Das Wiegenlied der Wolfskinder - Johanna Ellsworth - E-Book

Das Wiegenlied der Wolfskinder E-Book

Johanna Ellsworth

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Beschreibung

Winter 1944/45: Gemeinsam mit ihrer Mutter und Großmutter fliehen die Geschwister Gretel und Karlchen aus dem ostpreußischen Gerdauen vor den russischen Soldaten. Ihr Ziel ist Berlin, wo die Mutter Verwandte hat, doch erweist sich die Reise bald als Irrwanderung durch Ostpreußen, in der Zwangsarbeit, Hunger, Krankheit und Tod den Alltag bestimmen. Als die Lebensmittelrationen nach Kriegsende immer knapper werden, wird die achtjährige Gretel nach Litauen geschickt, um Gegenstände gegen Essen einzutauschen. Nach dem Tod der Mutter auf sich allein gestellt, verschlägt es die Geschwister zu einem litauischen Bauern, wo sie durch Zufall getrennt werden. Der historische Roman, basierend auf den Lebenserfahrungen von Zeitzeugen, ist Erlebnisbericht und spannungsreiche Fiktion zugleich und beleuchtet authentisch das (Über-)Leben deutscher Flüchtlingskinder nach dem Zweiten Weltkrieg, die als „Wolfskinder“ in die Geschichte eingingen.

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Für alle Straßenkinder dieser Welt und für alle Straßenhunde dieser Welt

ISBN 978-3-89876-826-9 (Vollständige E-Book-Version des 2016 im Husum Verlag erschienenen Originalwerkes mit der ISBN 978-3-89876-819-1) Für die Durchsicht des Manuskripts und wertvolle Hinweise danke ich Hans Fischer, Dresden und Wilhelm Nix, Berlin. Umschlagabbildung: Geheimnisvolles verlassenes Haus in den litauischen Wäldern, Fotolia/guliveris © 2016 by Husum Druck- und Verlagsgesellschaft mbH u. Co. KG, Husum Gesamtherstellung: Husum Druck- und Verlagsgesellschaft

Teil I

1

Ein Engel ist vom Himmel gefallen.

Ein schwarzer Engel liegt auf einem schneebedeckten Feld. Er liegt mit dem Gesicht im Schnee und hat die Arme ausgebreitet. Er muss beim Fliegen abgestürzt sein. Er muss sich verletzt haben, denn sein dunkler Kopf liegt in einer roten Blutlache. Von hier aus gesehen wirkt die Blutlache wie eine fast kreisrunde Pfütze. Sie sieht aus wie der Heiligenschein der Mutter Madonna in der katholischen Kirche, nur eben rot.

Gretel stapft durch den Schnee auf den Engel zu. Die Riemen des voll bepackten Rucksacks drücken sich durch den Wollmantel, den Pullover und die Unterhemden durch. Bei jedem Schritt spürt sie ein leichtes Brennen in den aufgescheuerten Schultern. Aber das macht ihr nichts aus, daran ist sie gewöhnt. Kurz denkt sie an die vielen köstlichen Sachen, die sie in den letzten Tagen in Tauroggen zusammengebettelt hat. Einen ganzen Laib Brot, eine kostbare Speckschwarte, drei Zwiebeln und dazu noch fast ein Dutzend Kartoffeln, so groß wie ihre Faust. Ein paar Möhren und sogar zwei kaum verschrumpelte Äpfel. Mutti wird sich freuen. Karlchen natürlich auch. Daraus kann ihre Mutter eine leckere Kartoffelsuppe mit Brotwürfeln kochen, und vielleicht reicht es sogar für ein paar Heilsberger Keilchen. Gretel läuft das Wasser im Mund zusammen. Sie kann stolz auf ihre Ausbeute sein, und das ist sie auch. Noch stolzer ist sie auf den prall gefüllten Brustbeutel unter ihrem Mantel.

Sie muss keine Knochen aus der gefrorenen Erde ausbuddeln. Sie macht einen unauffälligen Bogen um die drei Kinder, die in der Abenddämmerung vor den Erdklumpen hocken, in denen sie viele Stunden lang gestochert haben müssen. Aufgeregt halten sie einen großen Knochen hoch und suchen ihn nach Resten von halb verwestem Pferdefleisch ab. „Wir kochen ihn aus – das gibt eine richtige Fleischbrühe“, sagt das Mädchen, während einer der Jungen einen gierigen Blick auf Gretels ausgebeulten Rucksack wirft und sie noch schneller läuft. Der Schnee knirscht mit seinen glitzernden weißen Zähnchen und sie weiß nicht, ob es wegen ihrer reichen Beute ist oder wegen des Engels mit dem blutigen Heiligenschein.

Je näher sie kommt, desto zögernder werden ihre Schritte. Der Engel hat keine goldenen Locken. Er hat eine verdreckte, gelbe Strickmütze auf, die Gretel nur zu gut kennt. Er hat einen Mantel aus schwarzem Filzstoff an und darunter ragen zwei dünne Beine heraus, die in zerlöcherten Wollstrümpfen stecken. Und in braunen Halbstiefeln – Mutters braunen Halbstiefeln.

Ohne ihren blauen Hut konnte Gretel nicht auf die Flucht gehen. Das stand für sie fest. Wenn sie schon auf die Flucht müsste, dann nur mit dem schicken neuen blauen Hut und der schönen neuen blauen Stofftasche.

Sie hatte die Menschen gesehen, die im letzten Sommer durch die Straßen von Gerdauen gezogen waren, mit voll bepackten Pferdewagen, Leiterwagen, Kinderwagen, Holzkarren, Schubkarren, mit allem, was Räder hatte. Die Mütter, die vor Erschöpfung stolperten, die Kindergesichter, deren einzige saubere Stellen die Streifen und Sterne aus eingetrockneten Tränen waren, die sie sich weggerieben hatten, die müden Gesichter der Alten, die so zerfurcht waren wie die ausgetrocknete Ackererde. Die Kleider, die wie zerschlissene Fahnen an ihnen flatterten, wenn eine Brise aufkam. Schämten sie sich denn nicht, sich so in der Stadt sehen zu lassen?

Das würde Gretel nie tun. Das hatte sie sich damals auf der Straße geschworen, als sie mit einer Tasche voller Möhren und Bohnen aus dem Garten zurückgekommen waren. Ihre Mutter war für einen Augenblick so still stehen geblieben, als würde ihr Herz hinhorchen, statt weiterzuschlagen. „Sie sind auf der Flucht“, hatte sie dann gesagt. „Vor den Russen.“

Die Russen, die waren sogar noch schlimmer als die Kohldiebe, die im letzten Herbst die Beete im Garten abgeräumt hatten, sodass Mutti geweint hatte, als sie entdeckt hatte, dass der schöne Rotkohl und die großen zartgrünen Weißkohlköpfe über Nacht verschwunden waren. Vor den Russen musste man wegrennen, wenn sie kamen.

Und jetzt war es soweit. Jetzt mussten auch sie auf die Flucht gehen, wie alle Erwachsenen es nannten. Früher waren sie auf den Rummel gegangen, jetzt auf die Flucht. Was das genau war – und vor allem wo –, wusste Gretel nicht so genau. Nur eines wusste sie: Ohne ihren schicken blauen Hut und die neue flauschige blaue Tasche konnte sie nirgendwohin gehen, noch nicht mal auf eine Flucht.

In der Wohnung lief ihre Mutter mit großen Schritten umher, riss Schranktüren und Schubladen auf, sammelte Unterwäsche, Strümpfe, kratzige Wolljacken und selbst gestrickte Schals und Mützen und Handschuhe in wunderschönen bunten Farben und Mustern ein und stapelte sie auf dem Tisch, denn all das und noch mehr würden sie sich gleich anziehen. Dann suchte sie Handtücher, Decken und andere wichtige Dinge, die man auf einer Flucht gut gebrauchen konnte, und stopfte sie in den großen Reisekoffer aus braunem Rindsleder. Der sah noch aus wie neu; sie war nur einmal im Leben verreist, und das war auf ihrer Hochzeitsreise gewesen. Für zehn Tage nach Königsberg. Sie hatte den Kindern erzählt, wie schön es gewesen war und welch glückliche Zeiten das noch gewesen waren, damals vor dem Krieg. Die Mutter rannte ins Zimmer der Eltern, klappte dort die große Eichentruhe auf und holte wichtige Papiere und ihren Schmuck heraus. Diese hatte sie immer unter der Bettwäsche versteckt. Sie nahm die schimmernde Perlenkette und die wunderschöne silberne Brosche heraus, die mit dem großen violetten Stein, der in der Sonne so geheimnisvoll glitzerte.

Jetzt glitzerte er nicht, weil die Sonne nicht schien.

„Wenn wir jetzt auf die Flucht gehen – verreisen wir da auch?“, erkundigte sich Gretel, die ihr gefolgt war und sah, was die Mutter alles zusammenpackte. Gretel war noch nie verreist, und an die glücklichen Zeiten vor dem Krieg konnte sie sich auch nicht mehr erinnern, weil sie da noch zu klein gewesen war.

„Ach, Kind.“ Die Schultern der Mutter hoben und senkten sich einmal. Sie schwieg. Einen Augenblick zu lang, um Gretel wirklich zu überzeugen, als sie dann sagte: „Ja, wir gehen jetzt auf eine längere Reise bis nach Berlin. Und deswegen müssen wir alles Wichtige zusammenpacken, was wir tragen können.“

„Kann ich Liesel mitnehmen?“, fragte Gretel, denn ihre Puppe war wichtig, ungefähr so wichtig wie Peter; in diesem Punkt konnte sie sich nicht entscheiden, wer wichtiger war. „Und kommt Peter auch nach?“

Die Mutter war schon wieder aus dem Zimmer gegangen, und Gretel musste die letzte Frage in Richtung Küche rufen.

„Ja, Liesel kannst du in den Koffer packen“, rief ihre Mutter etwas außer Atem. „Aber du weißt doch, dass der Peter an der Front ist, um uns gegen die Russen zu verteidigen. Ich glaube nicht, dass der nachkommen kann.“

Gretel spürte ein Ziehen in der Magengrube. Peter würde nicht nachkommen, der fesche junge Soldat mit den dunklen Haaren und den braunen Augen mit den gelben Sprenkeln, den sie heimlich und bis in alle Ewigkeit liebte, seit er bei ihnen in der Wohnung einquartiert worden war und ihr zu Weihnachten ein Tiermärchenbuch geschenkt hatte, das sie dann zusammen gelesen hatten. Das bedeutete, dass sie ohne ihn auf eine längere Reise, auf die geheimnisvolle Flucht, gehen würde, während er sie an der Front vor den Russen verteidigte, die immer näher kamen. Warum mussten sie überhaupt vor den Russen fliehen, wenn er und die anderen Soldaten sie doch vor den Russen verteidigten? Auf der anderen Seite – wenn die Front immer näher rückte, wie die Erwachsenen sich seit Monaten zuflüsterten, hieß das dann nicht, dass auch Peter und Papa immer näher rückten? Und das jetzt, wo sie von hier weggingen?

Das Ganze war zu verwirrend.

„Und Papa? Was ist mit Papa? Kommt der auch nicht mit?“

Die Antwort der Mutter aus der Küche dauerte wieder einen Herzschlag zu lange. „Ja, sobald er kann, kommt Papa nach.“

Papa war auch im Krieg. Erst seit ein paar Wochen, als sie alle Männer zum Volkssturm eingezogen hatten. Sogar Papa hatten sie eingezogen. „Jetzt holen sie schon Lehrer und Schüler an die Front“, hatte er, der an der Schule von Gerdauen Lesen, Schreiben und Naturkunde unterrichtet hatte, gesagt. Beim Abschied hatte er die schluchzende Mutter getröstet, sie solle nicht weinen und solle auf ihn warten, er wäre in fünf Tagen wieder zurück. „Ich haue dort ab, keine Angst. Und falls ihr schon weg seid, dann treffen wir uns in Berlin, versprochen.“ Und dann hatte er was von einer letzten Kugel gesagt, die er immer für sich selber aufheben würde. Das hatte Gretel nicht verstanden, wofür er sich eine letzte Kugel aufheben wollte – als Erinnerung an den Krieg? Aber keiner der Erwachsenen hatte ihr erklärt, was er damit gemeint hatte.

Doch jetzt waren die fünf Tage schon lange herum und von Papa hatten sie nichts gehört. Und jetzt mussten sie ohne ihn auf die Flucht gehen, weil die Russen schon viel zu nahe gerückt waren.

Gretel ging in die Küche. Dort stand ihr Schulranzen, voll bepackt mit Arzneimitteln und Nähzeug, auf einem Stuhl. Während die Mutter im Vorratsschrank den Proviant zusammensuchte, stopfte Gretel hastig ihr Tiermärchenbuch zwischen die Mullbinden und Pflaster.

* * *

Der Schlitten, auf dem sich Koffer und Kisten türmten, ruckelte zögernd über den zertrampelten Schnee, der auf den Straßen von Gerdauen lag.

„Ich will aber nicht weg von hier“, klagte Karlchen hinter dem Schlitten. „Ich will nicht weg von meinem Hund und meinem neuen Roller und meinen anderen Spielsachen.“

„Das ist nicht dein Hund“, warf ihm Gretel über die Schulter zu. „Das ist doch der Hund von den Schillacks nebenan.“

Ihre Bemerkung machte die Sache nicht besser. „Ich will aber trotzdem nicht weg von meiner Bella, und sie ist doch mein Hund. Ich führ sie doch immer aus, sonst tut es doch keiner.“ Seine jammernde Stimme wurde brüchig. „Ich will nicht weg von hier. Ich will hier bleiben! Warum müssen wir überhaupt auf diese doofe Flucht gehen?“

Die Mutter blieb keuchend stehen. Der Schlitten blieb auch stehen. Sie sah Gretel an, die neben ihr ging. „Gehst du schon mal weiter? Ich komm gleich mit ihm nach.“

Gretel nickte und nahm ihr das Seil ab, an dem der Schlitten befestigt war. Die Mutter ging nach hinten zu Karlchen und bückte sich zu ihm herunter, bis sie auf Augenhöhe mit ihm war. „Jetzt mach schon, Karlchen. Die Russen kommen. Wir müssen ganz schnell weg von hier – sonst machen sie ganz schlimme Sachen mit uns.“

So kannte Gretel ihre Mutter gar nicht. Diese weiche, flehende Stimme, das war so anders als die Mutti, die immer alles im Griff hatte. Die nie weinte, außer im letzten Herbst, beim Anblick der abgeschnittenen Kohlstrunks im Garten. Oder kurz nach Neujahr, als Papa zum Volkssturm eingezogen worden war. Jetzt klang ihre Mutter richtig verzweifelt, und das machte ihr Angst.

Die Mutter ging weiter. Karlchen schlurfte missmutig hinter den beiden her.

Am grauen Himmel schwebte ein großer schwarzer Vogel vorbei, und das machte Gretel noch mehr Angst.

In der Poststraße sammelten sie Oma ein, die außer zwei kleinen Holzkisten alles andere Gepäck hatte zurücklassen müssen, weil nichts weiter auf den Schlitten passte. Oma war sogar noch dicker als sonst. Das lag daran, dass auch sie mehrere Unterhemden und Kleider und Strümpfe unter ihren dicken Wollmantel angezogen hatte.

„Du siehst ja aus wie eine laufende Kugel, Oma“, sagte Karlchen und lachte trotz seines Abschiedsschmerzes um Bella und den Roller. „Hüpf doch mal!“

Aber der Großmutter war nicht nach Hüpfen zumute. „Ach, Irene, müssen wir wirklich von hier weg? Das ist doch meine Heimat, hier bin ich doch geboren! Hier will ich sterben, nicht weit weg in der Großstadt Berlin, wo ich keine Menschenseele kenne.“

„Wenigstens leben meine Verwandten dort. Sei froh, dass wir dort unterkommen können“, sagte die Mutter nur müde. „Wir hätten längst fliehen sollen, schon letzten Sommer, als Königsberg bombardiert wurde. Auch wenn es immer hieß, wir sind nahe am Endsieg. Es war nichts als verlogene Propaganda, angelogen haben sie uns, belogen und betrogen haben sie uns, das deutsche Volk.“ Richtig bitter klang das.

„Irene, sei doch still“, sagte die Großmutter entsetzt. „Wenn dich jemand hört –“

Aber die Mutter zuckte mit den Schultern. „Soll es ruhig jeder hören, was ich wirklich denke. Das denkt doch jetzt jeder in ganz Gerdauen. Das pfeifen doch schon die Spatzen von den Dächern, dass wir den Krieg verloren haben.“

Gretel hörte es und ihr Herz wurde schwer wie ein Stein. Wenn sie den Krieg verloren hatten, was würde dann aus Papa werden? Der war doch in einem Volkssturm, und ein Sturm konnte schlimme Verwüstungen anrichten, ganze Bäume entwurzeln und Blitze in Häuser einschlagen lassen. Aber sie traute sich nicht, die Mutter danach zu fragen. Manchmal war es besser, die Antwort nicht zu kennen. So wie sie es von den Erwachsenen in Gerdauen kannte. Die hatten die Antwort auch nie wissen wollen, wenn sie unangenehm sein könnte. Die hatten den Kopf lieber in den Sand gesteckt, so wie der Straußenvogel in ihrem Tiermärchenbuch, das Peter und sie an Weihnachten nach der Bescherung zusammen gelesen hatten.

Dem Vogel Strauß hatte man die Eier gestohlen, während er den Kopf in den Sand gesteckt hatte. Man hatte ihm seine Kinder weggenommen, als er gerade nicht hingesehen hatte.

Am Bahnhof kam ihnen Peters Kamerad Martin in Flakuniform entgegen. Er war auf Heimaturlaub und hatte sein Elternhaus leer vorgefunden, weil seine ganze Familie schon auf der Flucht war. Daher wollte er sich wenigstens von den Menschen verabschieden, bei denen er den Heiligabend hatte verbringen dürfen, und Grüße von Peter ausrichten, der seinen Heimaturlaub schon hinter sich hatte.

„Peter sagt, nach dem Krieg kommt er euch in Berlin besuchen, und ich soll die kleine Gretel ganz besonders herzlich von ihm grüßen.“ Dabei zwinkerte er Gretel zu. Sie freute sich über den Gruß, aber das „kleine“ hätte Peter ruhig weglassen können. Irgendwie klang es, als sei er schon so alt und sie noch so jung, dass sie in diesem Leben nie zusammenkommen und heiraten und glücklich und zufrieden bis in alle Ewigkeit leben würden. Aber genau das hatte sich Gretel vorgenommen, und daran glaubte sie fest. Eines Tages nach dem Krieg.

Der Zug rollte ein. Halb Gerdauen schien auf dem Bahnsteig versammelt zu sein und auf dieselbe Flucht zu gehen wie sie. Es wimmelte von Frauen und Kindern und alten Leuten und deren Hab und Gut. Doch die Türgriffe waren abmontiert und so ließen sich die Türen nicht öffnen. Die Menschen schrieen enttäuscht auf und fingen an, Kinder und Kisten durch die Fenster in die Abteile zu stopfen. Aus dem Gewimmel wurde ein Gewühl und dann ein Chaos, als die Leute sich alle gleichzeitig durch die kleinen Fenster zwängen wollten. Wenn sie Glück hatten, wurden sie von innen hineingezerrt. Wenn sie Pech hatten, flog ihr Gepäck unter lautem Geschimpfe und Geschrei umgehend auf den Bahnsteig zurück. „Hier ist schon alles voll, hier ist kein Platz mehr für Neue, wir war’n als Erste da, haut bloß ab …“

Viele Leute im Zug und vor dem Zug zeigten sich von einer Seite, die Gretel bisher gar nicht gekannt hatte. Es wurde geschubst und gerempelt und mit spitzen Ellbogen gestoßen, und am liebsten wäre sie weinend vom Bahnsteig gerannt und nach Hause zurückgelaufen. Diese Flucht war nicht wie Rummel und gefiel ihr schon jetzt nicht.

Doch dann wurde sie von Martins starken Soldatenarmen hochgehoben und durch ein Fenster in den Zug geschoben, in einen dunklen, überfüllten, stinkenden Raum, in dem ihre Mutter auftauchte, sie am Tornister und Kragen packte und hineinzog. Aber gleich darauf setzte die Mutter sie auf dem Boden ab. „Rühr dich nicht vom Fleck, hörst du?“ Die Bemerkung war überflüssig, weil sich Gretel vor lauter Angst und Aufregung sowieso nicht rühren konnte. Und plötzlich griffen fremde Arme ihr unter die Schultern und sie wurde auf einen fremden, wenn auch weichen Schoß gehoben. „Bleib hier, Marjellchen“, sagte eine Frauenstimme freundlich. „Ich pass schon auf, dass du nicht zertrampelt wirst.“ Die fremden Arme wickelten sie wie in eine warme Decke ein und sie fühlte sich getröstet und die Angstameisen hörten auf, ihr über den Rücken und die Beine zu krabbeln. Zitternd harrte Gretel aus.

Es war zu dunkel in dem Raum, um außer ein paar hellen Flecken etwas sehen zu können. Manchmal flackerten graue Umrisse auf, wenn wieder jemand durch eines der kleinen Fenster ins Innere geschoben und gezerrt worden war, bevor der Nächste im Fenster auftauchte und sein Körper das Tageslicht aussperrte.

Jetzt hörte sie Mutti „Oma ist stecken geblieben“ rufen. Dann die gedämpfte Stimme von Martin: „So helfen Sie mir doch! Sie sehen doch, dass ich die alte Frau nicht alleine durchs Fenster bekomme!“ Oma keuchte und wimmerte, ein paar Ameisen kribbelten auf Gretels Kopfhaut, die Mutter zog und zerrte.

„Schiebt noch ein bisschen – sie ist gleich drin“, rief die Mutter.

Schließlich fielen zwei Gestalten polternd auf den Boden.

„Au – passen Sie doch auf“, rief eine Frauenstimme empört.

„Ich hab sie“, rief die Mutter aus dem Fenster, nachdem sie sich wieder aufgerappelt hatte.

„O Gott, warum muss ich so was noch erleben“, jammerte die Stimme der Großmutter vor Gretels Füßen.

„Hab ich nicht gesagt, dass es nichts nützt, die Griffe abzuschrauben?“, sagte eine Frauenstimme, die etwas weiter weg klang. „Ich hab doch gewusst, dass wir nicht in Frieden nach Berlin fahren werden.“

Jetzt wurde Karlchen durchs Fenster geschoben.

„Gretel? Bist du da? Wo bist du?“, rief er.

„Hier unten“, rief Gretel. Trotz der tröstenden Arme der fremden Frau war sie froh, dass der Zug nicht ohne ihre Familie abfuhr. Die Frau mit den tröstenden Armen roch nach Zimtsternen, und alle hatten es in den Zug geschafft. Jetzt konnte die große Reise nach Berlin losgehen.

Draußen schrie Martin etwas, das Gretel nicht verstand.

„O Gott, nein“, rief Mutti entsetzt durch das Fenster. „Das gibt’s doch gar nicht! Siehst du ihn wirklich nirgends? Vielleicht ist er nur weitergeschoben worden? Schau doch mal da hinten nach – bei den vielen Koffern und Kisten!“

Gretel lauschte, aber Martins Stimme war verstummt. Er schaute jetzt sicher da hinten unter den Koffern und Kisten nach. Aber nach was? Doch nicht etwa nach ihrem Schlitten mit all ihren Sachen drauf?

Mit Liesel drauf –

„Nein, da ist er auch nicht“, meldete Martins Stimme am Fenster. „Der ist weg, tut mir leid. Den muss jemand geklaut haben, als wir die Großmutter durchs Fenster gehoben haben.“

Schweigen. „Alles weg“, sagte Muttis Stimme dann fassungslos. „Alles, was ich für die Reise eingepackt habe. Was machen wir denn jetzt?“ Sie verstummte und dachte nach. „Gut, dass ich dran gedacht habe, einen Teil des Proviants auf Karlchens Rucksack zu verteilen. So müssen wir wenigstens nicht verhungern.“

Alles weg. Liesel war auch weg. Ihre schöne, geliebte Puppe war weg, einfach so. Gretels Kehle schnürte sich zu und die Tränen stiegen in ihr hoch. Aber dann fiel ihr ein tröstlicher Gedanke ein. Das Tiermärchenbuch. Sie hatte es im Tornister versteckt.

Wenigstens das war ihr geblieben, das Tiermärchenbuch von Peter.

„Ich hab doch gewusst, dass das Pack den Zug überrennen wird“, sagte die Frauenstimme etwas weiter weg angewidert. „Die kriechen durch jede Ritze, wie Ungeziefer, und klauen alles, was nicht niet- und nagelfest ist. Hab ich nicht gleich gesagt, dass es nichts nutzt, die Griffe abzuschrauben?“

„Sei still, Else“, sagte eine andere Frauenstimme. „Es ist Krieg, hast du das vergessen?“

Die Zugfahrt nach Berlin dauerte weniger als eine Stunde.

Plötzlich bremste der Zug quietschend und ächzend. Gretel dachte schon, sie seien jetzt in Berlin angekommen.

Aber es war nicht Berlin.

Es war nur Korschen. Korschen lag ungefähr fünfundzwanzig Kilometer hinter Gerdauen.

„Warum hält der Zug denn an?“, rief eine Jungenstimme.

„Keine Ahnung“, erwiderte eine Frauenstimme. „Ist das der Bahnhof von Korschen?“

„Sicher will jetzt auch noch ganz Korschen in unser Abteil einsteigen“, sagte die Stimme, die Else sein musste. „Dann nehmen sie uns auch noch die letzte Luft zum Atmen weg. Hab ich es nicht gesagt?“

Doch es tauchten keine Dorfbewohner an den Fenstern auf.

Niemand tauchte am Fenster auf. Nur der Himmel öffnete sich, und Tiefflieger flogen wie unsichtbare Schwalben über den stehenden Zug und schossen auf ihn.

Rattattattattat –

„Die Russen“, kreischten viele Stimmen im Abteil durcheinander. „Sie schießen auf uns – bloß raus hier – rettet euch vor den Russen!“

Noch mehr Flieger. Noch mehr Rattattattatatt.

Dann wurde es leiser, die Flieger zogen weiter, aber sie konnten jederzeit zurückkommen.

Jetzt wurde Gretel von der Frau, die nach Zimtsternen roch, hochgerissen. Alle Leute im Abteil versuchten gleichzeitig, durch die schmalen Türen nach draußen zu gelangen. Kinder weinten, Erwachsene schrieen und stöhnten, alle trampelten und drückten und schubsten. Gretel wurde eine spitze Kistenecke in die Seite gerammt und sie heulte vor Schmerz und Angst. Sie ließ die Hand der Fremden los, und die Zimtsternefrau wurde von der drängelnden Menschenmasse verschluckt.

„Mutti“, schrie Gretel. „Oma! MUTTI!“

Die Türen ohne Griffe waren nun doch auf und eine Traube aus Müttern, Kindern, Alten, Gepäck und Panik quoll aus jedem Zugabteil. Draußen schneite es dicke Flocken, als wäre es Weihnachten statt Krieg. Gretel suchte verzweifelt mit den Augen den Bahnsteig ab. Eine alte Frau, die gerade aus dem Zug stolperte, griff sich an die Brust und wurde so weiß wie der Schnee. Sie machte den Mund auf und schnappte ein paar Mal stumm nach Luft. Schüsse knallten und sie sackte auf den Boden. Zwei andere Frauen versuchten, sie wieder auf die Beine zu ziehen. „Sie hat einen Herzanfall erlitten“, rief eine, „o Gott, Hilfe, was machen wir denn jetzt? Gibt es hier einen Arzt?“

Aber es meldete sich kein Arzt, sondern alle rannten vor den Schüssen weg und ließen die Frau auf dem kalten, verschneiten Bahnsteig einfach liegen. Sogar die beiden Frauen, die versucht hatten, der Alten mit dem kranken Herzen zu helfen. Neben ihr lag eine Stofftasche, aus der drei rote Äpfel gekullert waren. Sie lagen wie pralle Blutstropfen im Schnee.

Da wusste Gretel, dass Weihnachten wirklich vorbei war.

* * *

Es gab noch einen Militärzug. Zum Glück, sagten die Erwachsenen. Gretel fand nicht, dass das ein Glück sein sollte. Sie wäre lieber zurück nach Hause gefahren. Aber der Militärzug sollte an einen ganz sicheren Ort fahren, und deswegen stürmten alle, die vor mehreren Stunden aus dem ersten Zug gekommen waren und zitternd vor Angst und Kälte auf dem Bahnhof ausgeharrt hatten, nun diesen Hoffnungszug. Er bestand aus lauter langen, offenen Wagen, die Loren genannt wurden und mit Militärfahrzeugen beladen waren. Gretels kleinem Trupp hatte sich jetzt auch noch Tante Klara mit ihrem Baby angeschlossen, die sie zufällig auf dem Bahnsteig von Korschen getroffen hatten. Ihr Kind war ein vier Wochen alter Säugling, der nach einer Stunde Schreien nur noch leise wimmerte. Sie kletterten auf eine der Loren. Gretels Mutter schrie vor Schreck auf, als sie merkte, dass sie ihre Handtasche mit den Ausweisen und anderen wichtigen Papieren irgendwo im Bahnhofsgebäude liegengelassen hatte. Da war es schon zu spät. Der Zug setzte sich langsam in Bewegung und rollte in die verschneite Weite, in der von Russen und Krieg nichts zu sehen war. Nur die Sterne waren zu sehen. Sie leuchteten und flackerten wie Kerzen am blauschwarzen Himmel.

Die Frauen und Gretel krochen in eines der Militärfahrzeuge. Die Nacht war bitterkalt. Karlchen legte sich draußen auf den Boden der Lore und sah hinauf an den Sternenhimmel. Mutti rief ihn immer wieder, damit er nicht einschlief und erfror. Als er nicht mehr antwortete, weckte sie ihn und holte ihn ins Fahrzeug, in dem wenigstens die Körperwärme und der Atem der Insassen sie vor dem Erfrieren bewahrte. Tante Klara hatte das kleine Kind in ihren Mantel eingeknöpft und es war endlich eingeschlafen.

2

Der sichere Ort, an den der Militärzug sie brachte, war Heilsberg.

Nur lag Heilsberg dicht an der Front.

Doch davon war noch nichts zu sehen oder zu hören, außer den Geschützen in der Ferne. Irgendwie klang es wie ein ganz langsam aufziehendes Gewitter, das auch vorbeiziehen konnte. In den ersten Tagen hauste Karlchen mit seiner Mutter und Großmutter, seiner Schwester, Tante Klara und ihrem ständig wimmernden Säugling und vielen der anderen Flüchtlinge aus Gerdauen im Bahnhofsgebäude. Einerseits war es das aufregendste Abenteuer, das Karlchen in seinen sieben Lebensjahren bisher erlebt hatte. Aber andererseits vermisste er die täglichen Spaziergänge mit Bella, dem Schäferhundmischling der Schillacks. Er fragte sich, ob die Schillacks sie mit auf die Flucht genommen hatten. Denn als er am Tag der Flucht zum Haus der Schillacks gegangen war, um noch einmal nach Bella zu sehen, lag ihre verrostete Kette verlassen auf dem Hof. Als er erst an die Tür geklopft und dann gehämmert hatte, hatte niemand aufgemacht oder aus einem Fenster geschaut. Und als er durch die Fensterscheibe in die Küche und die Stube gespäht hatte, war dort keine Menschenseele zu sehen gewesen. Auch in Schillacks Tischlerwerkstatt war keiner gewesen, wobei Herr Schillack sowieso im Volkssturm war. Beide Türen waren verschlossen geblieben.

Hoffentlich hatten sie die Hündin mitgenommen. Viele Leute hatten ihren Hund mit auf die Flucht genommen, die jetzt mit im Bahnhof einquartiert waren und bellten, wenn ein Fremder dem Hab und Gut ihrer Besitzer zu nahe kam. Doch meistens bettelten sie um ein Stück Brot oder Wurst oder Käse. Karlchen hatte sich schon mit allen Hunden im Bahnhofsgebäude angefreundet, weil er jedem Hund, der ihn so lieb mit großen, runden, feuchten Augen beim Essen zusah, heimlich ein Häppchen zusteckte. Dann schlang der Hund den Bissen gierig herunter, wedelte mit dem Schwanz und schleckte Karlchen die Reste des köstlichen Dufts von der Hand ab. Und dann schimpfte Mutti, dass er den kostbaren Proviant nicht an die Hunde verfüttern dürfte, sonst würde er bald selber verhungern. Aber das konnte er sich nicht vorstellen, das sagte sie nur, weil Hunde ihr nichts bedeuteten.

Im Gegensatz zu Karlchen, der Hunde besser verstand als Menschen und den Hunde auch besser zu verstehen schienen als Mutti oder Oma. Am liebsten hätte er Bella selber mit auf die Flucht genommen. Sie hätte ihn und seine Familie doch beschützen können. Jetzt kreisten seine Gedanken ständig um die Hündin der Schillacks, die in seinem Herzen sein Hund war. Und in ihrem Hundeherzen auch, da war er sich ganz sicher. Hatte Frau Schillack Bella mitgenommen? Er wusste, dass ihr an dem Hofhund nichts lag; sie hatte ihm sein Futter immer nur hingestellt, ohne ihn zu streicheln oder mit ihm zu reden. Hatte sie den Hund wenigstens von der Kette gelöst und laufen lassen? In ein ungewisses Schicksal?

Karlchen wurde bei der Vorstellung ganz schlecht. Der Bissen Brot mit Dauerwurst, den er gerade heruntergeschluckt hatte, blieb ihm im Hals stecken. Könnte Bella überhaupt alleine überleben? Ohne Futter, ohne Menschen – ohne ihn?

Hastig biss er ein Stück Brot mit Wurst ab, nahm es aus dem Mund und warf es dem grauen Jagdhund zu, der seine großen, feuchten braunen Augen mit den bernsteinfarbenen Funken darin sehnsüchtig auf den Jungen und das Brot in seiner Hand richtete. Der Hund fing den Happen in der Luft auf und schlang ihn gierig herunter. Karlchens Mutter hatte es nicht mitbekommen, weil sie sich gerade mit den Haaks unterhielt, den Nachbarn aus dem Langen Haus in Gerdauen, die sie hier wieder getroffen hatte. Frau Haak hatte eine halbe Bank in der Ecke des Wartesaals ergattert. Dort hatte sie sich ein Bettlager aus Decken und Kleidern gemacht. Eine Decke hing wie ein Zelt bis auf den Boden, und darunter schliefen ihre beiden Jungen, Hein und Frieder.

„Unsere schöne neue Wohnung im Langen Haus“, jammerte die Mutter. „Wir sind doch erst vor fünf Jahren dort eingezogen …“

Frau Haak nickte. „Am meisten vermisse ich das Wasserklosett. Wenn man an diesen Komfort gewöhnt ist, fällt es umso schwerer, wieder darauf verzichten zu müssen. Aber in der Reichsstadt gibt es sicher auch Wasserklosetts.“

„Ja, das hat meine Schwester in einem Brief erwähnt“, sagte Karlchens Mutter. „Das Wasserklosett.“

Aber sie klang nicht so, als würde sie sich auf das Wasserklosett in der Reichsstadt Berlin freuen. Sie klang anders als früher, vor dem Volkssturm, vor der Flucht. Alle Farben waren aus ihrer Stimme verschwunden. Seine Mutter klang grau.

Das behagte Karlchen gar nicht. Er holte sie aus ihren grauen Gedanken heraus, indem er an ihrem Ärmel zog. „Mutti?“

Sie wandte sich ihm zu. „Was ist denn, Karlchen?“

„Weißt du vielleicht irgendwas über meinen – ich meine über Bella? Ich meine, was aus ihr geworden ist? Haben die Schillacks sie mitgenommen?“

„Meinst du den Hund der Schillacks, Junge?“, mischte sich Frau Haak ein, die sich schon immer in die Angelegenheiten der Nachbarschaft eingemischt hatte. Aber diesmal war er froh darüber, denn prompt sagte sie: „Nein, den hat Liselotte nicht auch noch mitnehmen können, bei den alten Eltern und dem kleinen Kind. Am Tag, bevor sie losgezogen sind, hat sie mir gesagt, sie würde Bella von der Kette abmachen, die könne sich schon allein versorgen. Der arme Hund. Das wird dem Bernhard das Herz brechen, wenn er vom Volkssturm zurückkommt, nach dem Endsieg – na ja, falls es einen gibt. Er hat immer an dem Hund gehangen, aber sie wollte kein Tier im Haus. Der arme Hund.“

Karlchen war nicht ganz sicher, ob Frau Haak mit der letzten Bemerkung Bella oder Herrn Schillack meinte, aber er war ihr trotzdem dankbar für die Auskunft. Und für den Hauch von Mitgefühl in ihrer Stimme und den Hundefalten in der Stirn, als sie das sagte.

* * *

Nach drei Tagen zogen sie um in eine Schule, in der längst kein Unterricht mehr stattfand. Die Kinder der Flüchtlinge fanden ein paar bunte Kreidestückchen und vertrieben sich die Zeit damit, Bilder an die Tafeln zu malen. Es waren Bilder von grünen Bäumen voller praller roter Kirschen und gelber Birnen, Bilder von Blumen und Bienen und Schmetterlingen, Bilder von Häusern mit roten Dächern.

Es waren keine Bilder vom Krieg.

Karlchen malte Bella an alle zehn Tafeln in der Schule. So war sie bei ihm, ganz nahe hier in dieser fremden Schule in der fremden Stadt unter den fremden Flüchtlingen. Als die anderen Kinder Bella wegwischten, um Platz für ihre eigenen Gemälde zu schaffen, schrie er auf und schlug sich mit einem viel größeren und stärkeren Jungen, dessen Fäuste viel härter waren als seine eigenen, aber es war ihm egal. Er malte Bella in die Fenster der Häuser der anderen Kinder, und unter einen Apfelbaum und auf eine Blumenwiese. Er malte Bella überallhin. Als Bellas Kopf hinter der gelben Mondsichel einer Nachtlandschaft hervorlugte und sie eine Hundepfote auf den Halbmond legte, mussten die Kinder lachen. Von nun an ließen sie Bella am Leben und wurden Karlchens Freunde.

Dann wurden den Flüchtlingen von irgendwelchen Leuten der Heilsberger Stadtverwaltung Wohnungen zugewiesen. Karlchens Familie zog in eine große leer stehende Wohnung, deren Bewohner auf der Flucht waren. Die Leute mussten wohlhabend sein, denn die Möbel waren aus rötlich schimmerndem Mahagoni mit Messingbeschlägen, in der guten Stube standen Schäferinnen und Schäfer aus teurem Meissner Porzellan auf dem geschwungenen Büffet, und an den Fenstern hingen schwere Brokatvorhänge. Mutti und Oma schliefen im Doppelbett, seine Schwester Gretel bekam ein Gästebett für Erwachsene, und er hatte sogar ein eigenes Bett mit weichen Daunenkissen und weißen Spitzenbezügen, die mit weißen Schwänen bestickt waren. Aber es roch nach Moder und Zerfall, und er sehnte sich nach seinem eigenen Bett zurück. Nachts wälzte er sich hin und her, und in seinen Träumen trieb ihn irgendetwas an, vor dem er floh oder das er suchte, nur wusste er morgens nicht mehr, was es war.

Die ersten Toten seines Lebens sah er beim Spielen mit den anderen Flüchtlingskindern. Sie spielten Häuser erkunden. Es war ein aufregendes Spiel, bei dem sie sich vor und hinter einem vermeintlich unbewohnten Objekt auf die Lauer legten. Wenn es wirklich so aussah, als wären die Bewohner ausgezogen und auch keine Flüchtlinge eingezogen, gingen sie durch unverschlossene Türen und stiegen durch zerbrochene Fenster ein. Dann durchstöberten sie nach Herzenslust alle Wohnungen, Keller und Speicher.

Das hatten ihnen die Erwachsenen natürlich verboten, und so war es umso spannender zu sehen, was sie alles finden konnten, ohne erwischt zu werden. Manchmal wurden sie erwischt, wenn jemand doch noch in einer Wohnung lebte und von einer Horde struppiger Kinder aus dem Mittagsschlaf gerissen wurde. Dann stürzten sie johlend aus dem Haus, rannten ein paar Blöcke weiter und versteckten sich im schneebedeckten Gerümpel eines Hinterhofs oder den vereisten Hecken eines Gartens. Aber meistens blieben sie ungestört, denn viele Gebäude standen leer, weil sich so viele Heilsberger auf den Weg nach Berlin gemacht hatten.

Zwei von ihnen hatten sich jedoch nicht auf den Weg gemacht.

Sie waren für immer geblieben.

Karlchen und vier seiner neuen Freunde fanden sie. Die Jungen gingen durch eine verlassene Küche, in der noch eine Weihnachtspyramide aus dem Erzgebirge mit Kerzenstumpen und versengten Flügeln stand. In der Speisekammer dahinter befand sich die steile Holztreppe zum Speicher, die sie hinaufstiegen. Dann zwängten sie sich im Dunkeln zwischen ausrangierten Bettgestellen und einem alten Bauernschrank, dessen Tür nur noch wie ein loser Milchzahn an einem Fädchen hing, hindurch. Durch eine Ritze zwischen den Holzbalken fiel ein dünner Sonnenstrahl. Winzige Staubkörner tanzten im Licht. Karlchen stieß gegen einen Sack oder so was Ähnliches, das nachgab und anfing, sanft zu schaukeln.

„Iiih, was’n das?“, fragte Theo, der Junge, mit dem sich Karlchen in der Schule geprügelt hatte, bevor sie Freunde wurden.

„Weiß nicht“, sagte Karlchen. „Ich glaub, ein Kartoffelsack. Der hängt hier von der Decke runter. Warum haben die einen Kartoffelsack an die Decke gehängt?“

„Hier riecht’s so komisch“, stellte Rudi fest. „Vielleicht sind die Kartoffeln verfault.“

Er gab dem Sack einen Schubs. Der Sack schwang zurück und prallte gegen ihn.

„Aua – das ist kein Kartoffelsack“, rief er, „mich hat gerade was Hartes in den Schenkel gestoßen. Das ist was viel Längeres als ein Sack!“

Die Kinder wichen zurück. Der Sack drehte sich langsam im fahlen Licht, bis der Sonnenstrahl auf eine graue Nase und graue Lippen fiel. Gelbliche Zähne glitzerten in der Sonne. Karlchen schrie auf.

„Da hängt einer!“

„Nein, da hängen sogar zwei – hinter dem ersten hängt noch einer!“, rief Rudi aufgeregt.

„Da ham sich welche aufgehängt“, sagte Theo nüchtern.

„Aufgehängt?“, fragte Martin von hinten. „Wie aufgehängt?“ Es dauerte einen Moment, bis er kapiert hatte. „Iiiih, ich will hier raus“, heulte er auf und rannte die Treppe hinunter. Von der Dachkammer aus klang es wie die polternden Schritte eines schweren Mannes.

„Ich geh auch lieber wieder runter“, meldete Sigi, der sich nicht weiter als bis zur Dachluke vorgetraut hatte, und verschwand auf der knarrenden Treppe.

Mit schauriger Faszination starrte Karlchen auf die dunklen Umrisse eines Mannes. Dahinter hing eine zweite Person mit längeren grauen Haaren. Das musste eine Frau sein. Waren sie wirklich tot? Sie waren so still. Fast erwartete er, dass sie gleich anfangen würden zu schreien und zu zappeln. Aber sie zappelten nicht und sie blieben stumm.

„Komm, lass uns runter zu den anderen gehn“, sagte Theo.

Karlchen folgte ihm. Als er sich noch einmal umdrehte, schaukelten die Umrisse des Toten ganz sanft hin und her, und im schmalen Sonnenstrahl, der durch die Balken fiel, tanzten Staubkörner wie Irrlichter.

3

Alle zogen in den Keller. Gretel und Karlchen, Mutti und Oma, Tante Klara, eine junge Frau mit blonden Locken und fünf kleinen Kindern und die Hausbewohner, die noch da waren. Die Panzer rückten immer näher und mit ihnen auch die Russen. Vor den Russen hatten alle soviel Angst wie vor dem Teufel.

Sie hausten mehrere Tage lang im Keller auf einem Lager aus Säcken, Decken und Kleidern, schliefen nachts wie Sardinen in einer Dose und ernährten sich tagsüber vom Eingemachten. Hungern mussten sie nicht, denn es war ein gutbürgerliches Stadthaus, in dem ein höherer Polizeibeamter und ein Oberstudienrat a. D. für Mathematik und solche Leute gelebt hatten. Die Wohnung des Oberstudienrats war Gretels Familie zugewiesen worden, bis der alte Mann und seine Frau von der Flucht zurückgekommen waren und die komfortable Wohnung mit den gepolsterten Sesseln und Brokatvorhängen wieder selbst bezogen hatten. Doch es hatte ihnen auch nichts genützt. Aus Angst vor dem Gefechtsdonner, der mit jedem Tag lauter wurde, waren auch sie in den Keller umgezogen. Der Oberstudienrat nur halb – er verbrachte fast den ganzen Tag oben in seinem Arbeitszimmer, wo er sich hustend mit irgendwelchen Mathematikformeln beschäftigte, obwohl er doch längst pensioniert war. Seine Frau hatte aufgegeben, ihn überzeugen zu wollen, dass er unten im Keller sicherer war. Nun brachte sie ihm nur noch das Essen hoch oder kochte ihm in der Wohnung einen heißen Kräutertee gegen seine Erkältung.

Die Kellerbewohner beteten viel, aber auch das half nichts. Die Russen rückten bis Heilsberg vor, während Gott irgendwo anders beschäftigt war.

Und dann waren sie da. Sie polterten heran, sie traten Türen ein, sie johlten. Sie schienen im Siegestaumel zu sein.

Sie waren betrunken. Ein Trupp betrunkener Mongolen in grauen Uniformen und alten Pelzmützen, die wie räudiges Mäusefell aussahen, fiel in das bürgerliche Haus ein. Zuerst fanden sie den Oberstudienrat zwischen seinen Mathematikbüchern und machten kurzen Prozess mit ihm. Die Frauen und Kinder im Keller hörten die polternden Schritte, die Schreie und Rufe. „Uri! Uri!“ Unter lautem Protest und einem Hustenanfall rückte der Mathematiklehrer seine kostbare goldene Taschenuhr heraus. Dann ertönte ein Schuss und sein Husten verstummte. Die Menschen im Keller klammerten sich angstvoll aneinander. Die Kinder blieben still, so wie die Erwachsenen es ihnen eingetrichtert hatten. Man hörte sie nur vor Angst keuchen. Tante Klaras Säugling fing an zu wimmern. Zum Schreien war er zu schwach. „Gibt es hier unten denn keinen Hinterausgang? Oder wenigstens eine Kohlenklappe?“, fragte Gretels Tante voller Panik. Die Frau des Studienrats schien sie gar nicht zu hören.

Die Russen eroberten jedes Stockwerk, aber außer ein paar Schmuckstücken, die jemand hoffnungsvoll in ein Kopfkissen eingenäht hatte, fanden sie nichts Interessantes.

Bis sie im Keller nachschauten. Gretels Mutter und Tante Klara hatten sich das Gesicht mit Kohle schwarz angemalt, um alt und runzelig auszusehen. Und sie hatten sich Omas lange Röcke angezogen. Es schien zu nützen: Die Mongolen beachteten die beiden Frauen nicht weiter. Sie schrien „Uri! Uri“ und dann zeigte einer von ihnen auf die junge blonde Frau mit den fünf kleinen Kindern. „Frau komm“, befahl der Russe. Als sie nicht freiwillig aus ihrer Verschanzung hinter den Kartoffelkisten herauskam, zerrte er sie heraus und nach oben. Die Übriggebliebenen hörten eine geschlagene Stunde lang ihre gellenden Schreie, die mit jedem Russen, der da oben in einem der Schlafzimmer irgendwas Schreckliches mit ihr machte, schwächer wurden, bis sie endlich still war.

Als oben wieder die Stiefel wie eine Horde Elefanten polterten und dann langsam alles still wurde, wagten sich Gretel und Mutti hinauf, um nach der Mutter der fünf Kinder zu sehen, deren Schreie nach ihrer Mutter längst verstummt waren und die mit großen, leeren Puppenaugen zwischen den Kisten kauerten.

Über der Glastür der Wohnung im Erdgeschoss hing eine Holztafel, auf der ein Hufeisen und ein Glücksklee prangten, und dazu in Zierschrift Tritt ein, bring Glück herein. Als sie nach der jungen Frau riefen, antwortete erst keiner. Dann hörten sie ein leises Stöhnen.

„Geh du wieder runter zu den anderen – ich kümmere mich um sie“, sagte Gretels Mutter. „Wenigstens lebt sie noch.“

Insgeheim war Gretel froh, nicht sehen zu müssen, wie die Frau jetzt aussah, nachdem die Russen das mit ihr gemacht hatten, was sie mit allen Frauen machten, wenn die sich nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen konnten. Was das genau war, wusste sie nicht, aber es hatte die Frau erst zum Schreien gebracht und ließ sie jetzt vor Schmerzen stöhnen, und das reichte ihr. Sie eilte die Kellertreppe hinunter. „Sie lebt noch“, verkündete sie, doch die Kinder der Frau schienen die frohe Botschaft gar nicht wahrzunehmen. Sie starrten Gretel mit großen, leeren Augen an und zuckten nicht einmal mit den Wimpern.

Zwei Tage später zog ein junger russischer Offizier in die Wohnung des – nun toten – Studienrats a. D. ein und quartierte dessen Witwe aus, die wieder in ihr Heim zurückgekehrt war, weil jetzt „eh alles egal“ war. So egal, dass es ihr auch nicht viel ausmachte, in die Wohnung im Erdgeschoss zu ziehen, in die trotz des hoffnungsvollen Spruchs über der Tür kein Glück eingekehrt war. Der russische Offizier holte sich die hübsche junge Mutter hinauf in die Wohnung. Sie war jetzt etwas weniger hübsch als vor den Vergewaltigungen, die acht seiner Kameraden ihr angetan hatte, wie Gretel in der Zwischenzeit erfahren hatte, aber dem Offizier war sie immer noch hübsch genug. Wenigstens durfte sie ihre fünf Kinder mitnehmen, sogar den Kleinsten, der gerade mal ein halbes Jahr alt war. Der junge Offizier half sogar, ein flaches Grab im Garten für den Studienrat zu schaufeln und ihn dort unter ein paar Handvoll gefrorenen Erdklumpen und nackten Zweigen zu begraben.

Gretels Mutter und Tante Klara machte er in gebrochenem Deutsch klar, dass sie mindestens zwanzig Kilometer aus Heilsberg raus müssten, weil in der Stadt und drumherum heftig gekämpft wurde. Er riet ihnen, nach Osten in das von den Russen schon eroberte Gebiet zu gehen.

Aber Mutti, Oma und Tante Klara beschlossen, durch die Front nach Westen zu gehen. Die junge Mutter und ihre Kinder waren bei ihrem russischen Beschützer sicherer und blieben im Haus in Heilsberg, wie auch die Witwe des Studienrats. Auch Tante Klaras Kindchen konnte nicht mehr mit auf die Flucht kommen, denn es war gestern in ihren Armen gestorben. Sein Wimmern hatte schon lange aufgehört, und in den letzten Tagen hatte es nur noch leise geröchelt. Am Schluss hatte es geklungen wie der Wind, der leise durch die Fensterritzen pfiff. So begruben sie es im Garten, aber die Erde war gefroren und es wurde ein ziemlich flaches Grab. Oma sprach mit ernster Stimme einen Bibelspruch, und dann kamen Asche zu Asche, Staub zu Staub und ein paar Tannenzweige auf die hart gefrorene Erde. Die Witwe steckte eine halb abgebrannte Weihnachtskerze zwischen die Zweige und zündete sie an, und dann gingen alle wieder ins Haus und trösteten Tante Klara mit einer Flasche 1934er Château Latour aus dem Weinbestand des Studienrats, den er unter einer zugeschneiten Rosenhecke im Garten vor den Russen in Sicherheit gebracht hatte. Die Witwe war so zornig darüber, dass ihr Mann sich selbst nicht in Sicherheit gebracht hatte, dass sie einen der kostbareren Weine für Tante Klara opferte. Die trank die ganze Flasche aus, bevor sie getröstet genug war, um in einen betäubten Schlaf zu sinken.

Am nächsten Tag brachen sie in Richtung Westen auf. Sie wollten über die Alle gehen und sich dann über das Frische Haff in Sicherheit bringen. Aber als sie am vereisten Fluss ankamen, wurden ihre Schritte immer zögernder. Aus dem Eis ragten traurige Pferdewagen mit kaputten Deichseln. Und was noch viel schlimmer war, im Eis steckten tote Pferde, bei deren Anblick sich Karlchen schreiend umdrehte und weglief. Die anderen blieben stehen. Ein verendetes Pferd streckte die steifen Vorderhufe in die Höhe. Es war beim Versuch, aus den Eisschollen herauszuklettern, gestorben. Gretel wurde bei seinem Anblick schlecht.

„Wenn die es nicht geschafft haben“, sagte Mutti müde, „dann schaffen wir es auch nicht.“

„Die armen Pferde“, klagte Gretel. „Die armen Pferde!“

„Kindchen, es ist Krieg“, sagte Oma, die trotz ihrer vielen Röcke gar nicht mehr rund wie eine Kugel war. „Vergiss nicht, wir sind im Krieg.“

„Aber was können die armen Pferde dafür?“, entgegnete Gretel empört. „Die hat man doch gezwungen, über das Eis zu gehen. Die können doch nichts dafür!“

Die Mutter zuckte nur mit den Schultern. Sie hatte keine Antwort, die ihre Tochter befriedigt hätte. So kehrten sie um und fanden Karlchen hinter der nächsten Biegung, wo er zitternd auf einem umgefallenen Baumstamm saß. Vielleicht zitterte er nur vor Kälte, aber Gretel glaubte es nicht.

Heilsberg brannte wie ein Christbaum. Schon von Weitem sahen sie das Leuchten der Flammen, das sich gegen den dunklen Himmel abhob. Es war ein Regenbogen der Nacht, der über Orange und Gold zu einem blassen Gelb wurde und dann in einem satten Blaugrau mit dem schwarzen Hintergrund verschmolz. Er sah prächtig aus, so wunderschön wie eine Märchenstadt, aber Gretel wusste, was er zu bedeuten hatte.

Geschlagen schlichen sie durch die langen Gassen, vorbei an brennenden Häusern und schwelenden Bäumen, die nur wegen der schützenden Schicht aus Schnee und Eis nicht lichterloh brannten. Die rauchige Luft biss in ihre Lungen, und Karlchen bekam einen Hustenanfall, der sich erst allmählich legte, als sie wieder in dem Keller waren, aus dem sie gekommen waren.

Dort hatten sich seit ihrem Aufbruch zwei Mongolen einquartiert. Sie wurden von den zurückkehrenden Flüchtlingen geweckt und stürzten sich auf deren letzte Gepäckstücke. Während der eine Soldat Gretels Ranzen aufschlitzte und den Inhalt – etwas Wäsche, Socken und Messingbesteck und ihr Tiermärchenbuch – durchwühlte, forderte der zweite „Uri, Uri“ ein. Aber sie hatten keine Uhren mehr. Mutters Amethystbrosche mit dem großen lila Stein, ihren Ehering und die Perlenkette hatte Gretel vor einer Woche geschickt in ihren Mantelsaum eingenäht. Als die Russen merkten, dass nichts zu holen war, zogen sie wütend ihre Maschinenpistolen und richteten sie auf die Frauen. Gretel sah, wie Oma den Mund aufmachte, aber es kam kein Schrei heraus. Erst da fiel ihr ein, in Todesangst laut um Hilfe zu schreien. Karlchen stimmte in das Geschrei ein. Und tatsächlich – oben wurde eine Tür aufgerissen, und der junge russische Offizier, der die Studienratswohnung beschlagnahmt hatte, kam die Kellertreppe heruntergerannt. Er herrschte die beiden Mongolen an. Drei scharfe Worte genügten, und die Soldaten trollten sich.

Am liebsten wären sie in ihrer einigermaßen sicheren Unterkunft geblieben, in der sie genug Decken und Vorräte hatten und einen Beschützer dazu. Aber Heilsberg wurde immer noch heftig beschossen. Es half alles nichts – sie mussten sich aus der Stadt retten.

So schlossen sie sich dem Treck an, der sich durch die brennenden Gassen Richtung Osten bewegte. Die Luft war ein beißendes Gemisch aus Schießpulver und Benzin. Der Flüchtlingstreck wurde von russischen Soldaten aus der Stadt heraus und über die Landstraße getrieben. Stehen bleiben und sich ausruhen durften sie nicht. Links und rechts schauen wollten sie nicht, denn die Straßenränder waren mit Toten übersäht. Mit toten Menschen und toten Tieren, Hunden, Ziegen, Kühen und den unzähligen Pferden. Ganze Leiterwagen standen da, vor die tote Pferde gespannt waren und auf denen tote Menschen lagen, saßen oder sich aneinander lehnten. Über einer Schubkarre lagen zwei tote Kinder und ihre tote Mutter, an die sie sich wie Äffchen klammerten.

Sie zogen an einer Welt vorbei, die einfach stehen geblieben war.

Aber der Krieg ging weiter. Kugeln pfiffen ihnen um die Ohren, Kinder schrieen nach ihren Müttern, Frauen schrieen, wenn Soldaten sie sich wie Äpfel pflückten, alte Bauern schrieen, wenn ihren Pferden die Beine versagten und sie ins Stolpern gerieten.

Oma und die Kinder waren todmüde. In den letzten Tagen nach ihrem letzten Fluchtversuch hatten sie kaum geschlafen. Sie froren und konnten nicht mehr weitergehen. Daher bettelten sie die Bauern an, sie auf ihrem Wagen mitfahren zu lassen. Doch die Pferde waren zu erschöpft und gaben schon alles. Keiner der Bauern wollte ihnen noch eine zusätzliche Last aufbürden.

Karlchen hatte aufgehört, bei jedem toten Tier am Straßenrand aufzuschreien. Er weinte nur noch leise in sich hinein. Gretel nahm tröstend seine Hand, doch er zog sie weg, so schockiert war er. Als sie am Kuhstall eines ausgebrannten Bauernhofs vorbeikamen, der wie durch ein Wunder unversehrt geblieben war, flehte Gretel die Mutter an, dort Rast zu machen. Mutti sah Oma an, deren Gesicht vor Erschöpfung ganz rot war, und nickte. Sie gingen in den Stall, in dem zwar keine Kühe mehr waren, aber warmes Stroh. Doch noch bevor sie sich müde auf das verdreckte Strohbett sinken lassen konnten, kam ein russischer Soldat hinterher. „Dawai, dawai!“, scheuchte er sie hoch. Sie sollten weitergehen. Mutti sagte ihm, dass sie nicht mehr laufen könnten. Sie zeigte auf Oma und Karlchen. Gretel hatte sich flink wie ein Mäuschen hinter Mutti und Oma gestellt, doch der Russe wollte das Mädchen sehen, das sich vor ihm versteckt hatte. Er zog sie am Mantelärmel hinter den schützenden Rücken der Erwachsenen hervor. Steif wie eine Puppe stand sie vor ihm.

Sogar ihre erdbeerblonden Zöpfe waren vor Angst erstarrt.

Sie stand ganz ruhig vor dem Russen da. Die Angstameisen kribbelten und krabbelten ihr über den Rücken und die Beine bis in die Winterstiefel hinein, aber das konnte der Russe nicht sehen. Dafür konnte der jetzt mit ihr machen, was er nur wollte. Alles, was sie tun konnte, war stillzuhalten und sich ihre Angst nicht anmerken zu lassen.

Denn Russen mochten Angst, ja, sie liebten geradezu die Todesangst, in die sie die deutschen Flüchtlinge treiben konnten. Das brachte sie zum Lachen und Johlen. Nicht immer, aber sehr oft.

Der Russe betrachtete sie mit ruhigen Augen, die nicht so aussahen, als würden sie über die Todesangst eines kleinen Mädchens lachen. Und auch nicht wie die gierigen Augen so mancher anderer Russen, die sie schon zu sehen bekommen hatte, wenn die eine hübsche Frau oder ein Mädchen entdeckten, das ihnen gefiel. Dieser Russe war noch ein junger Soldat, ungefähr so alt wie Peter und sein Kamerad Martin. Eine Ameise hatte sich in Gretels linkes Auge verirrt, und sie versuchte krampfhaft, nicht mit den Wimpern zu zucken.

Da streckte der junge russische Soldat plötzlich die Hand aus, und jetzt zuckte sie automatisch mit den Wimpern, aber er schlug sie gar nicht. Stattdessen streichelte er ihr über die Wange, und seine braunen Augen waren plötzlich so weich wie der braune Teddybär, den sie hatte zurücklassen müssen, weil nur Platz für ihre Puppe Liesel gewesen war, die jetzt auch weg war, worüber sie beinahe so traurig war wie darüber, dass Peter und Papa nicht bei ihnen waren.