerweide wächst auf der anderen Seite des Baches, dahinter liegen weite Felder.
»Was ist damit?«, fragt sie, betrachtet ihn und weiß nun mit Sicherheit, dass sich die Stimmung verändert hat. Nicht erst gerade eben, sondern schon davor. Als wären die großen Erwartungen und die anfängliche Aufregung langsam zusammengeschrumpft.
»Das ist mein Traumhaus«, sagt er und wendet sich noch im Sprechen zum Weitergehen. »Aber ich merke, dass das irgendwie fehlplatziert ist, dir das so zu zeigen. Und zu sagen.«
Ihre Fingerspitzen werden kalt, sie haben sich soeben auf jenes Terrain begeben, dass sie oft erlebt hat mit Männern, diese glatte Fläche, auf der das Vor und Zurück schwierig sind, auf der sie nicht recht weiß, wohin und warum überhaupt, und deswegen die Notwendigkeit nicht sieht, sich dort weiterhin aufzuhalten. Jetzt ist sie erst wieder da gelandet, und das, obwohl ihre Bergschuhe ein grobes Profil haben.
»Alles gut.« Sie bemüht sich um einen unbekümmerten Tonfall. »Schaut schön aus. Ein Häuschen mit Aussicht.« Aber es erreicht ihn nicht, er ist stehen geblieben und bindet sich den Schuh, der aber gar nicht zum Binden gewesen wäre. Das Ende des Dorfes ist erreicht, Ronja deutet auf ihr Fahrrad, er nickt.
»Hast du noch Lust auf ein Eis.« Obwohl es ihr zu glatt ist, würde sie trotzdem bleiben wollen, will nicht wahrhaben, dass es so ist wie immer. Aber sie hat selbst gehört, dass ihre Frage nicht wie eine Frage geklungen hat, eher wie eine Feststellung. Jedenfalls nicht wie eine Einladung.
»Ich muss noch zu meinen Eltern«, sagt er und schaut weg. Und sie versteht noch weniger. Wo war der Kipppunkt, fragt sie sich.
»Klar.« Sie lächelt tapfer.
»Fein war’s, schön, dass du mitgekommen bist.« Seine Miene passt nicht zu dem, was er sagt. »Können wir wieder machen.« Und da erkennt sie mit einem Mal, dass es hier nichts von Bedeutung gibt. Dass sie etwas erwartet hat, er aber ganz offensichtlich nicht. Ihr Interesse war von Anfang an Gier auf mehr, sein Lächeln war freundliches Interesse. Genauer: freundschaftliches Wandergefährteninteresse. Ihr wird heiß. Wie konnte sie das übersehen?
»Danke fürs Mitnehmen.« Sie macht einen Schritt und hebt die Hand, er macht das Gleiche in die entgegengesetzte Richtung, schon dreht er sich um und ehe noch ein Wort gesprochen werden kann, ist er schon ein paar Meter gegangen, dreht sich zwar noch einmal zu ihr, bewinkt jetzt ein kurzes Lächeln, verschwindet dann aber schnell auf der Dorfstraße.
Barfuß wandert sie durch ihre Wohnung, kleine Kreise, bis auf den Balkon, der auf einen grünen Innenhof voll alter Linden hinausgeht. Sie trinkt Kaffee, obwohl es schon reichlich spät dafür ist, aber sie hat Lust auf den bitteren Nachgeschmack. Außerdem ist der Vorgang des Kaffeekochens eine manuelle Beschäftigung, die braucht sie gerade. Zum Geburtstag vor ein paar Jahren hat ihr Nina eine Siebträgermaschine geschenkt. Sie mag sie, obwohl es immer eine Sauerei gibt, wenn man den Siebträger mit frisch gemahlenem Kaffee befüllt, auch wenn man sich noch so bemüht, ein paar einzelne Körnchen fallen immer auf die Arbeitsfläche, bleiben dort kleben in den Ritzen des Alltags, egal wie viel man putzt. Aber dennoch, Kaffee einfüllen, feststampfen, den Siebträger einhängen, mit einem Ruck den Hebel nach rechts ziehen, warten, bis die Maschine aufgeheizt hat, und dann den kleinen Knopf drücken. Eine Aufgabe, ein Prozess, Ronja beruhigen Prozesse, bei denen sie das Ergebnis kennt.
Der Spätnachmittag ist so heiß, dass sie den Sonnenschirm aufspannen muss. Dunkelblau und weiß gesprenkelt erinnert er sie an Griechenland. Sie trinkt ihren Kaffee und schaut auf dem Telefon, was in den nächsten Tagen ansteht. Morgen 25-Stunden-Dienst, übermorgen Abendessen bei den Großeltern, dann ein normaler Dienst und Bereitschaft im Dendro-Team. Eigentlich eine gute Woche, so richtig freuen kann sie sich aber nicht. Ihre Gedanken kehren so lange zur Wanderung zurück, bis sie es nicht mehr aushält und zum Telefon greift:
Warum war das Ende so anders als der Anfang?
Wie meinst du das?
So schnell, wie er geantwortet hat, muss Elio wohl am Telefon gewesen sein. Sie denkt nach. Alles, was ihr jetzt einfällt, wird verraten, dass ihr Interesse tiefer schürft, als es bei gängigen Wanderbekanntschaften der Fall ist. Sie will mehr als in drei Wochen wieder von ihm hören, um dann eine neue Tour zu planen.
So richtig erkennt sie sich nicht wieder, hat sich eigentlich gut zurechtgefunden in ihrem Leben, lebt nach ihren eigenen Regeln. Ihr fehlt nichts, auch wenn ihr das viele suggerieren, spürt sie keinen Mangel, wie allgegenwärtig propagiert in einer Gesellschaft, die in fast jeder Hinsicht auf heteronormative Paarbeziehungen ausgelegt ist. Nie hat sie per se etwas ausgeschlossen, aber auch selten etwas forciert. Doch jetzt gerade, das spürt sie in aller Deutlichkeit, will sie einfach keine Wanderbekanntschaft bleiben. Und ob das zu schnell, zu voreilig oder zu unerwünscht sein könnte, ist ihr egal. Eine Dringlichkeit erfasst sie als Ganzes, sie muss aufstehen, tigert wieder hin und her, das Koffein wird es diesmal nicht sein.
Der Anfang war schön, das Ende seltsam.
Ich schätze, du meinst nicht den Weg.
Nein.
Sie hat das Nein schon abgeschickt, zu schnell, aber es ist schon passiert. Sie tippt weiter, fragt sich, ob auch Elio auf hüpfende Punkte achtet, oder ob er sich schon ein Urteil gebildet hat über diese Einsilbigkeit. Endlich schickt sie hinterher: Wo war der Kipppunkt?
Hast du das Eis schon gegessen?
?
Du hast gefragt, ob wir auf ein Eis gehen wollen.
Ach so, nein.
Möchtest du jetzt eins?
Sie bleibt im Flur stehen, wo sie gerade angekommen ist beim Tippen und Denken. Jetzt?
Ehrlich gesagt, nein. Aber ein Bier.
Gut. Dann in einer halben Stunde am Südwiesenufer bei der Stadtbrücke? Ich bringe das Bier.
Diesmal ist sie früher da. Es waren nur ein paar Minuten mit dem Rad, aber das kann er ja nicht wissen. Sie liegt am Flussufer auf ihrer ausgebreiteten Jacke und hat auch zwei Bier dabei, zwar warme, weil sie nicht vorbereitet war, aber es ist trotzdem gut, sie dabeizuhaben. Auf die Minute pünktlich, obwohl es sich um keine gerade Uhrzeit handelt, genau genommen um 16:47 Uhr, lässt sich Elio neben ihr ins Gras fallen.
»Hallo, Ronja«, sagt er zum zweiten Mal an diesem Tag.
»Hi«, antwortet sie und wendet schnell den Blick ab, plötzlich wird sie nervös. Was tun sie hier?
Elio lehnt sich zurück und stützt sich auf den Ellenbogen ab, in der Schräge kommt das fast einer Sitzposition gleich. In der Nähe ist eine Gruppe von Jugendlichen dabei, einen ihrer Kollegen mit Filzstiften zu bemalen, sie kreischen, ein paar Bierdosen liegen verstreut im Gras. Drei Mädchen stehen abseits und beobachten alles. Weiter unten, direkt am Flussufer, kommen Läufer und Radfahrer vorbei, jene, die ihr Wochen-Soll wohl noch nicht erfüllt haben und sich für ein digitales Häkchen im Trainingsplan noch am Sonntagabend überwinden.