Stein und Schatten - Burhan Sönmez - E-Book

Stein und Schatten E-Book

Burhan Sönmez

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Beschreibung

Der neue Roman des türkischen Bestsellerautors

In der Stadt Mardin, nahe der türkischen Grenze zu Syrien, nimmt ein alter Grabsteinmacher den verwaisten Avdo als Lehrling auf. Von ihm lernt er die Kunst, die vom Gedenken an die Verstorbenen lebt. Als Geselle reist Avdo durch das gerade erst zur Republik gewordene Land und begegnet einer jungen Frau, in die er sich von ganzem Herzen verliebt, nur um sie kurz darauf durch ein tragisches Verbrechen zu verlieren. Einsam zieht er sich in seine Friedhofswerkstatt zurück, doch auch dort entkommt er nicht dem Leben mit all seinen Sorgen und Freuden, mit seinen Schicksalsschlägen und Geschenken.

Bestsellerautor Burhan Sönmez fügt in »Stein und Schatten« nicht nur Fragmente aus der türkischen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts, sondern auch aus dem Osmanischen Reich, dem weiteren Nahen Osten und Europa zu einem facettenreichen Bild der modernen türkischen Gesellschaft zusammen.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Buch

In der Stadt Mardin, nahe der türkischen Grenze zu Syrien, nimmt ein alter Grabsteinmacher den verwaisten Avdo als Lehrling auf. Von ihm lernt er die Kunst, die vom Gedenken an die Verstorbenen lebt. Als Geselle reist Avdo durch das gerade erst zur Republik gewordene Land und begegnet einer jungen Frau, in die er sich von ganzem Herzen verliebt, nur um sie kurz darauf durch ein tragisches Verbrechen zu verlieren. Einsam zieht er sich in seine Friedhofswerkstatt zurück, doch auch dort lenkt ihn das Leben mit all seinen Sorgen und Freuden, mit seinen Schicksalsschlägen und Geschenken in eine unerwartete Richtung.

Autor

Burhan Sönmez wurde 1965 in Zentralanatolien geboren und wuchs sowohl mit der kurdischen als auch der türkischen Sprache auf. Er studierte Jura in Istanbul. Sönmez war Mitglied des türkischen Menschenrechtsvereins IHD und Gründungsmitglied der demokratischen Stiftung TAKSAV. Bei einem Übergriff durch die Polizei wurde er 1996 in der Türkei schwer verletzt und anschließend mit Unterstützung der Freedom-from-Torture-Stiftung in England medizinisch versorgt. Er unterrichtet an der Middle East Technical University in Ankara, schreibt für verschiedene unabhängige Medien. Er ist aktives Mitglied des kurdischen, türkischen und englischen PEN, und ist seit 2021 Vorsitzender des PEN International. Burhan Sönmez lebt mit seiner Familie in Istanbul und Cambridge. Seine preisgekrönten Romane erscheinen inzwischen in über zwanzig Ländern.

BURHAN SÖNMEZ

STEIN UND SCHATTEN

Roman

Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe

Die türkische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »Taş ve Gölge« bei İletişim Yayınları, Istanbul.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.Dies ist eine Fiktion. Alle Verweise auf reale Begebenheiten, Institutionen, Orte oder Personen dienen lediglich dazu, ein fiktives Universum zu erschaffen.

Deutsche Erstausgabe September 2025

btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Copyright © Burhan Sönmez, 2021

© Kalem Agency

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2025

btb Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR.)

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Umschlagmotiv: © Shutterstock/GTW

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

JT · Herstellung: KH

ISBN 978-3-641-28970-6V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/penguinbuecher

»Unter all den Dingen, deren Kenntnis dem Menschen verborgen blieb,

ist nichts unbegreiflicher als des Menschen Herz.«

Homer

»Der Tod ist ein Mysterium und muss es ewig bleiben.«

Gilgamesch-Epos

MERKEZ-EFENDI-FRIEDHOFISTANBUL, 1984

Avdo grübelte, wie er den Grabstein des Toten gestalten sollte, der sieben Namen trug und heute beerdigt worden war. Er nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette und trank Tee in kleinen Schlucken. Die Finger mit der Zigarette streckte er aus, als spräche er mit jemandem, und sagte sich, der Grabstein dieses Mannes muss schwarz sein, und genau in der Mitte soll er ein rundes Loch haben. Schaut man von der einen Seite hindurch, soll man auf der anderen das Nichts sehen. Das Nichts muss wachsen, muss tiefer werden, je länger man hinschaut. Der Tote war einst Soldat gewesen. Als man ihn beim Militäreinsatz in Dersim verwundet und bewusstlos am Ufer des Euphrat fand, hatte er das Gedächtnis verloren. Die Soldaten, die ihn fanden, erklärten, er heiße Haydar, sei beim Angriff der Banden der kurdischen Zaza verwundet worden und müsse wieder in seine Einheit aufgenommen werden. Unverzüglich kehrte Haydar ins Glied zurück, und machte beim Marsch in der Hitze, auf dem die aus ihren Dörfern geholten Zaza barfüßig deportiert wurden, ausgiebig Gebrauch von der Peitsche. Verspürte er auch hin und wieder Schwindel und fühlte sich wie ins Nichts gestürzt, zweifelte er weder an sich noch an dem, was er tat. Als die Einheit das Hauptquartier in Dersim erreichte, die Hälfte der Deportierten waren als Leichen auf der Strecke geblieben, erkannte ihn ein blinder alter Mann unter den Gefangenen an seiner Stimme. Was ist nur aus dir geworden, fragte der Alte und berichtete von Haydars Vergangenheit. Sie stammten aus demselben Dorf. Sein Name lautete gar nicht Haydar, sondern Ali. Im Zuge der Deportation sei er auf der Flucht vor den Soldaten niedergeschossen worden und am Ufer des Euphrat liegengeblieben. Als die Soldaten, die ihn fanden, feststellten, dass er das Gedächtnis verloren hatte, hätten sie ihm eine neue Vergangenheit und Zukunft verpasst und behauptet, er sei Soldat. Als der Soldat von dieser anderen Identität erfuhr, desertierte er von seiner Einheit und floh gen Süden ins mesopotamische Tiefland. Mesopotamien lehrte ihn, dass er keine wahre Identität hatte. Du bist weder Haydar noch Ali, denn du entsinnst dich weder der Kindheit des einen noch des anderen. Wer sich aber nicht an seine Kindheit erinnert, kann sich selbst nicht kennen. Wem willst du glauben, dem blinden Alten oder den Soldaten? So zog er weiter, wanderte bis an sein Lebensende umher. Er beobachtete die Sterne, stellte sich Gott anheim, las in der Hoffnung auf einen Ausweg jedes Buch, das ihm unterkam. Vierzig Jahre lang war er durch Jerusalem, Kairo, Kreta, Athen, Rom und Istanbul gestreift und hatte sich an jedem Ort einen neuen Glauben und einen neuen Namen zugelegt. Als man ihn an diesem Tag zu Grabe trug, lagen ein verblichenes Halstuch und ein Zettel mit sieben Namen darauf auf seinem Sarg: Ali, Haydar, Isa, Musa, Muhammet, Yunus, Adem. Die letzte Woche hatte er im Bett verbracht. Dem Nachbarn, der ihn in seinem Zimmer voller Bücher und Wein besuchte, hinterließ er eine Tasche und einen Brief, die dem Grabsteinmetz Meister Avdo übergeben werden sollten.

Als sich des Nachts der Friedhof leerte, es ringsum still wurde und Nebel sich auf das diesseitige Ufer Istanbuls legte, öffnete Avdo den Umschlag:

»Avdo. In deine Obhut gebe ich meinen Grabstein. Etliche Religionen nahm ich an, ebenso dutzende Namen. Am Ende blieb mir kein einziger Glaube. Trotz all der Namen blieb mir auch von ihnen keiner. Dich lernte ich kennen, als du ein kleiner Junge warst und mit deiner wohlklingenden Stimme sangst. Dein Name ist mir in Erinnerung, Avdo, doch wie ich damals hieß, weiß ich nicht mehr. Vielleicht erinnerst du dich daran. Durch Zufall erfuhr ich letztes Jahr, dass du hier auf diesem Friedhof lebst. Mir kam zu Ohren, was dir widerfahren war. Ich suchte dich nicht auf, um dich herum gab es ja bereits genug Tote. Es hieß, du fertigst für jeden den Grabstein, der zu seiner Seele passt. Gestalte auch einen für mich. Folgendes soll mein Grabstein dem Universum sagen: Das einzig Schlechte an Gott ist, dass es ihn nicht gibt. In diesem Sinn sollst du meinen Grabstein anfertigen. In den Umschlag stecke ich Geld für deine Auslagen und für die Lieder, die du als Kind gesungen hast. Und in meiner Tasche sind ein paar Dinge, die dir womöglich nützlich sind.«

Avdo seufzte, las den Brief ein zweites Mal, legte ihn dann auf den Umschlag. Er musterte den Nebel, der über die Gräber waberte, und fragte sich, welche Stimmen in dieser Nacht von dort kommen würden. In nebligen Nächten vernahm er mitunter Stimmen aus seiner Kindheit, manchmal aber auch das Seufzen der Toten. Als er den Brief las, war ihm, als beobachtete ihn seine barfüßige Kindheit aus dem Nebel heraus. Nur wenige Schritte entfernt stand sie da wie die geduldigen Zypressen. Sie bewegte sich sacht, machte Schritte, wo sie hintrat, knisterten die dürren Reiser. Bei jedem Knistern wurden Stimmen aus seiner Kindheit lebendig. Stimmen, die lachten, sangen, riefen, faserten durcheinander und schwebten, ungeachtet der Seufzer der Toten, fröhlich über den Friedhof. Frohen Herzens spürte Avdo, wie die Stimmen näher kamen. Er lehnte sich zurück und lauschte der Nacht. Er entsann sich seiner Kindheit, wusste also, wer er war, kannte zumindest seinen Namen. Er war nicht wie der Mann mit den sieben Namen. Was er all die Jahre erlebt hatte, lag in den geschützten Truhen seines Geistes bewahrt. Er entsann sich noch der ältesten Melodien, hatte sämtliche Liedtexte im Kopf. Ihm kam eines der Lieder in den Sinn, die er auf Plätzen und Märkten gesungen hatte, dank derer er sich hatte satt essen können. Leise, damit sein Hund, der ihm zu Füßen lag, nicht erwachte, begann er zu singen. Heba etme bir günümü ey canan / Bir gün bir ömürlük uzundur / Dara atma fer ömrümü ey canan / Bir ömür bir günlük uzundur. (Verschwende nicht einen meiner Tage, Geliebte / Ein Tag ist so lang wie ein Leben / Verachte nicht mein munteres Leben, Geliebte / Ein Leben ist so lang wie ein Tag.) Sang er am Fuß kalter Mauern, traten Frauen aus den Häusern, um dem Jungen mit der Schmachtstimme den Kopf zu tätscheln. Brot gaben sie ihm, heiße Milch, mitunter ließen sie ihn auch in ihren Häusern nächtigen. Er freute sich, wie jedes Waisenkind nahm er Zuflucht zu den zärtlichen Händen, dem traulichen Atem der Frauen. Den schönsten Schlaf genoss er in ihren Häusern. Er träumte, die Frau im Haus wäre seine Mutter, beim Einschlafen hoffte er, sein Traum wäre wahr geworden, wenn er am nächsten Morgen erwachte. Jene Nächte waren so lang wie ein Leben. Schlug er am Morgen die Augen auf und erblickte die Mutter der Familie, schaute er sie voller Liebe an und erzählte ihr, was er in der Nacht geträumt hatte. Im Traum habe ein alter Mann auf einem Friedhof Steine behauen, der habe ihn vor der Kälte geschützt und ihm erlaubt, mit seinem Hund zu spielen, auch der alte Mann sehne sich nach seiner Mutter, die er nie gesehen hatte.

Wer war wessen Traum, träumte der alte Avdo seine Kindheit oder träumte seine Kindheit ihn? Die Sache glich der Verwirrung des Toten mit den sieben Namen, dem Leben, das er geführt hatte, ohne von sich selbst zu wissen. So ist das Leben, dachte Avdo, wie sonderbar. Er nippte am Tee und zog erneut an der Zigarette. Als er den Rauch in die Luft blies, bröckelte die Asche von der Zigarette auf den Tisch. Er fand sie schön. Leicht und grau im Nebellicht. Er beugte sich vor, pustete und beobachtete, wie die Asche aufflog und sich über die Gräber verteilte. Als die Kinderstimmen entschwebten, fiel ihm auf, wie still es ringsum geworden war. Auch die Geräusche der Autos, die von der Straße neben dem Friedhof herüberlärmten und die Nacht wie ein Panzer umschlossen, waren verstummt. Als der Nebel dichter wurde, schlichen die Autos nur noch oder die ganze Stadt hatte sich nach Hause verzogen.

Strenger Winter setzte ein. Im Radio hieß es, die kommende Nacht wäre die längste des Jahres. Um Mitternacht würde sich der Nebel heben und gegen Morgen Schneefall einsetzen. In Weiß gehüllt schlief die Stadt ein, morgen würde sie im Weißen erwachen. Wenn sich Sturm hinter den Schnee setzte und die Straßen einschneiten, gäbe es ein paar Tage schulfrei, darüber würden sich die Kinder freuen. Schön und gut, wenn die Kinder sich freuten, aber was sollte aus den Obdachlosen und Straßenkötern werden? Sie würden sich an Hauswände schmiegen oder in den Ruinen der Stadtmauer Zuflucht suchen und auf den letzten Atemhauch gefasst sein, den das Schicksal ihnen zugedacht hatte. Hätten die Obdachlosen Glück, würde man ihren Leichnam finden und auf dem Armenfriedhof begraben, wäre ihr Glück noch ein Quäntchen größer, würden sie als Zahl im Radio oder in der Zeitung vorkommen. In Istanbul wurde die Anzahl der bei Schneesturm Erfrorenen in den Nachrichten genannt, die Hunde waren nicht einmal eine Erwähnung als Zahl wert, ihre Kadaver wurden zum Verrotten auf dem Müll entsorgt. Es war schwer, mit der Kälte in Istanbul zurechtzukommen, mit dem klammen Frostwetter, das vom Meer aufzog und durch Mark und Bein drang. Dach und Wände von Avdos Hütte waren intakt, sein Feuer loderte. In solchen Nächten ließ er die Lampe draußen brennen, wie ein Leuchtfeuer gab sie Obdachlosen Zeichen, wies ihnen den Weg zu ihm. Er hätte gern gesehen, wenn auch sein Hund ein Zeichen gegeben, geheult und die Straßenköter eingeladen hätte. Doch der lag lang ausgestreckt unter dem Tisch und schlief satt in seiner sicheren Welt. Seit einer Stunde hatte er sich nicht geregt. Er wurde alt. In letzter Zeit legte er sich bei jeder Gelegenheit hin, verzog sich tagsüber in die Höhle, die er hinter dem Haus gegraben hatte und döste dort stundenlang. Er fraß ohne Appetit, ließ sogar hin und wieder den geliebten Kleiebrei halb stehen.

Auch Avdo wurde alt. Er merkte es weniger daran, dass sein Bart ergraute und ihm Zähne ausfielen, als vielmehr am schnell frierenden Rücken. Seine Handgelenke hatten die gewohnte Kraft, bei der Arbeit war er den ganzen Tag auf den Beinen, schleppte Steine und Marmor. Über seinen hünenhaften Körper konnte er nicht klagen, doch seit einer Weile fror da eine Stelle mitten auf seinem Rücken, als hätte Eis sie berührt. Im Herbstwind war es ihm zuerst aufgefallen, im Dezember dann begann er, Kälte zu meiden. Das Feuer im Kohleofen neben dem Tisch reichte aus, den Tee aufzuwärmen, ihn aber hielt es nicht mehr warm, er stopfte sich eine Wolldecke in den Rücken, wenn er hier saß.

Beim ersten Morgenlicht pflegte er zu erwachen, werkelte dann den Tag über an den Steinen im Werkhof hinter dem Haus und machte erst bei Sonnenuntergang Feierabend. Dann klopfte er sich den Dreck ab, wusch sich den Staub von Gesicht und Händen, setzte sich an seinen Tisch auf der Veranda, aß, trank Tee und hörte Radio. Er spähte zu den Gräbern hinüber, um die Seelen der frisch Begrabenen zu sehen, zu verstehen und in ihrer Traurigkeit eine Gestalt zu erspüren, den Grabstein, den er am nächsten Morgen für sie anfertigen würde, begann er nachts im Geist zu formen. Versonnen kniff er die Augen zusammen und überließ sich den Träumen, wobei ihm die Nacht nicht lang genug war. Ihm war, als bliebe die Zeit stehen. Musterte er die Zypressen, die fürsorglich die Gräber bestanden, spürte er die Schlaffee auf sich zukommen, nachdem sie die Kinder des Viertels zu Bett gebracht hatte. Er hob den Kopf, wenn die Eule im Türbe-Grabmal im Westen des Friedhofs rief, spähte hinüber und versuchte abzuschätzen, wo und wie alt der Vogel sein mochte. Die Stimme der Eule, die in einer verborgenen Nische in der Türbe des Merkez Efendi hauste, dem der Friedhof seinen Namen verdankte, war so majestätisch und kräftig, dass, wer sie hörte, wohl glauben mochte, der Vogel lebte auf diesem Friedhof schon seit jenen Zeiten, da das Grabmal hier errichtet worden war. Ob warm, ob kalt, sie rief zu jeder Jahreszeit. Weder schlief sie noch starb sie, sie lebte mit ihren Schwingen am Himmel schwebend wie die zur Ewigkeit verdammten Seelen.

Als der Nebel die Stadt in Stille gehüllt hatte und auch das Rauschen der Autos von der nahen Autobahn her verstummt war, meinte Avdo, den Ruf der Eule zu hören. Er hob den Teekessel vom Kohleofen, füllte sein Glas. Dann zog er sich die Ecken der Wolldecke in seinem Rücken über die Schultern. Er machte es sich auf dem Sofa bequem und lehnte sich ans Kissen. Drei Löffel Zucker hatte er in den Tee gehäuft und rührte um, anschließend lieh er sein Ohr der weißen Finsternis. Nacht bedeutete nicht Stille, sondern destillierte Geräusche. Während sich am Tag die Geräusche vermischten und zu Lärm kumulierten, trat nachts jedes Geräusch in der ihm eigenen Reinheit hervor. Die Lieder der Kindheit, das Seufzen der Seelen, der Ruf der Eule. Im Lärm des Tages waren sie nicht zu hören. Ebenso wenig wie Leid und Sehnsucht. Erst wenn man des Nachts allein mit sich war, empfand man das reine Weh. Das Plätschern des Brunnens beim Judasbaum mochte in der Finsternis an alte Wehklagen gemahnen und Trauer um die vor vielen Jahren verlorene Geliebte das Herz ergreifen. Bei Tag ließ sich die Bürde leicht tragen, nachts aber konnte man glauben, wahrhaft allein zu sein.

Auch die Seelen, deren Seufzer jetzt durch den Nebel waberten, glaubten des Nachts, allein auf der Welt zu sein. Jeden Morgen erwachten sie mit Hoffnung, vermeinten, die Sonne ginge für sie auf, trösteten sich bei den Schritten der Besucher, die an ihnen vorüber zu anderen Gräbern unterwegs waren, mit tausenderlei Phantasien. Der Lärm der Welt lenkte sie ab, sie vergaßen Zeit und Schicksal. Bis es Abend wurde. Mengten sich in der Abenddämmerung Partikel der Dunkelheit in die Lichtstrahlen, überfiel sie ein Schauder, und voller Befremden erkannten sie, wo sie waren. Dann wurden sie traurig und fürchteten sich. Wen könnten sie um Hilfe bitten? Außer der Eule, die hin und wieder rief, dem betagten Hund und Avdo war niemand da. Nur bei ihnen konnten sie auf Gehör hoffen, wenn sie ihr Leid in den Himmel riefen.

Avdo lenkte den Blick zum Schwarm der in den Gräbern seufzenden Seelen hinüber. Ach Gott, seufzten die Seelen, woher kommt unsere Hoffnung, wenn es dich nicht gibt? Gott! Mit ein wenig Lust und ein wenig Verzweiflung hast du uns in dieser ungewissen Welt allein gelassen.

Avdo lachte. Dachte: die armen Toten.

Wo man geboren wurde, konnte man sich nicht aussuchen, den Ort, an dem man starb, aber durchaus. Das mochten die Friedhofsbewohner begreifen, nachdem sie gestorben waren. Ein Leben lang waren sie ihren Wünschen hinterhergelaufen, Zeit zum Nachdenken darüber, wo sie sterben würden, hatten sie nicht. Fanden sie sich dann unversehens in eine Grube gesperrt wieder, klagten sie erbärmlich. Avdo aber hatte sich wohl überlegt, wo er sterben würde. Im Nichts, das, endlos lang, eine Nacht lang andauerte. Vor vielen Jahren. Hier hatte er sich niedergelassen und beschlossen, hier auch zu sterben. Neben dem Grab unter dem Judasbaum hatte er eine Grabstelle für sich vorbereitet und einen namenlosen Stein darauf gesetzt. Avdos glatten, glänzenden, geduldigen Stein. Kam seine letzte Stunde, würde er sich dort neben die Frau legen, die im Grab nebenan auf ihn wartete. Wenn in einer stillen Nacht von einem Ende des Himmels zum anderen eine silberne Sternschnuppe fiel. In einer langen, finsteren Nacht. Gott!

Nachdem Avdo sich hier niedergelassen, die verfallene Hütte restauriert und im Werkhof, den er dahinter einrichtete, mit der Steinmetzarbeit begonnen hatte, war er der nächtlichen Stimmen gewahr geworden. Nicht bloß die Toten und die Blätter hatten Stimmen, auch die Sterne. Überzeugt davon, dass jeder sie verstünde, wollte er die Stimmen, die er hier vernahm, mit anderen teilen. Doch wenn er Friedhofsbesuchern vom Klagen der Seelen sprach, stellte er überrascht fest, dass sie ihn herablassend musterten und meinten, er wäre verrückt. Bald kam er zu dem Schluss, dass die Menschen außerstande waren, die Wahrheit zu verstehen. Die Wahrheit glich der Liebe, zunächst musste man sie spüren, dann verstehen, so beschloss er zu schweigen. Was ihn bewegte, teilte er einzig mit dem Welpen, den er auf dem Friedhof gefunden hatte. Zehn Jahre waren darüber vergangen, er hatte auch den Hund, den er vor dem Tod gerettet und aufgezogen hatte, an die Stimmen der Nacht gewöhnt. Beim Essen hockten sie Seite an Seite. Er war ihm vertrauensvoll zugetan. Erkrankte er, bezog er nicht aus Medikamenten Kraft, sondern daraus, dass der Hund sich ihm zu Füßen legte und behaglich brummte. Mehr als alles andere betrübte ihn, dass der Hund alt wurde. Was sollte er ohne ihn tun? Avdo richtete sich auf, spähte vom Sofa zum Hund hinunter, der seit einer Stunde schlummerte, betrachtete ihn liebevoll, streichelte dem unter dem Tisch liegenden Tier den Hals. »Nicht dass du mir stirbst, Toteve«, sagte er zu ihm. »Was soll ich tun, wenn du stirbst?« Er wollte noch etwas sagen, als er den Hund röcheln hörte. Also schwieg er und lauschte. Er hoffte auf einen Trost, doch es kam kein weiterer Laut.

Er schaltete das Radio ein. Zwei Moderatoren, eine Frau und ein Mann, plauderten. Sie sprachen vom Nebel, davon, dass der Fährverkehr eingestellt worden war, von den Schneewolken, die vom Balkan her nach Istanbul zogen. Heute Nacht und morgen sollte man am besten zu Hause bleiben, sich auf das warme Sofa setzen und den Winter genießen, empfahlen sie. Man sollte einen Film aus dem Videoregal holen oder ein Buch vom Bücherbord und es sich gemütlich machen. Freunde des Alkohols könnten eine kleine Flasche Rakı öffnen, ein wenig Schafskäse, etwas Knabberkram dazustellen. Sanfte Musik sollte die Nacht begleiten. Das hätten die hart arbeitenden Istanbuler sich wohl verdient. Sosehr man in diesen schweren Zeiten unseres Landes verpflichtet sei, hart zu arbeiten, gebe es auch ein Recht auf Erholung. Den ersten Song der Sendung widmeten sie allen Istanbuler Bürgern, die es verdient hatten auszuruhen. Als einer der Bürger, die das Geschenk gern annahmen, stellte Avdo das Radio einen Tick lauter. Nach seiner Herkunft gefragt, bekundete er, sich als Istanbuler zu verstehen, weil er in Istanbul sterben werde. Von einem Besucher hatte er gehört, die eigentlichen Besitzer dieser Stadt seien die Bäume. Die byzantinischen Zypressen, die hier schon gestanden hatten, als die Osmanen die Stadt eroberten, wuchsen noch immer hier und nahmen sich der Gräber an. Avdo fühlte sich wie einer dieser Bäume.

Als das Lied endete, verlas die Moderatorin den Nachrichtenüberblick. Der Dollar war über vierhundertdreißig Lira gestiegen; bei einem Gefecht im Bezirk Eruh waren sieben Separatisten gefangen genommen worden; der Bildungsminister hatte erklärt, in der Ministerialabteilung für Leibesübungen werde ein Gebetsraum eingerichtet; die Mitglieder einer Bande, die eine Briefkastenfirma gegründet und mehrere hundert Personen mit dem Versprechen betrogen hatten, Arbeiter ins Ausland zu schicken, waren verhaftet worden; Lose für die Silvester-Ziehung der Lotterie wurden auf dem Schwarzmarkt gehandelt, weil sie im Handumdrehen ausverkauft waren; ein Spieler von Yoncaspor, der beim Spiel Beşiktaş gegen Yoncaspor die rote Karte gesehen hatte, war dem Schiedsrichter an die Kehle gegangen. Der Terrorist Mehmet Ali Ağca – der vor fünf Jahren in Istanbul den Journalisten Abdi İpekçi ermordet und nach seiner Flucht aus der Haft im Vatikan einen Anschlag auf Papst Johannes Paul II. verübt und ihn dabei verletzt hatte – habe in seinem ersten Interview im Gefängnis in Italien unterstrichen, dass er türkischer Nationalist sei, aber geschwiegen, als er gefragt wurde, wer hinter den Taten stecke. In der Debatte, ob Mädchen und Jungen zusammen die Schulbank drücken sollten, war eine neue Umfrage veröffentlicht worden, bei der sich über neunzig Prozent der Schülerinnen und Schüler für gemischte Klassen ausgesprochen hatten. Nach den Nachrichten erzählte der männliche Moderator eine schlüpfrige Anekdote, über die beide laut lachten. Es folgte ein Tanzlied.

Avdo hielt seine frierenden Hände ans Feuer. Seine Fingerspitzen berührten den Ziegelstein auf dem Ofen, er war warm geworden. Mit der Feuerzange stocherte er in der Ofenglut. Dann goss er sich ein Glas Tee ein. Das wievielte mochte es sein? Abend für Abend trank er eine Kanne Tee mit einer Handvoll Zucker, anschließend ging er klaglos schlafen. Die Kraft, die ihn am nächsten Tag speisen und lebendig halten würde, bezog er nicht aus dem, was er aß, sondern aus dem gezuckerten Tee. Aus diesem Grund sagte er auch allen, die den Lohn für den Grabstein zahlten, er verdiene nicht sein Brot damit, sondern seinen Tee und Zucker.

Sein Blick fiel auf die Tasche des siebennamigen Toten, die er gewissermaßen geerbt hatte und die seit dem Abend auf dem Tisch lag, er zog sie heran und stellte sie sich auf den Schoß. Der Grabstein für diesen Mann muss aus geädertem schwarzem Marmor sein, dachte er, die schmalen Linien auf der Oberfläche des Marmors sollen an den Strom der Sterne am Nachthimmel erinnern. Der schwarze Marmor von Akşehir wäre gerade recht, auch wenn er schwer zu bearbeiten war. Die Adern auf der schwarzen Oberfläche hinterließen weiße Spuren wie verglühende Sternschnuppen. Und das runde Loch, das er in die Mitte zu setzen gedachte, würde sich wie ein Höllenschlund öffnen, sich weiten und Neugier wecken. Womöglich existierte in der ewigen Finsternis auch eine Ewigkeit für den Menschen. Jene, die fragten, ob denn jemals einer, der hinübergegangen war, wiedergekommen sei, würden fortan vielleicht sagen, keiner der gegangen ist, wollte je zurückkehren. Wollten die Lebenden nicht sterben, wollten die Toten womöglich gar nicht wieder lebendig werden. Wenn es Gott gab, gab es den Tod nicht. Gab es aber Gott nicht, würde der Tod zur einzigen Wahrheit werden. Die Antwort lag im Schoß des Todes, wer wusste das schon? Der Tote mit den sieben Namen war jetzt drüben und hatte, was er ein Leben lang gesucht hatte, endlich dort gefunden. Davon wäre überzeugt, wer seinen Grabstein sah.

Das schwarze Leder der Tasche war abgewetzt, stellenweise aufgeplatzt und voller Kratzer. Avdo ließ seine schwieligen Hände über die Tasche gleiten und dachte, es muss die Farbe der Tasche gewesen sein, die ihn auf den schwarzen Marmor gebracht hatte. Die von einer Vielzahl feiner Spuren gezeichnete Tasche war zwei Spann breit. Von oben führte ein Riemen herunter, der in die mittige Schnalle geführt wurde. Als Avdo den Zeigefinger über den Riemen hinuntergleiten ließ und auf die Zunge des Steckschlosses drückte, sprang es ohne Schlüssel auf. Er lüpfte den Verschluss, hielt kurz inne, als ihm ein moderiger Geruch in die Nase stieg, senkte dann die Hand hinein. In der Tasche steckte ein Heft. Und in der Innentasche fanden sich ein Füller und eine Flöte.

Avdo nahm sich das in Leder gebundene Heft vor, drehte und wendete es, blätterte es auf. Die Seitenränder waren abgegriffen, die Tinte der Schrift verblasst. Die letzten Seiten waren leer. Schnell war Avdo klar, dass es sich um ein Tagebuch handelte. Hier und dort waren Zeilen durchgestrichen, an den Rändern fanden sich später angefügte Notizen. Die Seiten waren mit ameisengleichen Buchstaben beschrieben und im schummrigen Licht kaum zu lesen. Er schlug eine zufällige Seite auf, verengte die Augen zu Schlitzen und versuchte zu lesen, da ließ ihn ein Knistern im Nebel stocken. Er hob den Kopf und starrte ins weiße Nichts.

Was war das gewesen, die unruhig wispernden Seelen oder die unbekümmerten Träume der Kindheit? Oder war es der Ast eines alten byzantinischen Baumes, der Jahrhunderte ausgeharrt hatte und jetzt auf ein frisches Grab gefallen war? Avdo lauschte in die Nacht hinaus, hörte aber nichts außer dem Plätschern des Brunnens. Den Brunnen durfte er nicht vergessen. Wenn es gegen Morgen Frost gäbe, würde alles gefrieren, die Wasserrohre würden einfrieren und platzen. Bevor er sich schlafen legte, musste er den Hahn am Brunnen abstellen und, je nach Wetterlage, nötigenfalls ein paar Tage geschlossen halten. Es täte dem Brunnen gut, wenn das tagein tagaus fließende Wasser ein wenig stillstand. Auch der Brunnen hatte ein Recht auf Erholung. »Auch er ist ein Bürger Istanbuls«, sagte Avdo mit ernstem Blick zum Radio, als könnten ihn die beiden Moderatoren hören.

Kurz setzte das Geräusch des Brunnens aus, dann plätscherte er weiter. Entweder war ein Tier durch den Wasserstrahl gehuscht oder, was bei diesem Wetter unwahrscheinlich war, jemand trank Wasser am Brunnen.

Toteve erwachte, hob den Kopf und knurrte ein paarmal. Grundlos tauchte der Hund nie aus dem Tiefschlaf auf. Da war jemand am Brunnen.

Avdo schaltete das Radio aus, wartete ein Weilchen, ob er etwas hörte, rief dann ins Nichts hinein:

»Hey! Ist da jemand?«

Keine Antwort.

Avdo legte das Tagebuch zurück in die Tasche. Ihm war mittlerweile klar, dass er den Grabstein für den Siebennamigen nicht anfertigen konnte, solange er nicht gelesen hatte, was im Tagebuch stand. Weder schwarzer Marmor noch der in den Marmor zu meißelnde Höllenschlund, womöglich brauchte es für diesen Toten einen ganz anderen Stein. Nur nichts überstürzen. Er musste das Tagebuch Tropfen für Tropfen destillierend lesen und in langen Nächten in seiner Vorstellung zunächst eine Seele, dann einen Grabstein entstehen lassen.

Toteve erhob sich, bellte wütend und fletschte die Zähne. Avdo berührte seinen Hals. »Ist gut«, sagte er, »sei still, ein Obdachloser kommt uns besuchen.«

Avdo ließ den, der da im Nebel harrte, seine Stimme hören und wies ihm die Richtung, in der er sich befand. Dann rief er ihn noch einmal an.

»Hey! Du da am Brunnen! Auch wenn du nicht zu sehen bist, weiß ich doch, dass du da bist. Komm her, sonst erfrierst du noch in der Kälte. Mein Hund tut dir nichts. Komm ans Ofenfeuer.«

Das Wasser aus dem Brunnen plätscherte mit seinem kristallenen Geräusch weiter durch die Zypressen. In mond- und sternenlosen Nächten ohne Vögel und ohne Windhauch wurde der Brunnen zum einzigen Besitzer des Friedhofs. Breitete sich von Zeit zu Zeit auch Nebel aus und verdichtete sich, war es doch das Plätschern, das über die Zeit herrschte und mitten auf dem Friedhof selbst den Tod vergessen machte. Auf das nächste Knacken lauschend, klappte Avdo seine Tabakdose auf und drehte zwei Zigaretten. Eine davon entzündete er an der Glut im Ofen. Den ersten Zug inhalierte er.

»Ich habe Zigaretten, nun komm schon, ich hab dir auch eine gedreht.«

Die Stille dauerte fort und Avdo war beinahe geneigt zu glauben, er habe sich geirrt.

Oder waren es Grabräuber? Seit dem letzten Jahr waren Schatzsucher auf dem Friedhof unterwegs, wer weiß, woher sie gekommen waren, anhand seltsamer Karten schaufelten sie auf Schatzsuche die Gräber unbekannter Besitzer auf. Der Imam der Moschee hatte einige dingfest machen lassen, doch die zielstrebigen Hasardeure gingen inzwischen mit Plastikschaufeln statt Spaten zu Werke, um keinen Lärm zu machen, und scharrten gar mit Händen in der Erde. Und seit sich Gerüchte verbreiteten, aus einigen Gräbern seien goldene Pokale und alte Münzen geholt worden, kamen immer mehr. Zuletzt hatten sie ihr Interesse auf den Brunnen gerichtet. Es ging das Gerücht, den Brunnen hätte ein christlicher Heiliger angelegt, der noch vor der Osmanenzeit hier gelebt hatte, Apostel hätten das Wasser gesegnet und unter den mit Inschriften im alten Alphabet übersäten Marmorplatten lägen Smaragde und kostbare Juwelen versteckt. Avdo hatte es verdrossen, davon zu hören. Vor zwei Monaten hatte Toteves Gebell ihn in einer mondlosen Nacht auf Schatzsucher am Brunnen aufmerksam gemacht, er hatte sie verjagt und laut hinter ihnen her geschimpft.

Ob sie wiedergekommen waren?

Avdo schickte sich an aufzustehen, da zeigte sich ein Schemen im Nebel. Der sah kaum nach einem lebendigen Menschen aus, eher nach einem Toten, der mit Mühe dem Grab entstiegen war, es geschafft hatte, hierherzulaufen, und sich nun kaum noch auf den Beinen hielt. Gleich einem Leichentuch schlotterten ihm die Kleider bis übers Knie, die Arme schlenkerten wie lange Knochen zu beiden Seiten. Es war ein junges Mädchen, völlig verdreckt, ein Fuß unbeschuht, mühsam schleppte sie sich heran. Wirr war ihr Haar, die Lippen aufgesprungen.

Ein paar Schritte kam sie näher, blieb aber in einiger Entfernung vom Haus stehen. Den Kopf zur Seite geneigt, harrte sie dort. Vielleicht scheute sie sich, ungebeten das Haus zu betreten, oder ihr fehlte die Kraft zum Weitergehen. Avdo trat zu ihr und legte ihr die Wolldecke, in die gehüllt er dagesessen hatte, um die Schultern. Er nahm ihren Arm, stützte den schmächtigen Körper und führte sie langsam auf die Veranda, darauf bedacht, ihr nicht wehzutun, als wäre sie verwundet. Dort setzte er sie auf das Sofa, zog ihr den einzigen Schuh aus, holte einen Lappen, kniete sich hin und reinigte dem Mädchen die Füße. Er merkte, dass ihre Füße verfroren waren wie zwei Eiszapfen, und als er sie rieb, um sie aufzuwärmen, spürte sie seine klobigen Finger gar nicht. Das Mädchen gab keinen Laut von sich, sie mochte wer weiß wie lange durch die Kälte gelaufen sein, die Arme hatte sie über der Brust verschränkt und zitterte.

»Das wird so nichts«, befand Avdo. Er fasste sie unter den Armen, um ihr beim Aufstehen zu helfen. Sie rührte sich nicht, wie leblos. Mit Schwung hob Avdo sie in seine Arme und trug sie ins Haus. An einer Wand des Raums stand das Bett, gegenüber ein langes Sofa. Er legte das Mädchen auf das Bett und deckte sie zu. Mit dem Handtuch, das am Fußende des Bettes gelegen hatte, kehrte er auf die Veranda zurück. Er wickelte den Ziegelstein, der neben dem Teekessel auf dem Ofen heiß geworden war, in das Handtuch. Noch durch die doppelte Lage Handtuch war die Hitze des Steins zu spüren. Er stapfte ins Zimmer zurück, hob die Bettdecke an, legte dem Mädchen den Stein unter die Knie, und deckte sie wieder zu.

»Wenn es draußen kalt ist, wärme ich den Ziegelstein am Feuer und lege ihn mir ins Bett, der hält bis zum Morgen warm.«

Avdo tappte zum Ofen in der Ecke dem Eingang gegenüber. Er öffnete eine der beiden Türen des trutzigen Küchenofens, legte Holz nach und schürte die Glut.

»Gleich wird’s hier warm wie im Hamam.«

Er nahm den Topf, der auf dem Fußboden stand, und setzte ihn auf den Ofen. Der Küchenofen war die Heizung im Haus, diese Ecke war offensichtlich die Küche. Ein Regal an der Wand trug ein paar Gläser, Teller und Töpfe. Auf der Truhe daneben waren kleine Beutel mit Lebensmitteln aufgereiht. Avdo nahm einen Löffel vom Regal, öffnete den Deckel des Topfes und lugte hinein.

»Die hab ich gestern Abend gekocht. Tarhana-Suppe. Sie soll schön heiß werden. Wenn ich friere, esse ich Suppe, die belebt. Sie wird auch dir Kraft geben. Wärst du nur früher hergekommen, statt in der Kälte auszuharren.«

Avdo schaute nach dem Feuer im Ofen und stocherte mit dem Schürhaken darin herum. Als er sich umdrehte, sah er, dass sich das Mädchen auf die Seite gerollt, die Beine angezogen und sich zusammengekauert hatte. Den Ziegelstein presste sie sich auf den Bauch. Das war also ihre Schwachstelle, nicht die nackten Beine wollte sie als Erstes warm kriegen, sondern den Bauch. Ihr Blick schweifte durch den Raum. Sie betrachtete das Foto an der Wand, die Truhe in der Ecke, das Geschirr auf dem Regal. Riesengroß waren ihre Augen, entweder waren sie immer so oder wirkten jetzt besonders groß, weil ihr Gesicht schmal geworden war. Sie zog die Nase hoch und hustete schwach.

»Geht es dir gut?«, fragte Avdo.

»Ja«, hauchte das Mädchen.

»Es wird dir noch besser gehen«, versprach Avdo. »Iss etwas und ruh dich aus. Dann wird auch deine Stimme kräftiger. Meine Suppe hat schon viele wieder auf die Beine gebracht. Jetzt probierst du sie.«

Avdo half ihr auf, sie lehnte sich an die Wand, er stopfte ihr ein Kissen in den Rücken. Zurück beim Ofen lüpfte er den Topfdeckel und beäugte den Dampf. Er füllte einen Teller mit Suppe und setzte sich damit auf den Bettrand. Den Teller hielt er, den Löffel gab er dem Mädchen. Doch er rutschte ihr aus der Hand und fiel auf die Decke.

Etliche Obdachlose hatte Avdo schon beherbergt, sein Essen mit vielen Armen geteilt. Zum ersten Mal aber sah er jemanden, der krank war und derart schmächtig.

»Wann hast du zuletzt was gegessen?«, wollte er wissen.

Das Mädchen hob den Blick und sagte: »Hab die Tage nicht gezählt.«

Avdo nahm den Löffel, tauchte ihn in die Suppe und führte ihn zum Mund des Mädchens. Die Hälfte schluckte sie, die andere Hälfte kleckerte ihr von den Lippen. Er wischte ihr mit dem Handtuch den Mund ab.

Beim nächsten Mal füllte er nur wenig auf den Löffel und schob ihn ihr behutsamer zwischen die Lippen.

»Geht doch.«

Nach mehreren Löffeln entspannte sich die Miene des Mädchens. Ihre eisige Haut wurde weicher. Wenn sie aß und sich ausruhte, wäre sie in zwei Tagen auf den Beinen. Aber die blauen Flecke am Hals und die Schnitte an ihrem Arm würden länger brauchen, um zu heilen. Von wie vielen Tagen die Wunden auch stammen mochten, sie würden nach dem Abheilen Narben hinterlassen.

»Wann hast du zuletzt in einem warmen Bett geschlafen?«

Diesmal antwortete sie Avdo, ohne ihn anzuschauen. »Hab die Wochen nicht gezählt.«

Unwillkürlich musste Avdo lachen. Sein Lachen verwunderte das Mädchen, ihre Blicke trafen sich. Er wurde ernst. »Ich lach nur so«, sagte er, »gib nichts darauf.«

Das Mädchen wandte den Blick ab.

Avdo füllte nun wieder mehr auf den Löffel.

Der Kern des Lebens lag auf diesem Löffel, steckte im glühenden Ofen und im weichen Bett. Nur davon träumten die, die hungrig auf der Straße lebten, und doch war es zu viel. Untätig hingen sie herum, träumten wenig, häuften aber umso mehr Verletzungen an. Sie erzählten einander ihre Träume, fragten sich aber nicht nach ihren Wunden. Auch Avdo würde nicht fragen. Jetzt kam es auf die heiße Tarhana-Suppe an, sie war stark gewürzt und mit reichlich Fett gekocht.

»Schmeckt dir meine Suppe?«

»Mhm.«

»Iss auf, ich geb dir noch einen Teller.«

Das Mädchen atmete schon regelmäßiger. Sie hob die Hand zur Stirn und strich sich das Haar zurück, das machte Hoffnung, vielleicht könnte sie beim zweiten Teller den Löffel schon selber halten.

»Hier verletzt dich niemand«, erklärte Avdo. »Verstehst du? Du kennst mich nicht, bist im Dunkeln zufällig hergekommen, aber hier in der Gegend kennt mich jeder und vertraut mir. Vertrau auch du mir. Wenn du die Suppe gegessen hast, schläfst du. Ich leg mich aufs Sofa da drüben. Wenn du etwas brauchst, rufst du mich.«

Das Mädchen nickte. Was hätte sie mit ihrem geschundenen Körper anderes tun sollen als zu vertrauen, was könnte ihr noch Schlimmeres zustoßen?

»Kann ich ein bisschen Wasser haben?« Sie versuchte aufzustehen.

»Warte, ich bring’s dir.« Avdo schenkte ein Glas Wasser aus der Karaffe ein, die auf der Truhe stand, und trug es zu ihr hinüber. »Ich stell die Karaffe dicht an den Ofen, damit das Wasser nicht kalt wird. Es ist lauwarm, genau richtig zum Trinken.«

Mühsam und in kleinen Schlucken schaffte das Mädchen ein halbes Glas. Austrinken konnte sie es nicht, schob behutsam Avdos Hand mit dem Glas von sich.

»Danke.«

»Iss noch Suppe.«

»Kann ich Pause machen? Nach all den Tagen wieder essen strengt an.«

»Gut, verschnauf du nur.«

Avdo richtete das Kissen in ihrem Rücken, setzte sie auf.

»Ich bin Avdo.« Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: »Ich hatte Tee aufgesetzt, der steht auf dem Kohleofen draußen, magst du ein Glas?«

»Gern.«

Während er in die Küchenecke stapfte, deutete er auf seinen Hund, der sich neben den Ofen gelegt hatte. »Dieser ständig schlafende Hund hier heißt Toteve. Er wacht nur auf, wenn er einen fremden Geruch schnuppert. Siehst du, dich hat er gleich akzeptiert.«

Avdo wählte ein großes Glas mit Henkel, nahm es aus dem Regal und steckte einen Teelöffel hinein. Ohne Toteve aufzustören, öffnete er die Tür. Als er einen Fuß nach draußen setzte, hörte er das Mädchen wispern.

»Reyhan.«

Avdo blieb stehen und sah in die nun noch einmal so groß scheinenden Augen des Mädchens. Draußen plätscherte das Brunnenwasser über den weißen Marmor, tröstete die ruhelosen Toten und schickte sie in den Schlaf zurück, durch die offene Tür drang nächtliche Eiseskälte herein. Abends hatte er gefröstelt, doch jetzt tat Avdo die Kälte gut. »Reyhan also«, sagte er.

Die Glut im Kohleoffen glomm. Avdo blieb auf der Veranda stehen und sprach mit dem Feuer, wie er es als Kind gelernt hatte und häufig tat. Heißt es nicht, sagte er, die Vergangenheit der Alten und die Zukunft der Jungen ist lang? Was ist aus der langen Zukunft der Jungen geworden? Sogar ich hab mich am Faden der Zeit zum Alter entlanggehangelt, doch für diese jungen Leute ist das Heute so ungewiss wie das Morgen. Noch wenn sie leben, sind sie wie tot, ist der Zeitfaden zwischen ihren Fingern drauf und dran zu zerreißen. Bald übersteigt die Anzahl junger Toter hier auf dem Friedhof noch die der Alten.

Avdo prüfte mit der Hand am Teekessel, ob er heiß war. Dann goss er Tee in das Glas, gab drei Löffel Zucker dazu und rührte um. Das Mädchen kann es brauchen, meinte er und mischte einen weiteren Löffel Zucker darunter.

Als er den Raum betrat, sah er, dass sie eingeschlafen war. Ihr Kopf war auf die Seite gefallen, die Finger, die die Bettdecke umklammerten, entspannt. Sie atmete tief. Aus einer Wunde am rechten Rand der Lippe sickerte Blut. Avdo stellte das Glas ab und ging zu ihr. Mit dem Handtuch tupfte er das Blut ab. Sie spürte es gar nicht, zuckte nicht einmal mit der Wimper. Avdo richtete ihr das Kissen und schob behutsam ihren Kopf darauf. Die Haare, die ihr in die Stirn gefallen waren, strich er beiseite. Ihre Hände steckte er unter die Decke und schob ihr wieder den Ziegel unter die Knie. Dann deckte er sie gut zu.

Es ging gegen Mitternacht. Avdo trat aus dem Haus, um den Teekessel zu leeren. Mit Sand löschte er das Feuer im Ofen. Dann nahm er die Tasche vom Tisch und ging wieder ins Haus. Im Zimmer legte er eine Bettdecke aufs Sofa und streckte sich voll bekleidet darauf aus, nachdem er das Licht gelöscht hatte. Das Feuer des Küchenofens sickerte durch schmale Spalten und warf Lichtflecken an die Decke. Avdo lauschte den Geräuschen im Raum und fühlte sich glücklich. Das Feuer knisterte, Toteve atmete rasselnd neben dem Ofen, zwei Armlängen entfernt beruhigten sich die Atemzüge des schlafenden Mädchens, als sei sie in einen Traum versunken. Der Widerschein des Feuers an der Decke flackerte und ließ Sterne am Zimmerhimmel funkeln. Während sich über eine Seite der Decke die Nacht schob, kündigte sich auf der anderen der Morgen an.

Avdo zog die Decke über die Brust. Er lauschte dem Atem des Mädchens und schlief ein.

Während sie schliefen, wanderte das Plätschern des Brunnenwassers sieben Mal über den Friedhof. Vom Meer her kam Wind auf und zerzauste die Zweige der hoch gewachsenen Zypressen. Winterschlaf haltende Würmer regten sich in den Tiefen der Gräber. Die letzten Vögel schlüpften in die Lücken der ziegelgedeckten Dächer. Der Rauch aus den Schornsteinen ließ nach. Raureif überzog die Steine. Behäbig senkte sich der Nachthimmel, der Friedhof, die den Friedhof umgebende Stadt, das die Stadt umgebende Meer changierten auf ein und demselben Bild von Blau zu Weiß und von Weiß zu Schwarz. Das Feuer im Ofen verdämmerte. Da hob Toteve den Kopf und spähte umher.

Als Toteve knurrte, schlug Avdo sogleich die Augen auf. Er setzte sich auf, schaute zu dem Mädchen hinüber, es schlief. Im Schummerlicht, das von der Lampe draußen ins Zimmer fiel, wirkten ihre Züge wie ein blasses Puppengesicht.

»Still, Toteve«, sagte Avdo. »Du weckst noch das Mädchen.«

Doch Toteve gehorchte nicht, er knurrte weiter.

Avdo schlüpfte in seine Schuhe, öffnete die Tür und trat hinaus, Toteve auf den Fersen.

Der Nebel hatte sich gelichtet. Der Brunnen war zu sehen. Avdo horchte auf das Plätschern und ihm fiel ein, dass er vergessen hatte, den Hahn zuzudrehen. Schimpfend stapfte er neben das Haus, hob eine Klappe im Boden, schloss das Ventil und kehrte auf die Veranda zurück.

»Siehst du, Toteve, alles ist ruhig.«

Von Ferne, vom Meer her klang Bellen herüber. Toteve knurrte.

»Ist es das?«, fragte Avdo. »Hast du mich geweckt, weil ein Kumpel von dir bellt?«

Toteve bellte ein paarmal. Der andere Hund antwortete.

»Ist gut jetzt, das reicht, gleich wacht das Mädchen auf.«

Da kam die Stimme des Mädchens von der Türschwelle.

»Sie kommen.«

»Was?« Avdo erschrak, als er sie sah. »Es ist eiskalt draußen, geh rasch wieder ins Bett.«

Er führte das Mädchen ins Zimmer, setzte sie aufs Bett. Dann wurde ihm klar, dass sie diesmal nicht vor Kälte zitterte, sondern vor Angst.

»Warum bist du aufgestanden? Leg dich hin, du musst dich ausruhen.«

»Sie kommen, das ist ihr Hund, sie haben meine Spur gefunden«, sagte das Mädchen.

»Wer kommt?«

»Soldaten, Polizisten …«

Ihre Lippen bebten, Tränen stiegen ihr in die Augen.

Avdo zögerte, überlegte, was er sagen sollte. »Warum? Hast du etwas gestohlen? Oder jemanden getötet?«

»So etwas habe ich nicht getan.«

»Was wollen sie dann?«

»Sie fragen mich nach Leuten, die ich nicht kenne, nach Dingen, die ich nicht weiß.«

Avdo schossen allerlei Möglichkeiten durch den Kopf, er konnte sich für keine entscheiden, so blieb ihm nichts anderes übrig, als das Mädchen zu beruhigen.

»Reyhan«, zum ersten Mal sprach er sie mit Namen an, »verzweifle doch nicht gleich. Es gibt Gesetz und Ordnung. Wenn du etwas Falsches getan hast, kommst du schlimmstenfalls ins Gefängnis. Das ist nicht viel schlechter als das Leben draußen.«

»Ich halte das nicht mehr aus.«

»Wenn das die sind, die da kommen, also Männer des Gesetzes, wie du gesagt hast, dann tun sie nichts Böses.«

»Nein, lebend kriegen die mich nicht zu fassen.«

»Warum fürchtest du dich so sehr?«

»Ich sterbe lieber …«

»Beruhig dich.«

»Tagelang, wochenlang war ich in ihren Händen, als abends der Nebel aufzog, konnte ich fliehen. Na, das war’s dann wohl.«

»Ich rede mit ihnen, ich finde eine Lösung.«

»Wo ist das Messer?« Reyhan stand auf und wandte sich zur Küchenecke.

»Was für ein Messer?« Avdo packte sie an den Schultern und zwang sie, sich wieder hinzusetzen.

»Gib mir ein Messer.«

»Was kannst du mit einem Messer gegen sie ausrichten?«

»Ich bring mich um, gib mir das Messer.«

»Was redest du da, was soll das?«

»Lebendig kriegen die mich nicht.«

»Vielleicht täuschst du dich, vielleicht verfolgt dich gar keiner. Da bellt nur irgendein Straßenköter.«

»Das ist der Spürhund, er kommt immer näher.«

Gemeinsam horchten sie nach draußen. Die Laute des Hundes näherten sich allmählich, zwischen den Gräbern hindurch, an den Bäumen und Steinen entlang, die ihren Geruch aufgenommen hatten.

»Ich kenne dich nicht, Mädchen«, sagte Avdo, »aber ich werde dir helfen. Setz deine Flucht fort. Wer auch immer da kommt, ich halte sie auf, wenn sie hier sind, damit du Zeit gewinnst.«

»Die erwischen mich.«

»Wenn du die Straße neben dem Friedhof überquerst, verbirgst du dich in den Mauern der alten Burg. In den Hohlgängen dort findet dich keiner.«

»Der Hund spürt mich auf. In diesem Zustand komme ich nicht weit. Gib mir ein Messer.«

Wieder versuchte Reyhan aufzustehen, um in die Küchenecke zu kommen. Doch Avdo hielt sie an den Schultern zurück.

»Halt«, sagte er, »warte, lass mich nachdenken.«

Notgedrungen wartete Reyhan. Sie schmeckte ihre salzigen Tränen, wischte das erneut aus der Verletzung an der Lippe sickernde Blut mit dem Finger ab und wartete. »Avdo«, sagte sie und ihre Stimme zitterte, »Avdo …«

Die Augen zu Schlitzen verengt, zerbrach Avdo sich den Kopf, um einen Ausweg zu finden. Dass Reyhan ihn zweimal beim Namen nannte, hörte er gar nicht. Wie zu sich selbst murmelte er. »Ja, es gibt eine Lösung, das könnte gehen.«

»Avdo«, sagte Reyhan erneut, »ich bin absichtlich zu dir gekommen.«

»Absichtlich? Was soll das heißen?«

»Ich war schon früher hier auf dem Friedhof, da hab ich Elif besucht, Elif, die unter dem Judasbaum begraben liegt. Ich kannte deinen Namen, dein Gesicht hab ich bei dem Besuch damals zum ersten Mal gesehen.«

»Elif?« Avdo kniff die Augen zusammen.

»Ich bin gezwungenermaßen hergekommen«, sagte Reyhan. »Ich kann nirgendwohin, sonst hätte ich dich nicht belästigt.«

»Woher kennst du Elif?«

»Sie ist meine Tante.«

Avdo wollte etwas sagen, die Zunge gehorchte ihm nicht. Namen und Gesichter von vor vielen Jahren, manche beinahe vergessen, wirbelten ihm durch den Kopf. »Wenn Elif deine Tante ist …«, fing er an, verstummte aber sogleich wieder.

»Ich sage die Wahrheit.«

»Deine Mutter … Ja, ich erinnere mich.«

»Ich habe niemanden mehr in dieser Stadt.«

»Ich verstehe, zu mir zu kommen, war eine gute Idee, aber …«

»Ich bin notgedrungen gekommen.«

Toteve unterbrach das Gespräch mit wütendem Kläffen vor der Tür.

Weinend umklammerte Reyhan Avdos Hände. »Bitte, liefere mich denen nicht lebend aus«, bat sie, »ich flehe dich an.«

Avdo umfasste ihre Hände und sprach entschlossen: »Die kommen näher, wir haben keine Zeit zum Reden. Ich verstecke dich hinten.«

»Verstecken? Wie denn?«

»Da ist ein gutes Versteck, los komm!«

»Der Hund spürt mich auf.«

»Nein, das kann er nicht, glaub mir.«

»Wie soll das gehen?«

»Komm, ich zeig’s dir, schnell!«

Reyhan konnte nur unter Schluchzern sprechen. »Aber gibt mir das Messer, damit ich es benutzen kann, wenn sie mich finden.«

»Ich gebe es dir unter einer Bedingung. Du musst ganz ruhig sein und tun, was ich sage.«

»Ja.«

Avdo holte ein Brotmesser vom Regal in der Ecke und drückte es Reyhan in die Hand. Dann legte er seine Hände auf ihre schmalen Finger.

»Ich will, dass du mir versprichst, bis zur letzten Sekunde zu warten und das Messer nicht zu benutzten, ja?«

»Versprochen.« Reyhans Augen waren blutrot.

Avdo hüllte Reyhan in die Wolldecke, nahm sie auf den Arm und eilte hinaus. Er löschte die Lampe, die die Veranda beleuchtete. Als er hinter das Haus hastete, befahl er Toteve leise:

»Toteve, komm her! Toteve!«

Er passierte Felsbrocken, die darauf warteten, behauen zu werden, halb fertige Grabsteine und den Werkhof, auf dem er untertags arbeitete. Zehn Schritte weiter blieb er vor einem nicht sonderlich hohen Hügel stehen. Er wies auf ein Loch am Saum des Hügels.

»Das ist Toteves Höhle. Sie ist so schmal, dass nur ein Hund hineinpasst. Du bist schmal, du kannst hineinschlüpfen.«

Reyhan zweifelte. »Die finden mich hier.«

»Nein«, sagte Avdo. »Wenn du drin bist, setze ich Toteve davor. Die werden denken, ihr Hund sei Toteve auf der Spur. Du musst drinnen nur ganz still warten.«

»Ist das Loch nicht zu klein?«

»Hinten ist eine Biegung, keine Sorge, es ist tief genug für euch beide.«

»Gut, was bleibt mir anderes übrig.«

»Los dann, schnell.«

Reyhan kauerte sich auf den Boden, steckte die Füße in das Loch, krabbelte rückwärts, schob sich dann immer weiter hinein. Nur ihr Kopf und das Messer in ihrer Hand waren noch draußen, da sagte sie: »Avdo, ich will dir etwas sagen.«

»Später, jetzt ist keine Zeit dafür.«

»Ich muss es sagen, für alle Fälle.«

»Geht es um Elif?«

»Nein, um mich.«

»Dann sag es, ich höre.«

»Ich glaube«, Reyhan zögerte, »ich glaube, ich bin schwanger.«

Avdos Hände blieben in der Schwebe hängen, er kniff die Augen zusammen, schwankte, ob er etwas sagen sollte. Er strich Reyhan übers Haar, schob sie dann an den Schultern behutsam weiter nach hinten. Er beobachtete, wie sie mit feuchten Augen hineinglitt und in der kleinen Öffnung der Höhle verschwand.

Sogleich packte er Toteve, der hinter ihm abgewartet hatte, am Nacken und zog ihn vor. »Jetzt du, mein Junge, du bist dran, ab in die Höhle mit dir.«

Toteve kam seiner liebsten Gewohnheit nach, kroch in den Höhleneingang und legte sich hin. Er streckte die Vorderläufe nach draußen und hängte seine lange Zunge darüber.

»Brav, brav«, lobte Avdo, »warte hier, bleib hier liegen.« Er streute Toteve eine Handvoll Trockenfleisch hin, das er eingesteckt hatte, als er das Messer aus der Küchenecke geholt hatte.

Leichter Schneefall setzte ein, noch vor Tagesanbruch wäre alles weiß.

Avdo kehrte zum Haus zurück. Er verriegelte die Tür. Dann räumte er das Sofa auf, auf dem er geschlafen hatte, packte die Decke weg. Er zog Pullover und Hose aus und schlüpfte in Unterhemd und langer Unterhose ins Bett. Den Ziegelstein, der von dem Mädchen noch dalag, packte er sich auf den Bauch, wie sie es getan hatte.

Seit dem Abend war nur das Plätschern vom Brunnen zu hören gewesen, jetzt aber, als sich gegen Ende der Nacht der Nebel lichtete, schallten Hundegebell und Rufe von Männern über den Friedhof. Schritt für Schritt kamen sie näher. Sie richteten ihre Taschenlampen nach oben und spähten ins Geäst der Bäume. Jedes Grab, an dem der Hund stockte, suchten sie ab und wiesen einander die Richtung.

»Chef, hier steht eine Hütte, scheint bewohnt zu sein!« Der Ruf klang aufgeregt.

»Setzt den Hund darauf an!«, kam barsch die Antwort. »Zwei Leute gleich auf die Rückseite!«

Der Hund lief erst zum Brunnen, umkreiste ihn, wandte sich dann entschlossen zum Haus. Er sprang auf die Veranda, schnüffelte am Sofa, wieselte nach links und rechts, blieb schließlich vor der Tür stehen. Er rieb die Nase an der Schwelle, atmete heftig. Der Laut seines dampfenden Atems drang zu Avdo herein. Geduldig harrte Avdo aus, krampfte die Hände um den Saum der Bettdecke. So bange war ihm lange nicht zumute gewesen, vielleicht hätte er selbst ein Messer zur Hand nehmen sollen?

Ein Tritt gegen die Tür und der Riegel sprang auf, die Tür schlug gegen die Wand.

»Was ist los?« Avdo sprang auf. Angesichts der hereindrängenden Gewehre und Pistolen rührte er sich im Lichtkegel der Taschenlampen nicht weiter.

»Hände hoch!«

»Bleib da stehen!«

»Keine Bewegung!«

»Ist ja gut, ich beweg mich nicht.«

Sie schalteten das Licht ein und schauten sich hektisch um.

»Wer ist in dem Zimmer da hinten?«

»Niemand, das ist das Bad.«

»Schaut nach!«

Kaum hatten sie die Tür zum Badezimmer aufgerissen, schlossen sie sie auch schon wieder. Sie spähten unter das Bett und in die Truhe. Sie durchwühlten den Stapel mit den Wolldecken und der Bettdecke am Kopfende des Sofas.

Es waren mehr als zehn Männer. Die meisten trugen Soldatenuniform, drei auch Zivil. Die Soldaten hatten Gewehre dabei, die in Zivil Pistolen. Die Befehle gab einer der Zivilen. Die anderen sprachen ihn mit »Chef« an, er war entweder von der Polizei oder vom Geheimdienst.

Der Chef lief auf die Veranda hinaus, inspizierte Sofa, Ofen und Tisch. Als er den Hund weiter drinnen herumschnüffeln sah, kam er zurück. Er marschierte in die Ecke, in der die Truhe stand, musterte die Lebensmittelbeutel und Scherben von Karaffe und Teeglas, die beim Öffnen zu Boden gefallen waren. Eine dünne Glasscherbe hob er auf.

Er neigte den Kopf seitwärts und fixierte Avdo. »War das ein Teeglas?«

»Ja.«

»Das Glas war voll, stimmt’s? Hier ist Tee verschüttet.«

Avdo zögerte kurz, doch nach einem Blick auf den Boden blieb ihm keine Wahl. »Ja.«

»Nenn mich Chef, wenn du mit mir redest!«

»Ja, Chef!«

»Man nennt mich Chef Kobra. Merk dir das!«

»Alles klar, Chef.«

»Du hast Tee eingeschenkt und das Glas hier abgestellt, oder?«

»Ich hab den letzten Tee aus dem Kessel ins Glas gegossen, weil ich dachte, ich trink ihn noch, aber der war schon bitter, da hab ich ihn stehengelassen, hatte sowieso viel getrunken heute Abend.«

Der Chef zwirbelte seinen kräftigen, rötlichen Schnauzer und wühlte zugleich mit der Fußspitze in den Glasscherben. »Auf dem Tisch draußen hab ich auch ein Glas gesehen. Zu wie vielen wart ihr heute Abend hier?«

Diese Frage kam unerwartet, Avdo gab eine Antwort, die der Wahrheit am nächsten kam: »Manchmal kommen Obdachlose vorbei, bitten um Brot. Einer von denen war hier, er hat Tee getrunken und ist wieder weg.«

»In dieser Kälte ist er weggegangen? Während drinnen ein Küchenofen steht und draußen ein Kohleofen?«

»Man weiß nie, was sie tun, Chef, es ist nie klar, wann sie kommen und wann sie gehen. Vielleicht haben ihn Freunde an der Mauer erwartet. Die schlafen drüben in den Mauern jenseits der Straße. Sie kommen oft zu mir rüber.«

Während er redete, stieg Avdo in Hose und Schuhe.

»Hier steht ein benutzter Teller«, stellte der Chef fest.

»Ein Suppenteller.«

»Ich sehe keinen zweiten. Hast du dem Obdachlosen keine Suppe gegeben?«

»Doch. Das ist sein Teller. Ich hatte schon gegessen, bevor er kam, und meinen Teller gespült und weggeräumt.«

»Der Mann hat hier also gegessen, Tee getrunken und ist wieder abgehauen.«

»Er hat auch ein bisschen Brot mitgenommen.«

»Wer war das?«

»Weiß ich nicht, sie nennen ihre Namen nicht. Und wenn doch, vergesse ich sie.«

Der Chef packte grob Avdos Arm. »Hier wird nicht vergessen!« Seine Stimme klang, als knirschte er mit den Zähnen. »Wenn ich eine Frage stelle, vergisst du gefälligst nicht die Antwort!«

»Okay.«

»Verstanden?«

»Ja.«

»Wie heiße ich?«

»Chef Kobra.«

»Genau so, nicht die Namen vergessen.«

»Mach ich, Chef.«

»Wie heißt du?«

»Avdo.«

»Ich frage noch einmal, Avdo, wer war das, der hier war?«

»Einer, den sie Stromer nennen, Chef, seinen richtigen Namen hat er nie genannt. Die kennen sich alle nur bei Spitznamen. Warum sollte ich es nicht sagen, wenn ich wüsste, wie er heißt.«

»Wer ist dieser Stromer?«

»Einer von den Obdachlosen, die in den Mauern untergekrochen sind.«

»Kommt der oft her?«

»Mal kommt er, mal kommen andere. Jeder kennt mein Haus.«

»Haus nennst du diese Hütte?«

»Ist eben ein Armenhaus …«

»War heute Abend sonst noch jemand hier?«

»Chef! Yavaş läuft nach hinten«, rief ein Soldat durch die Tür herein und alle wandten sich ihm zu.

Yavaş war der Name ihres Hundes. Jeden Millimeter im Haus hatte er beschnüffelt, die Decken, das Geschirr, dann war er mit der Nase am Boden zielstrebig hinausgelaufen und von der Veranda seitlich abgebogen. So wenig ihn die Nacht über der Nebel gekümmert hatte, so wenig störte ihn jetzt der sanft fallende Schnee....Ende der Leseprobe