Sternenfeuer: Vertraue Niemandem - Amy Kathleen Ryan - E-Book

Sternenfeuer: Vertraue Niemandem E-Book

Amy Kathleen Ryan

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Beschreibung

Aus der Reise des Raumschiffs Empyrean zu einem weit entfernten Planeten ist ein Kampf um Leben und Tod geworden: Kieran ringt mit der Verantwortung, die als neuer Kommandant auf seinen Schultern lastet; Waverley muss alles daransetzen, ihre entführten Eltern zu befreien; und Seth, der in einer Arrestzelle eingesperrt ist, ahnt als Einziger, dass es einen blinden Passagier an Bord gibt, der nicht eher ruhen wird, bis er die Empyrean vernichtet hat …

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Seitenzahl: 516

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Amy Kathleen Ryan

Sternenfeuer – Vertraue niemandem

Roman

Aus dem Englischen von Momo Evers und Anja Weiligmann

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

WidmungMottoERSTES BUCHFluchtHeldinDie Last der VerantwortungDie SpurGalen und EddieDie VergangenheitAnhaltspunkteOffizielle ErmittlungenZWEITES BUCHNeue RegelnInoffizielle ErmittlungenDer HirteDie DissidentinDas MädchenDer AngriffDer ZentralratDie SternwarteDRITTES BUCHHeilungFreilassungGesprächeGefangeneKonfrontationWilde JustizHinweiseSchadenVIERTES BUCHProbedurchlaufDas letzte AmenDer EmpfangSelbst der beste Plan …Katz und MausLichtblitzeBlindIn der FallePanische AngstAuf Messers SchneideDanksagung

Für meinen Vater

Fehler allein bedürfen der Unterstützungder Regierung.

Die Wahrheit steht für sich selbst.

Thomas Jefferson

[home]

ERSTES BUCH

Stolz

Fehler sind menschlich.

Wer auf falschem Kurs segelt, dies erkennt,seine Route ändert und es besserzu machen trachtet,der ist ein guter Mensch.

Die einzige Sünde ist der Stolz.

Sophokles

Flucht

Seth Ardvale wusste nicht, was ihn geweckt hatte. Er erinnerte sich nur an ein grollendes Geräusch, das ihm durch Mark und Bein gegangen war. In seinem einsamen Lager in der Arrestzelle tief im Inneren der Empyrean setzte er sich auf und rieb sich die Augen. Dann lauschte er auf Stimmen. Manchmal gelang es ihm, Gesprächsfetzen der Wachen aufzuschnappen, aus denen er Hinweise auf das, was auf dem Schiff geschah, ziehen konnte, aber jetzt war alles still.

Diese Isolation war ein Teil seiner Strafe, ebenso wie das Licht, das vierundzwanzig Stunden am Tag ohne Unterlass brannte. Mittlerweile war Seth dazu übergegangen zu akzeptieren, dass es vermutlich sehr lange dauern würde, bis er aus dieser Zelle wieder herauskam. Und falls Kieran Alden Captain der Empyrean bliebe, käme Seth vielleicht niemals wieder hier heraus. Er vermutete, dass er es verdiente, eingesperrt zu sein. Nicht nur für die erfolglose Meuterei, die er gegen Kieran angezettelt hatte. Er verdiente es, hier zu sein, weil er war, wie er war. »Ich bin meines Vaters Sohn«, sagte er laut.

Der Klang seiner eigenen Stimme erschreckte ihn. Er hasste es, dass er begonnen hatte, Selbstgespräche zu führen, aber das war nun einmal der Weg, eine Einzelhaft zu überleben. Er führte auch lange, stumme Dialoge, und stets stellte er sich bei diesen vor, mit ein und derselben Person zu sprechen: Waverly Marshall. Er würde seine Augen schließen und sie auf der anderen Seite der Gitterstäbe seiner Zelle sehen, auf dem Boden sitzend, die Hände um die Fußknöchel geschlungen, das Kinn auf dem Knie. Ihre Unterhaltung begann stets dort, wo sie vor rund einem Monat geendet hatte – damals, nachdem er sie gebeten hatte, ihn aus der Brig zu befreien. Sie hatte ihn nur angesehen, eindringlich und mit Zweifel in ihren dunkelbraunen Augen, der Rest ihrer lieblichen Züge sanft und zugleich ausdruckslos. Er kannte sie gut genug, um zu merken, dass sie ihm nicht vertraute. Und wie sollte sie auch? Nach allem, was er getan hatte?

»Bring mich hier raus«, hatte er gesagt, gefleht, eine Hand an den kalten Gitterstäben, die sie von ihm trennten.

Sie hatte ihn lange angesehen und schließlich mit einem langen, tiefen Ausatmen gesagt: »Das kann ich nicht.«

Und dann war sie aufgestanden und fortgegangen.

Konnte er ihr daraus einen Vorwurf machen? Er hatte einen Aufstand gegen ihren Freund Kieran Alden angezettelt, hatte ihn in die Brig werfen lassen, ihm Nahrung vorenthalten und – wie manche sagen würden – ihn zu töten versucht. All das hatte für Seth damals einen Sinn ergeben, und es zeigte, wie verrückt er gewesen war. Die Zeit war verrückt gewesen. Aus heiterem Himmel hatte die New Horizon die Empyrean angegriffen, hatte alle Mädchen des Schiffs entführt und ein Leck im Reaktor verursacht, das letztendlich seinen Vater getötet hatte. Doch all das entschuldigte nicht Seths Verhalten. Alle Kinder auf der Empyrean hatten ihre Eltern verloren oder waren von ihnen getrennt worden; auf den Schultern jedes Einzelnen von ihnen lastete die beängstigende Verantwortung, das Schiff ohne einen einzigen handlungsfähigen Erwachsenen an Bord zu steuern. Und Seth allein hatte sich unter ihnen hervorgetan, indem er sich wie ein Soziopath aufgeführt hatte.

»Vielleicht ist es ja genau das, was ich bin«, flüsterte er und bedeckte seinen Mund gleich darauf mit der Hand.

Waverly hatte richtig gehandelt, als sie fortgegangen war.

Und doch lebten in seiner Vorstellung eine Million anderer Dinge, die er zu ihr hätte sagen können, um sie zum Bleiben zu bewegen. »Du hast recht. Das solltest du nicht riskieren.« Oder: »Ich verstehe, dass du Kieran nicht hintergehen kannst.« Oder schlicht: »Geh nicht.«

Und dann stellte er sich vor, wie sie aussehen würde, wenn sie sich erneut zu ihm umwandte, wie er sie dazu bringen würde, zu lächeln oder gar zu lachen. Wie sie eine Haarsträhne hinter ihr Ohr streichen würde, kurz bevor sie den Blick senkte – eine kleine, schlichte Geste, die ihn jedes Mal mitten ins Herz traf.

Aber er hatte damals nichts von alledem gesagt. Voller Scham hatte er sie ziehen lassen.

Wenn er jemals aus dieser Zelle herauskäme, würde er ihr zeigen, dass er ein guter Mensch sein konnte. Dass sie niemals zu ihm gehören würde, war nicht wichtig. Aber er konnte die Vorstellung nicht ertragen, dass sie schlecht von ihm dachte. Und vielleicht, nur vielleicht, würde auch er ihr helfen können. Denn was auch immer mit ihr auf der New Horizon geschehen war, hatte sie niedergedrückt, ihr das Rückgrat gebrochen, das Licht in ihren Augen zum Erlöschen gebracht. Wenn er sie noch einmal wiedersehen könnte, würde er nichts von ihr erwarten. Er wollte nichts. Alles, was er wollte, war, ihr zu helfen – ihr ein Freund zu sein.

Seth rollte seinen Körper zu einem Ball zusammen. Er fühlte sich schwer und lethargisch. Das Geräusch, das ihn geweckt hatte, musste eine Veränderung in der Aktivität der Maschinen gewesen sein, eine weitere Erhöhung der Beschleunigung des Schiffs in dem vergeblichen Versuch, zu der New Horizon aufzuschließen, wo ihre Eltern als Geiseln festgehalten wurden. Es würde niemals funktionieren. Seth wusste das, aber seine Stimme würde niemals wieder in einem Entscheidungsprozess angehört werden. Er würde immer ein Ausgestoßener sein.

»Schlafen, schlafen, ich kann schlafen«, flüsterte er. Manchmal half es. »Ich bin nur Körper, bin nicht Geist. Bin nur ein Körper, der sich nach Schlaf sehnt.«

Dann hörte er das Heulen des Schiff-Interkoms und Kieran Aldens Stimme: »Evakuierung! Alle in den Zentralbunker!«

Das optische Alarm-Signal im Korridor begann sich zu drehen, blau und rot.

Seth warf seine Decken beiseite, rannte zu den Gitterstäben seiner Zelle und schrie den Korridor hinunter: »Hey! Was passiert da?«

Keine Antwort.

»Ihr könnt mich nicht einfach hierlassen!« Seth schob sich nach rechts, versuchte einen Blick auf den Korridor zwischen den Zellen zu erhaschen und stolperte über einen Teller mit Brot und Instant-Suppe, der hier für ihn zurückgelassen worden war. Alles, was er sah, waren Reihen kalter, eiserner Gitterstäbe und Schatten. »Ihr müsst mich rauslassen!«

In seiner Panik und Hilflosigkeit rüttelte er an der Tür seiner Zelle.

Sie glitt ohne Widerstand auf.

Er erstarrte, vollkommen perplex, trat vorsichtig einen Schritt aus der Zelle heraus und spähte den Korridor hinunter.

Niemand zu sehen.

Langsam schlich er den Durchgang entlang, vorbei an Max Brents Zelle, dessen Gefängnis gleichfalls offen stand und verlassen war. Er ging weiter zu der Tür, die zum äußeren Korridor führte, und lauschte; dann öffnete er sie einen Spaltbreit. Den Gang hinunter ragte ein Fuß aus dem Wartungsraum. Seth arbeitete sich langsam vor, den Blick auf den Schuh gerichtet, bereit, bei der kleinsten Bewegung loszulaufen, aber der Schuh bewegte sich nicht. Schließlich stieß er die Tür auf und sah seinen Wächter, Harvey Markem, auf dem Boden liegen. Seth beugte sich über ihn, legte sein Ohr an die bewegungslosen Lippen des anderen und wartete, bis Harvey schließlich ein warmer Lufthauch entwich. Blut verklebte das drahtige rote Haar seines Wächters. Seth griff nach der mobilen Kom-Station des Jungen, löste sie aus ihrer Sicherung und drückte den Rufknopf: »Hallo?«

Nur Rauschen vom anderen Ende der Leitung.

»Ich brauche hier unten medizinische Unterstützung«, sagte er, dann lauschte er wieder.

Keine Antwort. Aufmerksam studierte er die vielen Kanäle und Frequenzen, während er überlegte, welche von ihnen die Kommandozentrale erreichen könnten. Aber ihm blieb keine Zeit, alle denkbaren Möglichkeiten durchzugehen. Nicht, wenn er entkommen wollte. Und so ließ er die Kom-Station schließlich fallen.

Während Seth den Korridor hinablief, versuchte er sich einzureden, Harvey würde schon durchkommen. Doch als er die Tür zum Treppenschacht erreichte, drehte er sich noch einmal um und sah auf Harveys Fuß. Er hatte sich nicht bewegt, nicht mal einen Zentimeter. Was, wenn der Junge Hirnblutungen hatte? Was, wenn er starb?

Seufzend machte Seth kehrt, ging zurück zu dem Wartungsraum, zog Harvey heraus, brachte ihn in eine sitzende Position und legte ihn sich dann nach Art der Feuerwehrmänner über die Schulter. Als er sich wieder erhob, schien der Druck von Harveys Gewicht ihm sein gesamtes Blut ins Gesicht zu pumpen, und der Schweiß lief ihm aus allen Poren. Unter seiner Last schwankend, machte er sich erneut auf den Weg den Korridor hinab. Harvey war ohnedies hochgewachsen, aber mit der zusätzlichen Trägheitsmasse der Beschleunigung der Empyrean fühlte Harvey sich an wie ein Sack nasser Zement.

Seths Beine zitterten, und für einen Augenblick erwog er, den Aufzug nach oben zu nehmen, überlegte es sich dann aber anders. Die Sicherheitskameras würden ihn sofort erfassen, und falls die Türen sich öffnen sollten und eine Gruppe Wartender davorstünde, bliebe ihm keinerlei Fluchtmöglichkeit. Und so schleppte er sich weiter die Treppen hinauf, dort, wo keine Überwachungskameras installiert waren, und der Schweiß lief ihm das Gesicht herab und sammelte sich in der Vertiefung seiner Schlüsselbeine.

»Jesus, Harvey«, keuchte er, »was hast du bloß gegessen?«

Die Stufen erschienen ihm endlos und verloren sich irgendwo weit über ihm im Dämmerlicht. Er musste Harvey zum Zentralbunker bringen, aber der war so viele Stockwerke entfernt, dass er noch nicht einmal die Kraft aufbrachte, sie zu zählen. Aber der Zentralbunker war der Ort, an dem im Notfall alle zusammenkamen, und es war daher derzeit der einzige Ort, an dem Harvey Hilfe würde bekommen können.

Zweimal sank Seth in die Knie. Aber wenn er Harvey im Treppenhaus zurückließe, könnte der Junge hier sterben. Und so ging er weiter, Stufe um Stufe, jeder Schritt eine Qual.

Als er schließlich Stimmen hörte, wusste er, dass es nicht mehr weit war. Die letzten Stufen grenzten fast an eine Folter, aber Seth schob sein Gewicht vorwärts und zwang sich selbst, aufrecht zu bleiben – die Knie bis zum Zerbersten schmerzend, die Wirbelsäule kaum mehr dem Gewicht gewachsen. An der Tür blieb er stehen und hörte zwei Mädchen draußen in der Halle vor dem Zentralbunker miteinander sprechen.

»Sind sie zurückgekommen?«, fragte eine gepresste kleine Stimme auf der anderen Seite der Tür. »Sind sie gekommen, um uns zurückzuholen?«

»Falls es so ist, hilft Panik uns auch nicht weiter.« Das klang nach dem sommersprossigen kleinen Energiebündel Sarah Hodges.

»Was, wenn die Schiffshülle explodiert ist?«, fragte das erste Mädchen ängstlich.

Sarah lachte leise und freudlos: »Wenn die Schiffshülle explodiert wäre, wären wir – du und ich – nicht mehr hier.«

Langsam ließ Seth Harvey zu Boden gleiten und beugte sich vor, die Hände auf den Knien abgestützt, um wieder zu Atem zu kommen. Als er sich sicher war, wieder rennen zu können, klopfte er mit den Fingerknöcheln gegen die Tür, stieß sich ab und raste drei Treppen abwärts, ehe er Sarah Hodges’ Stimme durch das Treppenhaus hallen hörte: »Hey! Wer ist da? O mein Gott – Harvey!«

Seth hatte bereits fünf weitere Treppen hinter sich gelassen, als er Schritte hörte, die ihm nacheilten. Nur noch vier weitere Treppen, und er wäre in Sicherheit. Bitte, bitte, bitte. Im Geiste wiederholte er die Worte wieder und wieder, ignorierte die Schmerzen in seinen Gliedmaßen und verbannte die Erschöpfung aus seinem Inneren, um weiterrennen zu können.

Als er endlich die Etage erreichte, die er benötigte, griff er nach der Türklinke. So geräuschlos wie möglich öffnete er die Tür, schlüpfte hindurch, huschte den Flur hinab und presste sich geduckt durch die nächstgelegene Tür.

Augenblicklich umfing ihn der frische, erdige Geruch des Regenwalds. Gott, wie sehr er das vermisst hatte! Die feuchte Luft benetzte seine von der Gefangenschaft ausgetrocknete Haut, während er durch Kokos-Haine lief, die Zitronenbäume hinter sich ließ und in das Unterholz der australischen Pflanzenarten eintauchte. Er verbarg sich in einem Eukalyptusbusch und rollte sich dort zusammen; das Herz laut gegen die Rippen pochend, die Hände um die Fußknöchel geschlungen, lauschend.

Nicht ein Fußtritt. Nicht mal ein Rascheln. Er war entkommen! Bis es ihm gelungen sein würde, herauszufinden, was auf der Empyrean schiefgelaufen war, würde er hierbleiben.

Erst jetzt, da er in Sicherheit war, erfasste er die Merkwürdigkeit dessen, was geschehen war. Irgendjemand hatte ihn befreit. Aber wer? Vielleicht derjenige, der die Explosion verursacht hatte? Das zeitgenaue Zusammenfallen der Explosion und seiner Befreiung konnte kein Zufall sein. Und wer auch immer die Explosion verursacht haben mochte, hatte sie vielleicht als Ablenkungsmanöver für seine Befreiung geplant.

Seine Gedanken wanderten zu Waverly. Niemals hätte sie in Kauf genommen, dass Harvey verletzt oder das Schiff in Gefahr gebracht worden wäre, aber sie hätte einen Weg finden können, ihn und Max zu befreien. In diesem Fall hätte es Max gewesen sein können, der Harvey einen Schlag auf den Kopf verpasst und danach die Explosion ausgelöst hatte. Aber würde Max zu derart gewalttätigen Mitteln greifen?

Während der Zeit, in der er und Max sich eine Zelle geteilt hatten, hatte Seth zugehört, wie Max sich darüber ausgelassen hatte, was er Kieran Alden antun würde, wenn er erst einmal aus dieser Zelle heraus wäre. Wie er ihm auflauern und ihn verprügeln oder mit einem Messer nachhelfen würde. Und wie er sich dann Kierans rückgratlosen Freund Arthur Dietrich schnappen würde. Und Sarek Hassan, den Verräter. Und je länger er Max’ kranken Rachephantasien gelauscht hatte, desto öfter hatte er sich gefragt, wie er den Kerl je zu seiner rechten Hand hatte wählen können.

Ja, dachte Seth, Max wäre in der Lage, das Schiff und die Mission zu gefährden, um seine eigenen, selbstgerechten Ziele zu verfolgen. Und irgendjemand würde den Hurensohn finden müssen, ehe er noch mehr Schaden anrichten konnte. Aber das war nicht der einzige Grund, aus dem er ihn finden musste.

Was auch immer Max getan haben und was auch immer diese Geräusche verursacht haben mochte – Kieran würde Seth für all das verantwortlich machen. Und mit diesem Vorwurf in der Hinterhand würde es Kieran ein Leichtes sein, ihn für den Rest seines Lebens einzusperren. Falls diese dröhnenden Geräusche Bomben gewesen waren und Seth beschuldigt werden würde, würde jeder auf dem Schiff ihn für einen Verräter halten.

Und was würde Waverly von ihm denken?

Seth blieb nur eine Chance: Er musste Max finden und ihn handlungsunfähig machen. Er musste Kieran, Waverly und jedem anderen auf diesem Schiff beweisen, dass er, Seth, nichts mit der Sache zu tun hatte.

Und irgendwie musste ihm das gelingen, ohne gefasst zu werden.

Heldin

Waverly war in ihrer Kabine und kochte sich einen Tee, ehe sie sich auf den Weg zum Kornfeld machen wollte, um einen defekten Mähdrescher zu reparieren. Sie hatte sich niemals als Mechanikerin gesehen, hatte nie als eine solche arbeiten wollen, und so war jeder Tag eine neue Herausforderung für sie. Sie hatte sich für diese Aufgabe entschieden, weil sie eine der wenigen Tätigkeiten war, bei denen sie mit niemandem sprechen musste. Und davon abgesehen, riss sich auch kein anderer darum. Vom Umgang mit den ungewohnten Werkzeugen waren ihre Hände mit Schnitten und Kratzern übersät, und überdies nahm die Arbeit sie derart gefangen, dass sie kaum Zeit hatte, an etwas anderes zu denken – und noch weniger Zeit, um zurückzudenken.

Immer wenn sie ihre Augen schloss, erschienen jene Bilder, die sich ihr in die Netzhaut eingebrannt hatten: die Gemeinde der New Horizon, die sich, jeder Einzelne in Schwarz gekleidet, zu sanften Gitarrenklängen wiegte; das Labor, in dem sie sie operiert und ihr das Wertvollste genommen hatten, um ihre neue Generation von Aposteln zu erschaffen; die grauenvoll klaffende Wunde in ihrem Bein, wo sie eine Kugel von Anne Mathers Anhängern getroffen hatte. Wie sie ihre Mutter und die anderen Erwachsenen in jenem Gefängnis hatte zurücklassen müssen, in das Mather sie gesperrt hatte und in dem sie mit ihnen tun konnte, was auch immer ihr gefiel. Die Explosion roten Blutes, als sie den Mann erschoss, der zwischen ihr und der Freiheit gestanden hatte.

Jener Augenblick, als sie zur Mörderin geworden war.

»Ich denke nicht mehr über diese Dinge nach«, teilte sie dem leeren Raum mit und bedeckte ihre Augen mit der flachen Hand. Niemand sonst auf diesem Schiff wusste, was sie getan hatte. Sie hatte niemandem von diesem prägendsten Augenblick ihres jungen Lebens erzählt – dem Augenblick, in dem sie aufgehört hatte, Waverly Marshall zu sein, und zur Mörderin geworden war. Zu einer Fremden in ihrem eigenen Körper.

Als die Erschütterung einsetzte, war sie zunächst so weit entfernt, dass sie sie fast nicht wahrgenommen hätte – ein leichtes Beben der Bilderrahmen an der Wand, das kaum hörbare Grollen tief im Inneren des metallenen Riesen, der ihr Schiff war.

Sie setzte sich auf. Irgendetwas stimmte nicht.

Dann, so durchdringend, dass sie es in ihrer Brust fühlen konnte – eine Explosion.

Ihre Teetasse hüpfte auf dem Unterteller, und schwarzer Tee spritzte über den rauhen Holztisch.

Sie sprang aus ihrem Stuhl und rannte hinaus auf den Korridor, wo sie auf Dutzende von Kindern traf, die die Panik aus ihren Betten getrieben hatte. Viele von ihnen weinten und suchten Schutz bei ihren Puppen, die sie eng an sich drückten. Am Ende des Flurs, umringt von kleinen Jungen und Mädchen, stand Melissa Dickinson. Sie war ein zartes Mädchen, kaum größer als die Kinder, um die sie sich so liebevoll kümmerte.

»Melissa! Was ist hier los?« Waverly musste schreien, um sich Gehör zu verschaffen.

»Ich weiß es nicht!« Melissa, sonst die Ruhe selbst, wirkte besorgt, und die Blicke aus ihren haselnussbraunen Augen schossen wie Pfeile durch den Korridor. »Jungs, Mädchen, bleibt zusammen!«, rief sie, und wie von Zauberhand versammelten die Kinder sich, die Augen auf Melissa gerichtet.

Das Interkom des Schiffs knackte, und Kierans Stimme aus den Lautsprechern rief die gesamte Crew in den Zentralbunker.

Jedwede Unterhaltung verstummte; Stille senkte sich über die Kinder, die nun alarmiert Melissa fixierten.

»Alle zu den Aufzügen!«, rief sie und trieb die Kinder zum zentralen Aufzugsschacht. Melissa war nur zwölf Jahre alt, aber sie hatte es sich zur Aufgabe gemacht, sich um die Waisenkinder zu kümmern, die zu jung waren, um dabei zu helfen, das Schiff am Laufen zu halten. Jeden Tag erstattete sie pflichtbewusst dem Kinderhort Bericht, in dem sie und verschiedene andere Helfer mit den Kindern Spiele spielten, Unterrichtsstunden vorbereiteten und auch sonst alles taten, um den Kleinen ein Gefühl von Geborgenheit zu geben. Auch Melissas nächtliche Geschichten-Stunden waren auf dem Schiff berühmt geworden – jene Zeit, in der selbst die älteren Kinder kamen, um ihr zuzuhören, wenn sie ihnen Erzählungen wie Kenneth Grahams Der Wind in den Weiden oder Roald Dahls James und der Riesenpfirsich vorlas. Dann brachte sie alle Kinder in einigen Räumen am Ende des Gangs zu Bett und ließ alle Türen offen, so dass sie selbst nur ein Flüstern entfernt war. Es war nicht verwunderlich, dass alle kleinen Kinder sie liebten. Selbst Waverly fühlte sich wohl in ihrer Gegenwart.

»Kommen sie zurück?«, fragte Silas Berg, ein Sechsjähriger, der ein Händchen dafür hatte, die schlimmsten Befürchtungen aller Anwesenden auf den Punkt zu bringen.

»Nein, Silas«, entgegnete Melissa ruhig und strich ihm sanft mit den Fingerspitzen über die Wange. »Die New Horizon ist Millionen von Meilen entfernt. Und wir sind nicht mehr innerhalb des Nebels. Sie können uns nicht mehr auflauern und uns überrumpeln.«

»Ich habe Angst«, flüsterte Paulo Behm und schob seine kleinen braunen Finger in die Falten von Melissas Bademantel.

»Ich auch«, entgegnete sie und strich ihm über die Wange, diesmal mit der Rückseite ihrer Finger. »Aber wir werden alle zusammenbleiben, nicht wahr, Waverly?«

Waverly nickte und versuchte sich für die Kinder an einem beruhigenden Lächeln.

»Frag nicht sie«, fuhr da die kleine Marina Coelho mit durchdringender Piepsstimme dazwischen. »Sie ist es gewesen, die unsere Eltern zurückgelassen hat.«

»Wenn du es besser kannst, warum hast du es dann nicht getan?«, gab Melissa zurück. Ihre Worte waren bestimmt, aber ihr Tonfall sanft. »Warum wäre es an Waverly gewesen, unsere Eltern zu befreien?«

»Sie ist fünfzehn!«, kreischte Marina, als würde das alles erklären. »Sie ist das älteste Mädchen. Und deshalb wäre es ihre Aufgabe gewesen!«

»Sie hatte keine andere Wahl als zu tun, was sie getan hat«, sagte Melissa scharf und warf Waverly einen entschuldigenden Blick zu. »Sie und Sarah haben uns alle gerettet. Ich für meinen Teil jedenfalls finde, dass Waverly eine Heldin ist.«

»Ich nicht«, spie Silas mit aller Verachtung eines kleinen Jungen heraus. »Niemand außer dir denkt das!«

Melissa schüttelte verzweifelt den Kopf, als der Fahrstuhl sich öffnete und die zottelige Herde hineintrabte.

Auch Waverly stieg ein, das Gesicht auf die nun wieder geschlossenen Aufzugtüren gerichtet. Aber sie konnte die Blicke der anderen in ihrem Rücken spüren. Dann presste sich ein schmaler Körper gegen ihr Bein, und als Waverly hinabsah, entdeckte sie Serafina Mbewe. Das Mädchen sah sie aufmerksam an, ihre Wattebausch-Zöpfe schwebten wie zwei dunkle Wolken über ihrem zierlichen Gesicht. Serafina war vier Jahre alt, und sie war taub, konnte aber Worte von den Lippen ablesen. Waverly versuchte, sie anzulächeln, doch ihre Lippen zitterten, und schließlich wandte Serafina den Blick ab, offenbar noch verängstigter als zuvor.

Der Fahrstuhl öffnete sich und gab den Blick auf den Zentralbunker frei, in dem das Chaos herrschte. Am Rande des riesigen Raums waren Betten aufgestellt, die Notbeleuchtungskörper hingen von der Decke herab, und am Ende des Raums befand sich eine große Küche, wo die Gemeinschaftsmahlzeiten vorbereitet werden konnten. Kinder drängten sich in Gruppen entlang der Wände zusammen, saßen starr auf ihren Feldbetten oder unterhielten sich mit gedämpften Stimmen. Waverly versuchte die zornigen Blicke einer Gruppe von Mädchen zu ignorieren, die von Marjorie Wilkins angeführt wurde. Marjorie war noch fast ein Kind, zehn oder elf vielleicht und mit knubbeligen Knien, aber es war kaum zu übersehen, dass sie ein Auge auf Kieran geworfen hatte. Sie war eine seiner ausdrücklichen Unterstützerinnen und würde es, das wusste Waverly, mit jedem aufnehmen, der seinen Gottesdiensten nicht beiwohnte.

»Und was haben deine Freunde dieses Mal angestellt?«, blaffte sie, als Waverly an ihr vorbeiging.

Waverly wusste, dass sie das Mädchen hätte ignorieren sollen, aber sie konnte die Bemerkung nicht unkommentiert lassen. »Ich weiß nicht, wen du meinst.«

»Ich meine die Leute, bei denen du unsere Eltern zurückgelassen hast«, schnarrte Marjorie. »Sie müssen deine Freunde sein. Warum sonst hättest du unsere Familien bei ihnen zurücklassen sollen?«

»Wärst du lieber auf der New Horizon aufgewachsen? Wer weiß, vielleicht hätte ich dich ja auch lieber dort lassen sollen?«, entgegnete Waverly und versuchte, Marjorie mit einem kalten Blick zum Schweigen zu bringen, aber das Mädchen wirkte nicht im Geringsten beeindruckt.

»Jeder hier findet, dass du ein Feigling bist«, sagte Millicent, Marjories kleine Schwester. Beide Mädchen hatten ihren Vater bei dem Shuttle-Hangar-Massaker verloren, hofften jedoch, dass ihre Mutter noch auf der New Horizon, dem heimtückischen Schwesterschiff der Empyrean, überlebt haben könnte. Und diese beiden waren auch Waverlys schärfste Kritikerinnen und ließen keine Gelegenheit aus, ihren missglückten Befreiungsversuch zu thematisieren. Wann immer Waverly die geringschätzigen Blicke der Mädchen sah, fühlte sie sich schuldig. Weil sie sich noch mehr hätte anstrengen müssen. Es war unerheblich, dass Mathers Leute mit Gewehren auf sie geschossen hatten. Dass die Kugeln ihre Schulter getroffen hatten, zählte nicht. Sie hätte einfach noch etwas länger durchhalten und dieses verdammte Schloss öffnen müssen. Dann hätten die Eltern den Container verlassen und ihr helfen können, Anne Mather und ihre Leute zu überwältigen. Sie hätten das Shuttle zurück zur Empyrean lenken können, und alles wäre gut gewesen. Wenn Waverly nur ein paar Sekunden länger dortgeblieben wäre, oder vielleicht auch nur den Bruchteil einer Sekunde, statt zum Feigling zu werden und ihr Heil in der Flucht zu suchen. Und es wäre ihr ohnedies nie gelungen zu fliehen, wenn die Crew der New Horizon sich nicht im allerletzten Moment gegen Anne Mather gestellt und den Mädchen so zur Flucht verholfen hätte.

Aber hatte sie durch ihr Fortlaufen nicht zuletzt auch die Mädchen gerettet? Hatte sie Marjorie, deren Schwester und all die anderen kleineren Mädchen nicht davor bewahrt, den Rest ihres Lebens als Reproduktionssklaven auf der New Horizon zuzubringen? Sie hatten den Mädchen die Eizellen gestohlen und diese dann in Leihmütter verpflanzt, und so hätten die Mädchen hilflos zusehen müssen, wie ihre Kinder von Fremden großgezogen worden wären. Zumindest war es das, was sie Waverly, Sarah und all den anderen älteren Mädchen angetan hatten. Aber Marjorie etwas von alldem erzählen zu wollen schien ein unnützes Unterfangen zu sein. Sie wollte es nicht hören.

Jetzt konnten die Eltern sich nur noch selbst helfen. Tage und Wochen nach der Flucht der Mädchen hatte jeder und jede auf der Empyrean gewartet und gehofft, dass die Unruhe, die die Flucht der Mädchen verursacht hatte, letztendlich auch zur Freilassung ihrer Eltern führen würde. Doch als die Hoffnung nach und nach wankte und schließlich schwand, sprachen die Blicke, die die anderen Kinder Waverly zuwarfen, immer häufiger eine allzu deutliche Sprache: Sie hatte versagt. Manchmal wollte sie nicht einmal mehr ihre Kabine verlassen.

»Ich habe es versucht. Ich habe mein Bestes gegeben«, sagte Waverly zu Marjorie, aber sie hörte selbst, wie schwach ihre Stimme klang.

Marjories Oberlippe kräuselte sich vor Abscheu. »Aber dein Bestes war nicht genug, nicht wahr?«, sagte sie kalt.

»Nein«, bestätigte Waverly, und jetzt hielt sie jedem anklagenden Blick im Raum stand. »Nein. Es war nicht genug.«

Niemand entgegnete etwas, aber Waverly spürte, wie sie sie voller Verachtung anstarrten, als sie sich nun abwandte und entfernte.

Deshalb verstecke ich mich unter Traktoren und Mähdreschern, dachte sie bitter. Dort, wo mich niemand sehen kann. Wo niemand mich ansprechen kann. Wo ich einfach allein bin.

Nur die Teenager-Mädchen, denen – ebenso wie Waverly selbst – ihre Eizellen gestohlen worden waren, verstanden, weshalb sie hatte fortlaufen müssen. Alia Khadivi, Deborah Mombasa und Sarah Hodges saßen zusammen auf einem Stockbett am anderen Ende des Bunkers, und Waverly schob sich durch die Menge in ihre Richtung.

»Hat diese Hure Marjorie irgendetwas zu dir gesagt?«, fragte Sarah und schoss einen vernichtenden Blick in die Richtung der zwei Schwestern. Sarah war ein kompaktes Mädchen mit großer Ausdrucksstärke, und jedes ihrer Gefühle spiegelte sich stets eins zu eins und in unmissverständlicher Deutlichkeit auf ihrem sommersprossigen Gesicht wider.

»Ach, mach dir darüber keine Sorgen«, sagte Waverly. »Weißt du denn, was passiert ist?«

Sarah schüttelte den Kopf. »Jeder hier denkt, wir würden erneut angegriffen.«

»Aber die New Horizon ist neun Millionen Meilen vor uns«, warf Waverly ein.

»Ich weiß«, sagte Alia durch ihre geschürzten, tiefrosafarbenen Lippen. Ihr langes, dichtes Haar fiel ihr in ebenholzfarbenen Kaskaden über die Schulter. »Vielleicht ist Seth ausgebrochen.«

»Nein«, platzte es aus Waverly heraus. »Seth würde niemals irgendetwas tun, was das Schiff gefährden könnte.«

»Du solltest lieber hoffen, dass Seth das Problem ist«, sagte Deborah mit einem bitteren Lachen, und ihre Finger fuhren nervös durch ihre dichten schwarzen Locken. »Denn wenn es nichts mit Seth zu tun hat, dann hat es etwas mit der New Horizon zu tun.«

Waverly setzte sich an den Rand des Bettes, direkt neben Sarah. Am liebsten hätte sie nach der Hand ihrer Freundin gegriffen und ihre Finger mit ihren verschränkt, aber sie wollte sich nicht aufführen wie ein kleines, verängstigtes Mädchen.

»Ich wünschte, Kieran hätte nicht alle Waffen versteckt«, sagte Alia. Praktisch veranlagt, wie sie war, hatte Alia es sich zur Aufgabe gemacht, so viele Ernteschäden wie möglich auszugleichen, denn die Familiengärten waren in den letzten Monaten stark vernachlässigt worden. Sie und ihre Helfer brachten endlose Mengen an Körben voll frischer Früchte und frischem Gemüse zu den Wohnquartieren, und oft trafen sie einander in der Küche des Raumschiffs, wo sie riesige Mengen von Gemüsebrei für die jüngeren Kinder einkochten. Alia verbarg selten ihre Gefühle, aber nun wippten ihre Füße in den roten Seidenpantoffeln so stark auf und ab, dass sie das Bett, auf dem die Mädchen saßen, zum Schwingen brachte.

»Wenn sie wollen, dass ich dorthin zurückgehe, müssen sie mich schon durch eine der Luftschleusen hinausbefördern«, sagte Waverly und schob ihre eiskalten Hände unter die Oberschenkel.

»Sag so etwas nicht«, entgegnete Sarah wie aus der Pistole geschossen.

»Und warum nicht?«, fragte Waverly.

Für einige lange Augenblicke spürte sie Deborahs helle, forschende Augen auf sich gerichtet, ehe das Mädchen schließlich sagte: »Du hast uns von diesem Schiff heruntergebracht. Niemand hätte das besser machen können, als du es getan hast. Und das weißt du auch, oder?«

»Ich möchte nicht darüber sprechen.«

»Mach dir nichts aus Marjorie und all den anderen Idioten«, sagte Sarah. »Ignorier sie einfach.«

»Ich mache mir nichts daraus«, sagte sie kühl, aber sie wusste, dass Sarah ihr nicht glaubte.

In der Mitte des Raums hob nun ein Mädchen namens Megan Fuller die Hand und bat um jedermanns Aufmerksamkeit. Mit ihren rundlichen Wangen und dem zotteligen, dünnen braunen Haar war Megan nicht gerade eine klassische Schönheit, aber ihr Lächeln verlieh ihrem Gesicht immer wieder etwas Besonderes: »Kommt! Versammeln wir uns! Bildet einen Kreis!«

»O nein«, seufzte Waverly. »Werden sie je damit aufhören?«

»Die Leute fühlen sich danach besser«, gab Alia unerwartet gleichmütig zurück. »Das musst du zugeben.«

Eine erstaunlich große Menge von Kindern scharte sich um Megan. Die Leute senkten ihre Köpfe, als das Mädchen nun in einen Singsang verfiel und zu beten begann: »Lieber Gott, leite unseren Führer Kieran Alden. Was auch immer heute Nacht geschehen mag, bitte beschütze uns vor unseren Feinden bis zu jenem Tag, an dem wir wieder mit unseren Familien vereint sein werden, sei es in diesem oder im nächsten Leben …«

»Dass wir eines Tages unsere Eltern wiedersehen könnten, ist ein schöner Gedanke«, sagte Deborah abwesend. Kurz nach der Rückkehr auf die Empyrean hatte sie erfahren, dass ihre Eltern bei dem Shuttle-Hangar-Massaker gestorben waren. Sie hatte es tapfer aufgenommen, doch sie sprach kaum je von ihnen und schien die Gesellschaft jener kleinen Herde von Schafen und Ziegen, mit der sie von Feld zu Feld durch das Schiff zog und die sie Stunde um Stunde mit leeren Augen beobachtete, der der Menschen vorzuziehen.

»Manchmal spüre ich zu seltsamen Zeiten, dass meine Mutter zu mir spricht.«

»Auch ich habe zu meinem Vater gesprochen, nachdem er gestorben war«, sagte Waverly. »Damals, als ich noch klein war.« Ihre Augen wurden dunkel, als sie an jene traurigen, einsamen Nächte zurückdachte. »Ich tat es immer abends, an der Grenze zwischen Tag und Traum.«

»Vielleicht ist es dann doch nicht so falsch von Megan, zu beten«, sagte Alia.

Waverly sah zu Megan hinüber, die ihre Hände über ihrem Kopf ausgestreckt hatte, während sie laut betete. Sie wusste, dass das Mädchen eine große Unterstützerin Kierans war; wann immer er den Raum betrat, starrte sie ihn mit einem verklärten Ausdruck auf dem Gesicht an. Es machte Waverly ganz krank. »Sie klingt wie Anne Mather.«

»Weißt du, Waverly«, sagte Deborah mit einer Spur von Ungeduld in der Stimme, »nicht jeder gläubige Mensch ist so wie diese Frau.«

»Das habe ich auch nicht gesagt.«

»Das musst du auch nicht«, entgegnete Deborah, den Blick auf Waverlys Knie gerichtet. »Jeder hier weiß, dass das deine Einstellung zu den Gebeten ist.«

»Ich dachte bislang, dass du Kierans kleinen Kult ebenso wenig magst«, sagte Waverly, die sehr wohl merkte, dass sie in die Defensive geriet, sich aber nicht anders zu helfen wusste. »Und wie könntest du auch, nach all dem, was mit Anne Mather geschehen ist?«

Deborah zuckte trotzig mit den Schultern. Eine Strähne ihres Lockenhaars fiel ihr in die Augen, und sie schob sie mit einer ungehaltenen Geste hinters Ohr. »Megan ist nicht Anne Mather. Ebenso wenig wie Kieran. Unter allen Leuten auf diesem Schiff solltest ausgerechnet du das am besten wissen.«

Sarah und Alia lächelten Waverly aufmunternd zu, aber statt sich an der Diskussion zu beteiligen, senkten sie kurz darauf lieber die Blicke und studierten den Boden des Zentralbunkers.

Waverly öffnete ihren Mund, um zu protestieren, doch dann schloss sie ihn wieder. Ich überreagiere nicht, sagte sie zu sich selbst. Kieran ist gefährlich.

Aber Anne Mather war schlimmer. Und vielleicht hatte sie einen Weg gefunden, sich auf die Empyrean zu schleichen. Vielleicht betrat sie gerade in diesem Augenblick mit ihren Leuten das Schiff.

Waverly krümmte sich zusammen und verbarg ihre Stirn zwischen ihren Knien. Ich werde nicht dorthin zurückkehren, schwor sie sich. Eher sterbe ich.

Die Last der Verantwortung

Von diesem einfachen Podium aus, umtanzt von sanftgelbem Licht, sah Kieran auf seine Gemeinde hinab. Ihre Anzahl hatte über die Wochen hinweg abgenommen, während die Crew zunehmend demoralisiert war und an den Sonntagen lieber ausschlief, als an den Gottesdiensten teilzunehmen. Etwa die Hälfte der Crew war geblieben, und sie waren auch heute hier – die wahren Gläubigen. Und sie starrten ihn an, und ihre Augen strahlten.

»Ich weiß, dass wir alle, dass ein jeder hier während des letzten Monats große Hoffnungen in das Erhöhen der Beschleunigung der Empyrean gelegt hat. Wir hofften, so könnten wir näher an die New Horizon herankommen – und somit auch an unsere Eltern …« Er schluckte schwer. Plötzlich klangen diese Worte wie eine Niederlage, wie das Gegenteil von dem, was er letzte Nacht hatte schreiben wollen. Kieran lächelte, und einige Mitglieder seiner Gemeinde beugten sich in ihren Stühlen vor. Er fing den Blick eines kleinen schwarzhaarigen Jungen in der ersten Reihe auf, der auf seiner Unterlippe kaute.

»Wir wünschen uns, dass der Kampf beginnen möge«, sagte Kieran in vertraulichem Tonfall, »aber ich muss euch bitten, Geduld zu bewahren. Wir werden zur New Horizon aufschließen, wenn Gott es will. Nicht früher.«

Das war alles, was er niedergeschrieben hatte: die letzten Worte auf dem portablen Lesegerät vor ihm. Aber die Anspannung im Raum war noch immer ungebrochen hoch. Seine Zuhörer warteten darauf, erlöst zu werden.

»Wir werden sie kriegen!«, sagte er und reckte die Faust über seinem Kopf in die Luft. »Der Tod unserer Lieben wird gerächt werden! Wir werden über unsere Feinde triumphieren, und wenn wir auf New Earth landen, werden wir die Erinnerung des Sieges in unseren Herzen tragen!«

Seine Gemeinde sprang auf wie ein Mann und rief: »Kyrie eleison! Kyrie eleison! Kyrie eleison!« Es war ein alter Segenswunsch in Griechisch, und seine Bedeutung war »Herr, erbarme dich«. Zufällig war es auch der Ursprung von Kierans Namen, und er wusste, dass es kein Zufall war, dass seine Gemeinde ausgerechnet diese Worte am Ende jeder seiner Predigten rief. Er lächelte demütig und erhob die Hand, um sich über den Lärm hinweg Gehör zu verschaffen. »Danke! Ich danke euch! Jedem Einzelnen!« Aber sie jubelten einfach immer weiter.

War es falsch von ihm, dass er Augenblicke wie diesen liebte?

Es war noch nicht lange her, dass er um sein Leben hatte bangen müssen. Seth Ardvale und seine Leute hatten einen inszenierten Zeugen nach dem anderen ins Feld geführt, und eine Zeitlang hatte es so ausgesehen, als habe die Crew ihn aus einer der Luftschleusen werfen wollen. Noch immer plagten ihn Alpträume, gespeist aus jener Zeit, und wenn er aus ihnen erwachte, schwamm er wie durch feuchtes Laub an die Oberfläche, und der Schrei in seiner Kehle blieb ihm im Halse stecken.

Jetzt aber liebten sie ihn. Nun jubelten sie ihm zu, und er war in Sicherheit.

Aber er vergaß niemals, dass sich das Blatt wieder zu seinen Ungunsten wenden konnte.

Mit einem Mal riss ihn ein tiefes, grollendes Dröhnen aus seinen Gedanken, und ihm war, als träfe ihn der Laut mitten in die Brust. Er taumelte. Der Boden unter ihm wankte, und das hölzerne Podium schien sich tanzend von ihm zu entfernen. Etliche Mitglieder der Crew schrien auf und hielten sich an ihren Stühlen fest. Die Vorhänge an den Treppen zum Auditorium schwangen vor und zurück.

Jemand schrie: »Wir werden angegriffen!«

»Lauft zum Zentralbunker!«, rief Kieran. Er katapultierte sich selbst von der Bühne und rannte den Gang zwischen den Stühlen entlang, wobei er seine Füße so fest wie irgend möglich auf den Boden aufsetzte, obschon eben dieser unter ihm wankte. Dabei bewegte er sich so schnell, dass er bereits den Aufzug zur Kommandozentrale erreicht hatte, noch ehe der erste der anderen auch nur die Halle betreten hatte.

Dann hämmerte er auf den Knopf der Kom-Station im Aufzug: »Sarek? Arthur? Was ist passiert?«

»Ich weiß es nicht!«, kam Arthurs panische Stimme aus den Lautsprechern zu ihm zurück. »Ich weiß nicht, ob es eine Explosion war oder –«

»Wo ist die New Horizon?«

»Sie sind noch immer weit, weit vor uns! Ich glaube nicht, dass sie es sind.«

Der Fahrstuhl bewegte sich mit nervenzerfetzender Langsamkeit, und Kieran donnerte mit der Hand gegen die Metallwand neben dem Interkom. »Könnten sie einen Angriff per Shuttle gestartet haben?«

»Ohne dass unsere Sensoren sie bemerkt hätten?« Es war Sarek, der sich nun in das Gespräch einschaltete. »Unmöglich.«

Sarek und Arthur waren gute Offiziere, aber sie waren nur dreizehn Jahre alt. Was, wenn sie etwas übersehen hatten? Was, wenn die weitaus erfahrenere Crew der New Horizon sie irgendwie ausgetrickst hatte? Und falls es so war – wo würden sie zuerst zuschlagen?

»Überprüf die Maschinen!«, schrie Kieran in das Interkom, während sich die Türen des Fahrstuhls endlich öffneten. Dann raste er den Gang hinunter, sein Herz schmerzvoll gegen seine Brust schlagend, sein Atem gänzlich außer Kontrolle.

Eine noch größere Erschütterung lief durch das Schiff, und er taumelte und fiel gegen eine der Wände. »O Gott«, keuchte er, während er sich wieder aufrichtete und in Richtung Kommandozentrale wankte.

»Anschnallen!«, rief er in den Raum hinein.

Arthur und Sarek taten wie geheißen. Noch während er sich im Kapitänssitz anschnallte, machte Kieran eine schiffsweite Durchsage und beorderte die gesamte Crew in den Zentralbunker; dann drehte er sich zu Arthur um, der verstört wirkte. »Was hast du herausgefunden?«

»Die Maschinen laufen normal«, sagte Arthur. Die Brille rutschte ihm die verschwitzte Nase hinab, und mit einem Ruck schob er sie an ihren Platz zurück. »Der Computer arbeitet, als sei nichts passiert.«

»Kühlsystem? Reaktoren?«, bellte Kieran.

»Alles perfekt. Ich kann nichts Ungewöhnliches finden.«

»Auch keine Probleme mit der Außenhülle?«

»Nein.«

»Und auch das Navigationssystem zeigt keinerlei Probleme an«, ergänzte Sarek und schüttelte den Kopf.

»Aber was ist dann hier los? Was ist passiert?«, fragte Kieran. Sein ganzer Körper zitterte, und er krallte seine Hände mit aller Kraft in die Plastikarmlehnen seines Stuhls, während er durch das Sichtfenster den Himmel beobachtete.

Und dann bemerkte er, wie die Sterne am Rande des großen Fensters erloschen, einer nach dem anderen. Er sammelte sich mit einem tiefen Atemzug.

»Das waren keine Explosionen. Das waren die Schubdüsen.« Sarek und Arthur sahen ihn verständnislos an, bis er schließlich hinzufügte: »Wir wenden. Überprüf noch einmal das Nav-Sys, Sarek«, sagte er bitter. »Diesmal manuell, bitte.«

Sarek schüttelte den Kopf, beeindruckt, wie es schien. »Du hast recht. Das waren die Schubdüsen.«

»Kannst du unseren Kurs korrigieren?«

»Ich habe bereits das Nav-Sys neu gestartet«, sagte Arthur. »Der Kurs wird sich automatisch selbst korrigieren.«

»Immerhin haben wir es nicht mit einer Dekompression zu tun«, sagte Kieran voller Erleichterung. Er drückte den Kom-Knopf am Arm seines Kapitänssitzes. Zu Beginn hatten ihn schiffsweite Ansagen nervös gemacht. Aber mittlerweile liebte er es zu wissen, dass seine Stimme nun das gesamte Schiff erfüllen würde – seine ganze Welt. »Aufgepasst, Crew. Wir werden nicht angegriffen. Ich wiederhole: Wir werden nicht angegriffen. Die Erschütterungen, die ihr gespürt habt, waren unerwartete Aktivitäten der Schubdüsen, weiter nichts. Wir sind in Sicherheit, und die New Horizon ist so weit von uns entfernt wie immer. Ihr könnt unbesorgt zu eurem Tagwerk zurückkehren.« Dann drehte er sich erneut zu Arthur herum: »Wie ist das passiert? Das Nav-Sys hätte das verhindern müssen.«

Arthurs Blick war auf den Computerschirm vor sich gerichtet, und mit mechanischer Effizienz klickte er sich durch die komplexen Kontrollsysteme des Schiffs, bis schließlich etwas seine Aufmerksamkeit weckte, er innehielt und die Computersprache studierte. »Jemand hat sich an der Programmierung zu schaffen gemacht.« Mit großen Augen starrte er Kieran an. »Sabotage.«

Für einen Augenblick sprach niemand in der Kommandozentrale ein Wort.

»Ruf den Arrestbereich«, flüsterte Kieran schließlich.

Sarek wirbelte zurück zu seinem Kom-Schirm, eine Hand an seinem Kopfhörer, und presste sich einen der Ohrstöpsel an den Kopf. »Harvey? Bist du da unten? Kannst du mir einen Status unserer Gefangenen durchgeben?«

Keine Antwort.

»Check die Vidschirme«, schnauzte Kieran. Er wusste es! Spürte mit jeder Faser seines Körpers, dass Seth irgendwie etwas mit der Sache zu tun hatte.

Sarek klickte sich durch die diversen Kameras des Arrestbereichs, sowohl innerhalb als auch außerhalb. »Ich kann dort unten niemanden entdecken«, sagte er schließlich niedergeschlagen.

»Schick ein Team von Kommando-Offizieren runter«, sagte Kieran, auch wenn er wusste, was sie dort unten finden würden. Harvey Markem verletzt oder tot, Seth Ardvale verschwunden. Kierans Puls beschleunigte sich, und kalter Schweiß trat ihm aus den Poren. »Wie hat Seth das gemacht?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Arthur, während er die Vids der Brig zurücklaufen ließ und dann im Schnelldurchlauf abspielte. »Das Letzte, was das Band zeigt, ist Harvey, der in seinem Stuhl sitzt. Genau dort, wo er sein sollte. Dann flackert das Bild, und plötzlich ist da nur noch ein leerer Stuhl. Keinerlei Aufzeichnungen eines Angriffs oder von Seth, der den Zellentrakt verlässt.« Er drehte sich um und musterte Kieran besorgt. »Also wurde das Videoüberwachungssystem außer Kraft gesetzt, bevor Seth entkam.«

»Jemand von außerhalb muss ihm geholfen haben«, sagte Sarek dunkel.

Eine kalte Furcht kroch durch Kierans Glieder. Seth Ardvale allein war schon gefährlich genug, aber mit einer Crew von Gefolgsleuten? Einst hatte er Kieran fast getötet. Und er könnte es wieder tun.

»Arthur, kannst du die Besucherprotokolle der Brig aufrufen?«, sagte Kieran, einem Impuls folgend. »Nachschauen, ob irgendjemand jüngst dort unten gewesen ist?«

Arthur tippte auf das Keyboard vor sich und scrollte dann durch eine Namensliste, die sich in grünen Textzeilen in seinen Brillengläsern widerspiegelte. Sein jungenhaftes Gesicht war schlanker geworden, kantiger, mehr zu dem eines jungen Mannes. Er wirkte ernst und als trüge er eine schwere Last. »Alles Leute, die autorisiert waren, um Nahrung dort hinunterzubringen, und …« Arthur sah Kieran erstaunt an. »Waverly Marshall hat Seth vor rund einem Monat besucht. Bevor wir ihn in die Isolationshaft verlegt haben.«

Kieran fühlte sich, als sei er zu Stein geworden. Arthur und Sarek senkten betreten den Blick.

»Schnappt sie euch. Bringt sie her«, sagte Kieran, doch noch ehe Arthur reagieren konnte, war er aus seinem Stuhl und auf dem Weg hinaus aus der Kommandozentrale. Einmal noch drehte er sich um und rief über die Schulter zurück: »Schon gut. Ich kümmere mich selbst darum.«

Noch immer standen Leute in Grüppchen im Zentralbunker beieinander und unterhielten sich flüsternd über die Schubdüsen. Die Jüngeren waren bleich und still; den Älteren hatte der Zorn die Röte in die Gesichter getrieben. Kieran ließ seinen Blick über die Anwesenden schweifen, bis er in einer Ecke des Raums Waverly fand, die zu einer Gruppe von Mädchen sprach, die sich um sie geschart hatten. Eine von ihnen war Sarah Hodges.

Kieran ging zu Waverly herüber. »Wir müssen reden«, sagte er, die Stimme fest und kontrolliert.

Nun sahen ihn alle Mädchen an. Sie wirkten alarmiert.

»Was stimmt nicht mit dem Schiff?«, fragte Waverly. Sie saß auf einem der Betten, eine formlose Tunika um den Körper geschlungen und das Haar zu einem hastigen Pferdeschwanz gebunden. Sie sah aus, als wäre sie gerade eben aus dem Bett gefallen. Selbstverständlich hatte sie sich entschlossen, weiterzuschlafen, statt früh aufzustehen und den Gottesdienst zu besuchen. Es erstaunte ihn nicht in Anbetracht der Tatsache, dass sie noch nicht einmal mehr miteinander sprachen, aber es schmerzte noch immer. Und etliche der Kinder folgten ihrem Beispiel.

»Komm mit mir«, sagte Kieran zu ihr und griff nach ihrem Ellbogen.

Sie zuckte unter seiner Berührung zusammen, stand jedoch auf. »Wir sehen uns später«, sagte sie zu Sarah, die ihn misstrauisch musterte.

Kieran führte Waverly durch den überfüllten Bunker und durch den Gang zu seinem Büro. Der große Eichentisch, die lederbezogenen Stühle, der mehrfarbige Perserteppich; das kleine ovale Bullauge, das den Blick auf die Sterne freigab – alles war so, wie es immer gewesen war, aber Kieran hatte schon vor langer Zeit aufgehört, diesen Raum als Captain Jones’ Büro zu sehen. Es roch noch nicht mal mehr nach dem Pfeifentabak des alten Mannes, und der Raum hatte stattdessen den Geruch von Kierans Gewürztees angenommen.

»Was stimmt nicht, Kieran?«, fragte Waverly, als er die Tür hinter ihnen schloss.

»Warum hast du Seth Ardvale in der Arrestzelle besucht?«, fragte er mit bedrohlicher Ruhe. Er nickte zu dem Stuhl gegenüber seinem Schreibtisch und nahm selbst im Stuhl des Captains Platz.

Sie beobachtete ihn argwöhnisch und mit großen Augen.

»Waverly, antworte mir.«

»Ich wollte seine Version der Geschichte hören«, sagte sie, den Mund störrisch zu einer schmalen Linie zusammengepresst.

»Er hat versucht, mich zu töten. Zählt das nicht für dich?«

»Natürlich tut es das. Aber wir kennen Seth, seit wir krabbeln können, und ich kann mir einfach nicht vorstellen –«

»Wo warst du in den vergangenen zwei Stunden?«

Jetzt hatte er ihre Aufmerksamkeit. »Kieran, du glaubst nicht ernsthaft, dass ich etwas zu tun habe mit –«

»Beantworte meine Frage.« Sein harscher Tonfall verletzte sie, und für einen Augenblick war er sich nicht sicher, ob sie ihm antworten würde.

»Ich war in meiner Kabine.« Sie warf ihm einen verletzten Blick zu. »Wie kannst du nur –«

»Nein, Waverly, wie kannst du nur?«

»Ich stehe also unter Verdacht, nur weil ich Seth besucht habe? Soweit ich weiß, steht ihm das Recht auf medizinische Hilfe und Besuch zu. Und auf ein Gerichtsverfahren, übrigens.«

»Versetz dich doch mal in meine Lage. Meine Verlobte … oder Ex-Verlobte«, er stolperte kurz, gewann dann aber seine Fassung zurück, »macht sich auf den Weg, um meinen ärgsten Feind zu besuchen. Wie würdest du dich fühlen?«

Waverlys Gesichtsausdruck wurde weich, und sie griff nach seiner Hand. Er entzog sie ihr.

»Kieran, ich bin durcheinander. Du musst mir eine Chance geben, all das zu verstehen, was in der Zeit geschah, in der ich fort gewesen bin.«

»Wenn du mich jemals geliebt hast, solltest du mir glauben, ohne jedes meiner Worte zu hinterfragen.«

»Aber so bin ich nicht. So eine Art von Frau war ich noch nie.«

»Dann kannst du niemals meine Frau sein.«

Als sie das letzte Mal miteinander gesprochen hatten, hatten sie einander alles gesagt. Alles, bis auf diese letzten, finalen Worte. Jetzt, mit der Wahrheit, die zwischen ihnen stand, erkannte Kieran, dass er es schon lange gewusst hatte: Mit ihm und Waverly war es endgültig aus.

Eine lange Zeit starrte sie ihn einfach nur ausdruckslos an, dann machte sie auf dem Absatz kehrt und ging auf die Tür zu.

»Waverly, warte«, sagte er. »Es tut mir leid.«

Sie sah ihn skeptisch an.

»Bitte, komm und setz dich. Okay?«

Langsam kehrte sie zu dem Stuhl gegenüber Kierans Schreibtisch zurück und sank hinein, die Füße noch immer fest auf dem Boden, als habe sie vor, sofort wieder aufzustehen. Sie war noch immer geschmeidig und voller Anmut, und er kam nicht umhin, ihre kraftvollen Beine zu betrachten – und ihre zarten Handgelenke, die ihm stets so herzzerreißend schmal und wunderschön erschienen waren.

»Du hast recht. Es ist nicht fair, dich zu beschuldigen.« In einer hilflosen Geste warf er seine Hände in die Luft. »Es ist nur … so vieles hat sich verändert, und wir alle müssen irgendwie damit klarkommen. Ich weiß einfach nicht mehr, was ich glauben soll.«

Sie senkte den Blick. »Ich weiß.«

»Aber was auch immer geschieht«, sagte er, »wir müssen auch weiterhin auf derselben Seite kämpfen.«

Ihr Blick fand den seinen. »Wie meinst du das?«

»Du weißt nicht, wie zerbrechlich die Dinge sind. Wenn ich meinen Einfluss auf die Crew verliere, wenn sie sich auflehnen und all die anderen Dinge tun, die einem Haufen verängstigter Kinder durchaus zuzutrauen sind, dann weißt du, was geschehen wird, oder?«

»Das Schiff wird untergehen«, sagte sie ruhig. Und zum ersten Mal meinte er etwas wie Reue in ihren Zügen zu lesen. Er beschloss, sich diesen Augenblick zu merken.

»Du bist de facto die Anführerin der Mädchen.«

»Nicht mehr«, sagte sie, und nun lag da tatsächlich Reue in ihrer Stimme.

Er ignorierte ihren Einwurf. »Wenn wir weiterhin dafür Sorge tragen wollen, dass diese Crew frische Luft zum Atmen und etwas zu essen hat, brauche ich deine Unterstützung.« Er stand auf, ging um den Tisch herum und legte eine Hand auf ihre. »Wirst du mir versprechen, die Regeln auf diesem Schiff zu achten und die politischen Gegebenheiten zu unterstützen?«

»Was ich sage, interessiert hier niemanden so sehr wie die Frage, wie wir unsere Eltern zurückbekommen.« Vorsichtig legte sie ihren Kopf zur Seite und beobachtete seine Reaktion. »Einige Leute glauben, dass du absichtlich hinter der New Horizon zurückfällst, weil du Angst hast.«

Er entzog ihr seine Hand. »Noch weiter zu beschleunigen birgt große Risiken. Es ist nicht sicher.«

»Nicht jeder ist dieser Meinung.« Sie musterte ihn, scheinbar unsicher, ob sie fortfahren sollte. »Manche hier denken, dass du die Erwachsenen gar nicht zurückhaben willst, weil du dann deinen Kommandosessel abgeben müsstest.«

Er sah sie entsetzt an. Kein Wunder, dass die Teilnehmerzahl bei den Gottesdiensten gesunken war. Die Hälfte der Crew vertraute ihm nicht.

»Was ist deine Meinung?«, fragte er sie und wünschte, es würde ihm nichts mehr bedeuten, wünschte, er könnte sich selbst davor bewahren, auf ihre perfekt geformten Rosenknospenlippen zu starren.

»Ich weiß es nicht, Kieran«, sagte sie traurig. »Da du, Sarek und Arthur den anderen kaum etwas von dem sagt, was vor sich geht, wie soll ich da die Situation selbst beurteilen?«

Er schüttelte den Kopf. »Sagst du das, um mir weh zu tun?«

»Ich sage es, um dir zu helfen.« Resigniert rang sie die Hände. »Die Kinder haben Angst, und sie vermissen ihre Eltern.«

»Und ich wette, du hast noch nicht einmal versucht, ihnen zu helfen.«

»Was soll ich tun?«

»Stärk mir den Rücken, statt mich zu unterminieren.«

»Ich habe nie auch nur ein einziges Wort gegen dich gesagt.«

»Das musst du auch gar nicht! Die anderen Kinder wissen doch, dass du nicht einverstanden bist mit der Art, wie ich die Dinge angehe. Sie folgen dir! Das ist es, wie du mich und meine Position schwächst.«

Sie sah ihn eine lange Zeit an, ganz so, als versuche sie, seine Gedanken zu lesen, und dann schien sie eine Entscheidung zu fällen. Sie stand auf und streckte eine Hand aus. »Ich würde nicht für dich lügen, Kieran, aber ebenso wenig würde ich dich verraten, falls es das ist, was dir Sorgen macht.«

Ihre Handflächen berührten einander. Ihre Hand fühlte sich für ihn bereits fremd an, größer, als er sie in Erinnerung hatte, die Haut rauh von ihrer Arbeit als Mechanikerin. Und ihre Augen – sie hatte sich von innen heraus verdunkelt. Sie hatte sich verändert.

Er musterte sie und war sich nicht sicher, was er von ihren Worten halten sollte. »Okay …«

Sie schenkte ihm ein trauriges Lächeln, dann wandte sie sich ab, verließ den Raum und schloss die Tür leise hinter sich.

Kieran ließ sich in den Kapitänssitz sinken und fühlte sich, als wäre ein essenzieller Teil seiner selbst aus ihm herausgeschabt worden. Sie hatten sich immer gekannt. Waren Freunde gewesen, bis mehr daraus geworden war. Nie hätte er sich vorstellen können, dass je eine solche Distanz zwischen ihnen herrschen könnte. Lange saß er da und erwog seine Möglichkeiten, bis er schließlich den Kom-Knopf drückte und Arthur zu sich rief.

»Kieran, die Leute reden«, sagte Arthur außer Atem. »Hast du Waverly vor allen anderen zurechtgewiesen und …«

»Wem vertraust du, Arthur?«

»Wie bitte?« Der Junge sah ihn verständnislos an.

»Wem der Jungen würdest du vertrauen und ihm zutrauen, etwas diskret zu erledigen und Stillschweigen darüber zu bewahren?«

Arthur starrte Kieran an, betastete den Saum seiner gewebten Hose, und seine Zehen wippten unruhig in seinen Sandalen auf und ab. »Philip Grieg.«

»Wer?«

»Ich glaube, er ist neun Jahre alt. Er spricht nie. Mit niemandem.«

»Oh, ja.« Philip. Der stille Junge mit dem schwarzen Haar, das ihm stets ins Gesicht hing, und jenem immer gleichen Gesichtsausdruck, der jeden verunsicherte, der versuchte, ihn anzulächeln. Aber er kam jedesmal zu den Gottesdiensten, saß stets in der ersten Reihe und lauschte Kierans Worten in andächtiger Gleichförmigkeit. Er würde loyal sein.

»Bring ihn zu mir.«

»Jetzt gleich?«

»Ja, jetzt sofort.«

Arthur wandte sich zum Gehen, sah aber noch einmal über die Schulter zurück zu Kieran, ehe er die Tür hinter sich schloss. Es verging nicht viel Zeit, bis es zweimal kurz gegen die Tür klopfte und Kieran sich erhob.

»Komm rein.«

Katzengleich, nahezu entbeint, wie es seine Art war, glitt Philip in den Raum, und Kieran wurde bewusst, dass der Junge für diesen Einsatz tatsächlich die perfekte Wahl war.

»Hi«, sagte Philip, und seine Augenbrauen bewegten sich aufgeregt auf und ab. Nie zuvor hatte Kieran ihn allein zu sich gerufen, und dass es heute geschah, empfand Philip unübersehbar als große Ehre.

»Philip«, begann Kieran sanft, weil er spürte, dass ein unbedachtes Wort aus seinem Mund den Jungen verletzen könnte. »Kannst du etwas für mich tun, ohne jemandem davon zu erzählen?«

Philip drückte einen abgeliebten Teddybären an seine Brust. Gott, er war so jung. Jetzt starrte er Kieran an, als hätte er dessen Frage bereits vergessen.

»Philip, ich habe dich etwas ge–«

»Ja, ich kann schweigen«, murmelte der Junge durch seine feucht glitzernden Lippen.

»Wenn ich dich bitte, jemanden zu beobachten – schaffst du das, ohne von diesem Menschen gesehen zu werden?«

Der Junge zuckte zusammen. »Was willst du, dass ich tue?«

Kieran lehnte sich in seinem Stuhl zurück und musterte Philip, der den Blick senkte, während er noch immer mit ganzem Herzen zuzuhören schien.

»Philip. Ich vermute, dass Waverly Marshall etwas tut, das sie nicht tun sollte. Und deshalb brauche ich dich. Du sollst ihr folgen, ohne von ihr bemerkt zu werden, und mir danach Bericht erstatten. Kannst du das für mich tun?«

»Und wenn sie mich entdeckt?«

»Du musst dafür Sorge tragen, dass das nicht geschieht. Kannst du das für mich tun?«

»Ich weiß nicht …« Der Junge hob den Teddy an sein Gesicht und atmete tief dessen beruhigenden Geruch ein. Kieran fragte sich, ob die Mutter des Jungen das Stofftier genäht hatte. Sie war im Massaker am Shuttle-Hangar getötet worden.

»Warum möchtest du, dass ich ihr folge?«

»Ich denke, es ist besser, wenn nur ich allein den Grund kenne. Ist das okay?«

»Ich denke schon.«

»Weißt du, wo Waverlys Kabine ist?«

»Ja.«

»Ich möchte, dass du dir eine leere Kabine ganz in ihrer Nähe suchst und dich dort früh am Morgen versteckst, um ihr im Anschluss den ganzen Tag über zu folgen. Kriegst du das hin?«

»Klingt ziemlich sonderbar«, sagte der Junge, senkte eine seiner Brauen und sah ihn skeptisch an.

»Es ist nicht sonderbar, wenn du es mit gutem Grund tust. Und ich habe sehr gute Gründe, Waverly etwas genauer unter die Lupe zu nehmen.«

»Okay«, sagte der Junge.

»Also gut. Und das Ganze bleibt eine Sache zwischen uns, nicht wahr?«

»Ja.«

»Und du wirst keinem deiner Freunde davon erzählen?«

»Ich habe nicht wirklich irgendwelche Freunde«, entgegnete Philip sanft.

»Das ist gut«, sagte Kieran, doch dann fiel ihm auf, was er soeben gesagt hatte. Er stand auf, ging um den Tisch herum und vor dem Jungen auf ein Knie. »Ich bin dein Freund, Philip.«

Die Augen des Jungen wurden groß.

»Ich bin dein Freund, und das, was du tust, ist sehr wichtig. Vielleicht rettest du sogar das Schiff. Du wirst ein Held sein.«

Diese Worte zauberten ein Lächeln auf Philips bleiche Gesichtszüge. »Okay.«

Kieran ging zu seiner Schreibtischschublade, fand ein kleines, altmodisches Walkie-Talkie und reichte es ihm. »Hierüber kannst du mich erreichen und mir erzählen, was Waverly tut. Ich will wissen, mit wem sie spricht und wohin sie geht. Mach dir Notizen, wenn es nötig ist.«

»Okay.« Philip nahm das Headset, doch dann hielt er irritiert inne. »Aber ist Waverly nicht deine Freundin?«

Kieran öffnete den Mund, dann schloss er ihn wieder. Er musste ein paarmal ruhig durchatmen, ehe er antworten konnte. »Nein. Nicht mehr.«

»Oh. Okay«, sagte der Junge. Als er sich abwandte und den Raum verließ, sah Kieran, wie knochig seine Schultern waren, wie dünn seine kleinen Beine. Er wirkte so zerbrechlich.

Keine sechs Monate zuvor wäre es noch undenkbar gewesen, ein Kind wie ihn mit einer derart doppelzüngigen Aufgabe zu betrauen, und Kieran schüttelte den Kopf, als er daran dachte, wie viel sich seit dem Angriff der New Horizon auf die Empyrean verändert hatte, bei dem nahezu alle Erwachsenen seines Schiffs getötet worden waren. Nun waren die Kinder allein für ihr Schicksal und das des Schiffs verantwortlich. Wann immer er zu lange darüber nachdachte, begann sein Herz zu rasen, und sein Atem beschleunigte sich.

Er ballte seine Finger zur Faust. Er tat, was er tun musste. Falls Seth sich an den Schubdüsen zu schaffen gemacht und damit die Crew gefährdet und falls Waverly ihm dabei geholfen hatte, musste er das unbedingt wissen. In seinen Händen lag die Verantwortung für das Leben von 250 Crewmitgliedern, und es war seine Aufgabe, sie zu beschützen – ganz gleich, wie unwohl er sich dabei fühlte.

Er befand sich im Krieg. Das durfte er niemals vergessen.

Die Spur

Seth erwachte mit trockenem Mund und einem schmerzenden Punkt in der Mitte seines Rückens. Nachdem er Kierans Durchsage über die Schubdüsen gehört hatte, war er in der Lage gewesen, sich zu entspannen, aber er hatte dennoch nicht mehr als eine Stunde geschlafen, vielleicht zwei. Er hätte überhaupt nicht schlafen sollen. Es war Zeit zu verschwinden. Er streckte sich und dehnte die Rücken- und Beinmuskeln, die noch immer grausam von der Anstrengung schmerzten, mit der er Harvey all diese Stufen heraufgeschleppt hatte. Dann schlich er langsam einen moosbedeckten Pfad entlang, bis er einige Erdnusspflanzen erreichte. Er grub so viele der Nüsse aus, wie er tragen konnte, und streckte sich dann zwischen einigen Farnen aus, um zu essen und nachzudenken, während er die staubigen Schalen in seiner Faust zerdrückte.

Er brauchte einen Plan, wie er das Überwachungssystem umgehen konnte.

Er trug zusammen, was er über das System wusste. Die Kameras liefen vierundzwanzig Stunden am Tag, aber der Zentralcomputer nahm nur auf, was die jeweiligen Kameras sahen, wenn deren Bewegungsdetektor aktiviert worden war. Eine naheliegende Lösung, um die schiere Masse an Videomaterial zu reduzieren, das tagtäglich überall auf dem Schiff produziert wurde. Könnte es einen Weg geben, die Software zu manipulieren, die die Bewegungsmelder steuerte?

Dann kam ihm eine Idee, und plötzlich wusste er, was er zu tun hatte.

Er sprintete zu der Tür, die zum Zentralkorridor führte, lauschte, schlüpfte hindurch und rannte dann, so schnell er konnte, zum Treppenhaus an der Steuerbordseite des Schiffs. Dieses Treppenhaus wurde kaum je genutzt, weil es entlang der Außenhülle verlief, und trotz der soliden Isolierung der Hülle war es hier eisig kalt. Seth biss die Zähne zusammen, während er mehrere Etagen hinaufsprintete, bis zur Sektion mit den Wohnkabinen. Unkontrolliert zitternd und zugleich schweißüberströmt hielt er vor der Tür zu den Wohnquartieren an und lauschte erneut.

Alles war still. Seit dem Angriff war das Schiff derart unterbevölkert, dass es ihn nicht hätte erstaunen sollen, dass sich niemand auf dem Korridor aufhielt. Dennoch fühlte es sich seltsam an – als wäre er auf einem Geisterschiff. Seine durchgefrorene Haut prickelte, als er schließlich durch die Tür schlüpfte und ihn erneut warme Luft umfing. Er duckte sich in einen Wartungsraum in der Nähe seiner alten Kabine, in sicherem Abstand zu seiner einstigen Eingangstür, weil er sicher war, dass diese beobachtet wurde. Der Wartungsraum roch nach Ammoniak und dem schmierigen Fettgeruch diverser elektronischer Werkzeuge. Unter stummem Flehen ließ er seine Finger über die Panele an der Rückseite des Raums gleiten und seufzte erleichtert, als er seinen alten geheimen Einstieg fand.

Viele Jahre zuvor hatte sein Vater ihn in diesen Raum gesperrt, und nach etlichen Stunden der Verzweiflung und des Hungers hatte Seth schließlich die Verkleidung der Rückwand gelöst und einen Gang gefunden, der hinter allen Wohnquartieren entlangführte. Der Gang beinhaltete Sanitär-, Elektrik- und Belüftungsvorrichtungen für die Kabinen, bot aber an einer Seite auch noch Platz für einen schmalen Jungen, der sich an den Installationen vorbeischlängelte. Aus Angst davor, dass sein Vater ihn hier finden und bestrafen könnte, hatte Seth niemals jemandem von seinem Fund erzählt. Jetzt war er dankbar für seine Verschwiegenheit. Niemand würde ihn hier vermuten. Und das Beste war: Er wusste, dass keine Kamera auf den Wartungsraum gerichtet war. So konnte er kommen und gehen ohne die Angst, entdeckt zu werden.