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In den Highlands beginnt das Glück – mit Wolle, Mut und einem großen Wunsch
Der Winter hat Callwell Castle fest im Griff. Bei einem Besuch in Glasgow sieht Maighread frierende Menschen ohne Zuhause. Spontan schenkt sie einer jungen Frau ihr warmes Tuch. Die Begegnung lässt Maighread nicht los, sie möchte helfen. Schnell reift ein Plan. Zusammen mit Chloe und Amely organisiert sie ein regelmäßiges Benefiz-Stricktreffen – das Ziel: die längste gestrickte Sockenleine der Welt. Der Rekordversuch sorgt für große Aufmerksamkeit. Doch dann trifft ein Schicksalsschlag Maighread hart. Aber Joshua und ihre Freunde stehen ihr zur Seite. Mit deren Hilfe findet sie neuen Mut und am Horizont funkelt es hoffnungsvoll.
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Seitenzahl: 362
Veröffentlichungsjahr: 2025
Zum Buch:
Der Winter hat Callwell Castle fest im Griff. Bei einem Besuch in Glasgow sieht Maighread frierende Menschen ohne Zuhause. Spontan schenkt sie einer jungen Frau ihr warmes Tuch, und das Thema lässt sie auch Tage danach nicht los. Sie möchte mehr helfen – Menschen und Tieren. Ein regelmäßiges Benefiz-Stricktreffen könnte eine Möglichkeit sein. Vielleicht nicht mehr in diesem Winter, aber in kommenden. Maighread beschließt ihren Plan umzusetzen, dafür trommelt sie Chloe und Amely zusammen. Gemeinsam planen sie ein Event, das immer mehr Aufmerksamkeit erhält. Doch Maighreads unerfüllter Kinderwunsch belastet sie, und es braucht die Unterstützung ihres Partners und ihrer Freunde, um einen schweren Schicksalsschlag zu überwinden und neuen Mut zu finden.
Zur Autorin:
Susanne Oswalds Traum wurde wahr: Sie ist Bestsellerautorin. Die gebürtige Freiburgerin liebt das Meer. Gemeinsam mit ihrem Mann am Strand spazieren zu gehen und den Abend vor dem Kamin mit Strickzeug auf dem Schoß ausklingen zu lassen, ist für sie das Schönste. Mit dem Kopf ist sie fast immer bei ihren Heldinnen und Helden, und es macht sie glücklich, ihre Fantasie Wirklichkeit und Buchstaben zu Geschichten werden zu lassen.
Lieferbare Titel der Autorin:
Mörderisch verstrickt – Ein Strickclub ermittelt
Tod im Stroh
Ostfriesenglück
Mein Strickjournal
Willkommen in der kleinen Kaffeerösterei
Liebesglück in der kleinen Kaffeerösterei
Für immer in der kleinen Kaffeerösterei
Neue Träume am Strand
Die Liebe wartet im Watt
Ein Jahr Inselglück
Verliebt im Café Inselglück
Inselglück im kleinen Strickladen
Der kleine Strickladen in den Highlands
Wintertee im kleinen Strickladen in den Highlands
Neues Glück im kleinen Strickladen in den Highlands
Neubeginn im kleinen Strickladen in den Highlands
Schneezauber im kleinen Strickladen in den Highlands
Tannenduft im kleinen Strickladen in den Highlands
Susanne Oswald
Sternenfunkeln im kleinen Strickladen in den Highlands
Roman
HarperCollins
Originalausgabe
© 2025 HarperCollins in der
Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH
Valentinskamp 24 · 20354 Hamburg
Covergestaltung von Büro Süd GmbH
unter Verwendung von Shutterstock
E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783749909131
www.harpercollins.de
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Für alle Heldinnen, die ungeachtet aller Widrigkeiten ihren Weg gehen und dabei immer auch an andere denken.Gemeinsam sind wir stark!
Maighread
Maighread lag in ihrem Bett und konnte nicht schlafen. Stattdessen lauschte sie auf die Geräusche um sich herum und starrte in die im Licht des Vollmondes schimmernde Nacht hinaus, die wie verzaubert wirkte. Vor dem Fenster tanzten Schatten und schienen eine mystische Geschichte zu erzählen. Doch immer öfter unterbrachen dichter werdende Wolken das magische Schauspiel.
Nachdem es in den letzten Tagen sehr mild gewesen war, deutlich zu mild für Mitte Februar sogar, herrschte jetzt wieder klirrende Kälte. Raureif überzog die Hügel und Wiesen der Highlands. Der Winter bäumte sich noch einmal mit seiner ganzen Macht auf. Fast schien es, als wollte er ein Zeichen setzen und damit klarstellen, dass er noch nicht bereit war, dem Frühling das Feld zu überlassen.
Wenn es nach Maighread gegangen wäre, hätte sie auf diesen Wettersturz allerdings gern verzichtet. Obwohl es nicht so war, dass sie den Winter nicht mochte. Auch die kalte Jahreszeit hatte ihre schönen Momente. Die Atemwölkchen, die in eisiger Luft aufstiegen. Rote Nasen und glücksglänzende Augen, wenn man aus der Kälte wieder ins Warme kam. Füße, die nach einem Spaziergang langsam am Kaminfeuer auftauten, und durchgefrorene Hände, die eine Tasse heiße Schokolade hielten und sich daran wärmten. Maighread hatte durchaus ein Herz für Winterzauber.
Ab einem gewissen Zeitpunkt aber legte sich ihr innerer Schalter um, und die Sehnsucht nach Frühling erwachte. Dann wollte sie sich endlich nicht mehr dick einmummeln müssen, um nicht zu frieren. Ihre Leidenschaft für Zwiebellooks, um der Kälte zu entgehen, hatte ihr neulich sogar den liebevollen Spott ihrer Freundin Chloe eingebracht.
»Du bist die Meisterin der Schichten. Wenn du so weitermachst, kannst du dich zum Weltrekord anmelden. Die Frau, die die meisten Pullover übereinander tragen kann«, hatte sie geulkt, als Maighread sich nach einem eisigen Winterspaziergang minutenlang entblättert und die Stricksachen neben sich auf dem Stuhl gestapelt hatte.
»Wieso eigentlich nicht?«, hatte Maighread das Wollknäuel sofort gefangen und zurückgeworfen. »Das ist nicht deine schlechteste Idee. Gibt es den Rekord denn schon? Wie viele Pullover müssten es sein, um ihn zu knacken?«
Chloe hatte mit den Schultern gezuckt. »Keine Ahnung, das war nur ein spontaner Gedankenblitz«, hatte sie gesagt. »Aber mit T-Shirts gibt es einen Rekord. Vor einiger Zeit habe ich einen Artikel darüber gelesen. Wenn ich mich richtig erinnere, waren das weit mehr als zweihundert Shirts, die jemand übereinander angezogen hat.«
»Über zweihundert? Ach du meine Güte, das ist krass. Okay, ich glaube, diese Masche lassen wir besser direkt wieder fallen. Erstens könnte ich das nicht, und zweitens würde es mir um die Stricksachen leidtun. Das wird doch alles überdehnt und verzogen. Und was macht man dann hinterher damit? Im ersten Moment klang die Idee lustig, aber nein danke.« Damit hatte Maighread sich den letzten Pullover halb über den Kopf gezogen und Sheona, Chloes Töchterchen, mit einem »Guguck« und, nachdem sie ihn ganz abgestreift hatte und ihr Kopf wieder zum Vorschein gekommen war, dem dazugehörenden lauten »Daaa!« zum Lachen gebracht.
Sheona war ein Schatz und Maighreads Patenkind. Maighread konnte es kaum erwarten, ihr Stricken beizubringen. Bis es so weit war, dass die Kleine ihre Sachen selbst fertigen konnte, versorgte Maighread ihren Liebling mit allem, was sie mit ihren Nadeln zaubern konnte. Schon vor der Geburt – das war etwas mehr als ein Jahr her – hatte sie quasi im Dauereinsatz für das Baby gestrickt. Viele der Sachen auch gleich in mehreren Farben – damals wussten sie noch nicht, ob es ein Mädchen oder ein Junge werden würde.
Das Granny-Kleeblatt, das aus Chloes Großmutter Gwendolyn, Maighreads Großmutter Elisabeth und Eilidh, der Haushälterin von Callwell Castle, bestand, hatte kämpfen müssen, um überhaupt etwas beisteuern zu dürfen.
»Liebling, gib uns Alten doch auch die Chance, wenigstens ein Lätzchen oder ein Babyjäckchen für das Kleine zu stricken«, hatte ihre Granny versucht, sie zu bremsen, als sie mal wieder alle zusammen bei Maighread im kleinen Strickladen gesessen hatten.
Eilidh hatte ergänzt: »Elisabeth hat recht. Und außerdem – musst du nicht mal wieder einen Pullover für Joshua stricken? Ich glaube, er würde sich freuen.«
Gwendolyn hatte zustimmend genickt.
Doch Maighread hatte die Proteste mit einem Lachen abgetan und weiter ihrer Stricklust gefrönt. »Ihr macht euch zu viele Gedanken«, hatte sie erklärt. »Das ist ja schließlich kein Wettbewerb. Wir alle freuen uns auf unser Baby, und jeder strickt, was er mag. Am Ende sucht Chloe heraus, was sie brauchen kann und verwenden möchte. Ganz einfach. Alle Sachen, die Chloe nicht nimmt, werden ganz sicher auch Abnehmer finden, die sich darüber freuen. Und Joshua kommt nicht zu kurz, da könnt ihr sicher sein.« Einen Pullover für ihn hatte sie längst auf der Nadel. Schließlich ging der Trend zum Zweit- oder Drittprojekt – zumindest bei Maighread.
Die Stapel aus gestrickten Babysachen, die sich inzwischen anhäuften, fand sie überhaupt nicht schlimm. Ein Zuviel an Stricksachen gab es für sie nicht. Was Sheona nicht brauchte, nutzte Maighread entweder bei sich in ihrem kleinen Strickladen Wolle und Zeit als Ausstellungsstück oder spendete die Sachen direkt für Menschen, die Unterstützung brauchen konnten.
Jenen zu helfen, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens standen, war ihr schon immer ein Anliegen gewesen. Nachdem sie hier in Callwell nicht nur ihre familiären Wurzeln, sondern auch ihr persönliches Lebensglück gefunden hatte, mehr denn je. Sie wollte dieses Glück teilen und dadurch immer größer werden lassen.
Vor allem aber – an dieser Stelle machten ihre Gedanken wieder einen Sprung zu dem tobenden Wintersturm und ihrer Sehnsucht nach Frühling – wollte sie endlich wieder Zeit draußen in der Natur verbringen, ohne sich dabei in Tüchern, Handschuhen, Mützen, Ponchos und mehreren Schichten Pullovern zu verkriechen. Auch wenn sie ihre mit Liebe gestrickten dicken Sachen gern trug, genoss sie die wärmere Jahreszeit immer sehr. Sie hatte schließlich auch reichlich gestrickte Kleidung und Accessoires, die sie aus dünnerer Wolle gearbeitet hatte. Und viele Garne, die trotz Sonne und Wärme angenehm auf der Haut lagen. Kurzum – für ihre Strickliebe war jede Jahreszeit perfekt, das war nicht der Punkt, weshalb sie sich den Frühling herbeiwünschte. Aber wenn die Tage länger wurden und die Temperaturen angenehm, dann wurde die Welt wieder offener, und die Menschen waren unternehmungslustiger. In dieser Zeit schien die Welt mehr als sonst voller Lebenslust zu vibrieren. Das liebte Maighread sehr.
Sie freute sich auf lange Spaziergänge mit Chloe und Sheona. Auf Besuche bei Amely, um bei ihr im Garten Tee zu trinken, zu stricken und dabei die Alpakas zu beobachten. Auf Picknicks mit all ihren Freunden – dabei konnten sie immer so herrlich an neuen Plänen und Abenteuern stricken. So nannte Maighread es, wenn sie gemeinsam kleine Ideen wie Maschen zu einem großen Ideenstrickstück zusammenfügten. So hatten sie vor Jahren mit dem Callwell Yarn Festival begonnen. Oder gemeinsam den Advents-Ceilidh organisiert, mit dem sie Chloe unterstützt hatten, um ihren Traum vom eigenen Kräuterladen wahr werden zu lassen. Es machte Maighread glücklich, die Menschen um sich herum zu versammeln. Sie liebte es, gemeinsam mit anderen nicht nur am gleichen Strang, sondern auch in die gleiche Richtung zu ziehen und dadurch Kraft zu bündeln. Vielleicht lag es noch in ihrem früheren Leben begründet, als sie in einer Werbeagentur gearbeitet hatte – lange war es her. Maighread erinnerte sich nur noch schemenhaft an diese Zeit. Aber damals hatte sie gelernt, dass einzelne Kämpfer enorme Power haben konnten. Taten sie sich aber als Gruppe zusammen, verstärkte sich diese Kraft um ein Vielfaches. Eine Gruppe war mehr als die Summe der Kraft der Einzelkämpfer. Abgesehen davon ging es um die Zusammengehörigkeit. Wenn man am Ende ein gemeinsames Ziel erreicht hatte, dann konnte man gemeinsam feiern und das Glück genießen. Dieser wunderbare Moment, wenn aus einer kleinen Idee etwas entstanden war, das oft sogar noch schöner und größer war, als sie es anfangs gewollt hatten, war für sie das Schönste. Kein Wunder also, dass sie es nie lange aushielt, ohne wieder etwas auszuhecken, was ihren kleinen Strickladen und das Städtchen Callwell samt den Einwohnern in herrlichen Trubel stürzte.
Und natürlich freute sie sich auf Unternehmungen zu zweit mit Joshua, auf gemeinsame Ausritte, Besuche bei den Schafen und Ausflüge auf seinem Boot. Sie hatten die Wallabys auf Inchconnachan schon so lange nicht mehr besucht.
Während Maighreads Gedanken dem Frühling und Sommer entgegenfieberten, tobte draußen das Unwetter. Ein Sturm rüttelte an den Mauern von Callwell Castle. Tosend, brausend und heulend. Unter der Wucht einer Windböe knarzten die Fenster. Gleich darauf prasselte Eisregen dröhnend gegen die Scheiben. Im Gegensatz zu ihr selbst ließ sich Joshua nicht durch den Wintersturm stören. Es war ein Wunder, er schien nichts mitzubekommen und schlief noch immer tief und fest.
Nach ein paar Minuten ließ der heftige Regen nach. Das Prasseln ging in ein leiser werdendes Plätschern über, und schließlich war es ganz still. Erstaunt beobachtete Maighread die dicken Schneeflocken, die vom Himmel fielen. Vom Sturm angefeuert, wirbelten sie durcheinander, bevor sie an der Scheibe hängen blieben und in Schlieren langsam daran hinabliefen oder leise auf die Erde sanken.
Maighread fröstelte. Sie zog ihre Decke etwas enger um sich, schloss die Augen wieder und versuchte, noch etwas zu schlummern. Doch ihre Gedanken ließen sich nicht bremsen. Statt Ruhe zu geben, jagten sie in den bevorstehenden Tag hinein. Besonders natürlich zu ihrem heutigen Termin und allem, was damit zusammenhing. Was, wenn alle Bemühungen erfolglos blieben? Was, wenn ihre Hoffnungen sich nicht erfüllten? Vielleicht nie erfüllen würden? Allein die Vorstellung legte sich wie eine Klammer um ihren Brustkorb und drückte ihr die Luft ab.
Aber was, wenn es klappte? Automatisch wanderte ihre Hand auf ihren Bauch. Würde darin bald ein neues Leben heranwachsen? Der Gedanke an diese Möglichkeit ließ Maighreads Herz vor Freude flattern und machte sie auf wunderbare Weise atemlos. Wie würde ihr Leben in einem Jahr wohl aussehen? Waren Joshua und sie dann vielleicht wirklich bereits …
Schluss damit, dachte sie energisch. Sie wusste, dass sie sich nur unnötig verrückt machte mit den vielen Was wäre, wenn?, die ihre Emotionen Achterbahn fahren ließen. Mit einem unwilligen Schnauben gab sie den Versuch auf, noch etwas Ruhe zu finden, und öffnete die Augen wieder. Durch das Dämmerlicht des beginnenden Tages sah sie zu Joshua hinüber.
Er lag ihr zugewandt auf der Seite und hatte das Gesicht auf eine Hand gebettet. Die andere lag auf Maighreads Hüfte, als wollte er sich im Schlaf vergewissern, dass sie bei ihm war. Das zärtliche Gefühl, das diese Geste auslöste, ließ sie lächeln.
So war es zwischen ihnen seit dem ersten Tag. Entweder schliefen sie eng aneinandergekuschelt, oder sie hielten zumindest mit einem Fuß oder einer Hand Kontakt.
Maighread konnte sich gar nicht mehr vorstellen, eine Nacht ohne Joshua an ihrer Seite zu schlafen. Freiwillig jedenfalls nicht. Als er vor etwas mehr als einem Jahr vor den Stallungen gestürzt war und im Krankenhaus gelegen hatte, war es um ihren Schlaf schlecht bestellt gewesen. Die Sorge um ihren Liebsten und die Sehnsucht nach ihm hatten sie in den endlos scheinenden Nächten stundenlang wach gehalten. Wenn sie erschöpft von Kummer und Angst dann doch eingenickt war, hatte dieser Schlaf nie lange gewährt. Immer wieder war sie aufgeschreckt, um im Halbschlaf nach dem warmen Körper neben sich zu tasten – so wie sie es immer tat. Doch der Platz neben ihr war kalt und leer gewesen. Joshua hatte ihr schrecklich gefehlt.
Irgendwann hatte sie Molly zu sich ins Bett geholt, aber sosehr sie ihre Hündin liebte, Joshua hatte sie ihr natürlich nicht ersetzen können. Nachdem er nicht mehr in akuter Gefahr geschwebt und ein Bett in einem normalen Krankenzimmer ohne Intensivüberwachung bekommen hatte, konnten sie zumindest über Videochat auf Entfernung nebeneinanderliegen. Besser geschlafen hatten sie damit allerdings beide nicht. Um seine Genesung nicht zu gefährden, hatte Maighread schweren Herzens in der dritten Nacht darauf bestanden, die Handys auszuschalten und wegzulegen.
Die Erinnerung an diese schlimme Zeit ließ sie schaudern. Was für ein Glück, dass Joshua alles gut und ohne Spätfolgen überstanden hatte und jetzt gesund neben ihr lag. Sie lauschte auf seinen Atem, der gleichmäßig ging.
Während sie ihren Mann betrachtete, überflutete die Liebe für ihn ihr Inneres. Sie fühlte sich warm und geborgen. Dieses Wissen, ihn an ihrer Seite zu haben, tat so gut, dass ihre Anspannung sich für einen Augenblick löste und die Zuversicht Oberhand bekam. Egal was das Leben für Knoten in ihre Wolle knüpfte, mit Joshua an ihrer Seite würde sie alles meistern können.
Doch schon ihr nächster Gedanke katapultierte sie wieder in die Unruhe, mit der sie die ganze Nacht gekämpft hatte. Sie und Joshua standen kurz davor, gemeinsam den nächsten Schritt zu gehen. Wenn die Untersuchung heute positiv ausfiel …
Maighreads Herz stolperte vor Aufregung. Energisch stoppte sie ihre Träumerei. Eine Masche nach der anderen, befahl sie sich stumm. Es entsprach ihrem Naturell, auf ein gutes Ergebnis zu hoffen und daran zu glauben. Andererseits war ihr selbstverständlich bewusst, dass es keine Garantie gab. Aus Angst vor der möglichen Enttäuschung wollte sie lieber nicht weiterdenken als bis zu dieser heutigen Untersuchung. Das hoffnungsvolle Herzklopfen konnte sie trotz aller Vernunft nicht stoppen. Ihr Arzt hatte so zuversichtlich geklungen, als sie mit ihm über den Eingriff gesprochen hatte, es musste einfach klappen.
Maighread tastete nach ihrem Handy und checkte die Uhrzeit – es war noch nicht einmal sechs. Ihr Termin bei Doktor Anderson war um elf, sie hatten noch reichlich Zeit, bevor sie aufstehen mussten.
Wie gern würde sie sich in Joshuas Arme kuscheln. Seinem Atem zu lauschen und sich in seinen Küssen zu verlieren war normalerweise der perfekte Start in den Tag für sie. Joshua liebte diese innige Zeit genauso, das wusste sie. Irgendwann würde er sich rühren, sie näher an sich ziehen, sie küssen. Allein der Gedanke daran verursachte Maighread wohlige Gänsehaut. Doch heute hatte sie keine Geduld, liegen zu bleiben. Um die Nähe und Zärtlichkeit genießen zu können, fehlte ihr die innere Ruhe. Also beschloss sie, nach unten zu gehen und Joshua noch eine Weile schlafen zu lassen.
Vorsichtig, um ihren Liebsten nicht zu wecken, schlüpfte Maighread unter der Decke hervor und hob die Beine über die Bettkante. Mit den Füßen tastend, suchte sie ihre Pantoffeln. Molly hob den Kopf und blinzelte ihr Frauchen verschlafen an. Auch Bonnie und Lennox wachten auf.
»Was ist? Wollt ihr mit mir an den See?«, flüsterte Maighread. »Aber leise sein«, mahnte sie und öffnete die Schlafzimmertür, damit die drei Rabauken direkt hinauskonnten. Lennox steuerte allerdings zuerst auf sein schlafendes Herrchen zu. Gerade noch rechtzeitig konnte Maighread ihn davon abhalten, auf das Bett zu springen und Joshua über das Gesicht zu schlabbern. »Nichts da. Dein Herrchen darf ausschlafen. Raus mit dir«, befahl sie leise und dennoch energisch.
Mit den Kleidern auf dem Arm schlich Maighread aus dem Zimmer. Hinter sich hörte sie Joshua im Halbschlaf etwas murmeln, was sie nicht verstand. Sie sah noch, wie er sich umdrehte und die Decke höher zog, dann schloss sie die Tür und ging ins Bad.
Als sie kurze Zeit später die Treppe hinunterging, warteten die Hunde bereits ungeduldig. Dreifaches Schwanzwedeln begrüßte sie.
Maighread schnappte sich einen Poncho, Tuch, Handschuhe und Mütze. Bevor sie hinausging, warf sie noch einen schnellen Blick in die Küche, die aber noch verwaist dalag. Das bestätigte ihr, dass sie an diesem Morgen wirklich außergewöhnlich früh dran war. Aber sicher würde Eilidh jeden Moment erscheinen, um das Frühstück vorzubereiten. Die Haushälterin von Callwell Castle wollte heute nämlich selbst früh los. Zuerst auf den Markt in Callwell und danach zu Maighreads Grandma Elisabeth. Dort wollten sie zu dritt – Chloes Großmutter Gwendolyn war die Dritte im Bunde – frühstücken.
Das Granny-Kleeblatt hatte heute doppelten Betreuungseinsatz. Seit Maighreads Freundin Chloe ihre Tochter Sheona hatte, übernahm Gwendolyn oft den Kräuterladen, damit Chloe Zeit mit ihrer Tochter verbringen konnte. Und Maighreads Grandma Elisabeth liebte es, hin und wieder im kleinen Strickladen das Kommando zu haben. Sie hatte das Geschäft gegründet, aber aus gesundheitlichen Gründen schließen müssen. Die Arbeit war ihr zu viel geworden. Sich ganz von dem Laden zu trennen, hatte sie aber nicht über das Herz gebracht. Und so hatte Callwell eine ganze Zeit lang zwar ein Wollgeschäft gehabt, sogar noch mit Auslagen im Schaufenster, aber die Türen waren verschlossen geblieben.
Erst als Maighread nach Callwell gekommen war, hatte sich das geändert. Elisabeth hatte den Laden an ihre Enkelin übergeben, und Maighread hatte ihn zu neuem Leben erweckt. Viel mehr Leben, als alle sich anfangs vorgestellt hatten. Seit Maighread in Callwell lebte und arbeitete, wuchs die Strick-Community stetig. Sie brachte auch Menschen wieder an die Nadeln, die schon seit Jahren nicht mehr gestrickt hatten. Ihre Begeisterung war ansteckend – das zumindest erzählten ihr die Kundinnen und Kunden immer wieder, wenn sie bei ihr Wolle kuschelten und meistens am Ende viel mehr gekauft hatten, als geplant gewesen war.
Inzwischen ging es Elisabeth wieder besser, und sie freute sich, wenn sie zwischendurch ihrer Enkelin im Strickladen helfen konnte. Eilidh unterstützte ihre Freundinnen und sprang immer dorthin, wo sie gerade gebraucht wurde. Ansonsten saß sie auf dem kleinen Sofa im Wolle und Zeit und strickte. Auch das war wichtig, denn die Kundschaft verweilte gern im Laden, es gab immer einen regen Austausch. Callwell war ein kleines Örtchen am Ufer des Loch Lomond. Hier kannten sich alle und freuten sich, wenn sie nicht nur schnell abgefertigt wurden, sondern auch noch etwas Plauderzeit den Einkauf bereicherte. Die drei Ladys würden neben der Betreuung der Läden bestimmt einen gemütlichen Plauder- und Stricktag haben. Wolle, Tee, Shortbread und Zeit, Wichtiges und Unwichtiges zu besprechen – Maighread war sicher, es würde ihnen ausgezeichnet gehen.
Blieb nur die Frage, wie es ihr und Joshua gehen würde. Sie konnte nur hoffen, dass der Termin in Glasgow sich positiv entwickelte.
Während dieser Überlegungen hatte Maighread die Halle durchschritten und die Haustür erreicht. »Na los, ihr drei. Jetzt gehen wir erst einmal an den See. Ein bisschen Bewegung und frische Luft werden uns guttun. Frühstück gibt es hinterher.«
Bonnie drehte sich vor Freude um sich selbst und bellte. Mollie und Lennox drängten an die Tür. Als sie den Schnee entdeckten, gab es kein Halten mehr. Übermütig kämpften sie darum, wer es als Erster rausschaffte.
Im Gehen zog Maighread ihr riesiges Cozy-Season-Tuch enger um ihre Schultern. Die Luft war klirrend kalt. Mit großen Schritten marschierte sie hinter den Hunden her, der Schnee knirschte unter ihren Füßen. Inzwischen hatte es aufgehört zu schneien, am fahlen Winterhimmel wurden die Wolken heller, mit etwas Glück würde die Sonne demnächst durchbrechen.
Als sie ans Ufer des Loch Lomond kamen, pfiff Maighread einmal scharf und rief laut: »Nein!« Das genügte, um Lennox und Molly davon abzuhalten, sich direkt in die Wellen zu stürzen. Bonnie brauchte dazu keine Ansage, ihre Wasserliebe war nicht so ausgeprägt.
Kurz vor der Wasserkante bog Maighread rechts auf den Uferweg ein. Genau wie sie es sich erhofft hatte, stoppte der Spaziergang in der Winterkälte ihr Gedankenkarussell und verschaffte ihr damit eine kleine Atempause. Die Realität würde früh genug kommen, und dann bliebe immer noch Zeit, sich damit auseinanderzusetzen – wie auch immer das dann aussehen würde.
Statt an den Termin in Glasgow zu denken, sprang Maighread in der Zeit zurück. Sie konnte sich genau an ihren ersten Spaziergang am See erinnern. An die Ängste und Zweifel, die sie damals mit sich herumgetragen hatte. Ihre Großmutter, die die eigene Enkelin zuerst nicht in ihr Leben hatte lassen wollen. Das Zerwürfnis zwischen Maighreads Mutter Lindsay und deren Mutter Elisabeth hätte das Kennenlernen von Großmutter und Enkelin beinahe verhindert.
Wie elend sie sich damals gefühlt hatte. Es war eine emotionale Achterbahnfahrt gewesen. Nicht nur die Familienprobleme. Maighread war entwurzelt gewesen. Vom Freund verlassen – zum Glück, wie sie heute wusste –, ohne Job und ohne Idee, wo das Leben hingehen sollte. Und gerade als alles sich zum Guten gewendet hatte, war ihr gerade erst gefundenes Glück fast wieder verloren gewesen. Joshua! Als sie gedacht hatten, dass ihre Liebe unmöglich war, war für sie beide die Welt zusammengebrochen.
Dass sich das noch einmal drehen und lösen würde – daran hatten sie nicht mehr geglaubt.
Und jetzt waren sie verheiratet und würden in ein paar Stunden erfahren, wie es mit ihrer Familienplanung weitergehen konnte. Zack, schon waren ihre Gedanken wieder da, wo Maighread sie eigentlich nicht haben wollte. Verflixt.
Ihr Magen knurrte, und sie fror trotz Poncho und Tuch. »Kommt, lasst uns nach Hause gehen!«, rief sie und drehte um. Die Hunde hoben die Köpfe. Einen Augenblick schienen sie unentschlossen, dann rannten sie fast gleichzeitig los und überholten Maighread nur Sekunden später.
Maighread
Nach ihrer Schneerunde mit den Hunden zurück beim Castle, stampfte sich Maighread auf der letzten Treppenstufe den Schnee von den Stiefeln, bevor sie die Tür öffnete. Beim Eintreten stieß sie fast mit Eilidh zusammen, die, ausgestattet mit Mantel, Hut, Schal und Handschuhen, gerade im Begriff war, das Haus zu verlassen.
»Guten Morgen«, grüßte Maighread und lächelte die Haushälterin und großmütterliche Freundin an.
»Ach, da bist du ja wieder. Guten Morgen. Ich habe dich vorhin gerade noch weggehen sehen, als ich die Treppe herunterkam«, erwiderte Eilidh den Gruß.
Sie standen sich in der Eingangshalle gegenüber. Um sie herum tummelten sich die Hunde und beobachteten die Frauen aufmerksam. Sie wussten genau, dass nach dem Spaziergang ihr Frühstück an der Reihe war, und konnten es kaum erwarten. Maighread tätschelte Mollys Kopf, die versuchte, die Aufmerksamkeit ihres Frauchens zu gewinnen. »Na, Hunger?«, fragte sie. »Keine Angst, ihr bekommt gleich euer Frühstück.«
Eilidh schloss den obersten Knopf ihres Mantels und schauderte. »Was für ein Wetter! Diese Kälte! Es ist zwar erst Ende Februar, aber jetzt noch einmal Schnee wäre doch wirklich nicht nötig gewesen«, grummelte sie. »Und ich dachte, ich könnte in den nächsten Tagen schon mit dem Rosenschnitt beginnen.«
Der Rosengarten mit den durch geschickte Bepflanzung entstandenen einzelnen Gartenzimmern war Eilidhs ganzer Stolz. In den letzten Jahren hatte sie sich mit immer größerer Begeisterung diesem Hobby gewidmet. Besonders die David-Austin-Rosen, von denen es eine schier unüberschaubare Auswahl gab, gehörten zu ihren Lieblingen. Sie nahmen den größten Bereich des Gartens ein. Eilidh hatte unbestritten ein Händchen für die blühenden Schönheiten und einen engen Bezug zu ihren Pflanzen. Egal wie viele es waren, sie kannte sie alle mit ihren Namen und den besonderen Merkmalen.
In einem separaten Abschnitt, den sie ihre Rosenküche nannte, gediehen sogar Eilidhs eigene Züchtungen – darauf war sie besonders stolz.
Bewohner und Besucher von Callwell Castle erfreuten sich Jahr für Jahr an der bunten Rosenpracht, die nicht nur für die Augen, sondern oft auch für die Nase ein Fest war. Es war ein Erlebnis, durch die Anlage zu schlendern. Damit die Besucher verweilen konnten, gab es überall verteilt Sitzplätze. Kleine Tische mit Stühlen, Bänke oder auch Hängesessel, hier fand jeder seinen persönlichen Lieblingsplatz. Natürlich musste Eilidh das nicht alles allein machen, Joshua sorgte dafür, dass sie, wann immer es nötig war, einen Helfer an ihrer Seite hatte. Das nahm sie auch sehr gern an, nur an die Rosen durfte niemand außer ihr selbst.
Beim gemütlichen Zusammensitzen hatte Peter Eilidh im letzten Jahr einmal als Rosenflüsterin bezeichnet. Man hatte an ihrer Miene ablesen können, wie stolz sie auf diese Anerkennung war. Ihre Wangen hatten sich gerötet und die Augen vor Freude geblitzt. Was Eilidh aber selbstverständlich nicht daran gehindert hatte, Peter einen Knuff gegen den Oberarm zu geben und sein Lob abzuwehren. »Papperlapapp. Was du immer für Ideen hast. Ich glaube, dir steigt dein Whisky zu Kopf«, hatte sie gebrummt und den Kopf geschüttelt.
Doch damit hatte sie Peter nur die Vorlage für eine liebevolle Neckerei gegeben. »Nicht wenn ich nicht mit dir den passenden Stoff für Whiskykekse suche«, hatte er prompt gekontert. Daraufhin hatten Eilidhs Wangen sich noch tiefer rot gefärbt, und sie hatte sich blitzschnell zu einer Rose gebeugt, deren Blätter sie inspizierte. Maighread und alle anderen hatten sich das Lachen verkniffen.
Dieser legendäre Verkostungsabend mit Peter und Eilidh war zu einem Running Gag geworden. Auf der Suche nach dem perfekten Whisky für ihre Gingerbread-Whisky-Plätzchen, mit denen sie den Backwettbewerb beim Yarn Festival hatte gewinnen wollen, war Eilidh gemeinsam mit Peter zu eifrig ans Werk gegangen und hatte einen ordentlichen Rausch gehabt. Kopfschmerzen am nächsten Tag inklusive.
Zum Wettbewerb hatte sie dann auf den Whisky in den Plätzchen verzichtet und stattdessen Käsekuchenkekse gebacken. In den Monaten nach diesem feuchtfröhlichen Abend war sie brav bei Wasser geblieben, während alle anderen sich ihren wee dram hatten schmecken lassen – wobei die kleinen Schlucke meist gar nicht so klein waren. Zumindest nicht, wenn Peter eingoss. Es hatte lange gedauert, bis Eilidh einem Schluck flüssigen Goldes wieder zugeneigt gewesen war. Maighread lächelte, als sie sich an den Abend erinnerte. Nicht nur, weil es lustig gewesen war, Eilidh und Peter so angeschickert in der Küche vorzufinden, sondern auch, weil der Abend so einen wunderbaren Verlauf genommen hatte. Damals hatte Chloe verkündet, dass sie ein Baby erwartete.
Eilidh schnäuzte sich, steckte das Taschentuch weg und zog die Handschuhe an, die sie zwischendurch in die Manteltasche gesteckt hatte. Sie straffte die Schultern und machte sich bereit, in die Kälte zu treten.
Maighread konnte nachfühlen, wie frustrierend der unerwartete Schnee für sie sein musste. Vermutlich konnte man ihre Rosenlust mit Maighreads Stricklust vergleichen. Störungen waren äußerst unwillkommen.
»Bestimmt wird der Schnee nicht lange liegen bleiben«, tröstete sie ihre betagte Freundin deshalb. »Du wirst sehen, in ein paar Tagen ist der Spuk vorbei, und dann bist du bei deinen Rosen.«
»Hoffentlich. Es wird wirklich Zeit für Frühling, Sonne und den Garten.« Noch während sie das sagte, wurde sie von dem Thema abgelenkt.
Stirnrunzelnd sah Eilidh auf die Pfützen, die sich um die Hunde herum bildeten. Von den festgefrorenen Schneeklumpen, die ihnen im Fell hingen, tropfte es unablässig.
Sofort überkam Maighread ein schlechtes Gewissen. Zerknirscht beeilte sie sich, Eilidh zu besänftigen, deren kritischer Blick absolut berechtigt war. Immerhin war sie nicht mehr die Jüngste und hielt dennoch – mit etwas Hilfe – das Castle immer blitzblank sauber. Sie durfte erwarten, dass man Rücksicht auf ihre Bemühungen nahm und ihr nicht noch zusätzlich Arbeit bereitete.
»Ach je, ich hätte durch die Waschküche reinkommen und die Hunde dort abtrocknen sollen. Tut mir leid, ich habe nicht daran gedacht. Ignoriere die Pfützen bitte einfach, ich wische das gleich trocken.«
»Ist ja nur Wasser«, brummte Eilidh und gab sich zu Maighreads Verwunderung ungewöhnlich nachsichtig. »Nimm am besten eins der alten Handtücher aus der Waschküche. Du weißt schon, die im Wandschrank ganz unten links.«
Wäre statt Maighread Joshua mit den schneenassen Hunden so unbedacht hereingestürmt, hätte sie ihm bestimmt gedroht, ihm die Ohren langzuziehen. Auf jeden Fall aber hätte es ihr Spaß gemacht, ihn für seine Gedankenlosigkeit ordentlich auszuschimpfen, als wäre er noch ein Kind. Auch wenn Joshua längst die Führung von Callwell Castle übernommen hatte und ein erwachsener Mann war, für Eilidh blieb er ihr kleiner Junge.
Sie liebte es, das Kommando zu haben – nicht nur bei Joshua. Davon war jetzt gerade allerdings nichts zu spüren, ihr innerer Feldwebel war offensichtlich nicht im Dienst.
»Das Feuer im Kamin ist an«, erklärte sie ganz ruhig. »Im Kaminzimmer können sich die drei nach ihrem Frühstück gleich hinlegen und trocknen.«
Damit war die Angelegenheit für sie erledigt, die Strafpredigt blieb aus. Stattdessen nahm sie das Thema Wetter wieder auf. »Ach, dieser verflixte Schnee. Der passt mir gar nicht ins Konzept.« Sie schüttelte den Kopf und seufzte. »Aber es hilft nichts. Ich muss jetzt los und komme erst am späten Nachmittag wieder nach Hause. Es steht einiges auf dem Plan für heute. Für hier ist so weit alles geregelt. Um acht Uhr kommt Fiona, ich habe ihr eine Liste hingelegt, was sie heute putzen soll. Sie kann dann auch ein Auge auf den Kamin und die Hunde haben. Später holt Ewan die Bande zu sich in den Stall, damit sie nicht den ganzen Tag drin sind.«
Als hätten sie verstanden, dass Eilidh über sie sprach, kamen die drei zu ihr und sahen sie erwartungsvoll an. Eilidh nickte. »Jetzt brauchen sie aber erst mal ihr Futter, sieh doch nur, sie können es ja kaum erwarten. Die Näpfe habe ich schon gefüllt, du kannst sie gleich fressen lassen.
Der Frühstückstisch für Joshua und dich ist auch gedeckt, du musst nur noch den Toast machen, alles andere ist fertig. Und falls ihr am Nachmittag vor mir wieder zurück seid und Hunger habt – ich habe gestern schon ein Stew vorbereitet. Der Topf steht im Kühlschrank, du musst es nur aufwärmen. Mittlere Hitze, du darfst den Herd nicht voll aufdrehen«, sagte sie mahnend.
Es stand ihr ins Gesicht geschrieben, dass ihr nicht wohl war bei dem Gedanken, Maighread an den Herd zu lassen. »Ich sage es noch mal: nur mittlere Hitze. Auch wenn ihr Hunger habt und es schnell gehen soll, hörst du? Lass es langsam warm werden, sonst brennt es womöglich an. Und ab und zu musst du umrühren, nur nicht zu sehr, sonst zerfasern die Fleischstücke. Das Stew ist natürlich weichgeschmort, aber ihr wollt ja noch spüren, was ihr esst.«
Eilidh sah ihr fest in die Augen und war erst zufrieden, als sie von Maighread ein Nicken zur Antwort bekam.
Dann wurde ihr Blick weich. Sie umarmte Maighread und drückte sie an sich. »Fahrt vorsichtig. Und toi, toi, toi für den Termin bei Doktor Anderson. Und selbst wenn …« Sie stockte und schüttelte den Kopf. »Du weißt, wir denken alle an dich.«
Schlagartig wurden Maighread die Zusammenhänge klar. Deshalb Eilidhs Nachsicht und Sanftmut! Sie machte sich Sorgen.
Das war rührend, aber mit ihren lieben Worten hatte sie Maighread unerwartet getroffen und ihre Schutzmauern zum Einsturz gebracht, mit denen sie ihre Angst vor dem heutigen Tag unter Kontrolle gehabt hatte. Blitzschnell stiegen ihr Tränen in die Augen, die sie energisch wegblinzelte.
»Danke«, flüsterte sie und löste sich aus der Umarmung. Mehr konnte sie in diesem Moment nicht sagen, sie hatte Angst, sonst gänzlich die Kontrolle über sich zu verlieren. Wenn sie jetzt in Tränen ausbrach, war niemandem geholfen. Im Gegenteil, es würde für alle noch schwieriger werden.
Menschen an ihrer Seite zu haben, die mit ihr hofften und sich Gedanken um sie machten, war ein Geschenk und unglaublich wertvoll. Dieses Wissen gab Maighread das Gefühl der Geborgenheit. Aber sie wollte nicht, dass Eilidh und die anderen sich zu viele Sorgen machten. In Gedanken gab sie sich die Anweisung: Tief einatmen, den Atem für ein paar Sekunden halten und dann langsam die Luft aus den Lungen fließen lassen. Der Fokus auf ihre Atmung half Maighread dabei, ihre Selbstbeherrschung nicht zu verlieren.
Die Konzentration zu halten war allerdings gar nicht so einfach. Sie spürte, dass ihre Unterlippe zitterte, und fühlte sich mit einem Mal wieder sehr verletzlich. Die Was-wäre,-wenn-Szenarien, die sie schon die ganze Nacht wach gehalten hatten, ploppten erneut in ihrem Kopf auf. Am liebsten hätte Maighread ihrer Schwäche nachgegeben. Die Vorstellung, sich an Eilidh zu klammern, hemmungslos zu weinen und zu spüren, wie die Hände der erfahrenen Frau sie hielten und streichelten, war verlockend. Nur mit Mühe schaffte sie es, dieser Versuchung nicht nachzugeben.
Sie erinnerte sich selbst daran, dass sie beschlossen hatte, sich auf das Positive zu konzentrieren und sich nicht von unbestimmten Ängsten bestimmen zu lassen. Zwischendurch hatte sie es schließlich auch geschafft, dann musste es jetzt auch wieder klappen. Sie kämpfte.
Es kam ihr vor, als hätte sie versehentlich die Nadel aus dem Strickzeug gezogen und müsste nun darauf achten, dass keine Maschen fielen. Eine falsche Bewegung, und das Unheil würde seinen Lauf nehmen.
Diese Metapher drängte sich ihr auf. Obwohl dieses Bild ihre Verletzlichkeit sehr gut spiegelte, half es ihr auch, sich an ihre Stärke zu erinnern und besser zu fühlen. Denn mit Strickstücken kannte sie sich aus. Sollte wirklich eine Masche fallen, konnte Maighread sie ziemlich sicher retten und das drohende Desaster verhindern. Dieser Gedanke vertrieb ihre Schwäche und ließ sie lächeln.
Trotzdem war sie irritiert.
Was war nur mit ihr los? Weshalb fuhren ihre Gefühle so sehr Achterbahn? Sie kannte sich selbst kaum wieder. In dem einen Moment war sie zuversichtlich und voller Hoffnung, doch schon im nächsten Augenblick überwog die Angst davor, dass ihr Traum von einer Familie unerfüllt bleiben könnte.
Natürlich konnte sie ihr Gefühlschaos nicht vor Eilidh verbergen, die sie beobachtet hatte und jetzt verständnisvoll nickte. »Das sind nur die Nerven, mein Schatz«, versuchte sie, Maighread zu trösten. »Ich weiß, wie belastend das für dich ist. Aber die Medizin ist heute so viel weiter als noch vor ein paar Jahren. Und Doktor Anderson ist doch zuversichtlich, das hast du mir selbst erzählt. Alles wird gut, glaub mir. Und wir sind alle für dich da.«
Eilidh tätschelte Maighreads Wange und lächelte sie aufmunternd an. In den Augen der älteren Frau erkannte sie Mitgefühl und Warmherzigkeit, aber auch Stärke und einen nahezu unbeugsamen Willen. Und Hoffnung.
Die großmütterliche Freundin hatte in ihrem Leben dunkle Zeiten erlebt. Ein kleines bisschen davon hatte sie Maighread im Laufe der letzten Jahre während gemeinsamer Strickstunden erzählt. Doch es waren nur kleine Momentaufnahmen. Eilidh war nie sehr gesprächig, wenn es um ihre Vergangenheit ging. Vieles ließ sie nur angedeutet, und Maighread konnte die Dimension des Leids, das ihr Gegenüber erlebt hatte, nur ahnen.
Sie wusste, dass Eilidh aus ärmlichen Verhältnissen kam und sich mit eigener Kraft aus dem Elend herausgekämpft hatte. Von ihrer Familie hatte sie so gut wie nichts erzählt. Wenn die Sprache darauf kam, legte sich ein dunkler Schleier über ihre Augen, und sie wechselte das Thema.
»Ist es nicht wunderbar, dass wir heute genau hier sind? Ich könnte mir nichts Besseres vorstellen«, hatte sie beim letzten Mal gesagt, als das Gespräch auf die Orte ihrer Kindheit gekommen war.
Maighread hatte sich an ihr Kinderzimmer erinnert, an eine rosa Tapete mit kleinen Gänseblümchen darauf und eine einbeinige Puppe, die sie von ganzem Herzen geliebt hatte.
»Aber sind es nicht unsere Stationen und Erfahrungen, die uns zu dem machen, was wir sind?«, hatte Maighread dagegengehalten. »Die Erinnerung hilft uns, Dinge zu reflektieren.«
»Das mag sein. Aber letztlich zählt das, was wir heute sind. Lass uns dankbar sein und nicht die Zeit vergeuden mit ollen Kamellen. Es lohnt nicht, Energie darauf zu verschwenden.« Und dann hatte sie Maighread ihr Strickzeug hingehalten. »Sieh mal, wie findest du dieses Muster? Ich dachte mir, ich versuche mal, die Wollreste aufzubrauchen, und stricke Ringelsocken. Was gefällt dir besser, immer gleich breite Ringel oder lieber unterschiedliche Reihenzahlen?«
Damit hatte Eilidh ihr Ziel erreicht. Bevor Maighread sie durchschaut hatte, waren sie auch schon in eine Diskussion über die perfekten Ringel verwickelt gewesen.
Auch wenn sie nicht wusste, welche Dunkelheit Eilidh durchschritten hatte, sie ahnte, dass es schlimm gewesen sein musste. Und trotzdem war sie ein Mensch mit einer positiven Einstellung geworden. Und auch jetzt machte sie Maighread mit ihrer Zuversicht Mut.
Wenn Eilidh es schaffte, an ein Happy End zu glauben, dann sollte sie sich wohl ein Beispiel daran nehmen und nicht verzagen. Unwillkürlich drückte Maighread den Rücken durch und fühlte etwas von Eilidhs Stärke auf sich übergehen.
Bevor es zu emotional werden konnte, löste Lennox die Situation auf. Der hungrige Rüde verlor die Geduld und stieß ein langgezogenes Heulen aus, um zu verkünden, dass er demnächst verhungerte. Dann drängte er sich an Maighreads Beine, winselte und rieb auffordernd seinen Kopf an ihrer Jeans.
Lachend tätschelte sie ihn. »Oje, tut mir leid, dass du warten musstest. Aber jetzt geht es gleich los.« Sie wandte sich an Eilidh. »Liebe Grüße an Grandma und Gwendolyn. Danke, dass ihr euch heute um den Laden kümmert.«
»Ich wollte mir sowieso deine neue Wolle anschauen. Bis später.« Damit trat Eilidh zur Tür hinaus.
Maighread sah ihr hinterher und lächelte. Sie wusste genau, dass Eilidh flunkerte, denn sie hätte sich die Wolle auch hier ansehen können. Schließlich lagen einige Stränge im Kaminzimmer. Eilidh versuchte, ihre Hilfe so aussehen zu lassen, als wäre es purer Eigennutz und kein Dank nötig. Diese Frau mit ihren aufgestellten Stacheln und dem manchmal barschen Ton eines Kommandeurs war in Wirklichkeit unglaublich warmherzig, empathisch und jederzeit bereit, sich für andere Menschen einzusetzen, wenn sie Hilfe brauchten. Genau so hatte Maighread sie kennengelernt.
Nur wenn jemand versuchte, ihr den Platz in der Küche streitig zu machen, zeigte Eilidh nicht nur Zähne, sondern wurde richtig bissig. Des lieben Friedens willen hatte Maighread diese Versuche deshalb inzwischen aufgegeben.
Lennox winselte wieder und trippelte mit den Vorderfüßen. Auch Molly und Bonny tänzelten.
»Ihr habt ja recht«, stimmte Maighread ihnen zu. Sie öffnete die Küchentür. Die drei hungrigen Fellnasen stürmten hinein und stürzten sich auf ihre Näpfe. Während die Hunde es sich schmecken ließen, kümmerte Maighread sich flugs um die Pfützen in der Eingangshalle. Dann nahm sie sich eine Tasse Tee und ging ins Kaminzimmer. Eilidh hatte nicht zu viel versprochen. Das Feuer prasselte und strahlte behagliche Wärme aus. Auch die Hunde kamen. Molly schleckte noch genüsslich über ihre Schnauze. Die drei legten sich auf den Teppich vor dem Kamin.
Maighread hatte andere Pläne. Demnächst würde Joshua sicher aufwachen, die Zeit bis dahin wollte sie nutzen, um ein paar Stränge Wolle zu wickeln.
Mit angezogenen Beinen setzte sie sich aufs Sofa und legte die Decke um die Schultern. Dann zog sie den Tisch etwas zu sich heran. Sie hatte die Haspel gestern bereits an der Tischplatte befestigt. Mit geübten Bewegungen legte sie einen Wollstrang darüber und löste die Fäden, mit denen die Wolle zusammengehalten wurde. Gleich darauf fädelte sie den Faden beim Wickler ein.
Jetzt kam der wunderbare Teil dieser Arbeit. Mit gleichmäßigen Bewegungen drehte Maighread die Kurbel und sah zu, wie der Faden sich um den Konus legte. Sie ließ sich Zeit dabei. Aus Erfahrung wusste sie, dass unnötige Eile sich am Ende oft rächte. Drehte sich der Wickler zu schnell, konnte es passieren, dass das werdende Knäuel vom Konus rutschte und durch das Zimmer flog. Dann musste man zusehen, wie man die Arbeit retten konnte, oder von vorn beginnen. Wickeln entschleunigte auf wundersame Weise das Leben.
Das leise Surren des Wollwicklers vermischte sich mit dem Knistern des Kaminfeuers. Maighread mochte das sehr – das Surren, die Bewegung und vor allem die Entschleunigung. Wolle wickeln entspannte sie. Sie hatte sich sogar angewöhnt, bereits fertige Knäuel umzuwickeln. Der praktische Hintergrund dabei war, dass sie dabei mögliche Knoten oder Fehlerstellen im Garn entdeckte und ihr dadurch ungute Überraschungen beim Stricken erspart blieben. Doch wenn sie ehrlich war, wickelte sie fertige Knäuel vor allem neu, weil es ihr Spaß machte.
***
»Iss doch wenigstens etwas von dem Toast, Liebling«, bat Joshua. Er musterte Maighread, und sie konnte sehen, wie besorgt er war. Er sah auf seine Armbanduhr. »In zehn Minuten würde ich gern starten. Wer weiß, wie die Straßenverhältnisse sind. Ich schätze zwar, dass inzwischen alles geräumt und gestreut ist, aber sicher ist sicher. Wir wollen ja nicht zu spät kommen. Oder sollen wir etwas Proviant einpacken, wenn du jetzt nichts essen magst? Nicht dass du vor Hunger beim Arzt vom Stuhl kippst.«
»Na, zumindest wäre ich gleich in besten Händen«, versuchte Maighread einen Scherz. Doch Joshua hob nur die Augenbrauen und legte den Kopf schief. Lustig fand er die Vorstellung seiner ohnmächtigen Frau nicht, das war klar.
Um ihm einen Gefallen zu tun, nahm Maighread einen kleinen Bissen des gebutterten Toasts. Es schmeckte fad und schien in ihrem Mund immer mehr zu werden. Sie versuchte, die pappige Masse mit etwas Tee hinunterzuspülen, aber sie konnte es nicht schlucken. Stattdessen erhob sie sich hastig und eilte ins Badezimmer. Sie würgte und spuckte.
Der näher rückende Termin bei Dr. Anderson lag ihr wie Blei im Magen. Kein Wunder, dass dieser streikte. Sie setzte all ihre Hoffnungen darauf, doch gleichzeitig saß die Angst, dass es nicht klappen könnte, wie ein Monster in ihrer Seele. Was, wenn die heutige Untersuchung zutage brachte, dass es entgegen aller Erwartungen keine Möglichkeit gab? Was, wenn sie überhaupt keine Kinder bekommen konnte?
Es klopfte, gleich darauf hörte sie Joshuas Stimme. »Alles in Ordnung, Darling?«
Eilig warf Maighread sich eine Handvoll Wasser ins Gesicht. Während sie sich mit dem Handtuch abtrocknete, öffnete sie die Tür. »Alles okay, mach dir keine Gedanken.«
Sie zwang sich, Joshua in die Augen zu sehen und zu lächeln. Doch der Versuch misslang. Schon zog sich ihr Magen erneut zusammen. Gerade noch rechtzeitig konnte sie sich über die Toilettenschüssel beugen.
Joshua
Rund um Callwell Castle lag eine dicke Schneedecke über den Wiesen und Wegen. Die Sonne blitzte durch die aufgerissene Wolkendecke, in den Millionen und Abermillionen Eiskristallen brachen sich ihre Strahlen und brachten die Welt zum Glitzern. Auch die sanften Wellen des Loch Lomond funkelten im Licht der Wintersonne. Es sah märchenhaft aus. Atemberaubend und wunderschön. Joshua konnte sich kaum sattsehen an dem überwältigenden Naturschauspiel.
Die Landschaft seiner Heimat schaffte es immer wieder, ihn mit ihrer Magie zu verzaubern – und das zu jeder Jahreszeit und egal bei welchem Wetter. Aber wenn die Sonne schien, lockte es ihn immer besonders, Zeit draußen zu verbringen. Es würde Spaß machen, mit Maighread zusammen einen Schneemann oder noch besser ein Schneeschaf zu bauen. Ein Schaf wäre besonders und würde perfekt zu Callwell Castle passen. Immerhin war er Schafzüchter, und Maighread verarbeitete sehr viel Schafwolle. Allerdings wäre das auch nicht ganz einfach. Wie sie die Statik mit den Beinen hinbekommen sollten, war Joshua in diesem Moment noch ein Rätsel. Andererseits – wer sagte denn, dass die Skulptur stehen musste? Wenn sie ein liegendes Schaf aus dem Schnee modellierten, müsste es eigentlich funktionieren. Und danach konnten sie in die weiße Winterwelt eintauchen. Er sah sich schon Hand in Hand mit Maighread durch den Schnee stapfen.
»Wenn es morgen noch so wunderschön ist, könnten wir einen Spaziergang machen. Was meinst du? Sollen wir Jumper, Shine und die Hunde nehmen und über die verschneiten Wiesen wandern?«