Fremde Federn - Alina Lindermuth - E-Book

Fremde Federn E-Book

Alina Lindermuth

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Beschreibung

Wer kümmert sich um Oma? Was passiert, wenn ein Familienmitglied plötzlich auf Pflege angewiesen ist? Alina Lindermuth fängt ein, was sonst im Verborgenen bleibt. Tom zieht bei seiner Großmutter ein und erfüllt ihr den Wunsch eines lang ersehnten Hühnerstalls im Garten. Die unkonventionelle Wohngemeinschaft funktioniert überraschend gut, bis Rosmarie nach einem Unfall nicht mehr allein zurechtkommt. Neben seinem Start-up-Job ist Tom überfordert mit der Situation und entscheidet sich schließlich für ein 24-Stunden-Pflegemodell. Als dann Betreuerin Kata ins Haus kommt, blüht Rosmarie auf. Doch der zweiten, Josipa, traut sie nicht über den Weg. Hat sie es etwa auf die Hühner abgesehen?

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Alina Lindermuth

Fremde Federn

Roman

Kremayr & Scheriau

Für Maria.

Weil es heat nit auf besser zum Werden.

Inhalt

Frühling

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Sommer

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Herbst

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Winter

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Danke

Frühling

1

Frau R. wird aktuell häufig wach, oft sogar drei, vier Mal. Meistens ruft sie zum ersten Mal um halb eins. Wichtig ist, dass du die Tür ihres Schlafzimmers weit offen lässt, damit du sie gleich hörst. Sie hat sich schon beschwert, dass sie zu lange warten muss, dabei habe ich einen sehr leichten Schlaf. Manchmal muss sie gar nicht auf die Toilette, sondern möchte sich unterhalten. Dann stellt sie Fragen. Oder sie will, dass ich das Fenster öffne und wieder schließe. Manchmal erzählt sie auch von Herrn O. Ich denke, sie war früher eine Nachteule. Nachts kommt sie mir klarer vor. Nur steht sie nach solchen Nächten schwer auf, und ich erst recht.

Tom ließ seine beiden Koffer vor dem Gartentor zu Boden sinken und begann erst jetzt zu erahnen, wie sehr sich sein Leben verändern würde. Das Haus im Hortensienweg sah noch immer so aus, wie er es in Erinnerung hatte. In den von Waschbetonplatten gesäumten Beeten blühten die ersten Narzissen. Aus den Fugen zwischen den Pflastersteinen, die einen Weg über das kleine Stück Wiese zu den Eingangsstufen zeichneten, drängte sich tiefgrünes Moos hervor. Dem zweistöckigen Haus war zwar sein Alter anzusehen, aber auch, dass man es über Jahrzehnte hinweg gut in Schuss gehalten hatte. Der Anstrich in der Farbe von Eierschalen zeugte von zurückhaltender Freundlichkeit, nur die dunklen Läden hingen an den Fenstern wie schwere Lider über den Augen eines traurigen Mannes.

Als es vor sechzig Jahren erbaut worden war, hatte es zu einer kleineren Ortschaft gehört. Mit der Zeit jedoch hatte die nahe Hauptstadt um sich gegriffen und der Hortensienweg am Fluss war Teil eines ihrer Randbezirke geworden. Den gärtnerisch-kleinbürgerlichen Vorortcharakter hatte er trotz direkter Anbindung ins Zentrum und dem emsigen Bau moderner Wohnhaussiedlungen ringsum beibehalten.

»Thomas!« Rosmarie hatte das Küchenfenster geöffnet, noch bevor er durch das Gartentor getreten war. Sie winkte, ein Geschirrtuch in der Hand.

»Hallo Oma.« Er hob die Hand.

»Komm nur, komm herein. Ich mach dir auf.«

Im Haus hing der Geruch von Frittierfett und alten Polstermöbeln wie ein Nebel aus Erinnerungen an ferne Tage in der Luft. Tom stellte sein Gepäck im Vorraum ab und streifte die Schuhe von den Füßen, da zog ihn Rosmarie auch schon zu sich herunter. Ihr Kuss auf seine Wange war spitz und trocken wie eng zerknülltes Papier.

»Gut siehst du aus. Ein richtiger Mann, schau dich nur an!«

»Da staunst du, was? Dabei bin ich mir fast sicher, dass ich mich seit letztem Jahr nicht viel verändert hab.«

In seiner Umarmung fühlte sich Rosmarie sehnig an, fast noch schmaler als früher, trotzdem zäh. Sie wand sich rasch heraus und ging voran in die Küche.

»Komm, komm! Ich hol die Schnitzel aus dem Fett!«

Kurz verharrte er und sah sich um. Das war also sein neues Leben. In ihm kollidierten Kindheit und Aufbruch. Doch bevor er sich im Ansturm der Empfindungen verlieren konnte, beeilte er sich, Rosmarie zu folgen.

Als er schließlich am hölzernen Esstisch saß, fehlten ihm zunächst die Worte. Seit über einem Jahr war er nicht mehr hier gewesen, seit dem Begräbnis seines Großvaters. Auf dem Fensterbrett über der Eckbank stand ein gerahmtes Porträt von ihm. Nachdenklich blickte er durch dicke Brillengläser, fast ernst. Als wäre auch er verwundert, dass Tom jetzt hier war.

Rosmarie hantierte an der Küchenzeile. Sie hatte die Schnitzel schon auf zwei Teller gelegt und schöpfte Petersilkartoffeln aus einem Topf. Neben dem Herd stand noch immer der überdimensionierte Messerblock, der in der kleinen Küche kaum Platz fand. Sie zog ein langes Messer heraus und schnitt eine Zitrone in dünne Scheiben. Ihre Bewegungen waren langsamer geworden, aber noch immer sehr präzise. Er beobachtete sie und überlegte, worüber er sprechen könnte. Doch noch bevor ihm etwas einfiel, stand sein Teller auf dem Tisch.

»Mahlzeit! Ich hoffe, es ist immer noch dein Lieblingsgericht.« Rosmarie schaute ihn eindringlich an, mit großen Augen voller Erwartung.

»Ja, absolut. Aber ich esse nur mehr selten Fleisch. Umso mehr freu ich mich. Danke!«

Im nächsten Moment verbrannte er sich die Zunge. Er ließ den Bissen sinken und löschte die Hitze mit einem üppigen Zitronenschauer.

»Jetzt erzähl mir von deiner neuen Arbeit. Was wirst du denn da zu tun haben?«

Tom fragte sich kauend, wie er seinen Job einer Zweiundachtzigjährigen erklären könnte.

»Also offiziell bin ich jetzt Leiter der Produktentwicklung. Das heißt, ich arbeite mit einer Gruppe von Leuten an neuen Ideen und Produkten. Die Firma ist noch dieselbe, ich wechsle nur die Abteilung. Und diese Abteilung gibt es eben nur hier in der Stadt.«

Rosmarie schob sich ein Stück Kartoffel in den Mund und schien nachzudenken.

»Für die Würmer?«, fragte sie schließlich.

»Grundsätzlich ja. Bei uns geht es eigentlich immer um die Würmer. Die sind unser Produkt. So wie bei euch früher in der Fleischerei die Schnitzel, Würste und Innereien die Produkte waren.« Sie nickte langsam.

»Verstehst du, was ich meine? Also die Mehlwürmer, die züchten wir. Im Prinzip wie Schweine auf einem Bauernhof, nur eben in Kisten in einer großen Halle. Und dann verkaufen wir Lebensmittel, die aus diesen Würmern hergestellt werden. Zum Beispiel die Patties für die Hamburger. Und ich überlege jetzt mit einem Team, was wir sonst noch aus den Würmern herstellen könnten.«

Bei jeder Erwähnung der Mehlwürmer hatte Rosmarie geblinzelt. Zuerst nur leicht, doch beim dritten Mal war ihr ganzer Körper zusammengezuckt. Ihre Gabel mit einem aufgespießten Stück Fleisch war die ganze Zeit über an den Teller gelehnt liegen geblieben.

»Eigentlich sind wir eine Art moderne Fleischerei, könnte man sagen.« Er grinste sie an und hoffte, ihre Anspannung dadurch zu lösen.

»Interessant, was ihr jungen Leute heutzutage macht. Schmeckt es dir?«, fragte sie nach einer Weile und aß weiter.

»Ausgezeichnet. Schmeckt genau wie früher.«

Aus den Augenwinkeln betrachtete Tom seine Großmutter und meinte zu erkennen, dass ihr Lächeln die Augen nicht erreichte. Er bemühte sich, den Gesichtsausdruck mit seiner Erinnerung abzugleichen, doch er fand keine.

»Ich freu mich wirklich sehr, dass du da bist, dass wieder jemand im Haus ist. Es wird schon alles gut gehen mit deiner Arbeit.«

Nach dem Essen räumte er den Tisch ab, doch Rosmarie protestierte. Sie nahm ihm die Teller aus der Hand und schickte ihn hoch in sein Zimmer, um sich einzurichten.

»Morgen früh gehts doch schon los. Schau lieber, dass du bereit bist.«

Er lachte. »Bei dir klingt das, als wäre morgen mein erster Schultag.«

»Ist ja auch ein bisschen so, oder nicht?«

»Na ja. Ein bisschen vielleicht.« Er wollte ihr zustimmen und dass sie sich wohlfühlte. Trotzdem wischte er den Tisch ab und stellte sein Glas in den Geschirrspüler.

»Wir sind ja jetzt so etwas wie eine Wohngemeinschaft. Da müssen alle mit anpacken. Du wirst dich noch darüber freuen.«

Rosmarie lachte herzlich auf und da spürte er, wie er langsam im Hortensienweg ankam.

Einen nach dem anderen hievte er seine Koffer über die schmalen Stufen ins Obergeschoß. Rosmarie folgte ihm und setzte die Füße in den grauen Filzhausschuhen langsam voreinander. Das Geländer ließ sie dabei nicht los, Tom wartete geduldig.

»Das Zimmer kennst du ja, nur ins Gästebad musst du hinunter. Damals war das was Besonderes, so ein zweites Bad im Haus. Auch wenn man dafür Treppen steigen muss. Ich hoffe, das macht dir nichts aus. Ich hab mir nur gedacht, du hast lieber dein eigenes Bad, als das große heroben mit deiner Oma zu teilen.« Sie kicherte.

»Kein Thema, das passt gut.«

Toms Zimmer führte auf einen Balkon hinaus und hatte zusätzlich noch zwei Fenster. Trotz der leichten Dämmerung und einer holzvertäfelten Wand strahlte es eine freundliche Helligkeit aus.

In den Achtzigerjahren hatten Rosmarie und Oskar hier immer wieder Gastarbeiter untergebracht. Später war es sein Zimmer gewesen, wenn er die Sommerferien bei den Großeltern verbrachte. Schon als Kind hatte es ihn gleichermaßen gewundert und fasziniert, dass es dort ein Waschbecken gab.

»Handtücher hab ich dir ins Bad gelegt. Und jetzt ruh dich aus und komm erst mal an.«

»Danke. Ich finde es schön, hier zu sein.«

»Auch für Eva hab ich Handtücher hingelegt.« Rosmarie wandte sich zum Hinausgehen. »Ich hab dir ja schon am Telefon gesagt, sie ist jederzeit herzlich willkommen.«

Er hatte den ersten Koffer in der Mitte des Raumes am Boden geöffnet. Die Erwähnung von Eva versetzte ihm einen Stich.

»Danke. Aber sie hat aktuell viel zu tun, ich glaube, sie kommt in den nächsten Wochen erst mal nicht«, sagte er, ohne aufzuschauen.

»In Ordnung. Ich bin auf der Terrasse und trinke Tee, falls du später auch noch einen möchtest. Aber nimm dir eine Jacke mit, abends ist es noch sehr frisch draußen.«

»Alles klar.« Jetzt erwiderte er ihr Lächeln und beobachtete, wie sie mit vorsichtigen Schritten zurück zur Treppe ging. Sie bewegte sich, als wäre die Welt um sie herum scharfkantiger geworden. Sie hielt inne, um nach dem Lichtschalter zu greifen, erst dann stieg sie langsam hinunter, mit dem rechten Fuß auf jeder Stufe auf den linken wartend.

Beim Auspacken kamen die Zweifel zurück. Natürlich war es eine ungewöhnliche Lösung, bei seiner Großmutter einzuziehen, auch wenn es nur vorübergehend war. Aber die neue Position hatte er zeitnah antreten müssen, zudem war offen, ob sie für ihn und er auf sie passen würde. Dazu kamen die hohen Mietpreise, die eine ordentliche eigene Wohnung nahezu unmöglich machten. Es war eine ungewöhnliche, aber es war eine Lösung. Er schob den Koffer beiseite und setzte sich aufs Bett. Neunzig Zentimeter. Eine Größenordnung, die ihn in einen anderen Lebensabschnitt katapultierte. Durch das offene Fenster hörte er den Wind, der durch die alten Apfelbäume im hinteren Garten strich, irgendwo fuhr ein Auto. Langsam versank er in der weichen Matratze, den Kopf schwer an die Wand gelehnt. Doch bevor das Grübeln überhandnehmen konnte, sprang er auf. Er verknüpfte sein Telefon mit dem Lautsprecher, den er mitgebracht hatte, und verwob seine Gedanken fest mit den Melodien der sogleich raumfüllenden Klaviermusik, damit sie nicht wieder aus der Gegenwart fielen.

Er trat an den Schreibtisch und testete Oskars alten Bürosessel. Er war wuchtig, aber bequem. Was wichtig war, denn an diesem Platz würde er zwischendurch vermutlich ganze Tage verbringen.

Aus seinem Rucksack holte er Laptop, Notizbuch und Kugelschreiber und legte alles in gleichem Abstand zueinander dort ab. Als er das Knäuel aus Ladekabeln hervorzog, rutschte ein kleiner Bilderrahmen mit heraus und zersplitterte auf dem Parkettboden.

»Alles in Ordnung, Thomas?« Rosmarie musste das Klirren auf der Terrasse unten gehört haben.

»Alles gut! Nichts passiert!« Er kniete sich nieder. Nichts passiert. Behutsam schob er die Glasscherben zusammen, dann zog er das Foto aus dem dunkelblau bemalten Holzrahmen. Vielleicht brachten die Scherben ja Glück. Gegen jede andere Assoziation wehrte er sich vehement. Er legte das Foto mit dem Bild nach unten neben seinen Laptop und warf die Scherben vorsichtig in den Mülleimer. Trotzdem schnitt er sich am Zeigefinger, dunkel tropfte Blut auf den Boden. Das doppelte Ungeschick ärgerte ihn so, dass ihm Tränen in den Augenwinkeln brannten. Und seine Wut steigerte sich noch mehr, als er erkannte, dass die Tränen weder dem zersprungenen Glas noch dem blutenden Finger galten. Das kalte Wasser wusch nur das Dunkelrot fort, nicht aber die Wut. Als kleiner Junge hatte er nur in den Spiegel über dem Waschbecken schauen können, wenn Oskar ihm die Stehleiter aufbaute. Jetzt war er so groß, dass er den Kopf leicht hätte nach unten senken müssen, um sich ins Gesicht zu sehen. Er verzichtete.

»Möchtest du jetzt noch einen Tee, Thomas?«, rief Rosmarie herauf. Eigentlich wollte er noch seine Mails durchgehen und sich überlegen, wie er am nächsten Morgen am schnellsten ins neue Büro kommen würde, antwortete aber trotzdem »Ja, gerne« und ging nach unten. Im Wohnzimmer staunte er, wie wenig sich verändert hatte. Die hellen Sonnenblumen auf den weißen Vorhängen, die Sitzbank unter dem Fenster, die Wand mit den Fotos. Das Leben seiner Großeltern in Schwarz-Weiß. Rosmarie als ernstes Mädchen in einer Gruppe von Kindern, aufgereiht vor einem Bauernhaus. Rosmarie und Oskar als junges, schüchternes Paar, ordentlich gekleidet in einem städtischen Park. Rosmarie und Oskar mit skeptischem Blick auf ihrem Hochzeitsfoto, im Hintergrund wenige Verwandte, in ihren Gesichtern ein vorsichtiger Optimismus – für eine junge Familie. Für ein junges Land nach dem Krieg. Und dazwischen auf bunten Farbfotos jede Lebensphase von Tom. Auf einem Lammfell als schlafender Säugling. Unter einem Apfelbaum mit einem Häschen im Arm. Mit verlorenem Blick und unausgefüllten Schulterpolstern im ersten eigenen Anzug. Ein Selfie, Tom neben Rosmarie und Oskar. Alle Fotos waren ordentlich gerahmt. Nur hinter das Selfie geklemmt steckte ein nackt wirkendes Polaroid – Tom und Eva. Er im Hemd, sie im geblümten Sommerkleid, auf der Hochzeit zweier Freunde vor vier Jahren.

»Ich bin auf der Terrasse.« Er wandte den Blick und die heranstürmenden Erinnerungen ab und trat hinaus in den kleinen Garten. Rosmarie saß auf einem der Gartenstühle und hielt eine Tasse in der Hand. Als er sich zu ihr setzte, schenkte sie ihm Tee aus der Thermoskanne ein. Das heiße Wasser dampfte in der kühlen Abendluft.

»Ich hoffe doch, du bringst mir den Frühling. Der Winter dauert schon zu lange.«

»Versprechen kann ich nichts.«

»Hast du alles gefunden, was du brauchst?«

»Aber ja. Das Zimmer ist so gemütlich.«

»Und sonst gibst du mir einfach Bescheid.«

Ihre Fürsorglichkeit kroch ihm unangenehm in den Kragen, er wusste nicht, wie er damit umgehen sollte – als zweiunddreißigjähriger Mann, der ab morgen Bereichsleiter mit eigenem Team sein würde.

»Wie gehts dir, Oma? Was hat sich getan in letzter Zeit?«

Rosmarie nahm noch einen Schluck und schaute in die Apfelbäume, die sich schwarz vor dem zerfließenden Blauorange der Dämmerung abhoben.

»Wie soll ich sagen. Ruhig ist es geworden. Alles mach ich nicht mehr mit, die Knie, das Kreuz. Sind einfach nicht mehr das, was sie mal waren. Aber ich hab genug zu tun. Im Haus, im Garten und beim Seniorenverein. Zahlreiche Veranstaltungen und Ausflüge machen sie dort. Nur weit wegfahren muss ich nicht. Seit Oskar nicht mehr ist, möchte ich überhaupt nicht mehr fort.«

»Kann ich mir vorstellen. Allein der Garten ist ja schon viel Arbeit. Wie gehts Luise, kommt sie noch immer jeden Tag vorbei?«

Tom erinnerte sich gut an die Nachbarin seiner Großeltern. Als Kind hatte sie ihm immer Schokolade mitgebracht, die mit scharfer Minzpaste gefüllt war. Und das, obwohl er den ersten großen Bissen davon direkt vor ihren Füßen ins Gras gespuckt hatte. Trotzdem kam sie weiterhin mit der schwarz-grünen Verpackung in der Hand auf ihn zu und forderte seinen Dank durch eine innige Umarmung ein, bei der er in ihrem weichen Körper versank und fürchtete, im Rosenmuster ihrer Kleider für immer zu verschwinden.

»Ach, Luise. Die kann auch nicht mehr so recht und hats ja mit dem Zucker. Letzten Herbst ist sie zu ihrer Tochter aufs Land gezogen. Das Haus machte ihr schon lange zu viel Arbeit. Aber wir hören uns am Telefon.«

»Ich wusste nicht, dass sie fort ist.«

»Ist ja nicht wichtig. Zu den großen Vereinsveranstaltungen bringt man sie her. Wir sehen uns schon alle paar Wochen.« Sie schenkte sich noch einmal ein. »Magst du auch noch eine Tasse?«

»Gern.« Vielleicht war es doch gut, dass er jetzt hier war. Vielleicht war es gut für sie beide.

Die Kirschlorbeerhecke rund um den Garten verdeckte den Blick zu den Nachbarn. Nur direkt gegenüber konnte man den Giebel eines Hauses und die Spitzen zweier Fichten sehen.

»Hat man das Haus von Luise verkauft?«

»Nein, nein, die Tochter will es behalten. Falls die Enkel eines Tages in die Stadt ziehen wollen. Die Grundstücke sind ja was wert hier bei uns.«

»Dann steht es jetzt leer.«

»Ja, manchmal gehe ich hinüber zum Lüften. Aber weiß Gott, verkaufen wäre besser. Es tut einem Haus nicht gut, wenn keine Menschen ein und aus gehen.«

Er war auf dem Gartenstuhl in sich zusammengesunken. Der Tee war ausgetrunken und seine Finger kalt. Ein Pochen an der Stelle, wo er sich in den Zeigefinger geschnitten hatte, lenkte seine Gedanken wieder auf Eva.

»Geht es Marianne gut?«, fragte da Rosmarie unvermittelt und ihm fiel auf, wie sie dabei den Blick von ihm abwandte und auf ihre Hände richtete.

»Jaja, ich denke schon. Wir sprechen uns nicht oft, seit sie weg ist. Aber doch, so weit gehts ihr gut, denke ich.«

Sie zupfte am Saum ihrer Jacke, als prüfte sie, ob hier etwas zu erneuern wäre, drehte ihn und besah ihn genau von beiden Seiten.

»Schön, so soll es sein.«

Marianne hatte Tom mit siebzehn Jahren auf die Welt gebracht. Als Ergebnis einer ersten aufregenden Liebe mit einem Spielhallenbetreiber, dem Rosmarie und Oskar wenig abgewinnen konnten. Unbeabsichtigt war er in die Welt gefallen, noch bevor seine Mutter den Lehrabschluss im Büro eines kleinen Familienunternehmens machen konnte, das sich auf die Produktion von Lampenschirmen spezialisiert hatte. Mit ihrer Lehre war es damit vorbei gewesen und kurze Zeit später auch mit dem Spielhallenbetreiber. Was diese Episode genau zwischen Rosmarie, Oskar und ihrer einzigen Tochter ausgelöst hatte, war für Tom bis heute ein Rätsel. Seine Mutter hatte immer nur gesagt, die Stadt mit ihren Eltern sei ihr zu groß geworden. Sie zog in eine mehrere hundert Kilometer entfernte Kleinstadt und reduzierte den Kontakt darauf, ihren Sohn später in den Schulferien zu den Großeltern zu schicken. Seit er sich erinnern konnte, war die Kommunikation zwischen den dreien so einsilbig gewesen, dass er als Kind dachte, mit alten Menschen spreche man nur in kurzen Sätzen. Marianne kam bei Freunden unter, machte den Lehrabschluss zur Bürokauffrau in einer Steuerberatungskanzlei nach und baute Schritt für Schritt ein einfaches Leben für sie beide auf. Erst als er selbst eine Lehre als Koch begann und aus der Mietwohnung auszog, trat Reinhard in ihr Leben. Die Verbindung zu seiner Mutter war seither freundlich, aber lose. Und als sie vor fünf Jahren beschlossen hatte, mit Reinhard ans Meer zu ziehen, wurde es langsam stiller zwischen ihnen. Für Tom war das in Ordnung. Sie telefonierten von Zeit zu Zeit und er wusste, dass Marianne dort angekommen war, wo sie niemals geglaubt hätte es hinzuschaffen.

»Ich muss noch ein paar Dinge vorbereiten«, sagte er nach einer Weile und nahm das Tablett mit der Thermoskanne und den Tassen in die Hand.

»Lass stehen, Thomas, ich mach das schon.«

Er lachte auf. »Gewöhn dich dran, Oma!«

»Im Bad hab ich dir Handtücher hingelegt. Auch für Eva, wenn sie kommt.«

»Ja, danke, gute Nacht«, sagte er und ging hinein.

»Gute Nacht.«

2

Essen mit Frau R. ist zurzeit eine Herausforderung. Sie beschwert sich jeden Tag über die Mahlzeiten, die ich koche. Sie sind ihr zu fettig, zu salzig, zu ich weiß nicht was. Herr T. isst aber alles auf, so schlecht wird es wohl nicht sein. Ich denke fast, dass sie sie aus Prinzip ablehnt. Nur den Kuchen, den isst sie ganz ohne Misstrauen. Der schmeckt ihr immer. Du musst aber aufpassen, dass sie nicht zu viel Süßes isst, wegen dem Blutzucker.

Als Tom erwachte, dauerte es einige Sekunden, bis er seine neue Realität erfasst hatte. Die vertäfelte Wand. Der Schreibtisch. Die Apfelbäume vor dem Fenster. Von unten hörte er gedämpfte Geräusche, Rosmarie musste früh aufgestanden sein.

Er duschte und bändigte seine dunklen Locken mit Haarwachs, bis sie glänzten. Dann rasierte er den spärlichen Bart am Kinn und putzte ausgiebig seine Brille. Zur Feier des ersten Tages entschied er sich für eine schwarze Jeans, auf dem Weg in die Küche knöpfte er das beige Leinenhemd zu.

»Guten Morgen, Thomas. Gut geschlafen? Ich hoffe, ich hab dich nicht geweckt. Diese Treppe macht immer so einen Lärm!«

»Guten Morgen, nein, keine Sorge. Bin gerade erst aufgestanden.«

Rosmarie hatte Brot, Butter und Marmelade auf den Esstisch gestellt. Sie trug eine hellblaue Bluse und war ordentlich frisiert. Draußen war es grau und bedeckt, wässriger Kaffee tropfte durch die Filtermaschine.

»Setz dich. Fehlt dir was?«

»Nein, alles gut. Nur ehrlich gesagt frühstücke ich nicht mehr. Ein Kaffee reicht.«

Sie runzelte die Stirn und zog die Augenbrauen zusammen, so sah sie älter aus. »Das Frühstück ist die wichtigste Mahlzeit des Tages. Du brauchst ja Kraft.«

Für den Bruchteil einer Sekunde waren Sommerferien und Tom hier zu Besuch. Bei seinen Großeltern, die wollten, dass aus dem bleichen, schmächtigen Jungen etwas wurde. Die sich sorgten, dass man sich zu wenig um ihn kümmerte.

»Ja, ich weiß. Aber Kaffee gibt mir mehr Kraft als ein Frühstück.«

Ihre Miene blieb starr. Entschlossen strich sie sich ein Butterbrot und bedeckte es mit Erdbeermarmelade. Auch dabei waren ihre Bewegungen langsamer als früher.

Er goss Kaffee in eine Tasse. »Möchtest du den?«

»Ich hab schon einen gehabt, vielen Dank.« Jetzt lächelte sie wieder. »Bist du aufgeregt?«

»Nein, eigentlich gar nicht.«

»Es macht nichts, wenn du aufgeregt bist. Das macht dich aufmerksamer.«

»Ja, vielleicht hast du recht.«

»Ich lass dir für den Abend was auf dem Herd stehen.«

»Ich will wirklich nicht, dass du für mich kochst. Das haben wir ja schon –«

»Ich koche sowieso. Ob es drei Kartoffeln mehr oder weniger sind, macht keinerlei Unterschied. Und außerdem habe ich fünfzig Jahre lang für deinen Großvater gekocht.«

»Ja, ich weiß. Aber trotzdem.«

Er mochte es, nach langen Arbeitstagen selbst in der Küche zu stehen. Er liebte die unterschiedlichen Texturen von Gemüse unter seinen Fingerkuppen, die Glätte einer prallen Aubergine neben der Unregelmäßigkeit eines Blumenkohls. Er mochte den Duft von zerriebenem Rosmarin und gehacktem Koriander, das Kalte und das Heiße und die vielen Möglichkeiten, die das Kochen mit sich brachte. Die Freude am Zubereiten war eine seiner frühesten Empfindungen. Und bis heute trieb ihn eine Neugier nach unbekannten Kompositionen an. Nicht ohne Grund hatte er sich damals für die Ausbildung zum Koch entschieden.

»Gut, aber morgen koche ich.«

Rosmarie schaute ihn wieder finster an. Darüber, wie das tägliche Leben zwischen ihnen sein würde, hatte er gar nicht nachgedacht. Er war einfach davon ausgegangen, dass es so sein würde wie früher. Überhaupt hatte er wenig Kopf dafür gehabt. Denn unter die Freude über die Beförderung und das Chaos des Umzugs hatte sich so viel Stress mit Eva gemischt, dass er am Ende gar nicht mehr wusste, was ihm überhaupt noch wichtig war.

»Ich bin ja im Haus, Thomas. Du wirst doch nicht nach einem langen Arbeitstag noch kochen wollen. So lange ich es kann, tu ich es gern!« Als er die Vehemenz in ihrer Stimme vernahm, zogen sich seine Brustmuskeln zusammen. Ihm dämmerte, dass hinter ihrem Angebot mehr verborgen war. Ein Gebrauchtwerden-Wollen. Ein noch Wollen. Und vor allem: ein noch Können.

»Ist gut, in Ordnung. Ich will dir nur keine zusätzliche Arbeit machen.«

»Tust du nicht. Ich freu mich, dass du hier bist.« Der harte Zug um ihren Mund entspannte sich wieder.

Er trank seinen Kaffee aus und stellte die Tasse in den Geschirrspüler.

»Wir sehen uns am Abend. Ich wünsch dir einen schönen Tag!«

»Ich halt dir die Daumen.«

Und obwohl er fand, dass Daumenhalten ebenfalls nach erstem Schultag klang, freute er sich. Denn gedrückte Daumen konnte auch ein neuer Bereichsleiter gut gebrauchen. Auf der Busfahrt ins Büro zog die neue alte Stadt an ihm vorüber. Zuerst noch einige Straßen, gesäumt von Einfamilienhäusern hinter schmalen, vom Winter kargen Vorgärten. Doch schon bald wichen diese mehrgeschossigen Wohnblöcken mit großflächigen Parks dazwischen. Dann wurde das Braungrün der Gärten immer weniger und kompakter, dafür wurden die Gebäude dichter und höher. Je näher er seiner Ausstiegsstelle kam, desto kälter wurden seine Finger. Eine Radfahrerin fuhr auf gleicher Höhe neben Toms Fenster, bis der Bus abbog. Als er an einem weitläufigen Platz hielt, wich die Kälte einem Kribbeln.

Unter den ringsum aufragenden Bürogebäuden war eine sichtlich neue Landschaft aus Wasserwegen, Bäumen und Sitzgelegenheiten angelegt worden. Menschen in formeller Kleidung trugen Kaffeebecher über kleine Brücken, andere hatten Turnschuhe und Freizeitjacken an.

Problemlos fand er das richtige Gebäude und nahm den Lift in den vierten Stock. Vertraut in all dem Neuen empfing ihn das dunkelgrüne Firmenlogo auf einer gläsernen Eingangstür, die in ein Großraumbüro führte.

»Und um dreizehn Uhr haben wir Team Jour fixe. Da ist auch etwas Zeit für deine Vorstellung eingeplant. Einige kennst du ja schon, zumindest digital.« Sophie hatte Tom am Eingang abgeholt und innerhalb von drei Stunden mit so vielen Informationen überhäuft, dass er sich nach einer kurzen Pause sehnte. Ihm schwirrte der Kopf, er war gleichermaßen euphorisch wie überfordert.

»Es sind alle supernett. Wir haben hier im letzten Jahr wirklich ein tolles Team aufgebaut. Und wir freuen uns umso mehr, dass du jetzt die Entwicklung übernimmst. Das Potenzial ist groß und es gibt so viele Ideen!«

»Danke, dass du dir Zeit genommen hast. Hättest du was dagegen, wenn ich noch kurz ein paar Mails beantworte?«

»Das war jetzt viel, oder? Wie gesagt, wir haben freie Platzwahl, gilt auch für die Führungskräfte. Such dir einfach einen aus.«

Sophie lachte herzlich und er verließ den Besprechungsraum mit dem Gefühl, den richtigen Schritt gewagt zu haben.

»Warte, ich möchte dir noch ganz schnell etwas zeigen. Hast du schon vom Lab gehört?«

»Die Ankündigung hab ich gelesen, ja. Ist es schon in Betrieb?«

Sie lächelte vielversprechend und bedeutete ihm, ihr zu folgen. Sie war vielleicht Anfang vierzig und mindestens eineinhalb Köpfe kleiner als Tom. Ihre Ausstrahlung und Präsenz waren einnehmend, es stand außer Frage, warum sie eine Führungsposition innehatte. Er konnte sich gut vorstellen, wie sie große Projekte ohne viel Aufhebens auf den Boden brachte. Und auch, dass man es sich nicht mit ihr verscherzen wollte.

Sie kamen an einer Reihe Schreibtische vorbei, wo rege Betriebsamkeit herrschte. Er erntete neugierige Blicke und lächelte nach Möglichkeit zurück, hob sich die Vorstellung aber für später auf. Mit ihrem Chip öffnete Sophie eine Tür.

»Willkommen im ersten innerstädtischen Mehlwurm-Forschungslabor.«

Der fensterlose Raum sah auf den ersten Blick aus wie ein Archiv. Entlang schmaler Gänge stapelten sich weiße Kisten in deckenhohen Regalwänden. An der Stirnseite standen Schreibtische auf Stehhöhe. Jeder Platz war mit einem Monitor und Tassen voll biologischer Untersuchungsutensilien ausgestattet.

»Christoph? Ich möchte dir jemanden vorstellen. Das ist Tom, unser neuer Chefentwickler. Wie gehts der Zucht?« Ein junger Mann erschien zwischen zwei Regalen.

»Hi Tom, freut mich!«

»Christoph ist Werkstudent, eigentlich ein zukünftiger Maschinenbauingenieur. Er betreut die Zucht. Wir sind gerade dabei, einen Grundstock an Würmern zu züchten, die wir für neue Produkttests benötigen. Dort drüben gibt es noch einen Raum für die Verarbeitung, sozusagen die Küche.« Sophie sprudelte vor Begeisterung und Tom ließ sich von ihr anstecken.

»Spannend! Darf ich?«

»Klar, komm nur.« Christoph winkte ihn heran und zog aus einem der Regale eine Plastikkiste heraus. Sie war gefüllt mit Haferflocken, zwischen denen sich Hunderte Mehlwürmer wanden, alle etwa einen Zentimeter lang. Der gesamte Inhalt der Kiste war in Bewegung.

Für Tom war das kein neuer Anblick. Im alten Büro befand sich die Produktionshalle direkt nebenan. Und als er vor vier Jahren in der Firma startete, hatte er zwei Wochen in der operativen Mehlwurmzucht absolviert wie alle neuen Mitarbeiter:innen.

»Das ist die zweite Generation hier im Haus. Wir fangen erst an. Aber langsam wird es.«

Er langte in die Box voller Insekten, die eigentlich die Larven des Mehlkäfers waren, aber aufgrund ihres Aussehens Würmer genannt wurden, und setzte sich dann einige von ihnen auf die Handfläche. Sie krümmten sich und kitzelten ihn trocken auf der Haut.

Noch vor ein paar Jahren wäre es ihm nicht im Traum eingefallen, eines Tages als Entwickler in einem Labor zu stehen, kleine, sich windende Würmer auf der Hand. Doch rückblickend hatte seine Laufbahn schon zwei Mal eine unkonventionelle Wendung genommen.

Sein Schulabschluss hatte ihn damals alle Kraft gekostet. Schon während der Schulzeit waren ihm das Ausprobieren und Experimentieren lieber gewesen, als still sitzend irgendwelche Arbeitsblätter auszufüllen. Wurde von ihm im Mathematikunterricht gefordert, Vektoren in alle Himmelsrichtungen zu zeichnen, so konnte ihn das nur für eine halbe Seite voller Pfeile begeistern. Schon bei der nächsten Aufgabe schweifte er noch beim Spitzen des Bleistifts ab und sah sich außerstande, auch nur einen weiteren Strich zu ziehen.

In der kleinen Mietwohnung, in der er mit seiner Mutter lebte, hatte er bis dahin bereits jeden Winkel erkundet. Viel Unerforschtes war über die Jahre nicht übrig geblieben. Es gab nur einen Raum, der ihn bis zur Jugend begeistern konnte, und das war die winzige Küche. Dort konnte er mit wenigen Zutaten verschiedenste Gerichte zubereiten. So reichten ihm eine Handvoll Kartoffeln, um tagelang neue Rezepte auszuprobieren und sich im Anschluss eigene Kreationen zu überlegen. Mit Schale, geschält, in Streifen geschnitten, in Scheiben gehobelt, geraspelt, gewürfelt, gehackt. Und dazu kam das Spiel mit den Elementen und Aggregatzuständen. Oft verbrachte er Stunden mit dem Experimentieren unterschiedlicher Garstufen. Kam Marianne von der Arbeit nach Hause, war sie gleichermaßen erfreut über Toms Leidenschaft für die Küche wie ratlos über die Frage nach der Verwertung eines weiteren Haufens butterweich gekochter Kartoffeln, weil Püree zum dritten Mal in Folge einfach keine Option für das Abendessen war.

Wenig überraschend bewarb er sich nach seinem Pflichtschulabschluss um einen Ausbildungsplatz als Koch und fand sich schon bald in der Großküche des Landgasthauses König wieder, wo ihn die Begeisterung darüber, die redundante Zweidimensionalität des schulischen Alltags hinter sich gelassen zu haben, zu Höchstleistungen antrieb. In Rekordzeit arbeitete er sich in der strengen Hierarchie nach oben. So gründlich, wie er anfangs alle Ecken der metallenen Küche säuberte, so konzentriert hackte er wenig später kilogrammweise Zwiebeln und Karotten im Akkord. Und das mit solch einer Präzision, dass er sich manchmal fragte, warum ihn mathematische Formenlehre zu Schulzeiten nie begeistert hatte. Herr König, der Inhaber des Gasthauses und selbst leidenschaftlicher Koch im Ruhestand, lobte ihn für seine Fingerfertigkeit, die für einen Auszubildenden außerordentlich weit gereift sei, wie er sagte. Und für sein Interesse an unkonventionellen Kombinationen sowie für seinen fast schon akribisch schonenden Umgang mit frischen Produkten.

Wenige Jahre nach seinem Lehrabschluss hatte Tom es zum stellvertretenden Küchenchef gebracht und kam noch immer mit der gleichen Begeisterung zur Arbeit wie am ersten Tag. Er wagte sich mit immer ausgefalleneren Kompositionen an Herrn König und den Küchenchef heran und ließ sich nicht davon entmutigen, dass sie zwar mit Freude verspeist, aber mit Hinweis auf die lange Tradition des Lokals nie in die Speisekarte aufgenommen wurden.

Eines Tages hatte er beim Vorbereiten der Zutaten festgestellt, dass er sich vor einem Tisch voller Brokkoli, Zucchini und Spitzpaprika wohler fühlte als vor den kalten Aluminiumwannen mit Hühnerteilen, Schweinemedaillons und Rinderhack. Einerseits kam das von seiner Überzeugung, aus nachhaltigen Gründen weniger Fleisch essen zu wollen, andererseits von der Freude über die Vielfältigkeit der meisten Gemüsesorten. Herr König redete ihm gut zu, meinte aber auch, dass er seine Kundschaft am besten kannte. Und die würde in den meisten Fällen den saftigen Schweinebauch einem noch so hauchdünn geschnittenen Ratatouille oder perfekt geschmorten Blumenkohl vorziehen. »Und der Kunde ist bei uns…«

»… nicht König, sondern Kaiser.« Schal schmeckte an diesem Tag der Wortwitz auf Toms Lippen, der in eine Holzplatte graviert neben dem Eingangstor des Gasthofs hing.

So verlegte er das Ausleben seiner Kreativität hauptsächlich auf die Beilagen und Herr König servierte den Schweinebauch nun immerhin mit an den Spitzen geschwärzten Blumenkohlröschen. Und obwohl seine Hingabe nur die zweite Rolle auf dem Teller der Gäste spielte, dauerte es noch bis zu seinem siebenundzwanzigsten Geburtstag, an dem er beschloss, seiner Leidenschaft für das Tüfteln und Innovieren von Lebensmitteln außerhalb der Fleischnorm mehr Gehör zu schenken und sein Glück woanders zu versuchen. Nicht unwesentlich zu dieser Entscheidung trug jedoch noch eine gänzlich andere Komponente seines Lebens bei.

Mit dem Lärm von zwanzig aufgeregten Kleinkindern war Eva in sein Leben geplatzt, gerade, als er an einer roten Fußgängerampel auf dem Weg ins Gasthaus König gestanden hatte. Wenige Meter vorher war ihm sein Schal aus der Tasche gerutscht, was zwei aufmerksamen Sprösslingen aus der Kindergartengruppe aufgefallen war. Mit lauten Rufen hatten die beiden den Schal umringt und wie ein totes Reptil beäugt. Eva hatte die Aufregung rasch zerstreuen können und war dann mit dem harmlosen Schal hinter Tom hergelaufen, auf den die beiden Finder nach einigem Hin und Her gedeutet hatten.

Von diesem Tag an gehörte Eva zu Toms Leben. Es fühlte sich dadurch an, als hätte jemand einen unsichtbaren Lautstärkeregler signifikant nach oben gedreht. Saß er beispielsweise mit ihr in einem Kaffeehaus, kam es nicht selten vor, dass andere Gäste sie mit ernsten Blicken bedachten, manchmal sogar an den Tisch kamen und sich über ihr lautes Organ beschwerten. Beim Putzen hörte sie am liebsten Schlager in voller Lautstärke und in der Küche behandelte sie Töpfe und Teller eher wie Instrumente als Kochutensilien. Auch deswegen kochte er in den allermeisten Fällen selbst.

Evas Intensität hatte sein Leben voller gemacht, ohne dass er zuvor das Gefühl gehabt hätte, es sei leer gewesen. Zu Beginn mochte er ihren Wirbelsturm an Worten, mit dem sie vom Kindergarten nach Hause kam oder den sie über ihre Freunde bei gemeinsamen Abendessen hinwegziehen ließ. Mit der Zeit jedoch wurde sie ihm einfach zu laut.

»Wann kommst du heute nach Hause?«, fragte sie dann in gespielter Unwissenheit.

»Wahrscheinlich so um elf, halb zwölf.«

»Schon wieder?« In ihrem Gesicht nichts als Überraschung.

»Ja. Das weißt du doch, so wie immer. Sind nun mal meine Arbeitszeiten.«

»Ich mein ja nur. Wir sehen uns so selten.« Da überzog sie ihr Gesicht mit einer entwaffnenden Traurigkeit, die ihn noch jedes Mal berührte, obwohl er über die Jahre gelernt hatte, dass besagter Gesichtsausdruck mehr Strategie war als Empfindung.

»Nächste Woche hab ich dienstfrei, dann machen wir uns ein schönes Wochenende. In Ordnung?«

Sie sagte nichts und verließ den Raum mit einer im Rahmen scheppernden Tür, als sollte der Knall das Ausrufezeichen hinter dem unausgesprochenen Vorwurf sein.

Bei all dem Lärm war es ihm dann aber doch zu still, wenn sie einmal für ein paar Tage nicht zu Hause war. Er hatte sich schlicht an ihre omnipräsente Unruhe gewöhnt und verband sie auf groteske Weise mit dem Wogen ihrer großen Brüste, wenn sie schwitzend auf ihm saß.

Herr König war vor Wut ganz rot im Gesicht geworden, als Tom kündigte.

»Wissen Sie, zeitlich ist der Job einfach zu fordernd für mich. Meine Freundin und ich sehen uns kaum.« Mehr Gründe brachte er nicht vor, es hätte keinen Unterschied gemacht.

Gerade das Zeitargument war jedoch eines, auf das Herr König nicht einging, hatte er doch selbst jahrzehntelang seine eigene Frau kaum gesehen. »Eine Ehe braucht mehr Vertrauen als Zeit, mein Junge.« Beim einzigen Mal, als Tom ihn betrunken erlebt hatte, hatte er das gesagt, schon lallend, mit einem traurigen Glanz in den Augen, der wahrscheinlich nicht ausschließlich dem Zwetschgenschnaps zuzuschreiben war.

»Danke Tom.« Eva war ausnahmsweise einmal zwei Minuten ruhig, als sie am gleichen Abend beim Italiener zum Geburtstagsessen waren und Tom ihr von seiner Kündigung berichtete. Sie sprachen nicht über seine konkreten Beweggründe und der Rucola auf der Pizza Bufala schmeckte übermäßig bitter, weil er wusste, dass in seinem Schweigen mehr Opfer enthalten waren, als er eigentlich erbracht hatte. Gekündigt hatte er nicht wegen der Arbeitszeiten und nicht wegen ihr. Aber ihre Stille war Balsam für ihn nach den jahrelangen spitzen Vorwürfen, die er für einen Moment genießen wollte.

Schlussendlich war der eigentliche Grund zu gehen doch seine Neugierde gewesen und ein unbestimmter Antrieb, seine Zeit in etwas zu investieren, in dem er einen größeren Sinn vermutete.

»Da gibt es dieses Start-up für Würmer hier bei uns in der Stadt. Vielleicht ist das was für dich. Ich meine, Start-up kann man eigentlich nicht mehr sagen, eher Scale-up. Die sind schon recht groß. Auf jeden Fall machen sie Lebensmittel aus Mehlwürmern. Irgendwie würde das doch zu dir passen, Mann. So als Koch. Ein bisschen Würmer braten!«, hatte Julian ein halbes Jahr zuvor zu Tom gesagt. Die Freunde saßen über ein Bier gebeugt in ihrem Stammlokal und sprachen über das Leben. Schon seit Monaten war Julian selbst auf der Suche nach einem neuen Job und teilte Tom regelmäßig ungefragt mit, wenn ihm etwas Interessantes unterkam.

Insekten hatte er bis dahin nicht als Lebensmittel betrachtet, Gemüse waren sie auch keines. Bis dahin hatte er auch nicht aktiv über einen Wechsel nachgedacht, doch die Website der jungen Firma war ansprechend und die Idee begann ihm zu gefallen. Vielleicht auch, weil ihm an den folgenden Tagen auf all seinen virtuellen Kanälen Videos rund um Mehlwürmer vorgeschlagen wurden. Er bewarb sich und stand bereits fünf Wochen nach seiner Kündigung mit aufgekrempelten Ärmeln in einer Zuchthalle und streute Haferflocken in Plastikkisten. Zu diesem Zeitpunkt hatte ihn die Begeisterung für Mehlwürmer bereits so gepackt wie damals jene für Kartoffeln.

Im Meetingraum saßen und standen etwa zehn Leute, auf einer Leinwand waren noch weitere Köpfe zu sehen, die online zugeschaltet waren.

»Hallo zusammen. Ich bin Tom und leite ab heute die Produktentwicklung hier vor Ort. Ich freue mich, euch kennenzulernen, und bin gespannt auf alles, was wir gemeinsam bewegen werden!« So weit, so auswendig gelernt gelang ihm der Einstieg erstaunlich ruhig und wie er fand auch charismatisch. Er reichte aus, um ihm die Sicherheit zu geben für einen zwanzigminütigen Vortrag über seine bisherigen Projekte und neuen Ideen, den er mit der richtigen Balance aus Fakten, persönlichen Geschichten und Humor bewältigte.

Im Anschluss lernte er bei gerösteten Mehlwürmern und Saft sein neues Team kennen und hatte auf Anhieb ein gutes Gefühl bei Karim, Matteo und Ella.