Sterne über dem Salzgarten - Tabea Bach - E-Book

Sterne über dem Salzgarten E-Book

Tabea Bach

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Julia ist rundum angekommen in ihrem neuen Leben, und auch die Inselbewohner sind mit ihr versöhnt. Allerdings nicht mit ihrem Bruder Jens, der seine touristischen Aktivitäten inzwischen den Vulkanen der Insel zugewandt hat: Er bietet Trekking-Touren zu den Kratern an. Dabei sind diese nicht alle vollständig erloschen, und es gibt immer wieder Warnungen der Behörden, diese Regionen zu meiden.

Dies macht Julia genauso Sorgen wie die Tatsache, dass Naira offenbar alles dafür tut, um Álvaro doch noch für sich zu gewinnen. Als einer der Vulkane tatsächlich erneut auszubrechen droht, überschlagen sich die Ereignisse und Julia steht vor großen Herausforderungen ...

Eine mitreißende Geschichte über das, worauf es im Leben wirklich ankommt

Der dritte Band der erfolgreichen Salzgarten-Saga

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 452

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumZitat1 – Die Taufe2 – Das Beben3 – Der Sternegucker4 – Überraschungen5 – Je später der Abend …6 – Das Boot7 – Am Mirador del Time8 – Der letzte Barraquito9 – In aller Freundschaft10 – Salzblumen11 – Jaimes Vermächtnis12 – Beléns Pläne13 – Der junge Koch14 – Der weiße Spitz15 – Sommerferien16 – Die Sache mit dem Vertrauen17 – Spannungen18 – Die Sternenwanderung19 – Der Weg zum Paradies20 – Feuer und Asche21 – Die wir lieben22 – Der Hilferuf23 – Der Sprung ins Leben24 – Zauber der LiebeNachwort und DanksagungLeseprobe

Über dieses Buch

Julia ist rundum angekommen in ihrem neuen Leben, und auch die Inselbewohner sind mit ihr versöhnt. Allerdings nicht mit ihrem Bruder Jens, der seine touristischen Aktivitäten inzwischen den Vulkanen der Insel zugewandt hat: Er bietet Trekking-Touren zu den Kratern an. Dabei sind diese nicht alle vollständig erloschen, und es gibt immer wieder Warnungen der Behörden, diese Regionen zu meiden.

Dies macht Julia genauso Sorgen wie die Tatsache, dass Naira offenbar alles dafür tut, um Álvaro doch noch für sich zu gewinnen. Als einer der Vulkane tatsächlich erneut auszubrechen droht, überschlagen sich die Ereignisse und Julia steht vor großen Herausforderungen …

Eine mitreißende Geschichte über das, worauf es im Leben wirklich ankommt.

Der finale Band der erfolgreichen Salzgarten-Saga

Über die Autorin

Tabea Bach war Operndramaturgin, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Ihre Romanreihen sind Bestseller und in verschiedene Sprachen übersetzt. Tabea Bach wurde in der Hölderlin-Stadt Tübingen geboren und wuchs in Süddeutschland sowie in Frankreich auf. Ihr Studium führte sie nach München und Florenz. Heute lebt sie mit ihrem Mann in einem idyllischen Dorf im Schwarzwald, Ausgangspunkt zahlreicher Reisen in die ganze Welt. Die herrlichen Landschaften, die sie dabei kennenlernt, finden sich als atmosphärische Kulisse in ihren Romanen wieder. Mit ihrer Kamelien-Insel-Saga führt sie uns in die Bretagne.In den erfolgreichen Seidenvilla-Romanen wechselt der Schauplatz zu einer Seidenweberei in Venetien. Die Salzgarten-Reihe spielt auf den Kanarischen Inseln.

T a b e a B a c h

STERNE ÜBER DEM

SALZGARTEN

Roman

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Copyright © 2023 by Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat: Melanie Blank-Schröder

Textredaktion: Dr. Ulrike Brandt-Schwarze, Bonn

Titelillustration: © www.buerosued.de; © Rekha Garton / Trevillion Images

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-1686-4

luebbe.de

lesejury.de

Ohne Salz ist das Leben nicht süß.

Altes russisches Sprichwort

1

Die Taufe

Als sie aus der Kirche traten, ließ der Jakarandabaum blaue Blüten auf sie herunterregnen. Es war ein wunderschöner Sonntag Ende Mai, und die Sonne stand hoch über dem Weiler, dessen hell getünchte Häuser sich in eine Mulde am Hang oberhalb der Ortschaft Santo Domingo aneinanderzudrängen schienen wie eine Herde Ziegen. Die Kirche, deren Glocken ein Festgeläut angestimmt hatten, erstrahlte in blendendem Weiß, sodass die meisten Gäste der Taufgesellschaft eilig ihre Sonnenbrillen aufsetzten.

»Seht nur«, rief Fayna fasziniert aus und hob eine der kleinen glockenförmigen Blüten auf, die auf das Taufkleid ihres Töchterchens herabgesegelt waren. »Was für ein schönes Omen!«

Julia sog den würzigen Duft des Baumes tief in sich ein und lehnte sich glücklich an Álvaro, der ihr den Arm um die Schulter gelegt hatte und sie sanft auf die Schläfe küsste.

»Du hast Blumen im Haar.« Julias dreizehnjähriger Neffe Emil grinste sie an und bemerkte gar nicht, dass auch sein mit Gel mühsam gebändigter Haarschopf inzwischen voller blauer Blüten war. »Bald siehst du aus wie eine Hippiebraut.«

Julia lachte. »Wo hast du denn diesen Ausdruck her?«, fragte sie ihn und tastete vorsichtig ihre Aufsteckfrisur ab.

»Selber Hippie«, spottete El Rostro, Emils bester Freund, und wuschelte ihm durch das Haar, was zu einer kleinen Rangelei zwischen den Jungen führte. Denn seit Neuestem achtete Emil peinlich genau auf sein Aussehen und hatte heimlich stets einen Kamm in seiner Hosentasche, was Julia amüsiert beobachtet hatte. Natürlich würde sie sich hüten, ihren heftig pubertierenden Neffen darauf anzusprechen. El Rostro, der mit seinen Eltern und seinem Bruder auf dem Ziegenhof seiner Großeltern Maribel und Paco lebte, fand sein Verhalten offenbar ziemlich albern.

»Lass ruhig alles so, wie es ist«, riet ihr Álvaro zärtlich, als sie begann, einige Blüten aus ihrem Haar zu zupfen. »Du siehst wunderschön aus.«

»Wir alle haben jetzt Blüten im Haar«, bemerkte Belén, Álvaros Großmutter, und wies lachend auf die anderen Gäste.

»Es ist, als hätte der Baum uns mit einem besonderen Segen überschüttet«, erklärte Maribel und betrachtete gerührt die kleine Martina auf dem Arm ihrer Nichte Fayna, die sich gerade mit ihrem Mann Pablo und den beiden Taufpaten zu einem Gruppenbild aufstellten.

Julia sah auf die Uhr. Es war höchste Zeit für sie aufzubrechen. »Ich muss los«, sagte sie. Die Feierlichkeiten zu Martinas Taufe würden selbstverständlich in ihrem Landgasthof Flor de Sal stattfinden. »Lasst euch ruhig noch Zeit, und vergesst nicht, auch für uns ein paar schöne Erinnerungsfotos zu machen.«

Sie warf Fayna eine Kusshand zu und ging eilig zu ihrem Wagen. Von Faynas Heimatdorf im Landesinnern zum Mesón Flor de Sal waren es zwar nur wenige Kilometer, und doch brauchte man für die kurvenreiche Strecke fast eine halbe Stunde. Julia lebte nun seit mehr als einem Jahr auf der Insel und hatte sich daran gewöhnt, dass die Entfernungen zwar nicht groß waren, man allerdings viel Zeit für die Fahrten einrechnen musste. Denn La Palma war das Ergebnis von unzähligen gewaltigen Vulkanausbrüchen, die vor Millionen von Jahren in einer Tiefe von fünftausend Metern unter dem Wasserspiegel begonnen hatten, das Innere der Erde nach außen zu kehren, bis dieses Eiland entstanden war, dessen höchster Punkt stattliche 2426 Meter aus dem Atlantik herausragte. Entsprechend gefurcht und zerklüftet waren die Flanken der Insel, die es zu umrunden galt. Ihr vulkanischer Ursprung machte aber die atemberaubende Schönheit dieser kanarischen Insel aus mit ihren bizarren Felsformationen, die die Lava gebildet hatte, und den vielfarbigen Gesteinsschichten, die durch die Verwitterung sichtbar geworden waren. Und natürlich trug auch die einzigartige Pflanzenwelt mit ihren wilden Blüten, Sträuchern und Bäumen zum besonderen Charme dieser Insel bei.

Der Landgasthof Flor de Sal, dessen Name übersetzt Salzblume bedeutete, war in den 1960er-Jahren auf einer mächtigen Klippe hoch über dem Atlantik von Álvaros Großeltern erbaut worden. Seinen Namen hatte er von dem Salzgarten, der am Fuße des Felsens lag und in dem Álvaro in traditioneller Manier köstliches Meersalz erntete. Die Anlage, die in den Naturfelsen geschlagen worden war, bestand seit Menschengedenken, war lange vergessen gewesen und von Álvaros Großvater wieder in Betrieb genommen worden. Heute war die modernisierte und erweiterte Saline ein Geheimtipp der internationalen gehobenen Gastronomie. Vor allem die Salzblumen, große kostbare Kristalle, die nur bei bestimmten Witterungsbedingungen in mühevoller Handarbeit von den Becken abgeschöpft werden konnten, das sogenannte Flor de Sal, waren berühmt und begehrt.

Julia umrundete eine letzte Kurve, und der Blick hinunter zur Küste war frei. Wie eine kleine Trutzburg thronte die Finca mit dem Landgasthof im strahlenden Mittagslicht auf dem mächtigen Felsen. Ein uralter Drachenbaum schien die große zweistöckige Anlage zu bewachen. Hinter dem Haus befand sich, von hohen Mauern vor dem stetigen Passatwind geschützt, ein Garten mit Obstbäumen und zahlreichen Küchenkräutern.

Julia erreichte die Landstraße und nahm die ungeteerte Piste, die zum Mesón führte. Unter dem Drachenbaum parkten bereits die Autos von Devi und Sam sowie von Julias Küchenhilfe Paola. Kaum hatte Julia ihren Wagen daneben abgestellt, kam Amo, ein wunderschöner Garafianorüde, der ihr zugelaufen war und seither das Anwesen mit großem Verantwortungsbewusstsein bewachte, aufgeregt angerannt. Winselnd sprang er an ihr hoch und hinterließ staubige Pfotenspuren auf ihrem roten Kleid.

»Na, na, nicht so stürmisch«, wehrte Julia ihn verwundert ab. Das war so gar nicht seine Art. »Was ist denn los mit dir?« Zur Antwort bellte Amo zweimal und rannte ein Stück den Fahrweg entlang in Richtung Straße, blieb dann stehen und blickte sich auffordernd um, so als wolle er, dass Julia ihm folgte.

Kopfschüttelnd betrat sie den Innenhof, wo ihr Team bereits emsig dabei war, die letzten Vorbereitungen für den Sektempfang hier im Freien zu treffen. Devi verteilte gemeinsam mit ihrer dreizehnjährigen Tochter Parvati Servietten und kleine Blumengestecke auf den Stehtischen, während Amelie Gläser auf einem der Buffettische aufreihte. Tina, die jüngere Schwester von Álvaros bestem Freund Toto, ging Amelie an diesem Tag, wie schon oft zuvor, zur Hand.

»Hey«, rief Amelie Julia zu. Ihre blauen Augen blitzten, und ihr kurzes blondes Haar war wie immer tadellos frisiert. »Wie war die Zeremonie?« Amelie und Julia kannten sich schon seit einer Ewigkeit und hatten gemeinsam in den besten Restaurants Europas gearbeitet – Amelie als Serviceleiterin und Julia als Chef de Cuisine. Julia beglückwünschte sich jeden Tag aufs Neue dazu, dass ihre Freundin eine internationale Karriere in den größten Häusern zugunsten ihres kleinen Landgasthofs mitten im Atlantik aufgegeben hatte.

»Sehr schön«, antwortete Julia. »Der Priester hat zwar ein bisschen lange gepredigt, aber die kleine Martina hat das auf ihre Weise geregelt: Irgendwann hat sie die Geduld verloren und ihm laut und deutlich zu verstehen gegeben, dass er zu einem Ende kommen sollte.«

Amelie lachte. »Die Kleine ist so süß«, schwärmte sie. »Wenn man sie anschaut, könnte man direkt Lust bekommen, selbst so etwas in die Welt zu setzen.«

»Kinder sind etwas Wunderbares«, pflichtete Devi ihr bei und warf ihrer Tochter einen liebevollen Blick zu. Die beiden sahen an diesem Tag hinreißend aus in ihren hellen Tuniken über den indisch geschnittenen Baumwollhosen. Parvati hatte in ihr langes goldblondes Haar ein fuchsiafarbenes Seidenband eingeflochten, was ihr ausgezeichnet stand.

»Nun«, meinte Julia an Amelie gewandt, »du und Toto könntet das doch durchaus in Erwägung ziehen.«

»Na ja, so weit sind wir noch lange nicht«, entgegnete Amelie verlegen. Sie war seit einem guten halben Jahr mit Álvaros bestem Freund zusammen. Wenn man bedachte, dass keine ihrer früheren Beziehungen länger als zwei Wochen gedauert hatte, war das schon eine halbe Ewigkeit. »Und stell dir vor, ich müsste so wie Fayna während der gesamten Schwangerschaft liegen …« Amelie stieß geräuschvoll die Luft aus. »Das würde ich nicht überleben.«

»Das kommt zum Glück nur ganz selten vor«, versicherte ihr Devi. »Als ich mit Parvati schwanger war, hab ich die ersten sechs Monate fast nichts davon bemerkt.«

»Deine Tochter war eben schon von Anfang an extrem rücksichtsvoll«, entgegnete Amelie und sah dem Mädchen nach, das gerade im Haus verschwand. Dann wandte sie sich Julia zu. »Wann kommen denn die Gäste?«

»Sie können jeden Moment hier sein«, antwortete Julia und ging in die Küche, wo Paola schon den Salat mit den Wildkräutern vorbereitet hatte, der zusammen mit Pacos Ziegenkäse als Vorspeise serviert werden würde.

Als Hauptgericht hatte sich Fayna fangfrischen Felsenfisch mit hausgemachtem grünen Mojo gewünscht, jener pikanten Kräutersauce aus frischem Korianderkraut, Petersilie und Knoblauch sowie diversen Gewürzen, die für die Kanaren so typisch war. Diego, ein befreundeter Fischer, hatte sie nicht enttäuscht und Julia in aller Herrgottsfrühe mit ausreichend Zackenbarsch, Rotrandbrasse und Drachenkopf versorgt. Vor dem Kirchgang hatte Julia die Fische bereits zum Garen vorbereitet.

»Zeit für die Tapas!« Mit Schwung betrat Amelie die Küche.

»Hier sind sie.« Julia öffnete den Kühlraum und reichte ihr Platte um Platte, damit sie auf dem Buffet draußen im Hof angeordnet werden konnten. Schließlich ging Julia selbst hinaus, um sich davon zu überzeugen, dass alles perfekt war. Noch waren die Köstlichkeiten mit Folie abgedeckt, die Amelie und Tina erst entfernen würden, wenn die Gäste vollzählig waren.

»Da kommen die Ersten.« Amelie beschattete ihre Augen mit der Hand und sah zur Landstraße hinüber. Julias Blick wanderte über das Buffet. In den Eiskübeln warteten bereits die Weißwein- und Cava-Flaschen darauf, geöffnet zu werden. Die Menge der leckeren Tapas war riesig, doch sie wusste aus Erfahrung, dass kaum etwas übrig bleiben würde, zu begehrt war ihr Fingerfood, das sie am Tag zuvor zubereitet hatte: mit Ziegenkäse gefüllte Champignonköpfe, marinierte Sardellen, eingelegte Oliven, winzige Käsewindbeutel, Chorizo von Julias Lieblingsmetzger, feinster Schinken vom Ibérico-Schwein, verschiedene Meerestiere und gegrilltes Gemüse.

Rasch ging sie zurück in die Küche und half Paola, die knapp fünfzig Portionen Salat anzurichten. Sie benutzte eine Kochpinzette aus Edelstahl, um die bunten essbaren Blüten und den in Herzform ausgestochenen Ziegenkäse auf den Wildkräutern zu platzieren, sodass jeder einzelne Teller schließlich wie ein Kunstwerk wirkte.

»Das Dressing geben wir erst kurz vor dem Servieren drauf«, erklärte sie, als sie damit fertig war, und wandte sich den großen Kasserollen zu, in denen sie später den Fisch zusammen mit bereits geschälten und in große Stücke geschnittenen Kartoffeln nach traditioneller kanarischer Manier dünsten würde.

Paola musterte sie mit einem breiten Lächeln. »Du siehst hübsch aus mit all den Blüten im Haar«, sagte sie. »Das solltest du immer so tragen.«

»Das war der Jakarandabaum«, gab Julia lachend zurück, streifte die Kochbluse ab, die sie über ihr Kleid gezogen hatte, und klopfte nochmals den Staub vom Rock, den Amos Pfoten hinterlassen hatten. Sie warf einen Blick in den Spiegel neben dem Schrank. Tatsächlich hatten sich zahlreiche der winzigen blauen Blüten in ihrem Haar festgesetzt.

»Lass das ruhig so«, riet ihr Paola und begann, die benutzten Küchenbretter und Messer abzuwaschen. »Das ist ein schöner Haarschmuck.«

»Das finde ich auch.« Julia drehte sich um. Es war Álvaro, der durch die Gartentür hereingekommen war. »Es sieht toll aus.« Sachte berührte er den in Silber gefassten Perlmuttanhänger, den er ihr zum vergangenen Weihnachtsfest geschenkt hatte, und küsste sie zärtlich. »Die ersten Gäste sind da. Kommst du mit hinaus?«

Der Hof hallte wider von angeregten Stimmen und fröhlichem Gelächter. Amelie und Tina waren dabei, die Taufgesellschaft mit Getränken zu versorgen. Sie hatten die Folien von den Tapas entfernt, und Amelie klopfte gerade Emil spielerisch auf die Finger, der sich ein Tellerchen mit Jamón Ibérico schnappen wollte. El Rostro, der sich ebenso angeschlichen hatte, streckte demonstrativ seine Hände in die Hosentaschen und tat so, als könne er kein Wässerchen trüben. Julia wandte sich mit einem Grinsen von den beiden Jungen ab.

»Das sieht ja alles äußerst verlockend aus.« Arminda, Faynas Mutter, musterte das Buffet mit anerkennender Miene.

»Julias Tapas sind die besten der gesamten Insel«, warf Belén ein.

»Den Kalamar hab ich nach deinem Rezept zubereitet«, sagte Julia liebevoll zu der alten Dame, die vor vielen Jahren gemeinsam mit Álvaros Großvater den Landgasthof aufgebaut hatte. »Sind eigentlich schon alle Gäste eingetroffen?«, fragte sie Fayna und ihre Mutter. »Wenn es euch recht ist, können wir das Buffet jetzt eröffnen.«

»Paco möchte noch eine kleine Rede halten«, erklärte Fayna und sah sich unruhig nach ihrer kleinen Tochter um, die von Arm zu Arm gereicht und gerade von ihrer Großtante Maribel in Obhut genommen wurde.

Auf einmal fühlte Julia eine kühle Schnauze an ihrem Knie. Es war Amo, der winselnd mit der Pfote sanft gegen ihr Knie stieß und sie mit schreckgeweiteten Augen ansah.

»Was hat er denn?«, fragte Fayna.

»Ich hab keine Ahnung«, antwortete Julia ratlos. Als Amos Winseln in ein aufgeregtes Bellen und Herumspringen überging, brachte sie ihn hinters Haus, wo Sam unter den Bäumen ein großes Gehege für den Garafiano gebaut hatte. Mit Mühe gelang es ihr, Amo zu überreden, dort hineinzugehen und sich vor seine Hundehütte zu legen.

Sie konnte sich nicht erklären, was an diesem Tag in ihn gefahren war. »Ich hol dich wieder raus, wenn die Besucher weg sind.« Amo blieb gehorsam liegen, sein Blick war jedoch unruhig und verfolgte flehentlich jede von Julias Bewegungen. Sie prüfte noch rasch, ob er ausreichend Trinkwasser hatte, dann begab sie sich zurück in den Hof, wo Paco gerade mit seiner Rede begann.

»Keine Sorge«, hörte sie ihn sagen, »ich mach es kurz, alles andere wäre nicht auszuhalten angesichts dieses fantastischen Buffets.« Er lachte, und einige Gäste stimmten mit ein. »Ich bin ja nur Faynas Onkel, aber da ihr Vater nicht mehr bei uns ist, habe ich die Ehre, unsere kleine Erdenbürgerin in unserer Mitte willkommen zu heißen.« Er zog umständlich etwas aus seiner Jackentasche, das in der Sonne aufblitzte. »Liebe Martina. Dieses goldene Armband mit dem Symbol der Spirale, das von Tochter zur Tochter weitergereicht wird, seit deine Familie zurückdenken kann, soll dich beschützen. Es ist das Symbol der ewigen Wiederkehr, ein Symbol für die Sonne, die uns am Leben erhält. Es ist ein Symbol, das uns überall in der Natur begegnet, in Schneckenhäusern, in den Samenständen von Blumen, in den Trieben der Farne und in den Galaxien des Universums. Nicht umsonst haben unsere Vorfahren, die Benahoaritas, die Spirale in unzähligen Varianten in die Felsen geritzt, denn sie erinnert uns daran, woher wir kommen, und gibt uns eine Idee davon, wohin wir gehen. Du bist eine von uns, kleine Martina, wir werden immer für dich da sein. Möge das Glück dich begleiten.« Er beugte sich über das Baby, das friedlich in Maribels Armen lag, und legte ihm behutsam die feine goldene Kette um das Handgelenk, während die Gäste applaudierten.

»Noch reicht es dreimal um ihre Hand«, sagte Arminda mit Tränen der Rührung in den Augen. »Es wird auch noch passen, wenn sie erwachsen ist.«

Maribel legte Fayna ihr Töchterchen in den Arm.

»Das ist ein schöner Brauch«, sagte Julia und betrachtete das Armband. Zwischen zwei Gliedern der Kette war eine kleine goldene Plakette befestigt, auf der eine Spirale eingraviert worden war.

»Er ist sehr alt«, erzählte Fayna und prüfte, ob die Kette nicht etwa zu eng um den Arm des Neugeborenen geschlungen war. »Keiner aus unserer Familie weiß, wann dieser Brauch begonnen hat.« Sie seufzte. »Wenn ich ehrlich sein darf – ich hab einen Bärenhunger«, gestand sie und betrachtete sehnsüchtig das Buffet mit den Tapas, das sogleich umlagert wurde. Natürlich waren Emil und El Rostro bei den Ersten, die sich bedienten.

»Weißt du was?«, schlug Julia Fayna vor. »Wieso setzt du dich nicht auf diesen Stuhl und lässt dir etwas bringen? Du musst müde sein. Weckt dich die kleine Maus oft in der Nacht?«

»Drei oder vier Mal«, antwortete Fayna und ließ sich dankbar auf einem der Stühle nieder, die Sam vor allem für die älteren Verwandten bereitgestellt hatte. Sie wirkte sehr bleich, und Julia begann, sich Sorgen zu machen.

»Möchtest du dich vielleicht einen Moment hinlegen?«, fragte sie beunruhigt. »Hast du eigentlich das hübsche Appartement schon gesehen, das Sam da drüben für Belén eingebaut hat?« Sie wies auf eines der beiden Nebengebäude, die den Hof seitlich schlossen. »Dort könntest du kurz die Beine hochlegen, wenn dir danach ist.«

Fayna schüttelte den Kopf. »Nicht nötig«, antwortete sie. »Vielen Dank.«

Julia winkte Tina heran und bat sie, Fayna Mineralwasser zu bringen und einen Teller mit verschiedenen Tapas zusammenzustellen, dann setzte sie sich zu der jungen Mutter. Fayna sah ihr fest in die Augen. »Glaub mir, die Beine hochlegen ist das Letzte, was ich will, ganz im Gegenteil. Ich möchte so bald wie möglich wieder arbeiten. Das monatelange Liegen hat mich richtig fertig gemacht. Ich kann es kaum erwarten, zu einem normalen Leben zurückzukehren.«

»Dein ›normales‹ Leben ist jetzt dein Kind.« Weder Julia noch Fayna hatten Arminda kommen hören, die besorgt auf ihre Tochter herunterblickte. »Auch ich habe damals aufgehört zu arbeiten, als du zur Welt gekommen bist. Als Mutter hast du genug zu tun. Sei froh, dass dein Mann eure Familie ernähren kann und du dich deinen Kindern widmen kannst.« Julia beobachtete besorgt, wie Faynas Miene sich verfinsterte. Wer sie kannte, sah an der Art, wie ihre Augen blitzten, dass sie gleich vor Ärger platzen würde. Ihre Mutter schien das nicht zu stören. »Martina soll ja irgendwann ein Geschwisterchen bekommen und …«

»Lass es gut sein, Mama«, schnitt Fayna ihr das Wort ab. Glücklicherweise rief in diesem Moment Maribel nach Arminda und erinnerte sie daran, dass sie noch die Namenskärtchen für die Tischordnung im Restaurant verteilen musste, ehe die Gäste dort Platz nahmen.

Fayna wartete, bis ihre Mutter weit genug entfernt war, dann stieß sie einen abgrundtief verzweifelten Seufzer aus.

»Ich will nicht nur zu Hause rumsitzen«, stieß sie hervor. »Es bedeutet doch nicht, eine schlechte Mutter zu sein, nur weil man seinen Beruf ausüben will!«

»Natürlich nicht«, antwortete Julia und schluckte hart. Faynas Wunsch, so bald auf ihre alte Arbeitsstelle als Serviceleiterin im Flor de Sal zurückzukehren, erfüllte sie mit Bestürzung. Denn, so fragte sie sich, was sollte dann mit Amelie geschehen? Schließlich hatte sie Julia damals gerettet, als Faynas Schwangerschaft sich so unerwartet verkompliziert hatte, dass sie von einem Tag auf den anderen nicht mehr zur Arbeit hatte erscheinen können. Um ihr Kind nicht zu verlieren, hatte Fayna viele Monate lang liegen müssen. Dass sie sich danach sehnte, in ihr altes Leben zurückzukehren, war nur zu verständlich. Was Julia nun allerdings vor keine geringen Schwierigkeiten stellte. Denn auch wenn das Restaurant ausgezeichnet lief, konnte sie sich zwei so qualifizierte Kräfte wie Amelie und Fayna finanziell nicht leisten. Mit Amelie war sie außerdem seit vielen Jahren befreundet, und der Gedanke, diese könnte die Insel verlassen, um weit weg in einem großen internationalen Hotel eine Stelle anzunehmen, erfüllte sie mit Bestürzung.

»Komm erst mal wieder zu Kräften«, riet sie Fayna. »Nimm dir Zeit, bis sich euer Leben mit dem Kind eingependelt hat.« Sie erhob sich und sah sich prüfend um. Die Platten mit Tapas leerten sich rasch. Es würde nicht mehr lange dauern, bis alle sich zu Tisch begeben würden. »Ich muss zurück in die Küche«, sagte sie und streichelte sanft über Martinas kleine Fäuste. »Genieß es einfach, heute die Hauptperson zu sein und dich bedienen zu lassen. Alles andere werden wir sehen.«

»Die Hauptperson heißt Martina«, gab Fayna mit einem müden Lächeln zurück. »Und ich fürchte, das wird die nächsten Jahre so bleiben.«

In der folgenden Stunde blieb Julia keine Zeit, über Faynas Worte nachzudenken. Als der Salat serviert war, dünstete sie den vorbereiteten Fisch auf traditionelle kanarische Art in großen Kasserollen auf einem Bett von Kartoffeln und richtete ihn auf Platten an. Zum Nachtisch hatte Fayna sich Bienmesabe gewünscht, eine Creme aus karamellisiertem Zucker, Honig und schaumig geschlagenen Eidottern, eine Köstlichkeit, die laut den Einheimischen von einer Konditorin in El Paso erfunden worden war. Julia servierte so gut wie nie nur eine einzige Nachspeise nach einem Menü, ihre Dessertteller enthielten mindestens drei Komponenten. An diesem besonderen Tag hatte sie zu dem Bienmesabe eine leichte Zitronencreme gezaubert und zu Ehren der kleinen Martina zarte Makronen gebacken, die auf der Zunge zergingen, und zwar in den Farben Rosarot, Weinrot und Zartgrün, wofür sie Himbeer- und Maulbeersaft verwendet hatte und für das Grün einen Auszug von Pfefferminze.

Als Amelie und Tina anschließend den Kaffee servierten und Julia ins Restaurant ging, um sich zu Álvaro und seinen Freunden zu setzen, vernahm sie plötzlich ein leises, tiefes Grollen, ein Geräusch, das aus den Tiefen der Erde zu stammen schien. Sie blieb unwillkürlich stehen und hatte auf einmal das Gefühl, die Kontrolle über ihre Beine zu verlieren. Sie hielt sich an der Bar fest und sah verwundert nach oben, wo die Blumenampeln mit den Farnen und Strelitzien, die von der Decke hingen, hin- und herschwangen, als hätte eine unsichtbare Hand sie angestoßen. Gläser begannen zu vibrieren und gaben sirrende Klänge von sich. Tina ließ mit einem Schreckensschrei ihr Tablett fallen, klirrend zerbrachen die Tassen auf dem Fliesenboden. Das fröhliche Geplauder verstummte schlagartig, als der Boden zu schwanken begann.

»Ein Erdbeben«, rief Álvaro. »Schnell, alle raus in den Hof.«

2

Das Beben

Julia fühlte sich wie gelähmt. Der Boden unter ihren Füßen vibrierte, die Welt um sie herum schien auf seltsame Art und Weise zu tanzen. Wie durch einen Schleier nahm sie wahr, wie Faynas Mann seinen Arm um Frau und Kind legte und sie Richtung Ausgang schob. Amelie half einer älteren Dame vom Stuhl auf. Álvaro stützte Belén.

»Bleibt von den Mauern weg, wenn ihr draußen seid!«, übertönte Paco die aufgeregten Stimmen. Maribel rief nach ihrem Enkel El Rostro. Das Gebälk des alten Gebäudes ächzte. Eine der Blumenampeln löste sich aus ihrer Verankerung, stürzte herunter und zerbarst einen Meter vor Julia auf dem Fußboden. Mehrere Gäste gerieten in Panik und begannen zu schreien. Aus der Küche vernahm Julia ein lautes Krachen.

»Ich muss den Strom abschalten«, stieß sie hervor, wankte in den Flur zum Sicherungskasten und legte den Hauptschalter um. Es kam ihr vor, als bewege sie sich wie in Zeitlupe auf einer Eisscholle, die sich unter ihren Schritten mal hierhin, mal dorthin neigte. In der Küche waren einige der Kupfertöpfe, die über dem Herd an Haken hingen, heruntergefallen, scheppernd folgte gerade eine große Bratpfanne. Julia verriegelte die Klappe des gemauerten Ofens, inständig hoffend, dass die Feuerstelle nicht aufbrechen würde.

»Komm mit nach draußen«, hörte sie Álvaro sagen. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass er ihr gefolgt war. Aus dem Garten drang das aufgeregte Gebell von Amo zu ihr.

Er hat es gespürt, durchzuckte Julia die plötzliche Erkenntnis. Bestürzt ließ sie sich von Álvaro durch die Gartentür ins Freie ziehen.

Noch einmal ruckte der Boden unter ihren Füßen, dann beruhigte sich die Welt um sie herum und stand endlich wieder still.

»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Álvaro und nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände.

Sie nickte mit großen Augen. Der Schreck saß ihr tief in den Gliedern.

»Wo ist Emil? Was ist mit den Gästen? Ist Belén in Sicherheit?«

»Es geht allen gut. Sie sind im Hof. Die Jungen haben toll mitgeholfen.«

Julia merkte, dass sie sich geradezu an Álvaro festklammerte. Sie lockerte ihren Griff und atmete tief durch. Ihr Blick wanderte an der Fassade des Hauses empor. Sie konnte keine Schäden erkennen.

»Ich muss nach Amo sehen.«

Rasch lief sie zum Gehege. Der Garafiano zitterte am ganzen Leib und drückte sich schwanzwedelnd an sie.

»Jetzt ist alles gut«, flüsterte sie ihm ins Ohr und streichelte ihn. Zumindest hoffte sie das. Amo winselte herzzerreißend und drängte sich an ihr vorbei. Tiere haben ihre eigene Intelligenz, sagte sie sich. Falls weitere Beben folgen würden, wusste der Hund ganz bestimmt, wo er in Sicherheit war. Immerhin hatte er das Ereignis bereits gespürt, als sie noch vollkommen ahnungslos gewesen war.

»Erdstöße sind auf der Insel nichts Besonderes«, sagte einer der Taufpaten, als Julia mit Álvaro in den Hof kam.

»Das stimmt. Dieses Beben war allerdings ungewöhnlich heftig«, gab Faynas Schwiegervater zurück. Tina und Amelie boten der aufgeregten Gruppe Getränke und Gebäck an, doch die meisten winkten ab. Selbst Belén war ungewöhnlich still und umschloss ihren Gehstock fast krampfhaft.

»Dass man es sogar hier an der Küste so heftig spüren konnte – nein, das ist nicht normal«, warf Maribel ein und wandte sich an Fayna. »Bitte nimm es uns nicht übel, aber wir müssen nach Hause.«

Ihr Mann Paco nickte. »Jetzt wissen wir, warum die Ziegen und Esel heute so unruhig waren«, sagte er, während Maribel El Rostro zu sich rief. »Wir müssen dringend nach den Tieren sehen. Emil, möchtest du mitkommen?«

»Klar«, antwortete der Junge.

»Solltest du nicht deinen Vater anrufen?«, fragte Julia besorgt.

»Hab ich gerade«, gab Emil zurück. »Er ist mit einer Touristengruppe unterwegs, es ist alles in Ordnung mit ihm.« Und zu Paco gewandt sagte er: »Ich darf heute bei euch übernachten. Ist das okay?«

»Natürlich, mein Junge«, antwortete Paco warmherzig. »Du bist bei uns zu Hause, das weißt du doch.«

Auch die anderen Gäste hatten es auf einmal eilig, aufzubrechen. Von der festlichen Stimmung war nichts mehr zu spüren. Keiner hatte Lust, so wie üblich noch zu verweilen und sich bis in den Abend hinein zu verplaudern. Eine halbe Stunde später waren sie in alle Winde zerstreut, nur Julias Restaurantteam sowie Toto und Fayna mit Mann und Kind waren geblieben. Devi beseitigte gemeinsam mit Amelie und Tina die Scherben des Blumenkübels und die weit verstreute Blumenerde, und Paola sah in der Küche nach dem Rechten.

»Was für ein Desaster«, sagte Fayna niedergeschlagen. Sie hatte die kleine Martina angelegt, die gierig an ihrer Brust trank. »Einen Moment lang hab ich wirklich geglaubt, uns fällt die Decke auf den Kopf.«

»So schlimm war es nicht«, versuchte ihr Mann Pablo, sie zu beruhigen, und legte einen Arm um sie.

»Gibt es denn häufiger solche Erdbeben auf La Palma?«, fragte Julia besorgt.

»Wir leben auf einem sogenannten Hotspot«, erklärte Álvaro. »Das kommt daher, dass hier verschiedene tektonische Platten aneinanderstoßen.«

»Die gesamte Inselgruppe der Kanaren ist das Ergebnis vulkanischer Aktivitäten«, ergänzte Toto. Er arbeitete bei der Umweltschutzbehörde und kannte sich in solchen Dingen besonders gut aus. »Da ist es ganz normal, dass wir hin und wieder ein bisschen durchgerüttelt werden.«

»Na ja, ein bisschen war das nicht«, wandte Fayna ein.

»Die Seismographen registrieren tagtäglich mehrere Beben«, sagte Toto. »Die meisten spürt man gar nicht.«

Das Beben heute hat man aber deutlich gespürt, dachte Julia beunruhigt. »Eine Tasse Kaffee tut uns jetzt sicher gut«, sagte sie und erhob sich. »Wer möchte eine?«

»Mich hat das ganz schön erschreckt«, gestand Julia, als sie am Abend mit Álvaro auf ihrem Lieblingsfelsen unten im Salzgarten saß. Sie hatten die gesamte Finca nach eventuellen Schäden abgesucht, doch außer der zerbrochenen Blumenampel hatte das Erdbeben keine Spuren hinterlassen. Danach hatte Álvaro seine Großmutter zurück in ihre Seniorenresidenz nach Santa Cruz gebracht.

»Beim ersten Mal ist es beängstigend«, sagte Álvaro und legte ihr den Arm um die Schultern. »Man gewöhnt sich daran.«

»Schade um das Fest«, seufzte Julia und lehnte sich an ihren Freund. In der Dämmerung schienen die weißen Salzkegel, die Álvaro und seine Mitarbeiter in regelmäßigen Abständen zwischen den rechteckigen Verdunstungsbecken aufgehäuft hatten, von innen heraus zu leuchten. Noch reflektierte das Wasser das schwindende violette Licht, über dem Horizont erschien bereits der Abendstern. Das gleichmäßige Geräusch der Wellen, die zwanzig Meter unterhalb des riesigen Felsplateaus, auf dem der Jardín de la Sal angelegt war, gegen das Festland anbrandeten, hatte eine beruhigende, ja, fast einschläfernde Wirkung auf Julia. Der Geruch nach Salz und Tang füllte ihre Lungen.

»Wollen wir heute hier unten übernachten?«, schlug sie vor.

Als Antwort küsste Álvaro sie und strich behutsam eine Strähne aus ihrem Gesicht. »Da sind ja noch die Blüten«, murmelte er und drückte viele kleine Küsse auf ihr Haar. Seine Hand streichelte ihre Knie und begann zärtlich, ihr Kleid nach oben zu schieben, fuhr ihre Oberschenkel hinauf und liebkoste sie. Julia schmiegte sich an ihn und atmete tief aus, alle Anspannung fiel von ihr ab. Nur noch sie beide existierten in diesem Moment, ihre Liebe und Zärtlichkeit – als plötzlich eine weibliche Stimme ertönte.

»Álvaro, bist du hier?«

Der Lichtkegel einer Taschenlampe glitt über den Salzgarten. Hastig machte Julia sich los und zog das Kleid über ihre Knie. Keine Sekunde zu spät, schon streifte sie der Strahl.

»Hör auf uns zu blenden, Naira«, sagte Álvaro und hob schützend den Arm vor die Augen. »Was willst du? Ist etwas passiert?«

Julia unterdrückte ein Stöhnen. Álvaros Cousine Naira hatte ein ausgesprochenes Gespür dafür, zu den ungelegensten Zeiten zu kommen. Erst vor Kurzem war sie so wie jetzt aufgetaucht und bis früh um vier geblieben. Der Lichtkegel ruhte etwas zu lange auf Julia, dann wurde er ausgeschaltet.

»Ich wollte wissen, wie es dir geht«, erklärte Naira, und ihre Stimme zitterte. »Wegen des Erdbebens. Ob alles in Ordnung ist. Du bist nicht ans Telefon gegangen.«

»Natürlich nicht«, entgegnete Álvaro mit einem Seufzen. »Es ist Samstagabend. Wieso bist du nicht mit den anderen unterwegs, so wie immer?«

Naira antwortete nicht. Obwohl es inzwischen dunkel geworden war, konnte Julia ihre zarte Gestalt gegen den Nachthimmel erkennen. Schließlich ließ sie sich auf Álvaros anderer Seite nieder. Julia biss die Zähne aufeinander. Genau so hatte es neulich auch begonnen. Merkte diese Frau denn nicht, dass sie störte?

»Es ist nicht mehr so wie früher«, sagte Naira niedergeschlagen. »Du bist nicht mehr dabei. Und Toto ist nur noch mit Amelie unterwegs.«

»Bleiben noch Pepe und Serena«, gab Álvaro ungerührt zurück. »Und noch jede Menge anderer Leute.«

Naira schwieg, und Julia verdrehte innerlich die Augen. Wann würde Álvaro endlich begreifen, dass seine Cousine in ihn verliebt war? Auch Amelie war das schon aufgefallen. Sie nannte Naira inzwischen nur noch »die Stalkerin«. Nachdem Nairas Bruder vor einigen Jahren bei einem Unfall ums Leben gekommen war, hatte Álvaro alles dafür getan, um ihr den Verlust zu ersetzen. Er war der festen Überzeugung, dass sie in ihm nichts weiter als eine Art Bruder sah. Julia war da anderer Meinung.

»Okay, mir geht es gut«, sagte Álvaro resigniert. »Hier ist nichts passiert. Und bei euch?«

»Es war wirklich beängstigend«, gab Naira zurück. Dann begann sie, leise zu schluchzen. »Ich traue mich eigentlich gar nicht, mit dem Auto alleine nach Hause zu fahren. Was, wenn es wieder losgeht?«

»Es ist ja alles gut gegangen«, versuchte Álvaro sie zu trösten. Dann erhob er sich und reichte Naira die Hand, um ihr aufzuhelfen. »Soll ich dich heimfahren?«

»Das wäre nett«, antwortete Naira, und Julia fluchte innerlich. Nun war es dieser Frau tatsächlich schon wieder gelungen, ihnen den Abend zu verderben.

»Geh schon mal vor zum Wagen«, sagte er und sah Naira nach, wie sie ihre Taschenlampe erneut anknipste und zögernd an dem Salzhäuschen vorbei in Richtung seines Pick-ups ging, mit dem er seine Salzernte abtransportierte. »Tut mir leid«, sagte er zu Julia und ging neben ihr in die Hocke. »In einer Stunde bin ich zurück. Wenn es dir hier draußen zu ungemütlich wird, geh einfach schon mal zu Bett.« Er fuhr ihr sanft über den Rücken, sodass Julia ein Schauer durchlief. In ihr war alles Begehren, und auch seine Lippen wirkten hungrig und leidenschaftlich, als er sie küsste. Schließlich seufzte er tief und richtete sich auf. »Bis nachher«, sagte er leise.

Julia nickte enttäuscht. »Bis später«, flüsterte sie, da war er schon wie ein Schemen hinter dem Salzhaus verschwunden.

Tief in der Nacht schreckte Julia aus einem Traum auf. Sie hatte ziemlich lange draußen auf dem Felsen gewartet und beobachtet, wie immer mehr Himmelskörper am Firmament aufgeleuchtet waren. Schließlich war eine kühle Brise aufgekommen, und sie war ins Haus gegangen. Sie hatte sich ausgezogen und war nackt zwischen die Laken geschlüpft in der Hoffnung, dass Álvaro wie versprochen bald zurückkäme. Jetzt hatte Julia keine Ahnung, wie spät es war, dass er inzwischen weit länger als eine Stunde weg war, daran bestand jedoch kein Zweifel.

Sie tastete nach der kleinen Lampe neben dem Bett und schaltete sie ein. Es war kurz vor eins.

Ein scharrendes Geräusch ließ sie zusammenfahren, gleichzeitig wurde ihr bewusst, dass es diese Laute gewesen waren, die sie geweckt hatten.

»Álvaro?«, rief sie leise. Das Geräusch verstummte. Sie holte tief Luft, schlüpfte in ihr Kleid, nahm ihren gesamten Mut zusammen und öffnete die Tür. Eine feuchte Nase stieß gegen ihr Knie. Amo stand vor ihr und wedelte heftig mit dem Schwanz. »Meine Güte«, stieß sie hervor und beugte sich zu dem Hund hinunter. »Du hast mir einen Schrecken eingejagt.«

Nachdenklich setzte sie sich auf einen Stein neben der Haustür und kraulte den Garafiano hinter den Ohren. Amo begleitete Julia selten bis hier herunter, meistens blieb er oben bei der Finca und wartete dort auf sie. Warum hatte er sich in dieser Nacht auf den Weg zu ihr gemacht? War er noch wegen des Erdbebens beunruhigt? Und wo blieb eigentlich Álvaro? War ihm womöglich unterwegs etwas zugestoßen?

Ihr fiel ein, dass er ihr eine Nachricht geschickt haben könnte, und sie ging ins Häuschen, um auf ihrem Smartphone nachzusehen. Tatsächlich. Naira hat einen ihrer Anfälle bekommen. Ich muss mit ihr ins Krankenhaus. Tut mir so leid. Warte besser nicht auf mich.

Julia stöhnte laut auf. Sie war hin- und hergerissen zwischen Verständnis für Nairas Bedürfnisse und einem leisen Argwohn, dass Naira die Erkrankung manchmal vorschob. Seit dem Tod ihres Bruders litt Naira unter Epilepsie, auch wenn kein Arzt je eine physische Ursache für diese Erkrankung hatte diagnostizieren können. Es hieß, es sei der Schock gewesen, doch wenn Julia ehrlich mit sich war, musste sie sich eingestehen, dass sie Naira im Grunde ihres Herzens für eine Simulantin hielt. War so ein Anfall nicht ein wunderbares Mittel, alle Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen? Denn die junge Frau wusste ganz genau, dass Álvaro alles stehen und liegen ließ, um sich in einem solchen Fall um sie zu kümmern.

»Biest«, murmelte sie frustriert und legte fröstelnd die Arme um ihre Schultern. Kurz zögerte sie, ob sie in die Finca zurückkehren sollte. Der schmale Pfad dort hinauf war schon bei Tage steil und beschwerlich. Und so beschloss sie, wieder zu Bett zu gehen, zog ihr Kleid wieder aus und schlüpfte in das große T-Shirt, das Álvaro nachts hier unten trug.

»Komm rein«, sagte sie und ließ Amo über die Schwelle, was ihm normalerweise verboten war. Sie wusste, dass Álvaro wie die meisten Spanier den Hund nicht gern in den Wohnräumen, geschweige denn im Schlafzimmer sah. In dieser Nacht setzte sie sich trotzig über seinen Wunsch hinweg.

Amo überschritt die Schwelle zögernd und vorsichtig, er wusste genau, dass dies eigentlich nicht zu den Spielregeln gehörte. Er schnupperte kurz den Raum aus, dann ließ er sich auf dem Flickenteppich vor Julias Bett nieder, rollte sich zusammen und schlief sogleich ein.

Es war taghell, als Amos Bellen Julia weckte. Álvaro stand mit einer Brötchentüte in der Tür und blickte erstaunt auf den Hund, der sogleich verstummte, als er ihn erkannte und schwanzwedelnd auf ihn zulief.

»Guten Morgen. Was macht denn Amo im Haus?«, fragte er erstaunt.

Julia rieb sich die Augen. Es brauchte einen Moment, bis sie richtig wach war.

»Er hat mich wohl vermisst«, sagte sie und schwang die Beine aus dem Bett. »Jedenfalls hat er mich nicht im Stich gelassen.«

Als hätte Amo alles verstanden, zog der das Genick ein und drückte sich an Álvaro vorbei aus dem Haus.

»Findest du, ich hab dich im Stich gelassen?«, fragte Álvaro überrascht und legte die Brötchen in eine Schale auf dem Tisch. »Ich hab dir doch geschrieben, dass …«

»Lass es gut sein«, unterbrach Julia ihn unwillig und ging zum Waschbecken, um ihr Gesicht mit kaltem Wasser zu waschen. Als sie sich abtrocknete, spürte sie, wie Álvaro hinter sie getreten war und die Arme um sie legte, doch in einem jähen Impuls machte sie sich von ihm los. Ja, auf einmal wurde ihr bewusst, dass sie schrecklich wütend auf ihn war.

»Was ist los mit dir?«, fragte Álvaro. Julia antwortete nicht gleich. Stattdessen füllte sie Wasser und Kaffeepulver in die italienische Espressokanne und stellte sie auf den Gasherd. »Bist du sauer auf mich?«

Julia entzündete die Gasflamme, dann drehte sie sich zu ihm um und betrachtete ihn forschend. Fand er es wirklich in Ordnung, wie der vergangene Abend verlaufen war?

»Ich komme mit Naira nicht klar«, sagte sie schließlich. »Ist dir schon mal aufgefallen, dass sie immer bei uns auftaucht, wenn wir gerade mal Zeit füreinander haben?«

»Du übertreibst«, entgegnete Álvaro. »Sie hat sich Sorgen gemacht.«

»Ach was, Sorgen«, erwiderte Julia heftig. »Schließlich hätte sie genauso gut Toto anrufen können. Der hätte ihr gesagt, dass bei uns alles in Ordnung ist.« Sie stellte zwei Becher auf den Tisch. »Wenn du mich fragst – Naira ist eifersüchtig.«

»Eifersüchtig?« Álvaro wirkte ehrlich verblüfft. »Auf wen denn?«

»Auf mich natürlich.« Julia konnte es nicht fassen, dass er das nicht erkannte. Für sie lag das auf der Hand. »Sie hat sogar einmal gesagt, ich hätte dich ihr weggenommen. Weißt du das nicht mehr?«

»Das war ein Scherz«, versuchte Álvaro, sie zu beruhigen, und holte Butter und Käse aus dem Kühlschrank.

»Hinter jedem ihrer Scherze steckt ein Körnchen Wahrheit«, gab Julia zu bedenken. »Jedenfalls fand ich das ziemlich überfallartig gestern Abend. Und am Ende war ich es, die sich Sorgen gemacht hat, als ich mitten in der Nacht wach geworden bin und du noch nicht da warst.«

Álvaro ließ das Messer sinken, mit dem er begonnen hatte, den Käse in Scheiben zu schneiden, und blickte auf. Offenbar wurde ihm erst jetzt bewusst, wie aufgebracht Julia war.

»Das tut mir leid«, sagte er. »Ich hab dir eine Nachricht geschickt, damit du Bescheid weißt. Naira hatte einen Anfall und …«

»Ja, ich weiß«, fiel ihm Julia ins Wort. »Naira hat praktischerweise immer einen Anfall, wenn sie dich von mir fernhalten will.«

Álvaros Gesicht wurde ernst. »Meine Cousine ist krank«, sagte er vorwurfsvoll. »Es ist nicht fair, ihr Derartiges zu unterstellen. Wir stehen uns eben nahe, Naira und ich, und du weißt auch, warum das so ist. Seit Bentor verunglückt ist …«

»Das ist jetzt vier Jahre her«, warf Julia ein. »Wird das ewig so weitergehen? Muss ich selbst in den intimsten Momenten damit rechnen, dass deine Cousine auftaucht?«

Der Blick, den Álvaro ihr zuwarf, verhieß nichts Gutes. »Das klingt eher so, als wärst du eifersüchtig auf sie«, gab er zurück. »Ehrlich, Julia, das ist doch unter deiner Würde.«

Julia schluckte. Auf einmal waren da Tränen in ihren Augen, und obwohl sie versuchte, sie wegzublinzeln, war es zu spät. Eine dicke Träne kullerte ihr über die Wange.

»Du weinst ja!« Rasch kam Álvaro zu ihr und schloss sie in die Arme. »Dafür gibt es überhaupt keinen Grund, cariño! Wirklich nicht. Es tut mir leid, dass ich dich allein gelassen habe. Was hätte ich denn tun sollen?«

Warum hast du sie nicht einfach weggeschickt?, hätte sie am liebsten gefragt. Sie nach Hause zu fahren war ihrer Meinung nach völlig unnötig gewesen. Sicher hatte Naira oben bei der Finca ihren eigenen Wagen abgestellt. Jetzt hatte sie schon wieder einen Grund, bei ihnen aufzutauchen, nämlich, um ihr Auto abzuholen. Solches und vieles mehr hatte Julia auf der Zunge, aber ihre Kehle war auf einmal wie zugeschnürt. Vermutlich war es besser, nicht weiter darauf zu beharren. Wenn Álvaro nach dem, was sie gesagt hatte, noch fand, dass Naira alles Recht der Welt hatte, sie zu jeder Tages- und Nachtzeit zu stören, würde auch ein Streit daran nichts ändern.

»Lass uns erst mal in Ruhe frühstücken«, schlug Álvaro versöhnlich vor.

Alles in Julia sträubte sich dagegen, zur Tagesordnung überzugehen und so zu tun, als sei alles in bester Ordnung. Sie sah auf ihre Uhr.

»Ich muss los«, sagte sie. »Heute steht der Großeinkauf an.« Sie raffte ihre Sachen zusammen und hängte sich ihre Tasche um die Schulter. »Bis später.«

»Jetzt warte doch mal«, hörte sie Álvaro noch sagen, da war sie schon draußen, pfiff nach Amo und machte sich in aller Eile auf den Heimweg.

3

Der Sternegucker

Der Pfad, der vom Salzgarten hinauf zur Finca führte, war nichts für Menschen mit Höhenangst. Er war steil und beschwerlich, und obwohl Julia ihn fast täglich zurücklegte, war sie an diesem Morgen schon nach der Hälfte vollkommen außer Puste. Zu hastig hatte sie den Weg begonnen, fast so, als wäre sie auf der Flucht. Amo war bereits ein gutes Stück voraus und sah von einem Felsvorsprung auf sie herab.

Sie blieb stehen und hielt sich die schmerzende Seite. Ihr Blick wanderte zurück zur Bucht. Unter ihr glitzerte das Meer in der Morgensonne, in der Ferne sah sie die beiden markanten Riffe, dahinter die Steilküste der Lomada Ronca, eines Ausläufers des Inselbergs, der wie die lange Pranke eines riesigen Tieres in den Atlantik hinausragte.

Zu Beginn dieses Jahres war dieser wilde Küstenabschnitt in Álvaros Besitz übergegangen. Er diente zahlreichen andernorts ausgestorbenen Seevögeln als Brutstätte, und die Unterwasserwelt davor beherbergte eine Fülle an bedrohten Lebewesen. Ein kleines Paradies, das seit Kurzem von offizieller Seite geschützt wurde und Teil eines Nationalparks war. Dass dies hatte gelingen können, war Julia, Álvaro und Diego zu verdanken. Naira hatte damals nicht hinter ihrem ach so heiß geliebten Cousin gestanden, hatte ihn nicht unterstützt, und der Grund dafür war vermutlich Julia gewesen. Wenn Julia für eine Sache eintrat, war Naira garantiert dagegen. So einfach war das.

Julia wandte ihren Blick hinaus auf den Atlantik. Das Wetter war mild, der Seegang sacht, ein wundervoller Tag lag vor ihr. Die Weite, die sich bis zum Horizont erstreckte, beruhigte sie. Hatte sie sich zu Unrecht aufgeregt? Nein. Nairas Verhalten ging ihr schon seit einiger Zeit auf die Nerven. Am meisten verletzte Julia, dass Naira sie – falls sie nicht gegen alles Einwände hatte, was Julia sagte – einfach ignorierte. Auch am Abend zuvor hatte sie ausschließlich mit Álvaro gesprochen, so als wäre Julia gar nicht dabei gewesen. Nicht einmal verabschiedet hatte sie sich von ihr, geschweige denn für die Störung entschuldigt. Warum wollte Álvaro das nicht sehen?

Amo hatte kehrtgemacht und neben ihr Stellung bezogen. Er blickte wie sie hinaus aufs Meer, so als wollte er herausfinden, warum seine dueña hier so lange stehen blieb.

»Komm, wir gehen nach Hause«, sagte sie entschlossen und folgte Amo, der nun wie ein Pfeil den Pfad hinaufschoss.

Im privaten Bereich des Gartens hatte es sich Amelie bei einer Tasse Kaffee gemütlich gemacht. Sie saß an dem Tisch, dessen Platte aus alten kanarischen Keramikkacheln bestand. Julia hatte ihn in einem der Nebengebäude gefunden, er stammte noch aus der Zeit, als Álvaros Großmutter Belén hier Wirtin gewesen war. Amelie blickte von der Zeitung auf, in der sie las.

»Stell dir vor, das Erdbeben hat es auf die Titelseite geschafft«, empfing sie Julia. »Es war wohl doch stärker als gewöhnlich.«

Julia setzte sich auf einen der Gartenstühle. Was in der Zeitung stand, war ihr an diesem Morgen herzlich egal.

»Wieso bist du eigentlich schon hier?«, fragte sie Amelie, schließlich war Montag, das Flor de Sal hatte geschlossen.

»Toto muss arbeiten«, antwortete Amelie und musterte Julia eingehend. »Ist alles in Ordnung mit dir?«

Julia seufzte. Ihre Freundin konnte wohl Gedanken lesen. »Naira ist gestern Abend plötzlich aufgetaucht«, erzählte sie. »Gerade als es … na ja, romantisch wurde.« Sie verzog das Gesicht.

»Oh nein! Ist sie wie neulich bis in die Puppen geblieben?«

»Álvaro hat sie nach Hause gefahren«, antwortete Julia. »Aber dann bekam sie einen ihrer Anfälle und musste ins Krankenhaus gebracht werden.«

»Das darf doch nicht wahr sein!« Amelie sah Julia mitfühlend an.

»Er ist vorhin erst zurückgekommen«, sagte Julia und erhob sich. »Hast du schon gefrühstückt? Nein? Ich richte uns mal was Schönes.« Sie wandte sich ab und ging rasch in die Küche, denn wenn Amelie sie jetzt gefragt hätte, warum sie nicht mit Álvaro gefrühstückt hatte, wäre sie vermutlich in Tränen ausgebrochen. Sie ließ extra starken Kaffee aus der Maschine, toastete ein paar Brötchen vom Vortag und stellte verschiedene Honigsorten aus Maribels Imkerei samt Ziegenkäse und zwei reife Tomaten auf ein Tablett. Pfeffer, Salz und Butter. Es gab nichts, was mehr beruhigte, als etwas zum Essen zuzubereiten. Schließlich schäumte sie ein Kännchen Milch auf und brachte alles hinaus in den Garten. Sie und Amelie hatten gerade den Tisch fertig gedeckt, als Tanja aus dem Haus kam und sie fröhlich begrüßte.

»Na, wieder zurück von Teneriffa?«, fragte Amelie. »Wie war das Seminar?«

»Großartig!« Tanja ließ sich auf einen der Stühle fallen und strich ihr langes blondes Haar zurück. Sie trug noch ihren Pyjama, offenbar war sie am Abend zuvor erst spät zurückgekommen. »Ich hab unheimlich viel gelernt. Sagt mal, kann ich auch eine Tasse Kaffee haben?«

»Klar«, antwortete Julia. »Die Maschine ist noch an. Du kannst gern mit uns frühstücken, wenn du möchtest. Hol dir einfach ein Gedeck aus der Küche.«

Amelie und Julia tauschten ein Lächeln, als Tanja sich aufraffte und ein wenig widerwillig in die Küche ging. Sie hatte sich seit ihrem Einzug in die Finca zwar sehr zu ihrem Vorteil verändert, trotzdem ließ sie sich nach wie vor gern bedienen. Früher, als sie noch mit Julias Bruder zusammengelebt hatte, war sie nicht besonders nett gewesen. Damals hätte Julia sich nicht vorstellen können, einmal mit ihr unter einem Dach zu leben. Nach ihrer Trennung von Jens hatte Tanja nicht gewusst, wohin sie sich wenden sollte, und Julia hatte sie in der Finca aufgenommen. Inzwischen hatten sie gemeinsam ihr Talent als Designerin entdeckt, Tanja war selbstbewusster und umgänglicher geworden. Ja, die drei Frauen hatten sich tatsächlich miteinander angefreundet.

»Mit diesem neuen Grafikprogramm hätte ich ganz andere Möglichkeiten«, sprudelte sie los, als sie zurück war. Sie nahm sich von der geschäumten Milch und bestrich eine Brötchenhälfte mit Honig. »Ihr glaubt nicht, was das alles kann.«

Julia knabberte lustlos an ihrem Toast. Während Tanja von Vektorgrafiken und sogenannten Mockups schwärmte, wanderten Julias Gedanken zu ihrem morgendlichen Disput mit Álvaro zurück. War es falsch gewesen, einfach so davonzulaufen? Sie hatte behauptet, keine Zeit zu haben. Und nun saß sie seelenruhig mit ihren Freundinnen im Garten. Auf einmal hatte sie überhaupt keinen Appetit mehr. Sie trank ihren Kaffee aus und erhob sich.

»Ich muss los. Der Großeinkauf wartet.« Sie nahm ihr Gedeck und trug es in die Küche. Dort hielt sie einen Moment lang inne. Sollte sie zurück zu Álvaro gehen und mit ihm in aller Ruhe über das Problem mit Naira sprechen? Sie war schon halb dazu entschlossen, als Amelie hereinkam.

»Fährst du nach Santa Cruz?«, erkundigte sie sich. Julia nickte. »Kann ich mitkommen? Ich helfe dir mit den Einkäufen. Und später könnten wir einen kurzen Abstecher zum Strand in Tazacorte machen. Und irgendwo schön essen gehen. Schließlich ist es auch dein freier Tag. Das Wetter ist traumhaft.«

»Ja, das … das wäre schön«, antwortete Julia zögernd. »Ist dir das denn nicht zu langweilig? Unser Vorratsschrank ist so gut wie leer. Devi hat mir eine lange Liste mit Putzmitteln und anderen Dingen geschrieben, außerdem ist unser Bestand an Toilettenpapier so gut wie aufgebraucht. Ich werde den ganzen Tag unterwegs sein.«

»Umso besser!« Amelie strahlte über ihr ganzes Gesicht. »Ich war schon lange nicht mehr in der Hauptstadt. Ehrlich, es wird höchste Zeit für mich, aus dieser Idylle hier mal rauszukommen.« Und als sie sah, dass Julia zögerte, fügte sie hinzu: »Gemeinsam macht es viel mehr Spaß.«

Julia seufzte. Amelie hatte natürlich recht.

»Wir könnten über Roque de los Muchachos fahren«, schlug sie vor. »Das dauert zwar ein bisschen länger als über die Küstenstraße, ist aber viel schöner.«

»Oder wir nehmen die Küstenroute und machen in San Andrés halt und springen in den Charco Azul.«

»Charco Azul? Was ist denn das?«

Amelie machte kugelrunde Augen. »Sag bloß, das kennst du noch nicht? Charco Azul ist eine Anlage von Meeresschwimmbecken auf der Nordostseite der Insel. Wir kommen praktisch daran vorbei. War Álvaro noch nicht mit dir da?«

»Nein«, antwortete Julia. »Willst du es mir zeigen?«

»Mit dem größten Vergnügen!«, gab ihre Freundin grinsend zurück. »Ich pack mal rasch meine Badesachen ein.«

»Wollt ihr mich etwa allein zurücklassen?«

Weder Julia noch Amelie hatten bemerkt, dass Tanja in die Küche gekommen war.

»Willst du auch mit?«, fragte Amelie.

»Das wird kein Ausflug«, warnte Julia sie. »Wir gehen nur kurz schwimmen. Danach wird es eine sehr langweilige Einkaufstour.«

»Ach, das macht nichts«, gab Tanja zurück. »Wir können uns in Santa Cruz ja für eine Weile trennen. Dann kann ich die Visitenkarten mit deinen neuen Öffnungszeiten abholen und Druckerpatronen kaufen. Außerdem brauchen wir Papier.«

»Oh, wie schön, ein richtiger Mädelsausflug«, sagte Amelie fröhlich. »Also. In einer Viertelstunde bei Julias Wagen.«

Als sie mit Amelie an ihrer Seite und Tanja im Fond ihres Lieferwagens unterwegs war, erschien Julia die ganze Sache mit Álvaros Cousine auf einmal weit weniger schlimm als noch früh am Morgen. Irgendwie würde sie es schon schaffen, Naira davon abzuhalten, sich weiterhin zwischen sie und ihren Freund zu drängen. Im hellen Licht dieses wunderschönen Tages fand sie das gar nicht mehr so unmöglich. Álvaro würde irgendwann ganz von selbst merken, dass es so nicht weiterging. Sie lauschte Tanjas begeisterten Erzählungen von ihrem Wochenend-Workshop auf der Nachbarinsel Teneriffa, in denen verdächtig oft der Name eines gewissen Ricardo fiel.

»Und wo wohnt dieser Ricardo?«, fragte Amelie unverblümt.

»In Valencia«, antwortete Tanja. Klang das ein wenig niedergeschlagen, oder bildete Julia sich das nur ein? »Er hat dort gerade gemeinsam mit einem Freund eine Werbeagentur gegründet«, fuhr sie fort.

»Und der hat noch einen solchen Workshop nötig?«, wollte Amelie skeptisch wissen.

»Klar«, antwortete Tanja. »Im Grafikdesign gibt es ständig neue Programme. Ricardo sagt, dass er fast jedes Jahr einen solchen Kurs braucht, um stets auf dem neuesten Stand zu sein.«

»Valencia ist toll«, sagte Julia. »Ich hab da mal ein Jahr lang gearbeitet.«

»Das sagt Ricardo auch«, sprudelte es aus Tanja hervor. »Stellt euch vor, er hat mich eingeladen, ihn zu besuchen.«

Julia und Amelie wechselten einen verschwörerischen Blick.

»Womöglich hat er eine Stelle für dich«, meinte Amelie.

»Na ja, ich denke, das dauert noch, bis ich in einer richtigen Agentur arbeiten kann.« Auf einmal klang Tanja ziemlich kleinlaut. »Ich hab das ja im Gegensatz zu ihm gar nicht gelernt. Außerdem haben sie den Laden ja gerade erst gegründet.«

Klingt, als habe sie sich das schon genau überlegt, dachte Julia. Nun, sie würde es Tanja von Herzen gönnen, wenn es ihr gelingen würde, sich nach dem Desaster mit Jens ein eigenes, unabhängiges Leben aufzubauen. Und einen netten Partner zu finden.

Der Weg entlang der Nordküste in Richtung Osten war von einer wilden Schönheit. Er führte teils oberhalb der Steilküste am Berg entlang, teils durch verwunschene Lorbeerwälder und Bestände von sogenannter Baumheide, einer bis zu zehn Meter hohen Art des Heidekrauts. An vielen Stellen waren Tunnel in den Felsen getrieben, von ihren moosbedeckten Natursteinwänden tropfte Wasser. Wieder im Tageslicht, eröffneten sich überraschende Ausblicke auf winzige Weiler, beschattet von mächtigen Drachenbäumen. Die Fahrt um die vielen engen Kurven, die sich durch die Faltungen der Berghänge ergaben, war zwar anstrengend, aber wunderschön.

Es war fast Mittag, als sie kurz vor dem Ort Los Sauces links abbogen und über eine kleine Landstraße durch Bananenplantagen in Richtung Meeresküste fuhren.

»Wir sind da«, sagte Amelie und wies Julia den Weg zu einem Parkplatz, auf dem nur ein einziges Auto stand. »Sieht so aus, als wären wir fast allein.«

Julia stellte ihren Lieferwagen daneben ab, stieg aus und sah sich neugierig um. Unter ihnen lag eine relativ flache Felsküste mit mehreren natürlichen Vertiefungen im schwarzen Gestein, von denen die meisten nicht größer waren als Álvaros Verdunstungsbecken.

»Dort drüben ist es«, rief ihr Amelie zu und wies hinüber zu einer mit weiß-blauen Geländern gesicherten Anlage. Eine niedrige Mauer schützte ein unregelmäßig geformtes Naturbassin vor der Urgewalt des Atlantiks gerade so, dass der Inhalt des Beckens regelmäßig von den Wellen leicht überspült und das Wasser auf diese Weise erneuert wurde. Etwas weiter entfernt befand sich ein höher gelegenes, von Menschenhand in den Fels geschlagenes Schwimmbecken, das sich in seiner geschwungenen Form an die natürlichen Gegebenheiten der Umgebung anpasste und das so himmelblau angestrichen war wie die meisten Pools auf dieser Welt. Über allem thronte die Terrasse eines kleinen Lokals mit Tischen unter einladenden hellbeigen Sonnenschirmen.

»Ein Traum«, rief Tanja aus.

»Hat Jens dich nie hierher mitgenommen?«, wollte Amelie ungläubig wissen. Schließlich hatte Julias Bruder ein Touristikunternehmen und kam mit seinen Kunden hier sicher öfter vorbei.

Tanja schüttelte den Kopf. »Solche Dinge hat er vermutlich nur mit diesen allein reisenden Urlauberinnen gemacht, mit denen er dann ins Bett ging.«

Das klang verbittert, dachte Julia. Und Tanja hatte dazu vermutlich auch allen Grund.

»Wollen wir zuerst etwas trinken oder gleich schwimmen gehen?«

»Zuerst ins Wasser«, antworteten Tanja und Amelie wie aus einem Mund.

»Danach könnten wir hier eine Kleinigkeit essen«, fügte Amelie hinzu.