Staub im Schnee - Ernst Solèr - E-Book

Staub im Schnee E-Book

Ernst Solèr

4,5

Beschreibung

Bissig und rasant: eine tote Glücksfee und ein zynischer Hauptmann. Ives Schneider, Moderator und landesweit bekannte ›Glücksfee‹ der schweizerischen Zahlenlotterie, wird brutal ermordet. Die Gerüchteküche brodelt, der Kreis der Verdächtigen ist groß. Denn Schneider verkehrte nicht nur in der Zürcher Schwulenszene, sondern war auch bekannt für seine Kokain- und Spielsucht und befand sich in ernsten finanziellen Schwierigkeiten. Fred Staub, Hauptmann der Zürcher Kantonspolizei, und sein Team können den Fall binnen kürzester Zeit als klassische Beziehungstat lösen. Die Öffentlichkeit ist voll des Lobes angesichts der raschen Aufklärung - nur Staub ist unzufrieden, ihm geht das Ganze eine Spur zu schnell. Zu Recht, wie sich herausstellt: Denn bei seinen Nachforschungen deckt er einen Skandal auf, der die ganze Nation erschüttert … Die Glitzerwelt des Fernsehens, der Traum vom schnellen Geld und große menschliche Dramen - Fred Staubs dritter Fall hat alles, wovon Boulevardjournalisten träumen!

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E-Book © 2014 by GRAFIT Verlag GmbH

Originalausgabe © 2008 by GRAFIT Verlag GmbH

Chemnitzer Str. 31, D-44139 Dortmund

Internet: http://www.grafit.de/

E-Mail: [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Peter Bucker

Umschlagfoto: Sven Schneider, photocase.com

eISBN 978-3-89425-175-8

Ernst Solèr

Cover

Impressum

Der Autor

Inhalt

Der Tote

Das Fernsehen

Die Provinz

Der Irrtum

Das Studio

Die Bombe

Das Geständnis

Die Therapeutin

Das Paradies

Der Autor

Ernst Solèr, geboren 1960 in Männedorf und im Juli 2008 in Zürich viel zu früh verstorben, arbeitete zuletzt als Autor und Journalist u.a. für das Schweizer Radio DRS und die Wirtschaftszeitung Cash.

2006 ist sein erster Kriminalroman um den launischen Hauptmann Fred Staub von der Zürcher Kantonspolizei, Staub im Feuer, erschienen. Es folgten Staub im Wasser, Staub im Schnee und Staub im Paradies.

Staub im Schnee spielt im frühen 21. Jahrhundert in Zürich. Während die Schauplätze größtenteils real sind, sind Handlung und Figuren rein fiktiv. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und unbeabsichtigt.

Der Tote

Es ist nicht gerade ein Blizzard, der über Zürich tobt. Aber dennoch fällt Schnee genug vom weißgrauen Himmel: einzelne, magere Flocken, die vom Scheibenwischer hinweggefegt werden wie Brotkrümel von der Tischdecke eines Fünfsternehotels.

»Hoffentlich müssen wir nicht die Schneeketten montieren«, brummelt Michael und schaltet herunter in den ersten Gang.

»Wegen der paar Flocken?«

»Du vergisst die Millionen, die gestern schon gefallen sind«, meint er trocken und deutet auf den steilen, kaum mehr erkennbaren Weg vor uns.

Tatsächlich schneit es seit zwei Tagen fast ununterbrochen. Selbst in der Stadt unten hat sich der Schnee festgesetzt und hier oben am Chäferberg misst die Schneedecke sicher dreißig Zentimeter. Michael quält den Volvo die Steigung hinauf und ich hoffe inständig, dass unter den verwehten Reifenspuren, denen mein Kollege folgt, tatsächlich der vermutete Kiesweg liegt.

Plötzlich ein Schlag. Der Motor jault auf, der Wagen stellt sich quer, die Hinterräder fräsen durch das weiße Nass.

»Was habe ich gesagt?«, nörgelt Michael, aber ich bleibe gelassen. Denn mein Stellvertreter und Freund Michael Neidhart ist ein guter Autofahrer. So gut, dass er die Schneeketten bei Bedarf auch allein um die Räder bekommen würde. Aber im Moment reicht viel Gefühl im Umgang mit dem Gaspedal noch aus.

Ich sehe im Außenspiegel, wie der Schnee hinter dem Auto wegstiebt, es ruckt ein paarmal und wir schlingern zurück auf den Weg.

Es ist zehn nach neun Uhr morgens an einem der kältesten Januartage der vergangenen Jahre. Die Aussichten, dass es bald aufklaren und Sonnenlicht das trübe Weiß zum Leuchten bringen wird, sind laut Wetterbericht gleich null. Im Gegenteil, der Vorhersage nach soll die weiße Pracht sogar noch zunehmen.

Ein, zwei Tage im Jahr erstarrt ganz Zürich im Schnee und heute ist einer dieser Tage. Dutzende schwerer Maschinen und Laster werfen in der Stadt Salz und Split auf die Hauptverkehrswege, Hunderte von Beamtenkollegen in Orange rücken den Massen mit Schaufeln zu Leibe.

Auf den Chäferberg wird kein Räumkommando kommen. Es würde keinen Sinn machen, da die Wege und Pfade hier oben ohnehin nicht befahren werden und ein striktes Fahrverbot gilt.

Schwere Wechten liegen auf den Rottannen vor uns, der Weg führt in den Wald wie in einen Tunnel. Die Erschütterungen, die unser Wagen verursacht, lassen faustgroße Schneeklumpen auf das Dach prasseln. Hoffentlich sind wir hier richtig.

Ich überlege mir, ob ich ein paar launische Worte ins Funkgerät sprechen und bei der Einsatzzentrale nachfragen soll. Aber Michael kennt sich aus, er joggt hier gelegentlich. Zudem sehe ich immer noch schwache Spuren der Fahrzeuge, die vor uns in den Wald gefahren sind, nachdem der Notruf ausgelöst wurde. Wobei der Stadtförster sicherlich in einem schweren, wintertauglichen Geländewagen unterwegs ist. Aber der städtische Streifenwagen, den er panisch gerufen hat, hat es ja auch irgendwie durch den Schnee geschafft.

»Elender Mist«, stöhnt Michael.

Schon wieder schmirgeln die Hinterräder unseres Volvo hilflos durch den Pulverschnee. Mein Kollege setzt ein wenig zurück und packt die Stelle im zweiten Anlauf.

Es ist ein überaus schlechtes Zeichen, wenn Stadtpolizisten ohne Umschweife nach einer kantonalen Spezialabteilung wie der unsrigen rufen. Ein Toter im Zürcher Wald wäre eigentlich ein klarer Fall für die stadtpolizeiliche Abteilung Leib und Leben und nichts für unsere Kantonspolizeieinheit Besondere Verfahren. Irgendetwas an der Leiche muss ziemlich außergewöhnlich sein. Ich könnte nicht sagen, dass ich sonderlich gespannt darauf bin, was es ist.

»Da vorne«, sagt Michael endlich. Er hat den Streifenwagen entdeckt, mitten auf der Kreuzung zwischen Ameisenweg und Reitweg, über welche die Vita-Parcours-Strecke führt. Rund fünfhundert dieser in den Sechzigerjahren von der Vita Lebensversicherungsgesellschaft in die Wälder getriebenen, von jeweils fünfzehn Körperertüchtigungsstationen durchsetzten Laufparcours gibt es in der Schweiz. Zwei davon liegen auf Stadtzürcher Boden. Eine unterhalb des Üetlibergs und diese hier am Chäferberg.

Die Kollegen von der Stadtpolizei winken uns aufgeregt heran. Ich werfe einen Blick auf die Temperaturanzeige in unserem Auto und erschauere präventiv: Minus neun Grad ist es außerhalb des Volvo. Ich ziehe den dicken, selbst gestrickten Wollschal, den mir Tochter Anna zu Weihnachten geschenkt hat, so eng um meinen Hals, wie es geht.

Michael stellt den Motor ab und stülpt sich lederne Handschuhe und einen Hut über. Wir sehen uns kurz an und steigen aus. Schneestaub rieselt auf mich herunter, direkt auf meine ergraute Haarpracht. Unter meinen knöchelhohen Winterschuhen knirscht es.

Die beiden schlotternden Kollegen von der Stadtpolizei deuten wortlos hinter sich auf eine Stelle, die von den Scheinwerfern ihres Wagens beleuchtet wird. Ich erkenne den Schrecken in den Augen der beiden Polizisten und mag eigentlich gar nicht zu der Leiche hinüberschauen. Aber ich muss.

Was ich dann sehe, kann ich kaum glauben. Ich wende den Blick kurz ab. Leider ändert das nichts an der Szenerie: In den Boden gerammte Pfähle bilden ein Dreieck, das in Griffhöhe mit vereisten, stählernen Reckstangen verbunden ist. Daneben empfiehlt ein blaues Schild entsprechende Körperübungen. Und unter den Stangen zeichnet sich eine riesige Blutlache ab, in deren Mitte ein zusammengekrümmter Mensch in einem azurblauen Jogginganzug liegt.

Ich stehe da wie festgefroren, bin unfähig, mich der Szenerie zu nähern, die einem durchkomponierten Gemälde gleicht: Im oberen Teil der Komposition befindet sich das Dreieck der im Scheinwerferlicht funkelnden, vereisten Stangen, im unteren die auf dem Rücken liegende Leiche in ihrem zerfetzten Trainingsanzug. Weißer Schnee, blaues Tuch, graue Haut, rotes Blut. Und zwei gelbe Punkte: Puma-Sportschuhe, die aus dem blutgetränkten Neuschnee ragen wie Blüten, die ans Licht drängen.

Es ist Teil meines Jobs, mir solche Dinge anzusehen, sage ich mir, dafür werde ich bezahlt. Wenn auch nicht gerade fürstlich.

Ich gebe mir einen Ruck und stürze auf den Leichnam zu. Nehme zur Kenntnis, dass die Einschusslöcher in Brust und Bauch rostrot verfärbt sind. Und zucke zurück, als ich dem Toten ins Gesicht blicke. Denn ich kenne den Mann: Er moderiert im Schweizer Fernsehen eine wöchentliche Quizshow und zierte schon manche Illustrierten-Titelseite. Jetzt ist mir klar, warum man direkt nach uns gerufen hat.

»Heilige Scheiße«, dringt Michaels Stimme zu mir. Auch er hat den Mann erkannt.

»Wir wussten nicht, ob wir ihn abdecken sollten«, sagt einer der Streifenpolizisten.

»Schon gut«, winke ich ab. »Die Spurensicherung müsste sowieso bald eintreffen.«

»Der Förster dort hat ihn gefunden«, fährt der Kollege fort und deutet auf einen bärtigen Mann in schweren Stiefeln und einer dunkelgrünen Helly-Hansen-Jacke, der an einem Jeep ein paar Dutzend Meter entfernt lehnt und sich gerade einen Schluck aus seinem Flachmann gönnt.

Ich widme mich wieder der Leiche und knie mich neben sie nieder. Befühle sie. Komplett steifgefroren ist sie noch nicht. Der Täter könnte also noch in der Nähe sein. Vorsichtig blicke ich ringsum in den Wald und fahre zusammen, als im Unterholz etwas raschelt. Aber es ist nur ein aufflatternder Vogel.

»Habt ihr irgendjemanden gesehen, seit ihr hier seid?«, frage ich die Leute von der Stadtpolizei, aber sie schütteln nur stumm den Kopf.

Michaels Natel dudelt los. Es ist die Spurensicherung, die ihm mitteilt, sie sei mit ihrem Wagen im Schnee festgefahren.

»Blöder Quark!«, staucht Michael sie zusammen. »Macht, dass ihr herkommt, wie auch immer! Notfalls zu Fuß. Wir warten!« Auch ihn hat der Anblick des erschossenen Moderators aufgewühlt.

»Habt ihr vielleicht Handschuhe? Und eine Plane?«, frage ich die beiden Stadtpolizisten und sie nicken emsig. Der eine eilt zum Wagen. »Merk dir deine eigenen Fußspuren, sonst gibt's Schelte von der Spurensicherung«, rufe ich ihm nach.

»Wenn die es heute noch schafft«, bemerkt Michael. »Welch ein Scheißtag für einen Mord.«

»Gibt's gute Tage für einen Mord?«, entgegne ich. »Und überhaupt: Vielleicht ist es ja gar kein Mord.«

»Nach Selbstmord sieht es mir eigentlich nicht aus«, meint Michael. »Und für einen Unfall hat er viel zu viele Kugeln abbekommen.«

»Okay, ein Mord also«, stimme ich ihm zu und frage mich, wann ich die Show des Mannes zum letzten Mal gesehen habe. Irgendeine Klugscheißersendung, in der viel Geld verteilt wird. Schneider heißt der Moderator, Yves Schneider.

Die Kollegen tragen eine Plastikplane herbei, einer reicht mir schweigend ein Paar lederne Handschuhe. »Frag bitte mal den Förster, ob er unseren Kriminaltechnikern entgegenfahren und sie aus dem Tiefschnee ziehen kann mit seinem Jeep«, raune ich dem Polizisten zu, woraufhin dieser sich postwendend auf den Weg macht.

Michael und ich knien uns auf die Plane und starren abwechselnd die Leiche und uns selbst an. Schneiders Gesicht ist noch mehr oder weniger heil. Der Mann ist ungefähr fünfunddreißig und hat ein Lausbubengesicht mit einem Schnauz so schwarz wie seine kurz geschnittenen Haare. Nur das vertraute süffisante Lächeln fehlt. Im halb offenen Mund erkenne ich zwei Goldfüllungen. Die Augen hat ihm zum Glück schon jemand zugedrückt.

»Einschusslöcher vorne und hinten«, hält Michael fest. »Mindestens zehn Kugeln. Kein Schrot.« Er überwindet sich und tastet den leblosen Körper sorgfältig nach weiteren Informationen ab.

Ich lasse ihn machen und stapfe zu den Kollegen von der Stadtpolizei hinüber. »Ist euch denn gar nichts aufgefallen, als ihr hier hochgefahren seid?«

»Leider nicht! Wir folgten den Spuren des Jeeps, viel mehr konnten wir nicht sehen.«

»Wohin führt dieser Weg?«

»Weiter durch den Wald, ich glaube bis hinüber nach Neuaffoltern.«

»Versuchen wir, so wenige Spuren wie möglich zu hinterlassen, dann haben wir gute Chancen herauszufinden, woher der Täter kam. Ich nehme nicht an, dass hier in der Nähe irgendwer wohnt, oder?«

»Kommt darauf an, was Sie unter Nähe verstehen, Hauptmann. Das hier ist immer noch Stadtgebiet, allzu weit können die nächsten Häuser nicht sein. Wir brauchen dringend mehr Leute, dann können wir ausschwärmen und nachsehen.«

Ich mustere das Namensschild auf seiner Uniform. »Schon klar, Schindler. Aber erst nachdem die Spuren aufgenommen worden sind, sonst ist hier schon vorher alles niedergetrampelt.«

»Sollten wir nicht trotzdem die Umgebung abschreiten?«

Ich weiß es nicht, zum Teufel. Es wäre das übliche Vorgehen. Aber die Chance, dass wir dabei wertvolle Spuren zerstören, ist einfach zu groß.

»Wir warten auf die Techniker«, bestimme ich.

Schindler quittiert meine Aussage mit einem nichtssagenden Blick in den Wald. Seine nackten Hände zittern. Es ist unglaublich kalt. Auch ich bin nicht dafür ausgestattet, morgens um halb zehn in einem verschneiten Wald zu stehen und Fernsehleichen zu beglotzen. Annas Schal ist das einzige Kleidungsstück, welches der unwirtlichen Umgebung angemessen ist. Hätte ich gewusst, was mich erwartet, hätte ich meine Skiausrüstung angezogen. Wobei dann sicher eine Saunaleiche gemeldet worden wäre …

Ohnehin bin ich nur mit Michael mitgefahren, weil meine halbe Abteilung krank zu Hause in den Federn liegt. Und wenn ich noch lange hier draußen stehe, kann ich mich ihnen bald anschließen: In meinen Schuhen schmilzt der Schneematsch und ich spüre jetzt schon kaum mehr meine Finger, trotz der Handschuhe.

»Warten wir im Auto«, sage ich zu meinem uniformierten Kollegen und trolle mich in den Volvo. Im Wageninneren ist es immerhin etwas wärmer.

Ich greife zum Funk. »Wo bleibt die Spurensicherung?«, belle ich ins Gerät. »Warten die, bis auch noch die allerletzten Hinweise zugeschneit sind, oder was?«

»Moment«, tönt es mir entgegen.

Es knistert und krost im Gerät und dann antwortet mir die Stimme von Ralf Strich, dem Leiter unseres Kriminaltechnischen Diensts: »Wir sind unterwegs, Kollege. Für die äußeren Umstände können wir nichts.«

Kein Wunder sind sie stecken geblieben, denke ich angesichts Strichs gewaltiger Körperfülle. Immerhin kann beim stets heißhungrigen Strich davon ausgegangen werden, dass er heißen Kaffee mit sich führt.

Ich melde mich erneut bei der Einsatzzentrale und frage nach, ob Yves Schneider bereits als vermisst gemeldet wurde.

»Der Fernsehstar?«

»Genau der.«

Bisher nicht, teilt man mir mit, was denn los sei mit ihm?

Ich beschließe, mein Wissen vorerst für mich zu behalten. Yves Schneider ist eine öffentliche Person, kaum ein Schweizer kennt ihn nicht. Die Nachricht von seinem gewaltsamen Tod dürfte einschlagen wie eine Bombe – und mir persönlich reicht es, wenn sie erst morgen hochgeht.

Ich kurble das Fenster herunter, weil ich durch die beschlagenen Scheiben kaum noch etwas sehen kann. Michael kauert immer noch neben dem toten Moderator, die beiden Stadtpolizisten hingegen haben sich in ihren Dienstwagen verkrochen. Der Schneefall hat zugenommen und die Bise pfeift giftig durch die Baumwipfel. Hätten wir den Förster nicht dem elenden Strich zu Hilfe geschickt, könnte ich jetzt wenigstens meine erste Zeugenbefragung durchführen. So aber kann ich nur warten und ins Trübe schauen.

Ein schwerer Schneeklumpen poltert dumpf auf das Autodach. Ich schließe das Fenster wieder und starte den Motor, damit die Karre nicht völlig auskühlt. Drehe das Radio auf. Der Empfang ist alles andere als begeisternd. Aber es reicht, um mitzubekommen, dass ein unangenehm fröhlicher Moderator irgendetwas über den Lustfaktor aphrodisischer Gerichte schwadroniert und dabei von Muscheln spricht. Ich muss schallend lachen: Die letzten Muscheln, die ich aß, wirkten allenfalls aphrodisisch auf meinen Dünndarm. Dies immerhin äußerst potent.

Ich hoffe, dass niemand mein Lachen gehört hat, und frage mich wieder einmal, wie zynisch ich bereits geworden bin. Wenige Meter von mir entfernt liegt ein erschossener Prominenter im Schnee und ich denke an meinen Dünndarm. Berufskrankheit nennt man das wohl. Wie viele Tote habe ich mir ansehen müssen in den vergangenen zweiundzwanzig Jahren? Auf jeden Fall mehr, als ich ertragen konnte. Einige davon sahen noch weit schlimmer aus als Yves Schneider unter den Reckstangen. Die geköpften Finanzakrobaten im Sommer zum Beispiel, deren Häupter wir bis heute nicht gefunden haben. Oder die Toten in der durch einen Brandanschlag vollkommen zerstörten Üetlibergbahn im vergangenen Frühjahr.

Ist Schneider wirklich auf dem Vita Parcours gelaufen? Bei diesem Schmuddelwetter? Natürlich kennen viele Körperbewusste dieser Welt keinen Schmerz. Aber mit gelben Sportschuhen durch bis zu dreißig Zentimeter tiefen Schnee zu joggen? Das macht einfach keinen Sinn. Andererseits haben wir nirgends ein Auto herumstehen sehen. Und was wollte Schneider sonst hier draußen in Sportbekleidung?

Ich greife erneut zum Funk und bitte die Einsatzzentrale, mir Schneiders Adresse durchzugeben. Schon wieder will man wissen, was denn mit ihm los sei. Aber ich schweige beharrlich. Scheuchzerstrasse 28, informiert man mich schließlich und ich sage artig Danke und beende das Gespräch.

Sieh an, Schneider wohnte also nur wenige Kilometer von hier entfernt. Vielleicht ging er doch joggen. Ich glaube, mich zu erinnern, dass der Mann eine echte Sportskanone gewesen sein muss, so war es zumindest in der Presse zu lesen. Außerdem soll er schwul gewesen sein, sein Freund tummelt sich angeblich im Modebusiness.

Endlich höre ich das Brummen eines schweren Motors. Strich und seine Mannschaft scheinen einzutrudeln. Ich steige aus dem Volvo und prompt rieselt mir wieder Schnee in den Nacken. Ich versuche, ihn sofort wegzuwischen, doch ein kleiner Teil schmilzt trotzdem auf meiner Haut und rinnt mir die Wirbelsäule hinunter. Wenn ich wieder zu Hause bin, werde ich ein heißes Bad nehmen, beschließe ich. Wobei die Heimkehr noch in weiter Ferne liegen könnte, wenn sich der Täter nicht in den allernächsten Minuten selbst stellt.

Der Motorenlärm, den ich gehört habe, rührt tatsächlich vom Gefährt der Spurensicherung. Gezogen wird es von einem alten Armee-Pinzgauer, weiß Gott, wo sie den so schnell aufgetrieben haben. Der Jeep des Försters zuckelt hinter ihnen her. Strichs Leute, die ihren übergewichtigen Meister vergöttern, schwirren aus dem Wagen wie emsige Bienen auf Pollensuche und stapfen entschlossen durch den Schnee. Sie richten Scheinwerfer auf und fotografieren wild herum.

Strich wankt mir mit einer Tasse dampfenden Kaffees entgegen. »Gut, dass Blut nicht weiß ist«, sagt er mit interessiertem Blick auf den Toten und drückt mir die Tasse in die klammen Finger.

»Schön, dass Schnee nicht rot ist«, entgegne ich.

Strich lächelt milde. »Reifenspuren?«

»Hab keine gesehen«, antworte ich. »Wir haben aber ohnehin gewartet, bis ihr Superexperten hier seid.«

»Wie aufmerksam«, meint Strich und macht sich auf den Weg zu der Leiche des Moderators. Michael hockt noch immer neben ihr auf der Plane und reibt seine Handschuhe aneinander.

»Tag, Strich«, begrüßt er den Kollegen. »Sie sehen hier den bekannten Quizmaster Yves Schneider. Ich möchte Ihnen nicht vorgreifen, aber ich zähle exakt elf Einschüsse in Brustkorb, Bauch und Unterleib. Sechs der Kugeln sind wieder aus dem Körper ausgetreten. Die anderen müssten noch drinstecken.«

»Wenn da was zu finden ist, haben Sie's morgen auf dem Pult«, sagt Strich und kauert sich neben den Toten nieder. »Der Rechtsmediziner ist unterwegs«, erklärt er. »Musste erst von einer Vorlesung geholt werden. Wenn ihr nichts dagegen habt, schaue ich mir das Objekt selber mal an.«

»Nur zu«, meint Michael.

»Die Todeszeit interessiert momentan am meisten«, füge ich an.

»Höchstens neunzig Minuten«, sagt Strich überraschend bestimmt. »Wann wurde er denn gefunden?«

Ich sehe mich um und suche nach dem Förster. Doch ich kann ihn nirgends entdecken. »Wo ist der Mann denn?«, frage ich Michael etwas unwirsch.

Er steht auf und späht mit zusammengekniffenen Augen in den Wald. »Hinter der Schwarzerle dort«, deutet er schließlich ins graubraune Dunkel. »Wenn ich mich nicht täusche, uriniert er gerade.«

»Verflucht, was denkt er sich bloß?«, ereifere ich mich und stampfe durch den Schnee auf die Erle zu. Ein Minimum an Respekt gegenüber dem Toten darf doch erwartet werden. Gerade von einem naturverbundenen Mann wie einem Förster! Der Mann zieht soeben seinen Hosenschlitz gerade und mustert mich gelassen.

»Herrgott, so geht das doch nicht«, erkläre ich ihm. »Vielleicht zerstören Sie wichtige Spuren!«

Er schnaubt verächtlich: »Da war nichts.«

»Haben Sie einen Ausweis dabei?«

Der Förster greift gelassen in seine Helly-Hansen-Jacke und klaubt seinen Führerschein hervor.

Ich begutachte ihn ein paar Sekunden länger als nötig und frage dann: »Wieso fuhren Sie gerade heute hier durch, wenn ich fragen darf?«

»Ich fahre jeden Tag zweimal hier durch, wenn's recht ist«, antwortet er.

»Und natürlich ist Ihnen nichts Außergewöhnliches aufgefallen, oder?«

»Ich sah zwei Rehe«, meint der Förster, während in seinen weiten Hosen ein Natel zu piepsen beginnt. »Entschuldigen Sie, meine Frau«, sagt er nach einem Blick auf das Display und nimmt das Gespräch entgegen.

Ich kann den Inhalt der Konversation nicht verfolgen. Von seiner Seite her besteht sie lediglich aus »Bald«, »Mach das« und »Lieber nicht«.

Dann beendet er sein Telefonat und meint: »Verrückt, nicht? Gestern sahen wir ihn noch im Fernsehen.«

Er hat Schneider also auch erkannt.

»Sprechen Sie am besten mit niemandem darüber! Hinterlassen Sie sämtliche Ihrer Telefonnummern bei den uniformierten Kollegen und fahren Sie nach Hause«, weise ich den Mann an. Als er weg ist, trete ich gegen eine unschuldige kleine Tanne. Der Baum rächt sich mit einem mittelgroßen Schneebrett, das direkt auf meinen Kopf fällt. Ich fluche nicht einmal, mir ist klar, dass ich es verdient habe.

Einigermaßen benommen taumle ich zurück zu dem Toten und bitte Strich um einen weiteren Becher Kaffee.

Vier Stunden später bin ich mit Michael auf dem Weg in die Scheuchzerstrasse, wo Schneider gewohnt hat. Mehrere Bataillone von wirklichen und selbst ernannten Experten sind im Laufe der vergangenen Stunden am Tatort eingetroffen. Sogar unser oberster Chef, der seit Jahren kränkelnde Kommandant der Zürcher Kantonspolizei, Übername das Phantom, hat sich angesichts der Prominenz des Toten in den Wald hinaufkutschieren lassen. Auf meinen Rat hin verhängte er als Erstes eine totale Nachrichtensperre. Ich bin gespannt, wie lange es dauert, bis die Journalistenmeute trotzdem Lunte riecht. Michael gibt ihr maximal acht Stunden, wovon zwei bereits abgelaufen sind.

»Schneider war schwul, oder?«, frage ich ihn.

»Man sagt es.«

»Kennst du ihn zufälligerweise?«

Er lacht trocken auf: »Es gibt Tausende von Schwulen in der Stadt, Fredy. Ich habe Schneider mal auf einer Party in der Labor Bar von Weitem gesehen, aber sonst weiß ich nichts über ihn.«

Ich nicke. Wir sind uns beide darüber im Klaren, dass uns Michaels sexuelle Neigung eventuell helfen kann, falls es in unserem Mordfall um ein Beziehungsdelikt geht. Nicht dass sich Schwulendramen großartig von anderen Beziehungstragödien unterscheiden würden. Aber was in der Szene läuft, weiß Michael natürlich besser als ich. Ich erinnere mich gut daran, wie er damals gleich bei unserer ersten Begegnung kampfeslustig auf seine Homosexualität hinwies. Viereinhalb Jahre ist das jetzt her, und hätte ich anders auf seine Worte reagiert als mit einem leichten Achselzucken und der nächsten Frage, wäre er heute weder in meiner Abteilung noch ein verlässlicher Freund, ja, vielleicht nicht einmal mehr Polizist. Michael war in einer Phase in meinem Büro aufgetaucht, als er die traditionell durchs ganze Korps schwirrenden, homophoben Sprüche bereits mehr als satt hatte. Und offensichtlich vermittelte ich ihm glaubwürdig den Eindruck, dass ich selbst weder welche von mir geben noch welche dulden würde.

»Die vielen Schüsse deuten auf großen Hass hin«, spricht Michael aus, was ich mir ebenfalls schon gedacht habe. »Ein kühl kalkulierter Mord ohne emotionalen Hintergrund war's jedenfalls nicht.«

»Behalten wir das vorläufig für uns«, schlage ich vor.

»Unbedingt. Es kotzt mich jetzt schon an, wenn ich mir vorstelle, wie die Presse auf seiner Homosexualität herumreiten wird. Als ob das Schneiders einzige Eigenschaft gewesen wäre.«

»Kennst du seine Sendung?«

»Um Himmels willen!«, entsetzt er sich. »Ich habe Besseres zu tun, als am Abend in die Röhre zu gucken.«

»Ich nicht«, hätte ich beinahe gesagt, aber es wäre wohl übertrieben gewesen. Obwohl ich zugegebenermaßen schon häufig vor der Mattscheibe versumpfe. Schneiders Sendung allerdings sah ich höchstens zwei Mal.

»Leonie ist beim Zappen mal zufällig hineingeraten und dann dabei hängen geblieben«, schiebe ich meine Frau vor.

»Und? War's erhellend?«

»Ich glaube, ich bin eingeschlafen. Irgendein Quiz, bei dem's viel Geld zu gewinnen gibt. Coolrun heißt es.«

Michael bremst behutsam und lenkt den Wagen an den Straßenrand. Ob wir zufällig ein legales Parkfeld erwischt haben oder nicht, ist unter dem Neuschnee nicht zu erkennen und auch völlig egal, wir sind schließlich dienstlich unterwegs.

Die Scheuchzerstrasse ist eine ruhige Quartierstraße in dem ziemlich noblen Kreis 6. Nicht ganz so vornehm wie der von altem Geldadel und Sofasozialisten besetzte Zürichberg, aber dennoch eine der feineren Gegenden der Stadt. Zum einen bewohnt von selbstzufriedenen Layoutern, Werbern und Gemeinschaftspraxisärzten, die mit Frauen leben, welche gerade ihre dritte Ausbildung absolvieren; zum anderen von alleinerziehenden Computerfachfrauen und Grafikerinnen mit Mèche im Haar, adretten, verwöhnten Kindern, denen kaum Grenzen gesetzt werden, gut alimentierten Alten, wenigen Ausländern und vielen Haustieren.

Das Jugendstilhaus, in dem Schneider gewohnt hat, wirkt mit seinem weinroten Anstrich wie ein Fremdkörper in der Straße und scheint verlassen. Wir klingeln trotzdem.

Wütendes Hundegeheul brüllt uns entgegen. Irgendjemand bringt die Bestie zum Verstummen und meldet sich durch die Gegensprechanlage.

»Kriminalpolizei, Hauptmann Fred Staub«, erkläre ich. »Es geht um Herrn Schneider.«

Vorerst geschieht nichts. Doch plötzlich öffnet sich die massive Holztür ächzend einen Spaltbreit und ein lächelndes Milchgesicht mit einer knallblauen Brille strahlt uns entgegen. Es mustert uns neugierig, sagt dann unverhofft: »Hallo, Michael, was treibt dich denn hierher?«, und reißt die Tür auf.

»Hallo, Jean«, begrüßt Michael den kleinen Mann.

Jean trägt einen hellgrünen Jogginganzug von Adidas und dazu getigerte Finken. Die kläffende Bestie entpuppt sich als ziemlich kleiner schwarzer Pudel, der sich schüchtern hinter seinem Herrchen verkriecht.

»Schlechte Nachrichten, Jean«, übernimmt Michael die schreckliche Aufgabe, »sehr schlechte. Wir haben Yves Schneider gefunden. Erschossen.«

Jeans schmales Gesicht gefriert.

»Was sagst du da?«, stottert er.

»Dürfen wir reinkommen?«

Jean dreht sich kommentarlos um und steigt eine knarrende Holztreppe hinauf. Im ersten Stock bittet er uns fahrig in eine penibel aufgeräumte Wohnung voll antiken Mobiliars. Wenig später sitzen wir am Küchentisch. Jean hält sich die Hände vors Gesicht. Seine Schultern zucken. Er weint.

»Es tut uns leid«, sagt Michael.

»Entschuldigung, ich habe euch noch gar nichts angeboten.« Jean springt zu einem geräumigen Kühlschrank, der vom gleichen knalligen Blau ist wie seine Brille. »Was möchtet ihr trinken?«

»Danke, lass nur«, winkt Michael ab und fragt: »Warst du Schneiders Lebenspartner?«

Jean erstarrt und blickt ihn entgeistert an.

»Nein, nein«, beteuert er schließlich. »Wir wohnen zu viert im Haus. Yves und sein Freund Marc belegen das oberste Stockwerk. Ernie und ich leben im Parterre. Den ersten Stock hier teilen wir uns.« Er klammert sich krampfhaft am Kühlschrankgriff fest. Seine Handknöchel sind fast weiß und er schluchzt wieder.

Ich frage mich ein wenig, was ich hier soll. Michael kann mit diesen Jungs besser umgehen als ich, dessen bin ich mir sicher. Nicht dass ich derlei Zusammenbrüche nicht gewohnt wäre – es gehört schlichtweg zu unserem Job, Verwandten und Bekannten den Tod eines ihrer Lieben beizubringen. Aber dennoch ist mir das zutiefst verhasst. Ich bin ein Mensch und kein Todesbote und hatte nie auch nur den geringsten Ehrgeiz, jemanden unglücklich zu machen. Trotzdem habe ich es schon oft tun müssen und mich dünkt, dass es mir von Mal zu Mal schwerer fällt. Vielleicht weil mir immer bewusster wird, was ich mit meinen Worten auslöse. Und weil ich zunehmend stärker daran zweifle, dass wir die Verantwortlichen wirklich hinter Gitter bringen werden.

»Hast du Schneider heute aus dem Haus gehen sehen?«, erkundigt sich Michael bei Jean.

»Nein, nein, ich bin eben erst aufgestanden.«

Ich werfe einen Blick auf meine Speedmaster. Sie zeigt mir, dass es Viertel vor zwei ist.

Jean hat meinen Blick bemerkt und wendet sich entschuldigend an mich: »Ich bin erst gestern aus New York zurückgekommen. Wir hatten eine Performance im Modern, ich bin Videokünstler. Mein Gott, der arme Yves! Was um Himmels willen ist denn nur passiert? Wollt ihr wirklich nichts zu trinken? Ich brühe euch gern einen Tee auf.«

»Lass nur«, wiederholt sich Michael. »Ihr lebt in einer Art Schwulen-WG?«

Jean schluckt leer und ich bewundere Michael für diese Frage. Ich hätte sie mich nie so direkt zu stellen getraut.

»Wenn du's so ausdrücken willst. Wir haben das Haus vor zwei Jahren gekauft und fühlen uns hier pudelwohl. Himmel, was rede ich da?! Wer rechnet denn mit so was? Sag, weiß man denn schon, wer's gewesen ist?«

»Leider nein«, seufzt Michael.

»Wir haben nicht die leiseste Spur«, füge ich hinzu und das ist keineswegs übertrieben. Strichs Leute haben in der Umgebung des Tatorts außer unseren eigenen und den Fußabdrücken des Erschossenen lediglich komplett verwehte und somit unbrauchbare Reifenspuren und verschiedene Tierfährten gefunden, darunter relativ frische Hufspuren eines Pferdes. Der Kriminaltechnische Dienst ist aber immer noch dabei, die Umgebung umzupflügen bis zum letzten erfrorenen Grashalm unter der Schneedecke. Vielleicht findet sich ja doch noch etwas.

Wir werden den Saukerl kriegen, spreche ich mir Mut zu. Die Ermittlungen haben gerade erst begonnen. Wir werden nüchtern und zäh arbeiten, bis der Verantwortliche im Schlick zappelt. Motiv und Gelegenheit, das sind die wesentlichen Dinge; wir müssen nur herausfinden, wer zum Zeitpunkt der Tat beides hatte.

»Erzähl mir was über die anderen Bewohner«, fordert Michael den zitternden Jean auf.

»Yves' Freund Marc ist Designer. Mein Ernie leitet eine Werbeagentur. Gott im Himmel, wir müssen die beiden sofort informieren! Marc ist momentan allerdings in Mailand auf einer Messe.«

Mich kribbelt es in der Nase. Wehe, ich bekomme eine Erkältung! Im Unterschied zu meinen Untergebenen könnte ich mich nicht einfach ins Bett verkriechen, bis Armeen gutmütiger Blutkörperchen die Virenschwadronen in meinem Körper aufgerieben haben.

»Wann hast du Yves Schneider denn zum letzten Mal gesehen?«, forscht Michael weiter.

Jean reibt sich mit dem Zeigefinger das flaumige Kinn und überlegt: »Mmh. Ich glaube, das war am Tag, bevor ich nach New York flog. Ja genau, da gingen wir alle vier zusammen ins Restaurant Kreis 6 zum Diner.«

»Und heute Morgen hast du nichts von ihm gehört?«

»Nein, leider nicht. Herrgott, wäre ich doch früher aufgestanden, vielleicht hätte ich's verhindern können! Wo wurde er denn gefunden?«

»Im Wald«, erklärt ihm Michael. »Nahe der Vita-Parcours-Strecke am Chäferberg. Weißt du, ob er da öfter joggte?«

»Das könnte sein. Yves achtete sehr auf seine äußere Erscheinung.«

»Ist Ihnen irgendwas aufgefallen in den letzten Tagen? Ich meine, vor Ihrer Abreise. War Yves besorgt? Benahm er sich seltsam?«, bringe ich mich auch einmal mit ein paar Fragen ein.

»Im Kreis 6 waren wir in bester Stimmung«, versichert mir Jean. »Im Moment läuft es bei uns allen prächtig, sowohl beruflich als auch privat. Ich verstehe es einfach nicht! Wie kann jemand so was tun?«

»Haben Sie irgendeinen Verdacht?«

»Um Himmels willen, nein, nicht den geringsten!«, erwidert Jean hastig.

»Ihr Freund kennt Schneider ebenfalls gut?«

»Ja, klar kennt mein Ernie ihn. Wieso fragt ihr das?«

»Wo arbeitet er denn?«

»Agentur Punto Pronto. Im Seefeld, in der Höschgasse. Warum?«

»Wir möchten ihn ebenfalls persönlich informieren. Ich denke, das ist angebracht«, erklärt ihm Michael.

»Ja, natürlich«, sagt Jean unsicher. »Wenn du meinst.«

Sein Pudel beginnt sich augenscheinlich zu langweilen und schnuppert an meinen Schuhen herum. Sanft schubse ich ihn zur Seite und frage: »Hatte Yves Schneider ein Auto?«

Der kleine Jean beginnt beinahe wieder zu weinen. »Erst vorletzte Woche hat er sich einen neuen Lamborghini gekauft«, stößt er hervor.

»Wissen Sie, wo der Wagen jetzt ist?«

Jean stürzt zum Fenster, öffnet es und schaut hinab. »Hier ist er nicht. Sonst stünde er direkt vor dem Haus.« Seine Schultern beben.

Es wird Zeit zu gehen.

»Wir kommen ein anderes Mal wieder, Jean«, bemerkt das auch Michael und erhebt sich.

»Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um euch zu helfen«, verspricht Jean treuherzig und nimmt die Brille vom Gesicht, um sich mit dem Handrücken über die Augen zu wischen.

»Du kannst mich jederzeit anrufen, wenn dir irgendwas einfällt«, versichert Michael und Jean bedankt sich.

»Existiert irgendein Foto, auf dem Sie alle vier zu sehen sind?«, stelle ich ihm die letzte Frage für heute.

»Ja, natürlich. Ich bringe euch gleich eins. Herrgott noch mal, welch ein Albtraum. Ihr müsst das Schwein kriegen!«

Vor dem Haus von Schneiders WG baut eine Horde Kinder einen Schneemann. Ein kleines Mädchen in einem anthrazitfarbenen Skianzug stopft ihm gerade zwei rote Cherrytomaten ins bleiche Gesicht. Das Bild der Blutlache im Wald zuckt kurz in mir auf, verblasst aber sofort wieder. Zwei Knaben von etwa zehn Jahren wiegen kichernd Schneebälle in ihren Händen und scheinen sich zu überlegen, ob sie uns beschießen wollen. Aber sie getrauen sich dann doch nicht.