Staubzunge - Hanna Sukare - E-Book

Staubzunge E-Book

Hanna Sukare

4,9

Beschreibung

Wenn Matthias Röhricht von seinem Job in einem großen Konzern spricht oder zu jeder Dienstreise eine andere Assistentin mitnimmt, vermutet man nichts von seiner streng religiösen Erziehung. Als Erwachsener tut der Sohn eines evangelisch-freikirchlichen Pastors und einer Flüchtlingsfrau aus Polen so, als habe er mit seinen Eltern nichts zu tun. Das Dogma, die Gewalt und das Schweigen, die er als Kind erlebt hat, versucht er zu vergessen. Auch seine Schwester Adele lebte jahrelang distanziert von den Eltern. Sie nähert sich ihrer Mutter Jad erst wieder, als diese ihre Erinnerung verliert und nicht mehr weiß, dass Adele ihre Tochter ist. Der Tod der Mutter wird für die beiden zur Zäsur. Matthias zieht sich aus allen bisherigen Beziehungen zurück. Adele beginnt rastlos Orte aus Jads Vergangenheit zu suchen und verfällt einer Suchsucht nach der eigenen Zugehörigkeit. Neben einer Erzählerin berichten vier Frauen über Matthias Röhricht und seine Herkunftsfamilie: Röhrichts Frau, seine Schwester, eine Tante und eine Cousine. Sie weiten die Geschichte von Matthias und Adele zu einer Geschichte der Schmerzpunkte des 20. Jahrhunderts. Krieg, Rassismus, Flucht und Vertreibung melden sich in den Nachgeborenen in Form von Unruhe, seelische Erstarrung oder Phantomschmerz. Die Geschichte mit dichten, poetischen Bildern erzeugt einen Sog, dem man sich kaum entziehen kann.

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Hanna SukareStaubzunge

Hanna Sukare

Staubzunge

Roman

OTTO MÜLLER VERLAG

Alle Figuren dieser Erzählung sind frei erfunden.Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig.

www.omvs.at

ISBN 978-3-7013-1232-0

© 2015 OTTO MÜLLER VERLAG SALZBURG-WIENAlle Rechte vorbehaltenSatz: Media Design: Rizner.at

Druck und Bindung: Druckerei Theiss GmbH, A-9431 St. StefanUmschlaggestaltung: Ursula Meyer unter Verwendungeines Gemäldes von Hubert Dietrich:Stilleben mit grauer Schachtel 2006

für Anna, Jakob, Jonas, Julian und Katharina

INHALT

Matthias und Adele

Gitti

Adele

Magdalena

Adele

Frantzek

Adele

Gitti

Janina

MATTHIAS und ADELE

Am Morgen sinkt das Gebet des Vaters auf Kakao und Haferflocken, mittags schliert es in die Suppe, abends riecht es aus den Käsebroten. Lieber Vater im Himmel, beginnt der Vater auf Erden, wir danken dir für diese Gaben, fährt er fort, und wir bitten dich, segne sie. Amen. Das Amen sprechen auch die Mutter und die beiden Kinder. Sie sind erleichtert, wenn der irdische Vater zur Anrufung des himmlischen Vaters die kurze Version wählt. Oft folgen dem Gebet die Tageslosung der Herrnhuter Brüdergemeinde und eine neuerliche Anrufung. Komm Herr Jesus sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast, das sagen die Kinder. Sie blicken zur Tür, ob noch jemand kommt, der Herr Jesus im dunklen Anzug vielleicht, sie sind überzeugt, Jesus trägt einen dunklen Anzug, weshalb sollte der Vater ihn sonst Herr nennen. Der Vater wendet sich an den Vater im Himmel, manchmal spricht er mit dem Herrn Jesus Christus, manchmal mit einem Heiligen Geist. Alle drei scheinen sie Verwandte des Vaters zu sein und etwas mit dem zu tun zu haben, den er Gott nennt. Die Kinder beneiden diese Verwandtschaft. Der Vater ist mit ihr verbündet, dreimal täglich spricht er mit ihr, den Kindern schenkt er Schweigen, nennt sie nur selten mit ihren Namen, Matthias, Adele. Über seine irdische Verwandtschaft verliert er kein Wort, zeigt kein Bild. Wenn Jesus nicht kommt und die Eltern, sobald das erlösende Amen gesprochen ist, das Besteck zur Hand nehmen, dürfen auch die Kinder zugreifen.

Wer ist der Vater auf Erden, wer ist der Vater im Himmel? Täglich ist etwas von ihnen anwesend, doch die Kinder sehen beide unscharf, verschwommen. Beide Väter sind das Gesetz. Beide wachen über das Leben der Kinder.

Sonntags steht der Vater in Früdorf auf der Kanzel, er spricht, die Gemeinde lauscht. Wer bist du? Tadelloser, von den Frommen Geliebter, hoch Stehender. Bist du der Vater? Bist du mein Vater, fragt stumm ein Kind zur Kanzel hinauf. Amen, sagt die Mutter jeden Sonntag laut aus der Kirchenbank in die Augen des Vaters. So legt sie Zeugnis ab für die Sätze von oben und versieht sie mit einem Ausrufezeichen. Schließlich verlässt der Vater seine Bühne und schreitet durch den Mittelgang hinaus. Im Portal bleibt er stehen und erwartet die Brüder und Schwestern im Herrn. Für sie findet er Worte, er schüttelt Hände. Der Vater, die ewige Präsenz. Er hat die Welt schon als Vater betreten, als Diener des Herrn, ein Fels von Anbeginn. Ein Kind kann er nie gewesen sein; und seit je hieß er Fau.

Die Wohnung ist das Zuhause, und sie ist der Amtssitz des Vaters. Das geistliche Amt hat sich als Prunkwagen unter seinen Leib geschoben. Die Karosse führt ihn mit der Mutter auf die Anhöhe der Pfarrei, erhebt die beiden über die Dorfbewohner. Schmaler Sold kommt dem Vater zu und eine ehrenhafte Stellung im Dorf. Der Vater ist hier kein Fremder, die Mutter ist kein Flüchtling, und sie heißt Jad. Die Heimat der beiden ist das Reich Gottes. Niemand fragt den Amtsträger nach den Umständen seiner Geburt, nach seiner Herkunft, keiner will wissen, wer der unter dem Talar ist. Das Amt sichert dem Vater Würde, das Amt macht ihn unantastbar. Einer, zu dem wir aufschauen. Ein Besserer, von Beruf Vorbild. Er tut das Gute, zum Wohl des Nächsten.

Zur Einweihung der neuen Dorfschule spielt die Blasmusik, der Bürgermeister spricht, ein Mädchenchor singt, der Rektor hält eine Rede; nach ihm besteigt der Vater das efeubekränzte Podium und erbittet Gottes Segen.

Das Pfarrhaus ist eine Insel. Drei Meere trennen die Insel vom Dorf: die Hochsprache, der rechte Glaube, die fremde Herkunft. Jeden Sonntag kommen die Dorfbewohner die Anhöhe zur Kirche herauf. Ihren Dialekt verstecken sie unter den Sonntagskleidern. Drei Meere trennen die Kinder von Spielgefährten im Dorf. Die Dorfkinder hören, diese Kinder sprechen nicht wie sie, das sind die Pastorskinder, glauben wohl, sie sind was Besseres, und die Dorfkinder wissen, die sind neu im Dorf, fremde Körper. Der Bub und das Mädchen finden sich hinein in das Inselleben, erlernen den Dialekt, aber sie gehören nicht dazu. Gehören nicht zu den Hügeln, die Früdorf umgeben, sie kommen ja aus Österreich, das ist Ausland; im Sommer tragen sie Lederhose und Dirndl. Herr und Frau Pastor mögen von weit her kommen und das Amt erhebt sie über das Dorf, als Fremde gelten sie hier nicht.

Erna stellt ihren Karren vor der Kirchentür ab und zieht den großen Schlüssel aus der Schürze. Die Kinder zupfen an Ernas Rock. Erna hebt die Kleine auf den Arm und tätschelt ihr den Hintern. Erna nimmt Putzfetzen, Kübel und Besen aus dem Karren und schließt die Tür der freikirchlichen Gemeinde auf. Die Tür steht kaum halb offen, die Kinder drängen sich unter Ernas Arm hinein und rennen im Wettlauf zum Altar. Wer zuerst dort ist, darf Pastor sein. Meistens gewinnt der Bub, er steigt auf den Sessel hinter der Kanzel, beruft seine Schwester zur Organistin, der Gottesdienst beginnt mit dem Vorspiel auf dem Harmonium. Die Organistin tut, als drücke sie die Tasten, der Vater hat das Harmoniumspielen verboten. Sonst dürften sie nie wieder mit Erna in die Kirche. Während des Präludiums senkt der Bub den Kopf, ruckt ein wenig an dem Gesangbuch, das vor ihm liegt, und gibt der Organistin schließlich mit einem Kopfnicken zu verstehen, das Vorspiel sei zu beenden. Sie setzt sich in eine Bank. Er erfindet und zelebriert den Eingangssegen, ein Evangelium des Tages und befiehlt das erste Gemeindelied: Großer Gott wir loben dich. Dann begrüßt er Gäste aus anderen Gemeinden. Erna spricht Grußworte. Der Bub spricht ein Gebet, dann predigt er. Seine Schwester hüpft zu Erna, hilft ihr wischen und bekommt ein Gutsle. Hat Erna Bonbons in der Schürze, kürzt der Bub die Predigt, lässt wieder singen und rennt während des Liedes zu Erna um ein Gutsle. Zurück auf dem Sessel hinter der Kanzel verliest er Bekanntmachungen von einem leeren Blatt, lässt singen, breitet die Arme aus und spricht den Ausgangssegen, das Zeichen für die Organistin, zum Harmonium zu laufen. Die Mutter kommt aus der Wohnung, die über dem Kirchensaal liegt, tritt auf die Empore und ruft die Kinder zum Essen. Hände waschen und kämmen vorher! Getuschel der Kinder im Dialekt der Nachbarskinder, den die Eltern nicht verstehen, die Geheimsprache ist im Haus verpönt. Der Vater geht an der offenen Badezimmertür vorbei. Deutsch reden! Bei Tisch haben Kinder zu schweigen. Sapperlott! Vater und Mutter wechseln kaum ein Wort. Die Kinder stochern in der Senfsauce, hart gekochte Eier sind drin.

Die Kinder sind in Österreich geboren, wie ihr Vater, angeblich. In den Sommerferien fahren die Eltern mit den Kindern nach Österreich. Sie wohnen in einem schwarzen Holzhaus, Hirschgeweihe hängen über den Türstöcken. Das Haus gehört Freikirchlern, im Erdgeschoss ist ein Versammlungsraum für Bibelrunden. Eine steile Außenstiege führt an der Rückseite des Hauses zum Schlafraum der Kinder. Sauer und staubig ist die Luft drin, schwitzig an Sommernachmittagen. Unter den schrägen Wänden stellen sich die Kinder schlafend. Sie liegen unter Patchwork, gespendet von nordamerikanischen Schwestergemeinden. Die Bänder am Saum der Decken knüpft die Mutter an die Metallstäbe der Betten und löst sie erst, wenn sie die Schlafzeit für beendet erklärt. Der Vater sitzt im Garten hinter großblättrigen Zeitungen und beugt sich über schwere Bücher. Die Kinder blinzeln in die Nachmittagssonne und fragen sich, ob diese Person dieselbe ist, die sich den lieben Herrn Jesus als Anwalt gegen ihre Nähe nimmt. Sie erkennen den Fremden nicht recht.

Leute kommen zu Besuch, geistliche Brüder und Schwestern der Eltern, von den Kindern Onkel und Tante genannt. Die irdische Verwandtschaft des Vaters zeigt sich auch in Österreich nicht. Der Vater hat wohl weder Vater noch Mutter, nur einen Vater im Himmel hat er. Hinter dem Garten beginnt der Wald, unter den Fichten bauen die Kinder Zwergenhäuser aus Rinden, Zweigen und Moos.

Nach den Ferien dürfen die Kinder in Früdorf den Weg zum Kindergarten allein gehen. Zum ersten Mal weitet sich der Radius, in den sie gebunden sind. Sie gehen von der Anhöhe der Pfarrei zur Straße hinunter, vorbei an den Fachwerkhäusern. Vor Ernas Haus bleiben sie stehen, ist ein Fenster offen, rufen sie nach ihr, sie schaut heraus und winkt den Kindern zu. Ein paar Schritte weiter biegen sie in die Turmstraße ein, da sind Gemüsebeete vor den Häusern, die Frühbeete mit alten Fenstern abgedeckt, bei warmem Wetter sind diese Beetfenster geöffnet und mit Holzscheiten in der Öffnung gehalten. Auf dem Weg kommt den Kindern ein Alter entgegen. Dicht tritt er an sie heran, Speichel glänzt auf seinem Kragen, die Jacke ist verknöpft, aus seinem Schuh schaut ein Zeh. Den Kindern fistelt er das eine Lied: Der Mai ist gekohommen, die Bäume schlahagen aus. Der Alte dirigiert sich und blinzelt. Da ist eine Hand, ein Atem. Der Alte trippelt weiter, wenn er das Ständchen beendet hat. Der Vater atmet nie.

Die Kinder erreichen den Kirchturm, auf dem die Störche das Nest haben. Dem Turm gegenüber steht der Kindergarten, die Kinder gehen gerne hin, bis eine neue Kindergärtnerin kommt und andere Regeln einführt. Alle Kinder sitzen im Kreis. Die Kindergärtnerin zeigt die Haltung fürs Schweigenlernen: Hände falten, beide Zeigefinger gestreckt aneinanderlegen, die gefalteten Hände zum Mund führen und die Zeigefinger an die Lippen stellen. Wer sich vom Zwinkern eines Gegenübers zum Lachen verleiten lässt, muss raus aus dem Kreis und in die Ecke. Das Schweigen im Kreis dauert jeden Tag länger, nicht einmal die Freude über den unbegleiteten Weg hält Matthias und Adele noch im Kindergarten. Sie sagen der Mutter, sie werden nicht mehr hingehen, und die Kinder staunen, denn die Mutter schreit sie nicht an und straft sie nicht; fordert nur völlige Ruhe in der Nähe des Schreibzimmers, im Schreibzimmer meditiert der Vater.

An einem Tag der Woche trägt die Mutter die schmutzige Wäsche in Körben aus der Wohnung in die Waschküche. Die Mutter heizt den Waschkessel ein und sortiert Weißwäsche, Buntwäsche, Wolle. Die Weißwäsche kommt in den Kessel. Beginnt das Wasser zu kochen, bläht sich die Wäsche. Die Mutter stößt sie mit dem Waschholz zurück in die Lauge, die Fenster der Waschküche beschlagen, die Mutter rührt die Wäsche um, hebt pustend – wieder mit dem Waschholz – brühheiße Stücke heraus, bearbeitet fleckige Stellen auf der Waschrumpel, gibt die Stücke noch einmal in den Kessel, hebt sie in eine Wanne zum Schwemmen, dann das Auswringen. Zum Trocknen trägt die Mutter die Wäsche im Winter auf den Dachboden, in der warmen Jahreszeit zur Leine in den Garten. An den Waschtagen muss der Vater das Telefon selbst abheben und seine Predigtmeditation unterbrechen, wenn jemand um einen Rat kommt; am Abend des Waschtages ist das Gesicht der Mutter grau.

Für ein paar Wochen übersiedeln die Kinder zu Erna, die Mutter liegt im Spital. Samstags am späten Nachmittag führt Erna die Kinder über den Hof in die geheizte Waschküche, wo der Zuber steht, ein hoher Holzbottich, aus dem das Wasser dampft. Erna hebt das Mädchen über den Zuber, die Zehen prüfen die Wassertemperatur, ist das Wasser zu heiß, stellt Erna das Mädchen auf den Boden, gießt kaltes Wasser nach und beide Kinder dürfen hinein. Erna seift die Kinder ein, sie plantschen, bis Erna sie heraushebt und abtrocknet; in Bademänteln und Holzpantoffeln schlurfen die Kinder zurück ins Haus. In der Küche sitzen sie auf der Eckbank, bekommen heißen Kakao und tunken Milchbrot hinein, zuhause wird das Brot nicht in den Kakao getunkt, und zuhause steht eine Badewanne.

Die Bademäntel der Kinder hat die Mutter genäht, bunt karierter Frottee. Nur Unterwäsche und Strumpfhosen kauft die Mutter für die Kinder, die übrigen Kleidungsstücke macht sie selbst. Sie wählt für ihre Kleider und die des Mädchens die gleichen Stoffe und Schnitte, als sollte das Mädchen die Mutter verdoppeln. Die Wintermäntel der Familie näht sie aus grauschwarzem Wollstoff, groß und klein im selben Schnitt.

In der Dorfschule wird der Rektor ein Lehrer der Kinder. Der Rektor hat ein Stöckchen aus Holz, das saust über fippernde Hände. Das Stöckchen fegt die Untat aus dem Gedächtnis der Kinder, verstockt sie und saust wieder. Ja, sagen endlich die Kinder, wir werden brav sein.

Der Rektor schreibt dem Mädchen ins Zeugnis: Sie ist immer bereit, den Schwachen zu helfen. Mit den Schwachen meint der Rektor Antonio, der begleitet das Mädchen nach der Schule bis zur Hauptstraße. Wenn sie zu zweit sind, fällt Brunos Bande nicht über sie her. Bruno ist Schüler der Dritten und hat eine kleine Schar Getreuer um sich gesammelt; wer keine Münzen für Schutzgelder hat, bezieht Prügel. Antonio kommt aus dem Süden. Sein Vater gießt aus Holzkübeln Asphalt auf die Dorfstraßen, streicht die dampfende Masse glatt und wischt sich mit dem Handrücken den Schweiß aus der Stirn. Antonio mag das Deutsch ungern, egal, ob es ihm in der Hochsprache oder als Dialekt entgegentritt. Er hat dunkle Augen. Das Haus seiner Eltern stehe am Meer, behauptet er, seine Großmutter und die andere Großmutter lebten dort, sein Großvater und der andere Großvater hätten ihn jeden Tag zum Fischen mit hinausgenommen. Es gibt nur eine Großmutter, erwidert das Mädchen.

In den Pausen tauschen die beiden Kinder ihre Vesperbrote. Das Mädchen kränkelt, wenn Antonio einen Schultag versäumt. Manchmal erledigt sie eine Hausaufgabe für ihn. Sie nennen sich Blutsgeschwister, seit Antonio das Mädchen beim Indianerspielen zu seiner Squaw erkoren, beider Fingerspitzen genadelt und die Tropfen vermischt hat. Das gilt nicht, nur Buben können Blutsbrüder sein, sagt der leibliche Bruder des Mädchens. Sie beharrt, Antonio und ich sind Blutsgeschwister.

Wäre Antonio evangelisch, begleitete er seine Squaw auch in die Sonntagsschule, wo sie Negerhüttchen bastelt. Wie stolz du sein kannst auf deine guten Eltern, sagt die Sonntagsschultante. Das Mädchen bekommt eine leere Konservendose, dazu einen Pappendeckel, schneidet Kreise und schlitzt sie ein. Das Dach. Dach und Dose beklebt sie mit Baststreifen. Ein Dachschlitz bleibt offen, dahinein werfen die Kirchenbesucher nach dem Gottesdienst Münzen. Das Geld kommt Missionaren zugute, die den Negerkindern die Frohe Botschaft bringen. Die Sonntagsschüler schwingen die scheppernden Negergeldhütten, quetschen sich an den Kostümen und schwarzen Anzügen der Kirchgänger vorbei und mischen sich vor der Kirchentür ins geistliche Gerede. Das Mädchen liebt dieses Gewimmel. Wenn alle verschwunden sind, der Platz vor der Kirche leer liegt, bleibt sie neben der Eibe an der Stiege stehen, die hinunter ins Dorf führt. Sie winkt den Letzten nach, die unten nach Hause gehen. Sie schauen nicht zurück. Das Buch über Gulliver kommt ihr in den Sinn. Es liegt neben ihrem Bett. Eine Zeichnung zeigt den Riesen auf dem Rücken liegend, gefesselt von unsichtbaren Stricken.

An den Sonntagnachmittagen besucht der Vater die Filialen der Freikirche, seine Frau und die Kinder begleiten ihn. Die Filialen liegen in behäbigen Dörfern, dort leben Bauern zwischen Weinbergen und Pfirsichplantagen. Angestellte, die in der Stadt arbeiten und dort nicht leben wollen, wohnen auch in diesen Dörfern. Pietistisches eint die Bewohner, viele sind begierig nach der Frohen Botschaft aus dem Mund des Vaters. Der Bub und das Mädchen verbringen die Stunden bis zur Rückkehr der Eltern im Haus eines frommen Architekten mit Flipper, Bonanza, Daktari – Stunden in der richtigen Welt.

Fällt der Filialgottesdienst aus, kommt sonntags Besuch ins Haus und Damast auf den Tisch. Zwiebelmuster wird aufgedeckt und das gute Besteck. Ältere Damen stehen im Korridor, betrachten die hübsch geflochtene hellbraune Reitgerte an der Wand. Ein Erinnerungsstück meiner Gattin, sie war Reiterin, sagt der Vater und bittet die Damen zu Tisch. Ein Fussel auf dem Jäckchen, die Nachbarin, Schwester im Herrn, zupfts weg. Wie dankbar ich bin, sagt die eine, wie wunderbar Sie uns das Wort Gottes wieder ausgelegt haben, Herr Pastor, bemerkt die andere. Er schenkt Saft ein. Aus der Küche kommt der Salat. Hände gewaschen? fragt die Mutter Richtung Kinder. Der Bub windet sich aus ihrem Griff, presst die Finger an die Hosennaht, dienert, gibt den Gästen die Hand und setzt sich neben seine Schwester. Während der Vater noch betet, schweift ein Blick der Mutter über die Tafel, verweilt kurz bei den Kindern, als ob der Blick sagte: Mit mir ist gut Kirschen essen, aber nur süße, und schon sind die Mutteraugen wieder geschlossen. Nach dem Amen sagt die Mutter, greifen Sie zu, es darf nachgesalzen werden. Die Kinder halten die Rücken gerade, die Linken flach auf dem Damast, bitte und danke, sonst sprechen sie kein Wort. Diese Kinder, wie gut erzogen, loben die Damen. Ja, nickt der Vater, ich war bei den Lehrern, die Kinder sind bildungsfähig. Die Mutter spricht mit den Damen über die Freude im Herrn und seufzt. Übers Frohsein, von der Frohen Botschaft spricht die Mutter oft, sonntags singt sie vom Frohlocken, von ewiger Freude. Freuet euch, das ist ein Befehl, und das Mädchen hätte gern so eine Mutter wie Antonio, die nimmt ihn bloß in die Arme und lacht.

Wenn die Kinder Milch holen, gehen sie gemeinsam, eine Kanne für jeden, jede wird zur Hälfte gefüllt. Auf dem Rückweg bleiben sie hinter dem Haus der Eltern stehen, meiden den Platz unter dem Küchenfenster. Die Kannendeckel leise auf den Boden legen und die Wirbelsäule gerade richten. Den rechten Arm lang strecken, den Henkel fest halten. Knie lockern und vorsichtig den Kannenschwung einpendeln, einpendeln, antauchen und hinauf, in den Zenit fliegt die Kanne; im Abwärts sofort wieder antauchen und hochschleudern. Der richtige Schwung ist da, der Rhythmus erreicht, den jetzt halten, halten und zuteil wird Glück: Das weit aufgerissene Milchmaul starrt zur Erde. Das Weiße hängt einen Augenblick am Himmel, die Welt steht Kopf, so muss Fliegen sein. Und dann: Genau im richtigen Moment mit dem Beugen des Arms das Schleudern einfangen, die Schleudermilch aus dem Himmel holen, in die Ruhe pendeln. Schweiß prickelt auf der Stirn der Piloten.

Milchschleudern ist bei Strafe verboten; fehlt in der Küche dem halben Liter kein Tropfen, lässt sich das Schleuderglück guten Gewissens bestreiten. Wer den Schein von Artigkeit aufrechterhält, der bekommt Gutsle, das wissen die Kinder aus der Sonntagsschule.

In der Wohnung über der Kirche in Früdorf lebt auch Magdalena, die Großmutter. Das Mädchen hört sie mit der Mutter in der fremden Sprache reden. Die Mutter unterhält sich mit der Großmutter, als sei das Mädchen nicht im Zimmer. Sie wechseln die Sprache erst, wenn der Vater den Raum betritt. Der Vater mag das Polnische nicht im Haus, er spricht Hochdeutsch. Seine Kinder sollen sich die fremde Muttersprache nicht zu eigen machen. Der Vater ist Mundwerker, zuhause spart er Worte, doch kein Satz seiner Kinder darf ihm entgehen. Deutsch reden! Wie spricht schon der Apostel Paulus: Wenn ich aber die Bedeutung einer Sprache nicht kenne, so werde ich für den in ihr Redenden ein Fremdling sein, und der in ihr Redende bleibt für mich ein Fremdling.

Das Haar der Großmutter duftet. Sie steht später auf als die Eltern und frühstückt allein. Sie hat ihr eigenes Kaffeegeschirr mit zarten Blumen. Die Großmutter spült das bauchige Kännchen mit heißem Wasser aus, bevor sie den Filter aufsetzt. Du musst den Kaffee langsam benetzen, sagt sie, und das dampfende Wasser gleitet in das dunkle Mehl, langsam, sagt sie, dann entfaltet sich das Aroma am besten. Aah, riechst du das? Mit wenigen schwarzen Tropfen verwandelt die Großmutter dann die heiße Milch im Becher des Mädchens. Während sich die Großmutter am Herd zu schaffen macht, summt sie eine Melodie, zu der sie manchmal Worte singt: Plaisir d‘amour ne dure pas un moment, chagrin d‘amour dure toute la vie. Das Mädchen bittet die Großmutter nie um eine Geschichte aus Polen. Wieder und wieder fragt sie: Wie alt bist du? Die Großmutter ist 1900 geboren und das Mädchen liebt ihre stets gleiche Antwort: Ich bin so alt wie die Welt. Welch ein Anfang! Der Planet und der Herzstern des Mädchens zugleich aus dem Ei geschlüpft! Erzähl mir das Märchen vom Fürchten, sagt das Mädchen. Es war einmal, beginnt die Großmutter und verstummt, wenn die Mutter zum Frühstückstisch tritt. Sei ein liebes Mädchen, sagt die Großmutter und streicht durch den Schopf, der sich an ihr Knie drückt. Putz dir die Nase, sagt sie und schiebt dem Mädchen ihr Taschentuch hin. Es ist alles in Ordnung, sagt die Großmutter.

Die Neugier der Kinder nimmt eine Richtung: Ist da ein Vatergeheimnis? Ein Muttergeheimnis? Birgt jedes Wort ein Geheimnis, auf das eine Frage stoßen könnte? Jede Frage kann die falsche sein. Manche Fragen beantwortet die Mutter: seid still. Andere Fragen beantwortet die Mutter nicht, sie schlägt den Kindern bloß auf den Mund. Über etwas darf man nicht sprechen. Nach etwas darf man nicht fragen. Etwas soll niemand erfahren. Was ist das Etwas? Beim Verschweigen schaut man einander nicht an.

Der Bub beginnt, seine Fragen zu fürchten. Er tapert, verzögert jedes Wort. Nur Schweigen ist sicher. Schweigen ist Geborgenheit. Schweigen ist Zuhausesein. Stellt man ihm eine Frage, röten sich seine Wangen, er stockt. Der Bub wird ein Stammler.

Die Eltern sind sich einig. Disziplin soll die zweite Haut der Kinder werden. Die wächst ihnen durch Gehorsam. Keine Widerrede! Die Mutter überwacht die Schritte der Kinder, Fehltritte berichtet die Mutter dem Vater. Eine undurchdringliche Front.

An manchen Tagen bricht der Vater sein Schweigen. Er lässt die Kinder in sein Schreibzimmer kommen. Dort sitzt er hinter einem schweren Tisch. In den Regalen hocken die himmlischen Bücher. Der Vater spricht. Halte dich gerade! Über den Tisch flattert bald die Forderung nach Geständnis. Dann folgen die Gebote, ein Sapperlott, die Verbote. Zum Schluss verkündet der Vater Art und Ausmaß der Strafe. Mein Kind, verschmähe nicht die Zucht des Herrn. Sei nicht unwillig über seine Strafen. Wen der Herr liebt, den züchtigt er.

Die Mutter spricht. Die Mutter spricht nicht. Tagelang richtet sie weder einen Gruß noch einen Satz an ihre Kinder. Die Mutter ordnet Strafen an, die der Vater abends vollzieht. Ist die Stunde der Strafen gekommen, tritt er aus seinem Schreibzimmer, nimmt im Korridor die Reitgerte von der Wand und erwartet ein Kind im Badezimmer. Das Licht ist milchig. Rücken und Hintern des Kindes sind entblößt. Auf einem Hocker steht die rote Plastikschüssel, die Mutter benutzt sie für nasse Wäsche. Die Schüssel ist mit Wasser gefüllt. Leistet das Kind nach der Reitgertenpredigt nicht glaubwürdig Abbitte, geht sein Kopf in die Schüssel. Das Kind verschweigt, was es sieht, wenn der Kopf wieder auftaucht.

An dem Tag, als die Eltern dem Buben den ersten Anzug kaufen, entspannt die Freude seine Zunge. Stolz schwingt er sich aufs Fahrrad und dreht eine Runde durchs Dorf. Eine Kurve nimmt er zu schnell und stürzt, mit blutendem Knie und zerrissener Anzughose kommt er nach Hause. Die Mutter schüttelt ihn, schreit, greift selbst zur Gerte. Die geflickte Hose wird er tragen, bis er aus ihr herausgewachsen ist.

An einem Abend der Woche gehen die Eltern zur Bibelrunde. Die Kinder öffnen dann das Gaupenfenster ihres Zimmers. Sie schauen in viel Grün, dahinter liegt der Bauernhof, dort holen sie Milch und lernen die Geheimsprache. Frühsommerabende müssen das sein, die Kinder brauchen jetzt Tageslicht für ihr Spielen. Sie recken sich weit aus dem Fenster, drehen die Zungen schneller in den geschlossenen Mündern, spitzen die Lippen und schleudern Spucke über die Dachziegel. Wessen Spucke weiter fliegt, der ist Sieger. Die Kinder streiten und überhören die Schritte der Eltern. Die Mutter reißt die Kinder vom Fenster weg. Ohrfeigen treffen Gewinner wie Verlierer. Die Eltern erklären wenig, verlangen Unterwerfung unter ihren Heilsplan. Das Mädchen liebt spitze Gegenstände, spitzt sie in seine Arme und Beine, betrachtet, wie rote Tropfen sich langsam aus dem Fleisch sondern und denkt an den Herrn Jesus Christus am Kreuz, wie er dort leidet, ohne Anzug.

Der Vater lässt die Familie fotografieren, Einzelporträts und ein Gruppenfoto: Jad und Fau Röhricht mit ihren Kindern Matthias und Adele, die einander Matti und Deli nennen. Für das Fotografieren hat der Friseur die Haare der Mutter dauergewellt. An das Sonntagskleid hat sie eine Brosche gesteckt. Der Vater trägt Anzug, weißes Hemd und Krawatte. Wie immer. Die Kinder sitzen in den Sonntagskleidern zwischen Vater und Mutter vor dem Fotografen. Vier Lächeln mit geschlossenen Mündern. Der Fotograf ist Ungar, er gehört zur Kirche des Vaters und lädt die Familie zum Spanferkelessen in seinen Garten ein. Das Spanferkel steckt längswärts auf einer Metallstange. Der Fotograf lacht und gießt Bier über die brutzelnde Ferkelhaut, das Fett tropft. Ein Spitz umkreist bellend das zischende Ferkel.