Stasi-Terror - Johanna Ellsworth - E-Book

Stasi-Terror E-Book

Johanna Ellsworth

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Beschreibung

Sechs Menschen, sechs Schicksale. Jeder von ihnen geriet ins Visier der Stasi – und damit ins Spinnennetz des ebenso perfekten wie perfiden Geheimdienstes der DDR. U.a.: Ein Mädchen wurde im Westen geboren und vom Jugendamt der DDR in den Osten geholt, um es zu seiner Mutter zu bringen. Doch wurde es wie seine Geschwister von einem ostdeutschen Kinderheim ins nächste gesteckt – abgestempelt, eingesperrt, geschlagen und erniedrigt. Ein junger Mann aus dem Westen zog aus, um seine Jugendliebe bei der Flucht aus dem Osten zu helfen. Doch die Staatssicherheit der DDR kannte längst jeden seiner Schritte und verhaftete ihn, verhörte ihn und sperrte ihn ein Jahr lang ein. Seine Zivilcourage musste er mit Folter und lebenslangen Schmerzen bezahlen. Eine junge Mutter trennte sich von ihrem gewalttätigen Mann, der offensichtlich inoffiziell für die Stasi arbeitete. Daraufhin wurde ihr vom ostdeutschen Jugendamt ein Kind nach dem anderen weggenommen; das dritte und jüngste Kind wurde gar mit Hilfe des Kinderarztes aus dessen Praxis entführt und sie wurde später gezwungen, es zur Adoption freizugeben. Und eine Familie wurde in einer Nacht-und-Nebel-Aktion aus ihrem Zuhause gerissen, weil sie zufällig zu nahe an der Grenze lebte, enteignet und in eine Bruchbude mit Ratten zwangsumgesiedelt. Sechs Menschen, sechs erschütternde Schicksale, die keine Einzelfälle sind, sondern die für unzählige Schicksale von Menschen der ehemaligen DDR stehen.

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Johanna Ellsworth

in Zusammenarbeit mit sechs Co-Autoren

Stasi-Terror

Sechs Schicksale im Schatten der Stasi

 

 

Laumann-Verlag

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Abdruck des Textes »Entwurzelt« von E. O. Schönemann mit freundlicher Genehmigung des OEZ Berlin-Verlags. Das Manuskript wurde von E. O. Schönemann vor Veröffentlichung seines Buchs »Der Wurzeln beraubt«, OEZ Berlin-Verlag (2011) für das Buchprojekt »Und findest du kein Futter mehr« zur Verfügung gestellt und von Johanna Ellsworth lektoriert. Teile des Textes »Entwurzelt« entsprechen Buchabschnitten in »Der Wurzeln beraubt«.

 

Das vorliegende E-Book ist als Print-Produkt unter dem Titel: »Und findest du kein Futter mehr« mit folgender ISBN 978-3-89960-380-4 im Buchhandel erschienen.

 

© 2015 by Laumann Druck & Verlag GmbH & Co. KG, 48249 Dülmen

 

Gesamtherstellung:

Laumann Druck & Verlag GmbH & Co. KG, Postfach 1461

48235 Dülmen

 

ISBN 978-3-89960-426-9

 

[email protected]

www.laumann-verlag.de

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

 

Vorwort von Rainer Wagner,

Bundesvorsitzender der UOKG

Vorwort der Autorin

Eingeschläfert

Entführt

Eingekreist

Erzogen

Eingesperrt

Entwurzelt

Glossar

Fußnoten

Quellenverzeichnis

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Frecher Spatz,

grauer Matz,

schimpfst du noch so sehr,

findest du kein Futter mehr.

 

alter Kinderreim

(Verfasser unbekannt)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Vorwort

 

In Deutschland, einschließlich der ehemaligen DDR, ist in den letzten 20 Jahren eine Generation herangewachsen, für die Demokratie und Freiheit so selbstverständlich sind wie die Luft zum Atmen.

Rede-, Reise- und Meinungsfreiheit werden von niemandem bestritten. Das Wahlrecht, über das jeder Einzelne Einfluss auf die Entwicklung der Politik nehmen kann, wird in unseren Tagen durch Elemente der direkten Demokratie wie Volks- und Bürgerentscheide ergänzt. Datenschutz, die Unversehrtheit der Wohnung, Telefon- und Postgeheimnis sind ebenso staatlich verbürgt wie das Versammlungs- und Demonstrationsrecht. Seit Jahren werden auch die von Helmut Kohl einst angekündigten blühenden Landschaften immer mehr erkennbar. Manche restaurierte Innenstadt im Osten unseres Vaterlandes wirkt fast schöner als bestimmte Regionen der alten Bundesrepublik. Dies alles ist Grund zur Dankbarkeit.

Allerdings wird immer deutlicher, dass unsere Gesellschaft den Fokus auf das Erreichte richtet, dabei aber das Leid der Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft vergisst. Die mehr als 40 Jahre geistiger Knebelung und äußerer Unterdrückung in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR werden als Episode der Geschichte oft nur noch an den wenig öffentlichkeitswirksamen Gedenktagen erwähnt. Das Verdrängen und die Unwissenheit über die Verhältnisse im Unrechtsstaat DDR führen zu dem Phänomen, dass ehemalige Mitglieder der für die DDR-Verbrechen verantwortlichen Staatspartei SED unter dem Namen DIE LINKE heute in den Kommunen, in Landesregierungen und über den Bundestag in ganz Deutschland wieder zu politischem Einfluss gekommen sind. Die Träger des DDR-Repressionsapparates erfreuen sich satter Altersversorgungen oder sind wieder in Amt und Würden. Stasi-Zuträger finden sich im Bildungswesen, in Landesregierungen, bei der Polizei und Justiz, ja sogar in den für die DDR-Aufarbeitung zuständigen Institutionen. Die Morde und anderen Menschenrechtsverletzungen, die im Namen der kommunistischen Ideologie zwischen Elbe und Oder begangen wurden, hat man juristisch nie befriedigend aufgearbeitet. Frech brüsten sich viele Täter von einst ihrer Schandtaten.

Gleichzeitig sind Opfer des SED-Staates und dessen perversen Stasi-Instruments bis heute von ihren Leiden gezeichnet. Viele mühen sich vergeblich um Anerkennung der offensichtlichen Haft- und Zersetzungsfolgen. Weder das vom SED-Regime gestohlene Eigentum noch die zerstörten beruflichen Perspektiven oder verlorenen Jahre konnten vom vereinten Deutschland adäquat ersetzt werden.

Weder die Tausenden Toten an Mauer, Minenfeld und Stacheldraht noch die Hunderttausenden politischen Häftlinge und Opfer von Stasi-Willkür und politischer Knebelung dürfen vergessen werden. So wie vielen Deutschen erst 20 bis 30 Jahre nach dem Untergang der NS-Diktatur das Ausmaß der Nazi-Verbrechen klar wurde, muss heute, 20 Jahre nach dem schmählichen Untergang des kommunistischen Experiments in Deutschland, der Gesellschaft der verbrecherische Charakter des SED-Staates klar werden. In diesem Erkenntnisprozess haben Zeitzeugenberichte der Opfer eine ebenso wichtige Funktion wie eine objektive historische Forschung. Die Zeitzeugen sind dabei in der Lage, neben Geschichtswissen auch die dringend notwendige Empathie und Betroffenheit besonders bei der Jugend zu erwecken. Nur so kann einer linken Geschichtsverfälschung und einer gezielt eingesetzten DDR-Nostalgie entgegen getreten werden.

Unterjochung und Bespitzelung, millionenfaches Leid, Zuchthäuser und Straflager waren die Kennzeichen der DDR. Dieses authentisch in der Erinnerung zu behalten und ein verklärtes DDR-Bild als das zu entlarven, was es ist, eine große Lüge, dient auch dieser Berichtsband.

Dankbarkeit für unseren Rechtsstaat und unsere Demokratie mit all ihren Unvollkommenheiten, an denen wir arbeiten müssen, zu wecken, kann dieser Zeugnisband ebenso befördern.

Ich wünsche ihm eine breite öffentliche Beachtung, besonders auch unter der jungen Generation.

Rainer Wagner

Bundesvorsitzender

der UOKG

 

 

Vorwort

 

Dies sind die Schicksale ganz gewöhnlicher Menschen.

Sie haben in der DDR gelebt. Sie waren nicht »politisch«, sie waren nicht »aufrührerisch« und sie waren auch nicht »gegen das sozialistische Gedankengut«.

Sie waren nur Menschen, die ihr eigenes Leben leben wollten, die sich selbst verwirklichen wollten, die sich ihre innere Freiheit nicht nehmen lassen wollten.

Als sie irgendwann irgendetwas Harmloses sagten oder taten, das für ihren Staat schon zu frei oder individuell war, wurde dies von irgendjemandem an die Staatssicherheit weiter gemeldet. Und so wurden sie allmählich über die Jahre immer mehr zu Staatsfeinden gemacht – gegen ihren Willen und anfangs auch, ohne es zu ahnen.

Sie ahnten nicht, dass sie in einer Diktatur lebten, bis sie an die engen Grenzen ihrer persönlichen Freiheit stießen. Erst dann dämmerte ihnen, dass die Mauer rund um ihr Land nicht nur dazu diente, »die DDR vor feindlichen Elementen zu schützen«, wie es offiziell immer hieß, sondern dass sie vor allem die Menschen davon abhalten sollte, ihr Land zu verlassen.

Ich habe die Geschichten dieser Menschen so aufgeschrieben, wie sie mir erzählt wurden. Es ist ihre Sprache. Es sind ihre Berichte. Ich habe sie nur etwas geordnet, zusammengefasst, versucht, das Wesentliche zu erfassen, das feine, unsichtbare Muster zu erkennen, das all diese Schicksale teilen. Dieses Muster gleicht einer Spinnwebe, die diese Menschen mit zarten, doch festen Fäden immer mehr einwickelte, ihnen die Kehle abschnürte, ihnen die Luft zum Atmen nahm.

Nach außen hin war es kaum zu erkennen, dieses unsichtbare und doch so wirksame Netz. Man muss schon genau hinsehen, um es zu erkennen. Doch wenn man genau hinsieht, kann man deutlich erkennen, wie paranoid dieser Unrechtsstaat war. So paranoid, dass er jeden Andersdenkenden beschnüffeln und ausspionieren, bespitzeln und abhören ließ, unter jede Bettdecke, hinter jede Wand, in jede Seele schaute, um alles auszumerzen, was nach anderen, freieren Gedanken aussah.

Und das natürlich mit deutscher Gründlichkeit.

Es war mir ein Anliegen, diese Geschichten aufzuschreiben, einfach weil sie aufgeschrieben werden müssen. Und ich wollte sie so aufschreiben, dass man sie auch versteht, ohne Ossi zu sein, ohne im Jargon von wissenschaftlichen Dissertationen bewandert oder ein Experte in der offiziellen Behördensprache der DDR zu sein.

Das war nämlich eine Geheimsprache.

Wie Zeitzeugen mir sagten, war diese geschwollene, hässliche, verstaubte Behördensprache sogar gewollt. Es war die Sprachmauer. Wie die Mauer aus Stein grenzte sie die DDR vom kapitalistischen Feind BRD ab. Und wie die Steinmauer hielt auch die Sprachmauer die Menschen gefangen. Hinter dieser Mauer aus sperrigen langen Sprachbacksteinen wie operative Psychologie, Betriebsparteiorganisation oder Bezirksparteileitung und Buchstabenschotter wie LPG, GMS, IM oder AKG ließ sich das Unrecht des Staats gegen seine Bürger bequem verstecken und verschleiern. Denn was die Außenwelt nicht versteht, das gibt es für sie auch nicht.

Während die Zeitzeugen mir ihre Schicksale erzählten, stolperte ich immer wieder über diese Sprachmauer. Ich meine, was verbirgt sich wirklich hinter operativer Psychologie? Was lauert hinter den Gardinen einer konspirativen Wohnung? Und was zum Teufel soll eine Betriebsparteiorganisation sein? Hat ein AU was mit der Abgasuntersuchung zu tun (nicht wirklich) oder ein HIM mit einem IM (irgendwie schon)? Und nein, Zersetzung1 ist nicht der chemische Prozess, der eintritt, wenn man Gummibärchen in Cola legt. Aber sie hat eine ziemlich ähnliche Wirkung.

Mir wurde bald klar, wenn ich schon beim Aufschreiben über diese Stolpersteine stürze, dann wird es dem Leser, der weder Ossi noch Wissenschaftler noch Historiker ist, beim Lesen nicht viel besser ergehen. Und ich wollte nicht, dass sich wieder einmal nur der geschlossene Kreis der Opfer angesprochen fühlt, die dann sagen »Ja, ja, so war es«, und der elitäre Kreis der einstigen Täter, die dann sagen »Nein, nein, das ist alles nicht wahr«. Also beschloss ich, die ostdeutsche Amtsdeutschmauer einzureißen, indem ich diese tödlichen Wortfallen so gut es ging nach hinten verbannte, in ein kurzes Glossar, eine Art Stasi-Sprachgefängnis.

Da machen sie sich ganz gut, die paar Mauersteine, die ich gesammelt habe.

Ich habe mir erlaubt, viele dieser Sprachfallen in den Zeitzeugenberichten ins Westdeutsche zu übersetzen und jeweils kursiv zu setzen. Das heißt, wenn Sie zum Beispiel den Begriff russische Studenten lesen (ohne darüber zu stolpern), können Sie (ohne es zu müssen) im Glossar den dazu passenden Begriff der ostdeutschen Behördensprache nachschlagen, nämlich sozialistische Studentenbrigade.

Die Opfer dieser Diktatur wurden lange mundtot gemacht, erst in ihrem eigenen Land und später – auch durch diese Sprachmauer – im ganzen Land. Wer durch menschenverachtende Erlebnisse an Körper und Seele schwer traumatisiert, das heißt wie gelähmt, ist und dann noch mit Stasi-Akten, ausgedünnten Stasi-Akten oder gar verschwundenen Stasi-Akten gegen westdeutsche Behörden mit ihrer eigenen west- deutschen Amtssprache ankämpfen muss und nur Wortbriketts wie Zuzugsgenehmigung oder Zuführlager zur Verfügung hat, um sich stammelnd dort verständlich zu machen, wo andere oft gar nicht verstehen wollen, der hat keine Chance, wirksam gegen seine Täter von damals vorzugehen, die heute in satten Posten sitzen – oft wieder in denselben gut gefütterten Behördensesseln wie damals. Nur tragen diese Leute heute einen westdeutschen Behördentitel. Und diese Leute haben kein Interesse daran, dass ihre Opfer von damals auspacken und verstanden werden. Denn dann wären ihr guter Ruf und ihre gute Position, ihr angemessenes Eurogehalt und ihre unangemessene Ehrenrente gefährdet, weil dann die bundesdeutsche Öffentlichkeit vielleicht doch nicht mehr bereit wäre, diesen Skandal weiterhin schweigend zu schlucken.

Der Skandal, das ist die Tatsache, dass die Täter von einst, statt jemals zur Rechenschaft gezogen worden zu sein, jedes Jahr an Sonderrenten und Ehrenrenten ein Vielfaches von dem kassieren, was ihre Opfer im Jahr vom deutschen Staat erhalten. Der Täter sind es viele, doch die Zahl ihrer Opfer ist um ein Vielfaches höher. Die geschätzte Zahl beträgt insgesamt allein 700.000 Häftlinge in berüchtigten Stasi-Gefängnissen und möglicherweise mehrere Millionen Bespitzelungs- und Zersetzungsopfer, Opfer von Zwangsadoptionen2, von Zwangsumsiedlungen und Psychiatrieeinweisungen, alles aus politischen Gründen wohlgemerkt. Obwohl es ein Vielfaches an Opfern im Vergleich zu den Tätern gibt, ist die Summe der jährlichen Steuergelder, die den Tätern in Form von Sonderrenten heute zugute kommen, genau umgekehrt – nämlich um die 40 Mal so hoch wie die gesamten Entschädigungsansprüche für die Opfer.

Schwer traumatisierte Menschen können sich nicht einfach so aufrappeln und eine Karriere im Westen aufbauen. Erst müssen sie jahrelang um eine Entschädigungsrente kämpfen, die so lächerlich niedrig ist, dass sie eher eine Ohrfeige als eine Wiedergutmachung ist – eine Durchschnittsrente von 130 – 170 Euro im Monat. Und dann müssen sie, wenn ihnen überhaupt irgendwann aufgegangen ist, dass hinter ihren zahlreichen körperlichen und psychischen Symptomen in Wahrheit ein Trauma steckt, eine Traumatherapie von der Krankenkasse erkämpfen. Auch das dauert Jahre. Aber bis heute gibt es kaum Therapeuten, die sich auf Traumata spezialisiert haben, die durch das Unrecht der DDR-Diktatur entstanden sind. Ja, die meisten Therapeuten haben immer noch keine Ahnung, was da drüben mit den Menschen überhaupt gemacht wurde – Gummibärchen in Cola und so weiter.

So bleiben die Opfer von damals weiterhin mundtot, während ihre einstigen Täter ihnen grinsend über den Weg laufen und »nichts bereuen«, wie genug von ihnen frech – und frei – vor der Kamera ausgesagt haben. Denn da, wo schwere und schwerste Straftaten wider die menschliche Freiheit und Würde, körperliche Unversehrtheit und berufliche Entfaltung, Familie und Eigentum begangen wurden, ohne als Straftaten geahndet und gesühnt zu werden, gibt es ja auch nichts, was Täter bereuen müssten.

Und in einem Land, in dem sein 60jähriges Bestehen mit einer Fernsehsendung gefeiert wird, die sich Wir sind Deutschland nennt, zu der Hochzeitspaare eingeladen und Stasi-Opfer kurzfristig vom Sender wieder ausgeladen werden mit der Begründung, ihre Schicksale würden »nicht in die Sendung passen« – nun, in so einem Land braucht sich wahrlich kein Täter vor seiner gerechten Strafe zu fürchten.

Dieses Buch wurde geschrieben, um gegen den schleichenden Mundtod anzukämpfen, der sich seit zwanzig Jahren in unserem Land ausbreitet, in einem Land, in dem erst seit ein paar Jahren damit begonnen wurde, diese Epidemie hier und da ein wenig einzudämmen. In einem Land, in dem jeder, der nach der Lektüre dieser Lebensgeschichten immer noch behauptet, die DDR sei keine Diktatur gewesen, die Demokratie nicht verdient hat.

Denke ich frech und frei.

– die Autorin

 

Anmerkung

Die ausgewählten Zeitzeugen sind dem Stasiopfer-Netzwerk e.V. bekannt. Ihre Schilderungen sind glaubhaft, und vieles können sie durch ihre Stasi-Akten und sonstige Dokumente nachweisen. Bis auf den Zeitzeugenbericht von E.O. Schönemann, dessen schriftlichen Text ich lektoriert habe, wurden mir die Berichte mündlich übermittelt. Ich stellte Fragen, fühlte mit und spürte, wie sehr es die Beteiligten aufwühlte, sich an Vergangenes und Verdrängtes zu erinnern. Die vorliegenden Texte sind zum größten Teil ihre eigene Sprache und absolut authentisch. Als Schutz vor möglichen Repressalien früherer Täter wurden ihre Namen auf Wunsch zum Teil geändert und in diesem Fall mit einem Sternchen versehen. Auch wurden die meisten Namen anderer Personen, die im Text erwähnt wurden, geändert. Als unwissender Wessi übernehme ich keine Haftung für die Richtigkeit der Angaben, die mir gemacht wurden, auch wenn ich weiß, dass sie richtig sind und der Wahrheit über die Verhältnisse in der ehemaligen DDR nach bestem Wissen und Gewissen entsprechen, soweit sich diese rekonstruieren lässt.

– die Autorin

 

W. Schellenberg

Eingeschläfert

 

Ich stamme aus einer Bauernfamilie.

Ich wurde in dem Jahr, in dem der Zweite Weltkrieg zu Ende ging, zwischen Weihnachten und Silvester in Jena geboren.

Mein Vater war Landwirt, und so wuchs ich auf dem Dorf in der Nähe von Jena auf. Meine Kindheit war noch in Ordnung; es war eine behütete Kindheit, ich kam in die Schule, dann in die Oberschule und bereitete mich auf das Abitur vor. Mein Lebenstraum war, später irgendeinen Beruf auszuüben, der mit Luftverkehr zu tun hatte. Aber in der DDR durfte man sich nicht einfach selber seinen Beruf aussuchen. Wer auf dem Dorf aufwuchs, brauchte eine Genehmigung des Landkreises, um seine Berufsausbildung außerhalb des Landkreises machen zu können. Wenn den Behörden also jemand nicht passte, konnten sie verwaltungstechnische Gründe vorschieben, um seine Ausbildung – oder die seiner Kinder – zu verhindern. Gegen mich lag jedoch nichts vor, und so bin ich sozusagen durch das System hindurchgerutscht. Ich durfte meine Ausbildung außerhalb unseres Landkreises machen, aber es gab auch Leute, die gezwungen wurden, landwirtschaftliche Berufe zu ergreifen, weil sie auf dem Dorf aufgewachsen waren. So sollte eine Landflucht verhindert werden. Es war Ende der 50er Jahre, die landwirtschaftlichen Genossenschaften wurden aufgebaut, und da brauchte man genügend Arbeitskräfte.

Ich aber hatte Glück. Meine Familie war auch nicht politisch »auffällig«. Meine Mutter engagierte sich zwar stark für die Kirche und war auch in der Synode, aber man hat sie nicht angegriffen. Auch deshalb, weil sie auf anderem – das heißt auf politischem – Gebiet nicht auffällig war. Es gab unter den Gläubigen zwei Richtungen: den »kirchlichen Sozialismus« der Unkritischen und die Regimekritiker der kritischen Christen. In den sechziger Jahren trennte sich ein Teil der DDR-Kirche von der Evangelischen Kirche Deutschland ab. Auch in der Kirche entwickelten sich politische Kräfte, die ein Ableger der SED waren. Sie predigten Blockflöte und Sozialismus von der Kanzel herunter. Aber es gab auch eine Reihe von Pfarrern, die dem Regime gegenüber kritisch eingestellt waren.

Als ich dreizehn war, stellte sich für uns die Frage, ob ich die Jugendweihe mitmachen sollte oder nicht. Durch die Jugendweihe sollten die Jugendlichen sich schon frühzeitig an den Staat und die sozialistische Überzeugung binden. Dies wurde nicht etwa plump, sondern ziemlich geschickt gemacht, denn die Jugendweihe lockte mit einem großen Abschlussfest, auf dem man dann sein Treuegelöbnis ablegte. Vorher wurden die Jugendlichen eingehend auf das Erwachsenenalter vorbereitet, besuchten Vorträge, Theaterbesuche, Betriebe und unternahmen auch ganz »harmlose« Dinge wie philosophische Diskussionen. Sie durften sich sogar gemeinsame Unternehmungen wünschen.

Wir hielten eine Art Familienrat, an dem die westdeutschen Geschwister meines Vaters teilnahmen, die extra deswegen angereist waren und meinen Vater bedrängten, mich nicht zur Jugendweihe zu schicken, weil ich dadurch unter den kommunistischen Einfluss geraten würde. Sie drohten sogar, uns nicht mehr mit Päckchen und anderen Annehmlichkeiten aus dem Westen zu unterstützen, wenn ich doch an der Jugendweihe teilnehmen würde.

Aber um nicht aufzufallen, musste ich an der Jugendweihe teilnehmen. Schließlich wollte ich doch meinen Traumberuf ergreifen. Der Familienrat fand dann einen Kompromiss: Ich würde mich zwei Jahre später auch noch konfirmieren lassen.

In unserer Klasse gab es auch Katholiken, die sagten: »Für uns kommt die Jugendweihe nicht in Frage.« Das waren Umsiedler, die alle sehr zusammenhielten und die Jugendweihe geschlossen ablehnten. Später wurde jedoch klar, dass es für uns Kinder negative Folgen haben würde, wenn wir nicht an der Jugendweihe teilnahmen. Der Schulleiter kam zu uns nach Hause und sagte: »Wenn Sie Ihren Sohn nicht zur Jugendweihe schicken, müssen Sie damit rechnen, dass er keine weiterführenden Schulen besuchen kann.« Das war regelrechte Erpressung. Die Schulleiter waren allesamt Parteigenossen – sie hätten sonst gar nicht Schulleiter werden dürfen – und hatten die Auflage, dass alle ihre Schüler an der Jugendweihe teilnahmen. Auch wollten sie glänzen, indem ihre Schule zu hundert Prozent bei der Jugendweihe dabei war. Sogar heute noch ist die Jugendweihe in den neuen Bundesländern mehr verbreitet als die Konfirmation. Es gab zur Jugendweihe Geldgeschenke und Sachgeschenke von den Verwandten, was für die jungen Menschen natürlich der besondere Anreiz war. Dafür musste man statt des Gelöbnisses an Gott ein Gelöbnis an den Sozialismus und das Regime ablegen. Die DDR-Philosophie beruhte ja auf der materiellen Grundlage. Da passte die christliche Gesinnung nicht ins Weltbild3. Um dem christlichen Glauben entgegenzuwirken, wurde die Jugendweihe ungefähr ab 1956 eingeführt. Heute richtet sich die Jugendweihe nach der humanistischen Gesellschaft der zwanziger Jahre aus, und sehr viele ehemalige DDR-Bürger haben immer noch keinen Zugang zum christlichen Glauben.

Ich ging also dann zur Jugendweihe. Natürlich wollte ich zum Flughafen, und da ich meinen Wunsch äußern durfte, machte meine ganze Klasse einen Ausflug zum Flughafen Berlin-Schönefeld.

Unsere Westverwandten hingegen wollten, dass ich in der Schule der einzige wäre, der die Jugendweihe verweigerte. Aber das konnte ich nicht tun, denn dann wäre ich nicht nur in der Schule ausgegrenzt worden, sondern hätte mir auch meine Berufschancen zerstört. Also fanden wir diese Lösung, nämlich erst die Jugendweihe und dann die Konfirmation. Durch meine Konfirmation zwei Jahre später entstanden mir noch keine Nachteile.

Offenbar war sie von der Stasi unbemerkt geblieben.

Wie ich wusste, brauchte man ein Fach mit Verkehrswesen und das Abitur, um sich anschließend an der Hochschule für Verkehrswesen in Dresden einschreiben zu können. Ich bemühte mich also um eine Fachrichtung im Verkehrswesen. Nach der zehnten Klasse der Oberschule schloss ich das Abitur 1965 mit gleichzeitiger Berufsausbildung als E-Lokfahrer erfolgreich ab. Das klappte aber nicht sofort. Ich musste ein Jahr warten, doch dann wurde vom Ministerium für Staatssicherheit grünes Licht gegeben. Die Stasi hatte mich erst überprüft – daher das Jahr Wartezeit –, doch damals fiel diese Prüfung zu meinen Gunsten aus, und auch meine Eltern boten keinen negativen Hintergrund.

Noch war ich für die Stasi ein unbeschriebenes Blatt.

 

 

Die Nische

 

Erst im Studium wandte ich mich wieder aktiv der Kirche zu.

Ich sah die Gemeinde der Studenten als meine Freizeit an. Das war die so genannte Nische, die ich mir suchte. Hier arbeiteten evangelische und katholische Studenten zusammen, und es war eine warme Nische. Die Ökumene habe ich immer als sehr angenehm angesehen. Hier war man gegen den »materiellen Feind« – den Sozialismus – geschützt, dessen Umrisse als Feind ich noch kaum wahrnahm. Die kirchliche Gemeinschaft unter den Studenten war ein Gegengewicht gegen den Staat, mit dem ich nichts zu tun haben wollte. Immerhin war in der Verfassung der DDR die Religionsfreiheit garantiert. Darauf beriefen wir uns.

Doch das DDR-Regime war paranoid. Die Behörden – und natürlich ganz besonders die Stasi – haben überall den Feind gewittert, während ich selbst noch ahnungslos schlummerte. Im Grunde war die Mauer nur dazu da, um die wirtschaftlichen Verhältnisse in der DDR zu stabilisieren. Menschlich lässt sie sich überhaupt nicht erklären. Vor dem Bau der Mauer, die 1961 in der Dunkelheit der Nacht errichtet wurde, damit die Bürger nicht vorgewarnt waren, war die Stimmung im Osten Deutschlands so schlecht, dass zum Beispiel die Studenten sagten: »Wir studieren hier nur noch und gehen dann so schnell wie möglich in den Westen.« Sie wollten ein besseres Leben als das, was ihr Land ihnen bieten konnte, genauso wie viele Deutsche heute, die als Ärzte nach Großbritannien oder als Krankenschwestern nach Schweden gehen oder die nach Australien und Kanada auswandern.

 

 

Eingeschlafen und aufgefallen

 

Es war 1966. Nach einem halben Jahr Studium passierte mir eine Panne, die fatale Folgen haben sollte.

Das Ganze fing mit einer banalen Zugfahrt an. Ich setzte mich in Dresden in den Zug und wollte über Halle nach Hause fahren. Ich war müde und schlief im Abteil ein. Prompt verschlief ich die Station, an der ich hätte aussteigen müssen. So geriet ich zwanzig Kilometer weiter in die Hände der Bahnpolizei, die jeden Jugendlichen kontrollierte, der irgendwie auffällig war. Wir waren etwa dreißig Kilometer vor Arenshausen, wo es über die Grenze nach Kassel ging. Es war die Strecke Halle – Kassel, die natürlich nicht durchging, weil hinter der Grenze der goldene Westen winkte. Sie ging nur bis Arenshausen. Jeder wurde scharf kontrolliert, sobald er sich innerhalb von zwanzig Kilometern vor der Grenze bewegte – Jugendliche erst recht. Ich wurde von der Bahnpolizei aus dem Zug geholt. Das passierte mir dann mehrmals, weil ich auf dieser Bahnstrecke immer wieder einschlief.

Bis heute weiß ich nicht, ob ich wirklich aus Müdigkeit einnickte oder ob mir nicht ein fremder Passagier hinterher geschickt wurde, der mich mit irgendeinem Mittel schläfrig machte, um der Staatssicherheit den ersten »Anlass« zu geben, mich zu überwachen. Denn wie sich nach dem Mauerfall herausgestellt hat, waren solche Methoden, einen Anlass künstlich zu erzeugen, bei der Stasi keine Seltenheit. Dies erfolgte zum Beispiel durch K.-o-Tropfen in Getränken. Da die Studienjahre aus meiner Stasi-Akte verschwunden sind, lässt sich vermuten, dass ich ihnen durch die Kirchenarbeit außerhalb der Uni schon unangenehm aufgefallen war.

Doch damals hatte ich noch keine Ahnung von der Stasi, ihren Methoden und ihrer Paranoia gegen »Staatsfeinde« jeder Art – auch der christlichen. Da wir offiziell Religionsfreiheit hatten, durfte der Staat ja noch nicht einmal zugeben, dass man sich durch kirchliche Aktivitäten sofort zum potentiellen Staatsfeind machte…

Ich schlummerte noch selig den Schlaf der Unschuldigen. Doch was mir zum ersten Mal in meinem jungen Leben zu denken gab, war das merkwürdige Verhalten der Bahnpolizei. Warum zerrten sie mich jedes Mal aus dem Zug, nur weil ich meine Station verpasst hatte und mich zwanzig Kilometer an unsere Landesgrenze angenähert hatte?

Was hatte ich zu verbergen?

Aber da ich ja nichts verbrochen hatte, außer auf der Strecke einzuschlafen, hatte ich auch nichts zu verbergen, das wusste ich genau. Schließlich war ich kein unerwünschter Eindringling, sondern ein Bürger meines Landes.

Was also hatte mein Land zu verbergen – wenn die Mauer doch nur ein Schutzwall gegen unerwünschte Fremde war?

Das argwöhnische Verhalten der Bahnpolizisten bereitete mir Kopfschmerzen. Ich wurde eine erste Regung von Misstrauen nicht mehr los. So ging ich zu einer Psychologin und sagte ihr: »Die Polizei vermutet, dass ich Grenzübertritte mache. Ich werde ständig gefragt, was ich dort zu suchen habe.«

Die Psychologin sagte nur, ich hätte psychosomatische Störungen. Nach einigen Wochen überwies sie mich an die Universitätsnervenklinik. Ihre Diagnose war ein Mischmasch aus Ängsten und Depressionen. Angeblich hatte es auch mit der Überforderung zu Anfang des Studiums zu tun. Später konnte ich mich nicht mehr erinnern, wie ich in die Klinik gekommen war. Schon misstrauischer geworden, vermutete ich, dass man mir irgendwas in den Kaffee getan hatte. Das Ganze war etwas mysteriös und wurde meine erste Begegnung mit der Psychiatrie.

Vor meinem Studium war nämlich noch etwas passiert. Erst Jahre später, als ich in der Diktatur aufgewacht war, wurde mir klar, dass neben meinen kirchlichen Aktivitäten auch dieser Vorfall mich für die Stasi zum Staatsfeind machte. Kurz vor meinem Abitur im Jahr 1965 wurde an den Schulen für Berufssoldaten geworben. Jeder Abiturient sollte mindestens drei Jahre oder – wenn es gut ging – sogar zwölf Jahre in den Militärdienst der NVA eintreten. Und weil ich mich für Luftverkehr interessierte, hatten sie mich als interessanten Kandidaten ins Auge gefasst. Zu meinem Glück war ich damals noch nicht volljährig, und so musste mein Vater entscheiden, ob ich freiwillig die Offizierslaufbahn in der Luftfahrt einschlagen würde. Doch der sagte nur: »Kommt gar nicht in Frage«. Er hat mich dadurch vor mir selbst gerettet. Wer weiß, was ich nicht alles gemacht hätte, um möglichst schnell zur Fliegerei zu kommen…

Ich wurde vor Studienbeginn noch mehrmals vom Wehrkreiskommando aufgefordert, selbst zu unterschreiben, weil ich ja nun über achtzehn war. Ich war nun geschäftsfähig. Aber ich winkte ab, sagte, nein, meine Eltern waren dagegen, ich bin jetzt auch dagegen. Ich fühle mich außerdem noch nicht reif genug, Berufssoldat zu werden. Das war meine Ausrede auf die wiederholte Frage hin, ob ich eigentlich für oder gegen den Sozialismus sei.

Auch das kann gut der Auslöser für die Stasi-Akte gewesen sein, die über mich als unbequemes Element (wie sie Bürger wie mich nannten) angelegt wurde. Und für die Verfolgung, die sich erst langsam und undeutlich, über die Jahre aber immer eindeutiger und unmenschlicher einstellte.

Innerhalb eines dreiviertel Jahres versuchten sie es noch mindestens fünf oder sechs Mal, mich umzustimmen. Eigenartig war dabei, dass ich nun meinen Studienplatz bekam. Eigentlich hätte die Stasi und jetzt auch die Militärbehörde mir die Studienerlaubnis verweigern müssen, wenn sie richtig gearbeitet hätten. Mit Beginn des Studiums hörte die Stasi (über das Kreiskommando) dann auf, mich zur Offizierslaufbahn überreden zu wollen. Ich wurde sogar ehrenamtlich als Betreuer für ausländische Studenten eingesetzt. Es waren Studenten aus Kuba. Wir hielten Diskussionen, und ich nehme an, dass wir abgehört wurden. Das Schlimme ist, dass ich von der Stationsärztin schon zur »paranoiden Schizophrenie« abgestempelt worden war. Und das gleich zu Studienanfang, wie ich Jahrzehnte später mit Entsetzen in meiner Stasi-Akte lesen musste. Der Professor der psychiatrischen Uniklinik Halle war empört und stellte mir ein Attest aus. Er schrieb, ich könnte nach dem halben Jahr weiterstudieren, und wenn ich das nicht wollte, könnte ich länger in der Klinik bleiben, bis ich weiterstudieren wollte. Ich war durch den sechsmonatigen Aufenthalt in der Psychiatrie so fertig mit der Welt, dass ich einfach nicht mehr weiterstudieren wollte. Der Professor baute mich dann wieder auf. Er stand kurz vor der Rente und wies mich an, einfach wieder an den Vorlesungen teilzunehmen. So setzte ich mich im Hörsaal in die letzte Reihe. Es gab eine schwere Auseinandersetzung zwischen der Stationsärztin und dem Professor, doch wie durch ein Wunder konnte er seinen Willen durchsetzen, so dass ich weiterstudieren durfte. So nahm ich nach einem halben Jahr Unterbrechung das Studium dann doch wieder auf. Ich wurde nochmals durchgecheckt, und es wurde nichts gefunden.

Ich weiß nicht, weshalb die Stasi mich anscheinend schon damals in die Psychiatrie abschieben wollte. Eigentlich war ich noch gar nicht unbequem genug geworden. Ursprünglich war ich wegen einer Magenentzündung nach Halle überwiesen worden. Anschließend fuhr ich nach Hause. Doch dort kam ich nicht mehr an. Nach dem Krankenhausaufenthalt in Halle wurde ich aus mysteriösen Gründen in die Psychiatrie geschickt. Laut den medizinischen Akten war ich »desorientiert« gewesen. Nur passt das gar nicht zu mir. Es war vielleicht eine erste Warnung meines Instinkts, ein erstes Erwachen, was da in meinem Land los war. Ich war im Zug eingeschlafen und von den Bahnbeamten wachgerüttelt worden. Das Paradoxe war, dass ich gar nicht an Flucht dachte, aber immer wieder misstrauisch gefragt wurde, ob ich »Republikflucht« begehen wollte, nur weil ich eingeschlafen und daher nicht rechtzeitig ausgestiegen war. Die Bahnpolizisten waren natürlich keine feinfühligen Menschen, und ich war sensibel. Einen sensiblen Mensch schockiert und traumatisiert es, wenn er einer Straftat verdächtigt wird, ohne etwas verbrochen zu haben oder es überhaupt im Sinn zu haben. Dazu kam, dass sie diese Vorfälle sofort an die Hochschule meldeten. Ich musste dann jedes Mal voller Angst zu dem Sicherheitsbeauftragten der Hochschule in die achte Etage gehen und ihm erklären, warum ich kurz vor der Grenze in der Bahn gesessen hatte.

Das Misstrauen der Transportpolizisten mir gegenüber machte nun auch mich misstrauisch. Erst gegenüber den Behörden und dann auch gegenüber dem Staat. In meinen Gedanken tauchten die ersten Fragezeichen auf. Dann fing mir an aufzufallen, dass die Mitarbeiter der Uniklinik Halle es gar nicht hören wollten, wenn ich das Ministerium für Staatssicherheit erwähnte. Für die Uniklinik und die Hochschule war die Stasi ein Tabu; man durfte den Namen gar nicht erwähnen. Ich sagte, überlegt doch mal, wie die mich ausgehorcht haben, das ist doch nicht in Ordnung, was die da mit mir gemacht haben, wie ich da belästigt worden bin! Aber die Mitarbeiter der Hochschule hatten auch keine eigene Entscheidungsfreiheit. Nur mein alter Professor war anders. Er meinte, das sei nur eine vorübergehende Geschichte. »Wir haben alle mal solche psychischen Symptome gehabt.« So hat er es mir auch dargestellt, nicht als Psychose, sondern als eine sensible Seele, die sich meldet und fragt: Moment mal, was wird hier eigentlich gespielt? Das entspricht doch nicht meinem Bild von meinem Heimatland, meinem Weltbild!

Doch obwohl der Professor die Diagnose der Stationsärztin angefochten hatte, war sie schon aktenkundig. In der DDR gab es keine Chance, einer solchen Diagnose zu entgehen, da auch die Psychiatrie ein Instrument des Staates – und damit der Stasi – war.

Mein Uniprofessor sagte: »Wenn Sie sich eine dickere Haut zulegen, dann kommt schon alles in Ordnung.« Er war ein guter Mensch, und er stand kurz vor seiner Pensionierung, also brauchte er auch nicht mehr um seine Karriere zu fürchten.

Ich wurde zu einem Vierteljahr Psychiatrie verdonnert, weil die Ärzte sagten, ich sei desorientiert. Die »Behandlung« erfolgte erst drei Monate stationär und dann ambulant, so dass ich mich wenigstens zuhause ausruhen konnte. Ich hatte sowieso Semesterferien, weil das nächste Semester erst wieder im September anfing. Meine Gastritis war schon vor Ostern aufgetreten, als ich nach Hause gefahren war. Damals befürchtete ich, Magenkrebs zu haben, und so bat ich die Ärzte, mich mal zu röntgen. Das haben sie aber nie gemacht. Das ist das Einzige, an das ich mich erinnern kann. Ich wurde durch die verabreichten Medikamente sehr ruhig, schlief viel und wurde depressiv. So hatte ich mich noch nie erlebt, und Bekannte, die mich besuchten, erkannten mich gar nicht wieder. Ich war vollkommen teilnahmslos, richtig apathisch. Die Beruhigungsmittel, die mir verschrieben wurden, ließen sich medizinisch nicht erklären, da ich nicht aufgeregt oder hyper war. Ich bekam schwere Medikamente wie Haloperidol mit starken Nebenwirkungen. Nach der Einnahme dieser Medikamente bekam ich immer ein sehr ungutes Gefühl. Außerdem veranstalteten sie eine Insulin-Schocktherapie mit mir. Dabei wurde Insulin entweder entzogen oder zugeführt, danach wurde Traubenzucker verabreicht, damit man aus dem Schockzustand wieder herauskam. Der Körper fing an zu zittern… Heutzutage wird diese Schocktherapie nicht mehr angewendet, doch damals gehörte sie zu den beliebten Methoden der DDR-Psychiatrie.

Die Fehldiagnose der Stationsärztin war wohl Absicht gewesen. Wie ich nach dem Mauerfall erfahren habe, war sie überall verrufen. Wenn sie jemanden nicht leiden konnte, dann fiel der auch beim zweiten Mal durch die Medizinprüfung. Wahrscheinlich hat sie das gemacht, was ihr vorgegeben wurde. Nachdem ich die Unterschrift verweigert hatte, war den Behörden klar, der macht nicht das, was wir eigentlich wollen. Es sieht danach aus, als sollte ich deswegen schon in so jungen Jahren in die Psychiatrie gesteckt werden. Nach dem Zusammenbruch der DDR ist diese Stationsärztin auf mysteriöse Weise verstorben. Vielleicht war sie aufgrund der Dinge, die sie inoffiziell wusste, eine Gefahr für andere geworden, die nach der Wende Karriere im Westen machten.

Denn eigenartigerweise starb auch Dr. Wege, der für mich und andere Patienten von 1985 bis 1989 als Kreispsychiater zuständig war, nach der Wende. Er beging Selbstmord. Zumindest lautet so die offizielle Todesursache.

Meine zweite Einweisung in die Psychiatrie war ungefähr vier Jahre später. »Ein Wunder, dass Ihr Sohn so lange durchgehalten hat«, sagte die Stationsärztin, die mittlerweile zur Oberärztin befördert worden war, damals kopfschüttelnd zu meiner Mutter, »wir haben ihn schon viel früher erwartet.«

Meine Mutter hatte sich in der Zwischenzeit bei dem Professor der Uniklinik Halle beschwert, weil die Ärztin zu weit gegangen war. Sie fragte meine Mutter sogar nach meinem Großvater und dessen Verhältnissen aus, und notierte in meinen Krankenakten, dass er mehrmals verheiratet gewesen war.

Nach der Wende fand ich den Bericht der besagten Ärztin in meiner Stasi-Akte. Darin wird sogar erwähnt, dass mein Großvater einen »unsteten Lebenswandel führte«, da er mehrmals verheiratet gewesen war.4

Der Anlass für meine zweite Einweisung war eine eher geringfügige Sache. Es war nicht etwa ein schlechtes Prüfungsergebnis, sondern meine Weigerung, mich in mein Schicksal zu fügen.

Ich sollte nach dem Studium ein Praktikum absolvieren. »Wir werden Sie entsprechend adäquat einsetzen«, hieß es vom Ministerium für Verkehrswesen. Doch ich durfte nach meinen fünf Jahren Studium nicht in meiner angestrebten Fachrichtung Luftverkehr arbeiten. Auch gab es konkrete Anzeichen dafür, dass meine damalige Freundin mich im Auftrag der Stasi ausspionierte. Sie deutete das selber an. Daraufhin machte ich sofort Schluss mit ihr, da ich nicht mehr sicher sein konnte, ob sie mir nicht sogar von der Stasi als so genannte »Julia«5 geschickt worden war. Außerdem war mir während des Studiums aufgefallen, dass in unserem Studentenwohnheim ständig fremde Leute ein und aus gingen, die sich für die Unterlagen auf unseren Schreibtischen und das, womit wir uns so beschäftigten, interessierten. Das Wohnheim war staatlich, und es war davon auszugehen, dass wir als Studenten überwacht wurden – vom Personal oder von ungebetenen Besuchern. Natürlich existierten auch für jedes Zimmer Zweitschlüssel.

Eine Erklärung dafür, warum die Stasi meinen Antrag auf eine Einstellung bei der DDR-Fluggesellschaft Interflug abgelehnt hatte, fehlt in meiner Stasi-Akte. Überhaupt fehlen für meine gesamte Studienzeit die Aufzeichnungen in meiner Stasi-Akte.

Als ich merkte, dass mir nach dem langen Fachstudium von der Stasi Steine in den Weg gelegt wurden und ich womöglich nie im Luftverkehr landen würde, brach für mich eine Welt zusammen. Ich hatte einen Nervenzusammenbruch. Und wurde wieder nach Halle überwiesen. Ein Vierteljahr lang bekam ich starke Tabletten, nach deren Einnahme ich regelmäßig Selbstmordgedanken bekam – das waren richtige Schübe. Ich war ohne Selbstmordgedanken in die Psychiatrie gekommen. Dort bekam ich diese unbekannten Medikamente, drei bis vier am Tag. Sie wurden mir aufgezwungen, ich durfte nicht auf die Toilette gehen, die Krankenpfleger passten auf wie Schießhunde, dass ich ja die Tabletten runterschluckte.

Und dann setzten bei mir Selbstmordgedanken in regelmäßigen Schüben ein. Obwohl ich noch nie zu Selbstmordgedanken geneigt habe. Vorher nicht, und später, als ich andere Medikamente bekam, auch nie wieder.

Seltsamerweise tauchten die Suizidgedanken ungefähr einmal im Monat auf, und das jeweils ausgerechnet an den Wochenenden, an denen ich Urlaub hatte und gerade zuhause war. Ich sollte wohl zuhause in den Selbstmord getrieben werden, wurde auch oft genug nach Hause geschickt, bekam Urlaub und musste in dieser Zeit nach Hause fahren. Merkwürdigerweise fühlte ich mich zuhause ganz komisch und war froh, wenn ich wieder in der Klinik war. Ich kriegte einfach alle vier Wochen Urlaub und mir wurde gesagt, ich solle nach Hause fahren. Da mich niemand abholen konnte, musste ich allein mit dem Zug fahren und schleppte mich regelrecht die letzten Schritte nach Hause. Körperlich war ich gar nicht in der Lage, nach Hause zu fahren. Daheim und auch noch eine kurze Zeit danach hatte ich dann regelmäßig einen schweren Durchhänger. Diese Durchhänger waren psychisch unerklärlich, da ich natürlich lieber zuhause als in der Klinik war. Vermutlich hatte man mir vor der Abfahrt in den »Urlaub« eine weitere Pille untergeschoben. Die Schübe dauerten nie länger als drei Tage. Ich erzählte den Ärzten in der Klinik von meinen plötzlichen Selbstmordschüben, doch sie änderten die Medikamentenbehandlung nicht.

Nachdem ich mich doch nicht umgebracht hatte, folgte eine Elektroschockbehandlung, die auch sehr eigenartig war und die bei mir nicht anschlug. Ich wurde sechs Mal mit Elektroschocks behandelt, und bei allen Behandlungen wurden keinerlei Verbesserungen meines Zustands registriert. Die »Psychose« war eine Fehldiagnose gewesen. Die ganze Behandlung entsprach eher einer Foltermethode als einer Therapie.

Dann wurde ich nach Hause entlassen.

Nachdem ich mich von der Behandlung wieder erholt hatte und gesund wurde, beschwerte ich mich zum ersten Mal richtig. Meine Beschwerde an den Staatsrat – was heute mit einer Petition an den Bundespräsidenten vergleichbar wäre – wurde sogar bearbeitet; man war der Meinung, wenn ich studiert hatte, könnte ich nicht in einer einfachen landwirtschaftlichen Genossenschaft versauern. Denn ich war an eine solche Genossenschaft verwiesen worden und arbeitete dort im Gleisbau. Es war eine Knochenarbeit, aber es war nicht so schlimm wie es klingt. Schlimm war nur, dass aus meinem Traum vom Luftverkehr der Gleisbau geworden war, sozusagen als Strafe für mein kirchliches Engagement und meine Verweigerung, beim Militär Karriere zu machen.

Die Stasi hatte mich buchstäblich aufs Abstellgleis gestellt.

Es war 1970. Während im Westen die Studenten revoltierten, wurde bei uns wegen der Studentenunruhen zwischen 1969 und 1971/72 eine schleichende so genannte »dritte Hochschulreform« inszeniert. Im Zuge dieser Hochschulreform konnte die Stasi unauffällig alle Studenten und Professoren auf ihre »politische Zuverlässigkeit« überprüfen. Um die großen Fakultäten besser kontrollieren zu können, wurden sie kurzerhand in fünf oder sechs kleinere Unterabteilungen aufgeteilt. Einige Professoren wurden vorzeitig in Rente geschickt. Den Studenten hat man einfach gesagt, sie müssten »alle vorzeitig das Studium beenden«. Eigentlich hätte ich nun bei der Fluggesellschaft anfangen und nebenbei meine Diplomarbeit schreiben sollen, aber das ging ja nun nicht mehr. Angeblich wegen der Hochschulreform bekam ich kein Thema für meine Diplomarbeit. Die Klinik in Halle hatte mich entlassen, aber nicht so richtig wie beim ersten Mal. Ich galt nun weiterhin als »krank«. Meine Mutter und ich wurden angewiesen, dafür zu sorgen, dass ich meine Aktivitäten »zurückschrauben« solle. Anders ausgedrückt: Ich sollte mich ruhig verhalten. Mit meinem Hochschulabschluss im Verkehrswesen sollte ich nun in der Landwirtschaft arbeiten. Das passte natürlich nicht zusammen.

Und mir passte es auch kein bisschen. So meldete ich mich wieder an der Hochschule, so, hier bin ich wieder, ich will jetzt meine Diplomarbeit schreiben. Die Professoren machten natürlich erst einmal große Augen, aber dann gaben sie mir doch ein anständiges Diplomthema. Mir wurde das Schreiben meiner Diplomarbeit genehmigt – zu meiner Überraschung, da mir meine Arbeitsstätte ja schon vorgegeben war und ich dafür keine Diplomarbeit brauchte. (Schon nach dem halben Studium wurde einem mitgeteilt, wo man hinkommen würde, das war der so genannte Vorvertrag. So wurden auch die Studenten für den Sozialismus verwendet.) Mir hatte die Stasi die Genehmigung verweigert, beim Flugverkehrswesen arbeiten zu dürfen. Dadurch war meine Zukunft eigentlich schon verbaut.

 

 

Grenzen überschritten

 

Aber ich gab nicht auf. Ich hatte immer noch die Hoffnung, nach Abgabe meiner Diplomarbeit meine Berufswahl doch noch umsetzen zu können. Irgendwann würde die Stasi doch sicher wieder zur Vernunft kommen und einsehen, dass ich weder ein armer Irrer noch ein gefährlicher Staatsfeind war…

Statt das vorgegebene Material abzuschreiben, wie es von den Studenten erwartet wurde, sammelte ich eigenständig Material für die Diplomarbeit. Und dafür fuhr ich dann auch einmal nach Prag, um mir dort bei der – westdeutschen – Vertretung der Lufthansa Material über den Luftverkehr zu besorgen. Aber damit trat ich schon wieder ins nächste Fettnäpfchen. Meine Kontaktaufnahme zur Lufthansa wurde von der Stasi als illegal angesehen. Ich entwickelte eine Eigenständigkeit, die vom Staat als »die Grenzen des Erlaubten überschreiten« eingestuft wurde, was mir damals gar nicht bewusst war.