Sterben darfst du aber nicht - Birgit Fuß - E-Book

Sterben darfst du aber nicht E-Book

Birgit Fuß

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Beschreibung

Eine Musikjournalistin lernt mit 43 Jahren einen Mann kennen, per E-Mail. Beide wissen, dass es Liebe ist, bevor sie sich zum ersten Mal sehen. Nach einem unfassbar glücklichen Jahr stirbt er in ihren Armen. Um nicht verrückt zu werden, beginnt sie über ihre gemeinsame Geschichte zu schreiben.
Ein berührender Erfahrungsbericht, voll schonungslos offen gelegter Wunden, präzise beschriebener emotionaler Fallen und letztlich tröstlicher Erkenntnisse für alle auf der Suche nach einem Sinn jenseits von Durchhalteklischees. Was Liebe wirklich bedeutet, warum Sex keine Nebensache ist, welche Freundschaften guttun und wie sich die eine oder andere zusätzliche Verletzung in all dem Chaos, das ein solcher Verlust mit sich bringt, vermeiden lässt – darum geht es hier. Und um Dankbarkeit und Verbundenheit. Gegen die Liebe hat der Tod nämlich gar keine Chance.

„Ein Bericht über ein Schicksalsjahr, aufrichtig und intensiv. Birgit Fuß lässt uns teilhaben an ihrer tragischen (und verrückten) Geschichte.“ Campino

„Mit dem wildweichen Pathos eines Springsteen- oder U2-Songs erzählt Birgit Fuß mit offenem Visier und wundem Herzen von dieser überlebensgroßen Liebe bis hin zu den letzten 37 Stunden im Krankenhaus.“ Erik Heier, Tip Berlin

„Erst denkt man nur, dass man niemandem wünscht, so eine Geschichte erleben zu müssen. Dann liest man und liest man, und plötzlich passiert etwas ganz Wunderbares: Man wird unmittelbar Zeug:in davon, wie eine große Liebe sich aus Raum und Zeit herausschält und bleibt.“ Tom Liwa

Birgit Fuß, 1972 in Fürstenfeldbruck geboren, fing 1993 bei der Hamburger Morgenpost an zu schreiben, ist seit 23 Jahren Redakteurin bei der deutschen Ausgabe des ROLLING STONE und hat Bruce Springsteen, Bono, Sting, Patti Smith und mehr als 400 andere interessante Menschen interviewt. Sie arbeitet auch als Sterbe- und Trauerbegleiterin. Im Mai 2021 erschien ihr Buch 100 Seiten: Jim Morrison, im März 2022 100 Seiten: Die Toten Hosen im Reclam-Verlag, im April 2023 R.E.M. – Life And How To Live it beim Reiffer-Verlag. Nach London, Hamburg und München lebt sie momentan in Berlin. Sterben darfst du aber nicht ist ihr Debüt bei mikrotext. Mehr unter birgitfuss.de.

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BIRGIT FUß

STERBEN DARFST DU ABER NICHT

Bericht

Cover: Inga Israel

Coverfoto: Luis Enrique Ibarra auf Unsplash

Schriften: Gentium Book Plus, AttentionPro

www.mikrotext.de

ISBN 978-3-948631-42-0

Alle Rechte vorbehalten.

© mikrotext 2023

Das Buch

Ein berührender Erfahrungsbericht, voll schonungslos offen gelegter Wunden, präzise beschriebener emotionaler Fallen und letztlich tröstlicher Erkenntnisse für alle auf der Suche nach einem Sinn jenseits von Durchhalteklischees. Was Liebe wirklich bedeutet, warum Sex keine Nebensache ist, welche Freundschaften guttun und wie sich die eine oder andere zusätzliche Verletzung in all dem Chaos, das ein Verlust mit sich bringt, vermeiden lässt – darum geht es hier. Und um Dankbarkeit und Verbundenheit. Gegen die Liebe hat der Tod nämlich gar keine Chance.

Inhalt

417 Tage und eine Ewigkeit

Just Remember That Death Is Not The End

Mary, Climb In: die Novemberrevolution

15 Tage in Barmbek

Die letzten Erinnerungen

Der Schock und die Sprachlosigkeit

Brand New Days: neues Jahr, neues Leben

Die Suche, die Widersprüche und all die Fragen

Come Here My Love: noch mehr Sehnsucht und …

Verstrickungen und Verbindungen, Traumbesuche und Geschwätz

All I Want: die Monate der Erfüllung

Die Schwermut, die Dankbarkeit und ein Albtraum weniger

Noch einmal alles durchgehen – und dann weiter

Still Learning How To Crawl: ein Jahr vorbei, doch du bist geblieben

Sweetness Follows: ein Nachwort

Die Autorin

Birgit Fuß, 1972 in Fürstenfeldbruck geboren, fing 1993 bei der Hamburger Morgenpost an zu schreiben, ist seit 23 Jahren Redakteurin bei der deutschen Ausgabe des Musikmagazins Rolling Stone und hat Bono, Lou Reed, Bruce Springsteen, Patti Smith und mehr als 400 andere interessante Menschen interviewt. Sie arbeitet auch als Sterbe- und Trauerbegleiterin. Im Mai 2021 erschien ihr Buch 100 Seiten: Jim Morrison, im März 2022 100 Seiten: Die Toten Hosen im Reclam-Verlag, im April 2023 R.E.M. – Life And How To Live it im Verlag Andreas Reiffer. Nach London, Hamburg und München lebt sie momentan in Berlin. Mehr unter birgitfuss.de.

Birgit Fuß

Sterben darfst du aber nicht

Bericht

Dieser Text ist inspiriert von Erlebnissen und Erfahrungen. Ich habe ihn aus meiner Erinnerung heraus aufgeschrieben und einige Namen verändert. Er enthält meine persönliche Wahrheit, ohne Anspruch auf Tatsächlichkeit.

417 Tage und eine Ewigkeit

Am ersten Januar zu wissen, dass dies das Jahr wird, in dem der Geliebte stirbt: unerträglich. Acht Tage später seinen Kopf in den Händen zu halten, während er zum letzten Mal atmet: unvorstellbar.

Zwei Adjektive zu viel. Er mochte keine Adjektive, und doch hat er ziemlich oft das Wort „unfassbar“ verwendet im Jahr davor, dem einzigen Jahr, das wir gemeinsam hatten. Ein wildes Jahr, das so viel mehr war als zwölf, dreizehn, vierzehn Monate. Fast wie ein ganzes Leben. Geht das? Mir kommt es so vor, denn ich war noch nie jemandem so schnell so nah, und bis heute kann ich nicht ganz begreifen, wie es dazu kam, was dann passierte und wieso es so bald vorbei sein musste.

„Liebst du mich?“ Wer stellt denn so eine Frage? Per SMS. Einer Frau, der er bisher noch nicht einmal die Hand gegeben hat. Mit der er „nur“ wochenlang geschrieben hat, alles voneinander erzählt und mehr. Und wer antwortet sofort, weil es keinen Zweifel gibt: „Ja, ich liebe dich“? Zwei Verrückte wohl. Hier ist also die Geschichte von zwei Verrückten. Innerhalb von einem Jahr hat dieser Mann, der immer die besten Fragen stellte, zweimal mein Leben verändert. Einmal, als er mich wachküsste. Und dann noch einmal, als er in meinen Armen starb.

Just RememberThat Death Is Not The End

Erster Weihnachtsfeiertag. Die SMS kam um 6:59 Uhr: „Füchsin, ich muss wohl ins Krankenhaus.“ Wach war ich längst, ich lag auf der Couch meiner Schwester in Bayern und war schon beunruhigt, weil Philip sich nachts nicht mehr gemeldet hatte. Ich hätte sofort meine paar tausend Euro hergegeben, um in diesem Moment bei ihm zu sein, aber ich musste ja erst nach Berlin zurückfliegen, dann mit dem Zug weiter zu ihm nach Hamburg. Er schickte mir noch die Telefonnummer seiner Freundin Niki hinterher, die er alarmiert hatte. Um 7:57 Uhr schrieb er: „Und ich hatte mich so auf den Kloß gefreut.“ Mit dem Knödelteig in der Tasche fuhr ich wie betäubt und gleichzeitig panisch los, zwischendurch kurz mit ihm telefoniert, er sollte ins Krankenhaus Barmbek kommen, okay, das kenne ich. Gut, dass jetzt für dich gesorgt wird. Ich liebe dich. Ich komme so schnell wie möglich. In meiner Wohnung ein paar Sachen in den Rucksack geworfen, dann zum Hauptbahnhof, ICE, in Hamburg mit dem Taxi zum Krankenhaus. Dort angekommen hörte ich mich an der Aufnahme sagen: „Ich suche meinen Freund, der wurde heute hier eingeliefert.“ Das klang so seltsam: mein Freund, eingeliefert. Geliefert. Vor ein paar Wochen kam er mir doch noch auf dem Fahrrad entgegengefahren, vor ein paar Tagen habe ich ihm zu Hause noch Toast gemacht, einen mit Kräuterquark, einen mit Frischkäse. Sie schickten mich in die Notaufnahme, nach rechts und dann das zweite Zimmer, er ist noch in Behandlung, „warten Sie bitte dort“.

Das Zimmer ist leer, kein Bett, nur ein Stuhl. Ich stelle meinen Rucksack ab und sehe Philips Lederjacke und seine Tasche. Ich setze mich, dann stehe ich wieder auf. Ich versuche, nicht durchzudrehen. Mein Gesicht zu beherrschen. Wenn er kommt, will ich nicht ängstlich oder verzweifelt wirken. Dann sehe ich ein Bettgestell, ein Pfleger schiebt ihn ins Zimmer. Ich sehe sein Gesicht und sein Lächeln, begrüße ihn mit einem Kuss. Was ich gesagt habe, weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur, dass er ganz schmal aussah und so gelb – und dass ich sofort ahnte, dass unser Leben jetzt nicht mehr dasselbe sein würde. Aber wie es werden würde, ahnte ich nicht. Dann habe ich erst mal seine Freundin Niki begrüßt und mich für ihre Hilfe bedankt, und sie war mir gleich sympathisch, eine Erleichterung. Sie hat sich schnell verabschiedet und gesagt, sie käme später oder morgen wieder. Wir waren also allein, und er sagte irgendwas von „Leberzirrhose“ und „da haben die alkoholfreien Monate wohl nicht gereicht“, und ich habe das alles gar nicht richtig verstanden. Ich dachte, die werden ihm doch helfen können, und andererseits dachte ich, es muss schon ein spätes Stadium sein, und wie viel Zeit bleibt uns wohl noch?

Und während ich das alles dachte, habe ich gleichzeitig gar nicht richtig denken können, weil ich fast vor Liebe geplatzt wäre. Also hielt ich seine Hand und streichelte seinen Kopf und fragte nach Banalitäten, und weil er kein Kissen hatte, kramte ich einen Pulli aus meinem Rucksack und legte ihm den unter den Kopf. (Als ich ihn am nächsten Tag mitgenommen habe, roch er wunderbar nach ihm.) Er wollte die zweite Tasche mit Post, die seine Freundin aus uns unerfindlichen Gründen mitgeschleppt hatte, loswerden. Es waren ziemlich viele Briefe, die er seit Längerem nicht geöffnet hatte – weil er keine Lust hatte, weil ihn Lebenspraktisches einfach nicht interessierte, am Ende vielleicht auch, weil er zu schwach war, sich den Rechnungen und Mahnungen zu stellen. Egal, es musste hier weg. Es gefiel ihm allerdings gar nicht, dass ich den Kram nach Hause trage – „das möchte ich nicht, das ist zu schwer für dich“. Wie ich seinen strengen Gesichtsausdruck geliebt habe! Aber ich bin ja kein Schwächling, und dieser Ballast sollte ihn nicht stören. Nichts sollte seine Besserung stören. Also sagte ich sanft, aber bestimmt, dass es mir nichts ausmacht. Wahrscheinlich hätte ich wie Pippi Langstrumpf einen Lastwagen stemmen können, nur um ihm etwas Gutes zu tun. Zumindest wäre das mein Wunsch gewesen. Ich hätte ihn so gern gesund geliebt, ich hätte ihn so gern vom Sterben abgehalten, ich hätte ihn so gern wieder heil gemacht.

Irgendwann, vielleicht nach einer halben Stunde, sagte er, er müsse jetzt wohl ein bisschen schlafen, und ich solle doch nach Hause gehen, mein Tag sei ja auch anstrengend gewesen. Er würde sich dann später melden, sobald er auf der Station sei, und mir sagen, in welchem Zimmer. Er gab mir seinen Wohnungsschlüssel. Ich sollte mir alles so einrichten, wie es mir passt, und die Bettwäsche abziehen, das war ihm plötzlich wichtig. Als würde ich nicht gern in einem Bett schlafen, das nach ihm riecht! Vielleicht dachte er, es riecht nach Krankheit, nach dem „müden Tod“, von dem er vor Kurzem gesprochen hatte. In dem Moment habe ich nicht genauer darüber nachgedacht, mein Gehirn war schon am Überlaufen. Ich ging wie ferngesteuert zur Bushaltestelle, fuhr zur U-Bahn-Station Barmbek, wartete auf den Anschluss. Da hielt ich es nicht mehr aus und rief Niki an, die Ärztin ist, und fragte, was die Diagnose genau bedeutet. Sie hat es für mich abgemildert, aber mir war schon klar, dass sich jetzt alles ändern würde – und so richtig konnte ich mir nicht vorstellen, dass er einfach für immer auf sein Jever und seinen Rotwein verzichten würde. Mir schwirrte alles Mögliche durch den Kopf, aber ich weiß noch genau, dass ich fragte, wie es denn jetzt weitergehe. Sie sagte, auch mit Leberzirrhose könne man noch einigermaßen gut weiterleben, einige Jahre, wenn man sich entsprechend verhält, und ich fragte: „Also wird er mir jetzt nicht gleich wegsterben?“

Und das ist der Gedanke, den ich bis heute immer wieder habe. Manchmal fällt er mich mitten auf der Straße an, manchmal wache ich morgens damit auf, oft steht er am Ende einer willkürlichen Gedankenkette. „Jetzt ist er mir einfach weggestorben.“

Mary, Climb In: die Novemberrevolution

„Noch halte ich durch.“ Mit diesem Satz fing alles an, getippt und abgeschickt, bevor ich genauer darüber nachgedacht habe. Dann das Erschrecken: Was soll das? Warum erzähle ich einem fast fremden Mann so was? Weil er mich gefragt hat. Weil es die Wahrheit ist. Weil ich ihm vertraue, obwohl ich ihn kaum kenne. „Wenn du nicht schon verheiratet wärst … (oder bist du inzwischen geschieden?)“, hatte er geschrieben. Ich hätte es als Flirtversuch eines Kollegen abtun können, aber ich ahnte, dass es mehr war, und: Wenn ich mich jetzt einmal etwas traue, könnte sich alles verändern. Es war der dritte Donnerstag im November und der Beginn des schönsten Jahres meines Lebens. Ein Jahr voller Träumerei und Sehnsucht, dann voller Leidenschaft und Hingabe.

Ich wusste nicht, dass ich gerettet werden musste, aber er hat meine Traurigkeit erkannt, und dann hat er ALLES gesehen – wer ich war und sein wollte – und umgekehrt genauso, und nach wenigen Wochen wussten wir mehr voneinander, als je ein Mensch von uns gewusst hat. Fast unheimlich. Philip konnte Menschen auf der Basslinie berühren, sagte später mal ein Freund, und das stimmt genau – es war so eine tiefe Verbindung, seelisch und körperlich, wie sie nur sehr, sehr selten entsteht, und schon gar nicht so schnell. Wenn wir mal einen Roman schreiben, hat er gesagt, dann nennen wir ihn Die aufgeweckte Vagina – Eine Raserei von Birgit F. und Philip R. Mehr als 30.000 Nachrichten haben wir ausgetauscht, zwei davon werde ich niemals vergessen.

Die erste:

„Ich glaube, dass du schon immer eine freie Rock’n’-Roll-Füchsin gewesen bist, du hattest es nur vergessen oder nie gewusst. Jetzt weißt und fühlst du es, DAS KANN DIR NIEMAND MEHR WEGNEHMEN, NIEMALS.“

Die zweite:

„Du kannst sehr viel fühlen, das weiß ich, und durch mich soll bei dir jetzt alles rauskommen, was du so lange zurückhalten musstest. Du sollst dich so lebendig fühlen, dass die Leute sehen und staunen, wie du leuchtest.“

Beides wird immer wahr sein.

Später konnten wir beide nicht mehr genau sagen, wie es begonnen hatte, obwohl er sich sonst an so vieles so genau erinnerte, dass ihm manche Leute schon Asperger unterstellt hatten. Außerdem waren wir doch beide Journalisten, wir sollten Dinge korrekt wiedergeben können. Versuchen wir es. Ich saß damals in der Redaktion unserer kleinen Musikzeitschrift in Berlin und freute mich immer über seine Nachrichten aus Hamburg, meiner Lieblingsstadt. Ein paar Monate lang waren unsere Mail-Wechsel schon etwas lustiger als mit anderen Kollegen gewesen, manche bewahrte ich sogar auf – auch aus Freude, dass sich das so entwickelt hatte: Zunächst dachte ich noch, der Typ ist sicher kompliziert, kein Wort darf man bei dem ändern, das wird noch ein Spaß werden. Ich wusste gar nicht, was für einer! Ihm fiel zu allem ein origineller Gedankensprung ein, er schrieb nie etwas Langweiliges, und ich gab mir Mühe, jedes Mal etwas wenigstens halbwegs Unterhaltsames zurückzusenden. Flirten würde ich es nicht nennen, ich kann gar nicht flirten. Ich war ja immerhin seit 16 Jahren mit meinem Mann zusammen, seit 12 verheiratet, und in meiner Arbeit hatte ich kaum mit Frauen zu tun, so dass ich mich dort längst als eine Art Ehrenmitglied im Männerclub sah, der Kumpeltyp halt. Eigentlich, das wurde mir erst später bewusst, hatte ich mich schon recht lange nicht mehr wie eine Frau gefühlt, jedenfalls nicht gut gefühlt – wenn überhaupt je. Vielleicht war ich ein spätes Mädchen, mit 43. Bis Philip kam.

Anfangs bat er meistens nur um ein paar Tage Aufschub, weil er seine Texte mal wieder nicht rechtzeitig fertiggekriegt hatte. Er unterschrieb mit „Dein Bono“, um meine Liebe zu U2 wissend, ich antwortete mit „Dein Edge“. Die entscheidende Frage, ob ich noch verheiratet sei, folgte auf eine Ausrede, die er mit „Dein Goldfinger“ beendet hatte. Ich erwiderte mit „Deine Rosa Klebb“. Hat ihm wohl gefallen, dass ich kein scharfes Bond-Girl wie Pussy Galore gewählt hatte, sondern seine fiese kleine russische Gegenspielerin. Wir fingen an, uns mehrmals täglich hin und her zu schreiben, erst nur per Mail, dann im Facebook-Messenger, dann zusätzlich per SMS, und bald auch nachts, denn er schlief selten mehr als zwei Stunden am Stück, und ich war plötzlich auch überraschend wach. Es ging um Dosenravioli und Restaurantbesuche, Ouzos und Hamburger Wohngegenden, Kartoffeln versus Nudeln, Vollmond und seine Folgen. Bald hielt ich ihn nicht mehr nur für einen hochbegabten, etwas seltsamen „Schnacker“, sondern merkte, dass da viel mehr war.

Sechs Tage später, als wir schon so viele Gemeinsamkeiten festgestellt hatten, fragte ich, was er vorm Journalismus gemacht habe. Er: „Wenn du vor der Schreiberei auch als Bürobotin gearbeitet hast, dann ist das noch ein Zeichen und du solltest morgen die Scheidung einreichen und bei mir einziehen.“ Ein Witz, natürlich, und doch klopfte mein Herz wie wild. Ich wusste noch nicht, dass es gar nicht mehr aufhören würde damit, aber ich wusste, dass es mir gefällt. Unter den leichten Themen, unter dem neckischen Hin und Her, spürte ich gleichzeitig schon eine große Einsamkeit, und vor allem die hat mich gekriegt. Wir waren beide Träumer, Romantiker, ein bisschen jenseits der Realität – was immer das sein soll. Dass Philip ein Sonderling war, musste ich nicht erst herausfinden, das war bekannt. Seit Jahren hatte ihn kaum noch jemand gesehen, er hatte sich immer mehr zurückgezogen, sogar vor den meisten seiner Freunde. Warum, erfuhr ich nach und nach – all die Katastrophen seines Lebens. Es gab auch keine aktuellen Fotos, so dass ich tatsächlich in einen Mann verliebt war, von dem ich gar nicht genau wusste, wie er aussah. Ein Irrsinn? Ja, der schönste Irrsinn der Welt: Ich hatte mich in seine Seele verliebt. In sein Herz, seine Leidenschaft, seine Versehrtheit, seine Gedanken, seinen Witz, seine Wut, seine Fähigkeit zur Hingabe, seine Fantasie, seine Großzügigkeit, seine Direktheit, sein Mitgefühl.

Er schickte mir Tim Buckleys Liebeslied „It Happens Every Time“, ich beschwerte mich über die Zeile „Now I know it’s not worth the trying“ und konterte mit Del Amitris „Nothing Ever Happens“ – das ist doch der wahre Horror! Er mochte das Schifferklavier, wir redeten über das Jahr 1989, über Tim Hardin und Van Morrison, über dies und das. Es war sechs Uhr morgens und mein Tag schon schöner, als es die meisten Tage in diesem Jahr gewesen waren. In der nächsten Nacht fragte er, was mein Mann wohl sagen würde, wenn er wüsste, dass wir so miteinander reden. Woher sollte ich das wissen? Er interessierte sich gerade gar nicht für mich, und so langsam interessierte ich mich auch nicht mehr für ihn, weil ich so damit beschäftigt war, mich für Philip zu interessieren.

Zum Glück hatte ich ein eigenes Zimmer in unserer Wohnung, und ich erinnere mich noch genau, wie ich an einem Abend dort am Fenster stand und auf die Straße schaute und über mich selbst den Kopf schüttelte: „Jetzt habe ich mich in Philip verliebt!“ Es kam mir so irre und gleichzeitig so unvermeidlich vor. Ich rief meine damals beste Freundin an und erzählte es ihr, sie wunderte sich noch mehr als ich. Philip hatte eben den Ruf eines Schrats, eigensinnig und kompromisslos. Auf Facebook sagte er allzu gern den Leuten deutlich seine Meinung, wenn er dieses oder jenes blöd fand. Das Spielerische, seinen Spaß an der Provokation verstanden viele nicht, und Philip hatte nie das Bedürfnis, sich zu rechtfertigen. Das hätte ich gern noch besser von ihm gelernt. Als er mich schließlich fragte, was in meiner Ehe los sei – einer Institution, von der er überhaupt nichts hielt –, sagte ich die Wahrheit, aber nicht ohne schlechtes Gewissen.

00:29 Uhr

Birgit: In den letzten Jahren drehte sich fast alles immer nur um ihn, und dabei sind wir oder bin ich irgendwie verloren gegangen. Als du mich gefragt hast, ob ich verheiratet bin, habe ich so spontan „Noch halte ich durch“ geantwortet, dass ich danach richtig erschrocken war, weil ich gemerkt habe, dass es stimmt.

Und Durchhalten ist kein Leben.

Philip: Nein; deine Antwort ist mir natürlich aufgefallen. Kannst du mit ihm darüber nicht reden?

Birgit: Wir haben ja schon darüber geredet, dass ich unglücklich bin und es so nicht weitergehen kann. Aber der Rest ist ja noch schwieriger.

Philip: Noch schwieriger? Er kann doch selbst nicht glücklich sein, wenn er jeden Tag sieht, dass seine Frau unglücklich ist.

Birgit: Meinst du nicht, wenn es ihn wirklich interessieren würde, hätte er vielleicht gemerkt, dass ich in letzter Zeit alle 2 Minuten auf mein Handy oder mein iPad schaue?

Es ist ungerecht, dich das zu fragen, ich weiß.

Philip: Er hat’s vielleicht gemerkt und sagt nix.

Birgit: Das ist nicht seine Art.

Hältst du mich jetzt für eine Lügnerin / Betrügerin? Weil ich ihm nicht erzählt habe – ja, was? Die ganze Situation ist – ungewöhnlich.

Philip: Nein, das ist weder Lug noch Betrug; ja, die ganze Situation ist ungewöhnlich.

Birgit: Deshalb habe ich ein Treffen vorgeschlagen, auch wenn ich Angst davor habe, vor praktisch allen möglichen Varianten.

Philip: Die Varianten wären?

Birgit: Dass du mich nicht gut findest. Dass du mich gut findest. Und andersrum.

Philip: „Gut finden“, super! Birgit, ich finde dich schon ziemlich lange ziemlich gut.

Birgit: Ebenso. Und jetzt?

Philip: Trinke ich eine Flasche Rotwein. ROTwein!

Birgit: Das scheint mir nur eine temporäre Lösung zu sein.

Philip: Du wirst immer unglücklicher, ich sehe dich gerade vor mir, wie du an deinem Weißwein nippst. Was wünschst du dir, wenn nachher die Fee vorbeikommt und sagt: „Okay, drei hast du frei.“

Birgit: Ist das die Fee oder der Schwarze Peter? Ich würde dich gern treffen und wissen, wie das ist. Die anderen beiden Wünsche hebe ich mir dann für danach auf. Meine Fee, meine Konditionen!

Philip: Hahahahahahahahaha, du Fuchs.

Eine Frage noch, über die du ja mal nachträumen kannst: Hast du dich in zwölf Jahren Ehe nie für andere Männer interessiert?

Birgit: Was soll ich antworten, ohne dass du mich für so verrückt hältst, wie ich es selbst tue? Ich bin trotzdem ehrlich, die alte „play hard to get“-Strategie habe ich jetzt sowieso schon verbockt. Natürlich fand ich Männer attraktiv, natürlich habe ich manchmal gedacht, dieser oder jener wäre etwas für mich gewesen, und zwei-, dreimal fiel mir das Neinsagen schwer. Aber ich wusste bisher immer, dass ich auf jeden Fall nein sagen würde.

Nachdem ich nun lange darüber nachgedacht habe, ob das vielleicht alles nur ein seltsames Spiel ist, bei dem ich immer die falschen Antworten gebe, und ob du mir nur erst mal ausgewichen bist oder eigentlich schon genau weißt, dass du mich gar nicht treffen willst, lass es uns so machen: Wenn nicht, sag einfach NEIN, und wir bleiben Freunde, die sich ganz besonders gern mögen. Far away, so close.

Philip: Für Spielchen bin ich nicht geeignet; ich bin genauso verwirrt wie du.

Birgit: Das hatte ich gehofft.

Und so schrieben wir uns weiter, ununterbrochen, von ein paar Stunden Schlaf abgesehen. Mein iPad und mein Handy lagen inzwischen immer neben meinem Bett, die Lautlos-Funktion längst ausgeschaltet. Ein Pieps, und ich war sofort wach. Ich brauchte keinen Alarm mehr, in mir war ständig etwas los. Und ich wollte ihn so gern sehen, ihn berühren – diesen Mann, der mir so wunderbar nah war und doch eine Art Phantom. Seltsamerweise habe ich in all den Wochen nicht ein einziges Mal befürchtet, dass er es vielleicht nicht ernst mit mir meinte. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen, was ihn zurückhielt, aber ich wusste, dass es nicht fehlende Zuneigung war. Er wich aus, als ich erzählte, dass ich bald in Hamburg bin. Anfang Dezember versuchte ich es noch mal. Da er sich häufig Quiz ausdachte, schlug ich mehrere Möglichkeiten vor: Ich klingle bei dir, dann kannst du entweder A mich reinlassen, B runterkommen oder C so tun, als würdest du nichts hören. Wir können uns auch auf eine Parkbank setzen, oder du sagst gleich nein. Aber bitte mach jetzt keinen Scherz. Am wichtigsten war mir: „Ich erwarte GAR NICHTS, ich kann mir nur nicht vorstellen, dich nicht wenigstens einmal zu sehen. Wir haben doch nur ein Leben.“ Seine Antwort, sehr schnell, fast panisch: „Morgen geht’s auf keinen Fall. Ich möchte sehr, aber ich kann nicht, jetzt nicht.“ Er hat das noch ein paar Mal betont: wie sehr er es möchte. Aber dass es einfach nicht möglich ist, weil es ihm nicht gut geht und er erst einiges aus dem Weg schaffen muss.

Die Situation war so bizarr, weil wir einerseits über ALLES redeten und uns längst voreinander offenbart hatten, und doch kamen wir hier nicht weiter. Niemals hätte ich mich über seine Schranken hinweggesetzt und ihn noch mehr gedrängt – aus Rücksicht, weil sein Leben schon schwer genug war, aber auch aus Furcht, dass ich damit etwas kaputt mache. Ich wollte unbedingt gut für ihn sein, so wie er es für mich war. Alles andere war zweitrangig. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass es „bedingungslose Liebe“ tatsächlich geben könnte.

Irgendwann in den folgenden Stunden sagte er zum ersten Mal einen Satz, den er in den kommenden Monaten oft wiederholte: „Du machst alles richtig.“ Okay, aber warum willst du mich dann nicht sehen, verdammt noch mal? Und wenn es morgen oder übermorgen keine Chance gibt, dann irgendwann? Bald? Zumindest das wollte ich klären, also nahm ich meinen Mut zusammen.

01:05 Uhr

Birgit: Es fällt mir schwer, dass ich mit keinem reden kann, weil ich nicht weiß, wie ich das alles erklären könnte. Weil ich nicht weiß, was das eigentlich ist. Oder ich weiß es doch, aber das ist dann ja noch absurder.

Philip: Was könnte absurd sein?

Birgit: Jetzt muss ich es auch noch sagen. Dass man sich per Mail in jemanden verliebt?

Philip: Das ist nicht absurd.

Birgit: Für dich vielleicht nicht, aber für mich ist es neu. Ich hab so was noch nie erlebt.

Philip: MEINST DU ETWA ICH?

Birgit: Philip, wenn du weißt, dass du mich NIE sehen willst, dann musst du mir das sagen – auch wenn’s mir wehtut. Dann will ich trotzdem weiter deine Füchsin sein und mit dir schreiben, aber dann kann ich die verflixte Hoffnung aufgeben. Wenn du aber „irgendwann bestimmt“ oder auch nur „vielleicht“ sagst, dann hab ich alle Zeit der Welt.

Philip: Irgendwann ganz sicher.

Birgit: Jetzt hast du mich mit drei Wörtern sehr glücklich gemacht.

Philip: Wirklich?

Birgit: Ja. Wieso wundert dich das jetzt?

Philip: Du könntest ja auch denken, dass ich ein Rumeierer bin.

Birgit: Ich denke vieles über dich, aber das nicht. Ich vertraue dir – du wirst wissen, wann es richtig ist. Aber mit meinen Sehnsuchtsanfällen musst du in der Zwischenzeit dann leider zurechtkommen.

Philip: Bei dir komme ich mit allem zurecht.

Heute denke ich: Klar, ein bisschen rumgeeiert hat er schon. Er hat sich nicht getraut, mir die ganze Wahrheit zu sagen, aber er hat mich auch nicht angelogen. Erst kurz vor seinem Tod habe ich erfahren, dass er zu dem Zeitpunkt noch mit einer anderen Frau zusammengelebt hat, wenn auch nur noch nebeneinanderher. Sein „Chaos“ war eine Verstrickung aus Verantwortlichkeiten, Schuldgefühlen und Resten von Liebe oder zumindest Freundschaft – deshalb schob er die eindeutige Trennung auf. Philip war Klarheit so wichtig, aber in diesem einen Bereich, in Liebesdingen, fiel es ihm schwer, klare Worte zu sagen und Konsequenzen zu ziehen. Weil ich wusste, dass er in Gedanken schon ganz bei mir war und es keinen Zweifel gab an unserer Liebe, stört mich diese Erkenntnis bis heute nicht. Philip war eben auch nur ein Mensch, er hat Fehler gemacht – und gleichzeitig hatte er diesen göttlichen Funken, der all das verblassen ließ. In seiner Nähe, auch wenn sie erst mal nur virtuell war, war die Außenwelt egal.

Ich nutzte die Zeit, die wir noch nicht zusammen verbringen konnten, anders: Ich baute mir ein neues Leben auf, mein eigenes. Kurz vor Weihnachten besorgte ich mir eine eigene Wohnung. Zum ersten Mal in meinem Erwachsenenleben, nach Jahren in einer WG und einer Ehe, würde ich allein wohnen – von acht Monaten in London nach dem Abitur abgesehen, da hatte ich nur ein winziges Zimmer, in dem man von der Tür mehr oder weniger direkt ins Bett springen musste. Meine Euphorie war groß, die Realität kompliziert. Gleich die erste Wohnung, die ich ansah, schien mir perfekt zu sein: in einer wunderbaren Straße, gut geschnittene Zimmer, nicht zu teuer. Leider waren 170 Leute zur Besichtigung gekommen. Wie sollte ich da eine Chance haben? Mein Noch-Ehemann sagte: „Tut mir leid, das ist ja aussichtslos.“ Philip sagte: „Ich würde dich nehmen.“ In der Nacht schrieb ich dem Vermieter eine Mail, um eine Kleinigkeit im Bewerbungsbogen zu korrigieren – und am nächsten Vormittag rief er an: Ob ich die Wohnung haben wolle? Es war, als hätte mein neuer Lebensmut, meine Zuversicht sich übertragen. Ich hatte eindeutig einen Lauf! Als ich den Mietvertrag unterschrieb, erzählte er, er habe sich schon bei unserem kurzen Gespräch in der Küche ein Eselsohr in meine Unterlagen gemacht. Manchmal ist das Leben eben doch gerecht: Wenn man etwas unbedingt will und braucht, dann passiert es auch so. Ich konnte mein Glück kaum fassen, und dabei war das erst der Anfang.

Am Heiligabend bekam ich eines der schönsten Komplimente, die ich je gehört habe, aber Philip bestand ja darauf, dass er keine Komplimente macht, sondern einfach sagt, wie es ist: „Ich kann kaum aufhören, mit dir zu reden, als ob bei mir irgendwas aufgesprungen ist. Danke.“ Es war der skurrilste Heiligabend, darauf einigten wir uns kurz vor Mitternacht. Ich saß mit meinem Ehemann in unserer Wohnung, kochte halbherzig etwas halbwegs Feierliches und wusste schon, dass ich in zwei Wochen ausziehen würde. Wir aßen gemeinsam, wir redeten ein bisschen, doch die meiste Zeit verbrachte ich mit meinem iPad in meinem Zimmer. Philip besuchte seine Mutter, auf dem Weg dorthin tranken wir noch zusammen ein Bier – so nannten wir das immer, wenn er auf einer Bank saß und ein Jever öffnete, während wir schrieben und schrieben … Als er dann zu seiner Mutter kam, hatte sie vergessen, dass Heiligabend ist – und wenig Lust auf den Kartoffelsalat, auf den er so stolz gewesen war. Halbe Knacker, dann war er wieder draußen. Und wir redeten weiter. Ich spürte, dass der Tag näher kam, an dem Philip mir auch noch sein Lebensthema, sein Trauma erzählen würde, aber ich ließ ihm Zeit. Es wurde jetzt auch immer intimer zwischen uns – noch vorsichtig, tastend und doch ziemlich eindeutig.

Am ersten Weihnachtsfeiertag bat er mich um ein Foto, ich lag gerade in der Badewanne. Nur vom Kopf, gern auch mit nassen Haaren. Und lass die Brille auf. Die hatte ich erst seit kurzem und war unsicher, aber er ließ keine Zweifel gelten.

20:00 Uhr

Philip: Jetzt sage ich dir mal was: Mein Wunsch ist es immer gewesen, Sex mit einer Brillenträgerin zu haben, aber sie soll die Brille beim Sex auch aufbehalten, verdammt noch mal. Noch nie passiert. Jetzt denkst du, ich bin pervers.

Birgit: Gar nicht, aber du bist der erste Mann, den ich das je sagen gehört habe. Hätte ich mir manchmal gewünscht.

Jetzt sage ich dir mal was: Ich widerspreche ja gern, aber manchmal mache ich auch gern, was man mir sagt. Brille aufbehalten? Kein Problem!

In der Zwischenzeit hatte ich meiner Familie und ein paar Freundinnen erzählt, dass ich mich verliebt habe, denn anders wäre es kaum erklärbar gewesen, dass ich die Trennung von meinem Mann so gut verkraftete und mich, statt im Groll zurückzublicken, lieber auf die Zukunft freute. Dass Philip und ich uns noch gar nicht gesehen hatten und offensichtlich auch erst mal nicht sehen konnten: Das wusste keiner. Auch meine damals beste Freundin nicht.

Philip: Was hast du der eigentlich erzählt? Die denkt doch, wir spinnen.

Birgit: Die Wahrheit, ungefähr. Wahrscheinlich denkt sie das, aber sie würde es nie sagen, weil sie ja sieht, wie gut es mir geht.

Philip: Wegen mir geht’s dir gut, aus der Ferne? Das ist sehr ungewöhnlich.

Birgit: Bei uns ist ja ALLES ungewöhnlich.

Philip: Ja, alles, das glaubt kein Mensch (außer Moritz und Rainer, die glauben so was).

Birgit: Hast du Moritz von uns erzählt? Mir ist es ja wurscht, wer was glaubt. Aber du weißt ja auch, dass ich die Ferne manchmal hasse.

Philip: Nein, ich habe niemandem von uns erzählt, ich wüsste im Moment gar nicht, WIE ich’s erzählen und wo ich anfangen sollte. Ich bin zu verwirrt und überwältigt.

Gestern hatte ich Schmerzen wegen dir. Als ich wieder dein Foto mit dem Tattoo auf dem Arm ankuckte, da hat sich in meinem Unterleib alles zusammengezogen.

Auch im Bauch, nicht nur darunter.

Birgit: Das sind vielleicht keine Schmerzen, das ist etwas anderes. Ich finde es ja schön, dass so eine Überwältigung noch möglich ist, ich hätte das nie gedacht. Manchmal wache ich morgens um vier auf und denke, mein Herz geht gleich kaputt, aber dann merke ich: Es klopft nur so unfassbar wild.

Philip: Was machst du dann?

Birgit: Atmen. Mich an manche Sätze von dir erinnern. Darauf hoffen, dass es dir bald besser geht. Mir klar machen, dass es gut ist, das Herz so zu spüren.

Philip: „… dass so eine Überwältigung noch möglich ist, ich hätte das nie gedacht“: Warum nicht?

Birgit: Weil ich mich gar nicht mehr erinnern konnte, wann (und ob) mir das je so passiert ist: dass ich nächtelang nicht schlafen kann, kaum was essen kann, nichts anderes denken. Wie eine 17-Jährige, aber mit 17 war ich vernünftiger.

Philip: Machst du dir denn Sorgen deshalb?

Birgit: Nein. Sollte ich?

Philip: Nein, mit deinem Herzen ist alles in Ordnung, und vernünftig, glaube ich, warst du noch nie.

Da hatte er mit seiner Urteilskraft wohl mal wieder mehr gemerkt als alle anderen. So unvernünftig wie jetzt war ich dann allerdings doch selten gewesen – mich hatte ja auch noch nie jemand so dazu angestachelt. Immer wieder wunderten wir uns über uns selbst. Philip konnte in einem Moment etwas über ein Restaurant schreiben, dann einen Gedankenblitz zum Thema Sterben einwerfen, und wenn ich gerade gar nicht damit rechnete – obwohl ich inzwischen mit fast allem rechnete –, schrieb er plötzlich: „Bitte lass die Brille auf, wenn du mit mir schläfst.“ Wie sollte ich da nicht verrückt werden?

01:54 Uhr

Philip: Welch ein Jahresende.

Mit dir ist alles mühelos, eine Frau wie du ist mir noch nie begegnet.

Birgit: Mir ist auch noch nie ein Mann wie du begegnet, und ich habe so was auch noch nie erlebt. Manchmal denke ich, das kann gar nicht sein, aber es ist ja.

Philip: Ja, es ist ja; ein Wunder.

15 Tage in Barmbek