Sternenkinder - Michael Graf - E-Book

Sternenkinder E-Book

Michael Graf

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Beschreibung

Einen Roman schreiben sei einfach, sagen die, die es wissen müssen. Es ist genügend Raum und Zeit, dem Leser alles zu vermitteln, was er erfahren soll. Kurze Erzählungen dagegen sind ungleich fordernder. Da muss alles knapp, aber präzise formuliert sein. Trotzdem gilt es Spannung zu erzeugen und zu halten, und wenn ein überraschender Schluss dem Leser offenbart, dass er die ganze Zeit irregeführt wurde - umso besser. Die Sammlung solche und anderer Geschichten wird dieser Forderung gerecht. Breit gestreute Themen, dem Leben abgelauscht oder der Fantasie entsprungen vermitteln kurzweilige Unterhaltung für viele Gelegenheiten.

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Seitenzahl: 139

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Für Ute, die klaglos mitansah, wie ihr Ehemann ständig von einerfremden Frau geküsst wurde

Inhalt

Arrow Tick

Aspekte

Auf dem Fjell

Auf der Spur

Bär

Baum des Jahres

Bob und Ben, ein Fahrrad und der wilde Westen

Brücken über den Fluss

Der letzte Tag

Die Leiden des alten Herter

Die Runde

Die Sache mit Solveig

Eine Frage der Zeit

Eingeschneit

Fels in der Wüste

Giftmord

Guantanamo

Jahrhundertwerk

Kinderspiele

König, Müller, Schornsteinfeger

Köstlichkeiten

Lebenselixier

Meerschwein

Nicht geschafft

Paulus

Piste nach Tamelrik

Präliminarien

Sonderobjekt 302

Sternenkinder

Unbekannte

Wasserkrieg

Weltmeister

Zimmertiger

Arrow Tick

Das Geräusch traf mich im Vorbeigehen.

Tick, machte es.

So, wie wenn, na zum Beispiel eine Erbse eine Fensterscheibe trifft. Schoss da jemand, ein Kind etwa, mit dem Blasrohr Erbsen auf mich?

Mein Kopf fuhr herum, nach der anderen Seite, von der der Schuss gekommen sein musste. Da sah ich sie und stoppte abrupt. Sie stand an einer Bushaltestelle und wartete. Wahrscheinlich auf den Bus. Ich spürte einen Stich im Herzen. Warum nicht auf mich?

Tick, machte es wieder hinter mir.

Aha, kein Blasrohr. Sie hatte sich nicht gerührt, geschweige denn, sich einer solchen Kinderwaffe bedient. Und da war sonst niemand. Brauchte auch nicht. Sie reichte vollkommen.

Abermals Tick.

Nun hielt ich es nicht länger aus. Ich riss den Blick von ihr los und schaute in Richtung des Geräusches. Im ersten Augenblick begriff ich gar nichts. Aber dann bewegte er den Arm mit der Hand, die den Pfeil hielt. Die Spitze berührte die Schaufensterscheibe und es machte Tick.

Er lächelte mich unschuldig an aus seinem Kindergesicht, das von goldenen Locken umrahmt war. In der anderen Hand hielt er einen doppelt geschwungenen Bogen, schräg über die Schulter trug er einen Köcher mit weiteren Pfeilen. Sonst trug er nichts.

Tick.

Ja, dachte ich, weiß ich ja nun. Du willst mich auf etwas aufmerksam machen. Aber worauf? Ich fuhr wieder herum und sah sie gerade in den Bus einsteigen, der von mir unbemerkt gehalten hatte. Wieder gab es einen Stich in meinem Herzen. Ich spurtete los. Die Falttüren schlossen sich bereits. Zu spät! Ich drückte verzweifelt den grünen Knopf, der sie gewöhnlich öffnete, aber nichts geschah. Der Bus fuhr an. Durch die Scheiben sah ich sie ein letztes Mal, bis Reflexe auf dem Glas mir den Blick verwehrten. Ich starrte dem Bus nach. Mein Herz war wund.

Und hinter mir machte es unbeirrt Tick.

Aspekte

Es regnet. Seit Tagen, gefühlt seit Wochen, immer schon. Bleigrau die Welt. Oben in dem Grau kaum Strukturen. Dicker Nimbostratus tief über dem Land, schluckt das Licht, macht Farben stumpf und trist. Menschen hasten, in schützende Kleidung gehüllt, Schirm dicht über den Kopf, vors Gesicht gezogen. Köpfe gebeugt, Schultern verkrampft. Es zischt, wenn Autos vorbeirollen, Reifen schleudern Wasserschleier. Füße versuchen allgegenwärtige Pfützen zu umgehen, scheitern kläglich. Langsam, unausweichlich kriecht Feuchtigkeit in das Schuhwerk. Kälte. Endlich zu Hause. Tropfenschauer beim Ablegen der Überkleidung. Rasch ein heißes Fußbad eingelassen. Allmählich strömt Wärme durch die Glieder. An den Fensterscheiben Trappeln von Mäusepfötchen, wenn der Wind Tropfen dagegen treibt. Ach, wenn doch nur die Sonne schiene!

Wieder keine Wolken. Tiefes Blau über dürstendem Boden. Wann hat es zuletzt geregnet, vor Monaten, Jahren? Risse überziehen netzartig nackte Erde. Spärliche Vegetation, längst verdorrt, die meisten Wasserlöcher ausgetrocknet. Andere schlammige, trübe Pfützen. Tierkadaver am Wegrand. Brettharte Hautreste an gebleichten Knochen intonieren im Wind schaurige Trommelwirbel. Der Weg zur Hütte weit, so schwer die Füße. Ach, …

Auf dem Fjell

Er war ganz allein auf der Welt.

Wenn er sich umschaute, sah er – nichts. Graues Nichts, korrigierte er sich in Gedanken. Er streckte seinen Arm aus und sah ihn ab Ellenbogen zunehmend verschwinden. Auch seine Füße konnte er nur erahnen, in ihrer unmittelbaren Umgebung, kaum auszumachen, Moos, Flechten, niedriges Gesträuch. Dann wieder nichts. Irgendwo in der Nähe musste sein Schlafsack liegen, wenn er nicht verschwunden war. Vorsichtig tappte er fünf Schritte geradeaus, machte eine möglichst exakte Wendung um neunzig Grad, wieder fünf Schritte, Wendung. Da! Undeutliche Formen zeichneten sich in dem Grau ab, er trat darauf. Weich. Ja. Der Schlafsack war also immerhin noch da. Blödsinn, dachte er. Wo hätte er schon sein sollen? Doch das eintönige, undurchdringliche Grau erzeugte solche Befürchtungen.

Unschlüssig stand er auf seinem Schlafsack und überlegte, was zu tun sei. Er könnte – nun – gar nichts konnte er tun. Zwar wusste er wo er sich befand. In etwa. Auf einer Wanderung in Norwegen, nordwestlich der Stadt Lillehammer, auf dem Fjell. Eine Wegstunde entfernt von einem Gasthof, ein paar Hütten Drumherum. Da war er gestern spätabends losgegangen, in grob nordostwärtiger Richtung. Zuerst auf unbefestigten Wegen, dann auf schmalem Wechsel. Der mochte von Schafen stammen, die hier halbwild den Sommer über weideten. Oder von Kühen. Hatte er auch welche gesehen. Egal. Sein Tagesziel war eine Bergkuppe gewesen, dort wollte er die Nacht verbringen. Na ja, Nacht. Es wurde nicht dunkel. Selbst um Mitternacht blieb genügend Licht. Ungefähr so, wie zu Hause in der Abenddämmerung.

Aber dann hatte sich sein Marsch als unerwartet anstrengend erwiesen. Der Untergrund federte wie Schaumgummi. Wohl von einer dicken Schicht dieses Mooses, das hier überall wuchs und wie isländisches aussah. War es wahrscheinlich auch. Jedenfalls ermüdete das Gehen darauf. Und weil das Wetter schön war und im Grunde egal, wo er ausruhte, war er ein paar Schritt abseits des Pfades in den Schlafsack gekrochen. Niemand kam hier hin. Es war ohne Risiko.

Später, aus tiefem Schlaf aufgetaucht, weil ihn die Blase drückte, verließ er die angenehme Wärme des Schlafsacks um sich zu erleichtern. Dabei registrierte er, dass es kalt geworden war. In nördlicher Richtung, wo die Sonne dicht unter dem Horizont stand, prangte der Himmel in den unglaublichsten Abstufungen von Gelb, Orange und Rot. Schnell schlüpfte er wieder in sein gemütliches Nest zurück und schlief unmittelbar darauf ein. Als er erneut aufwachte, dieses Grau.

Im Gepäck befand sich ein Kompass. So weit so gut. Aber um ihn zu benutzen, brauchte er Landmarken. Die gab es nicht. Gab es schon, hoffte er. Nur blieben sie unsichtbar. Der Pfad. Wieder schaute er umher. Wenn er ihn überhaupt fand, würde es unmöglich sein, ihm zu folgen. Selbst bei klarer Sicht entzog er sich immer wieder dem suchenden Blick. Er gab es auf. Ehe er irgendwohin tappte, womöglich in Sumpf oder gar eines der zahllosen Wasserlöcher, einen der Tümpel und kleinen Seen, sollte er besser wieder in den Schlafsack zurückkriechen und auf bessere Sicht warten.

Doch zuvor holte er zwei Müsliriegel aus seinem Rucksack, dessen Klappe mit dem Parka er als Kopfkissen benutzt hatte und goss sich aus der Thermoskanne einen Becher Tee ein. Langsam mampfte er die Nahrung und trank ab und zu einen Schluck des warmen Getränks. Dabei starrte er in das ihn umgebende Grau, uninteressiert, es schien ohne jede Struktur. Erst nach einer Weile erkannte er Bewegung. Zuerst glaubte er sich zu täuschen. Er strengte die Augen an, fokussierte den Blick auf das Nichts und nahm plötzlich winzige Tröpfchen wahr, in chaotischem Wirbel. Das Schauspiel hielt ihn ein paar Minuten gefangen, bis er bemerkte, dass leichter Schwindel ihn erfasste. Von da an bemühte er sich, den Vorgang zu ignorieren. Stattdessen spitzte er seine Ohren. Zuerst vernahm er keine Geräusche, es schien absolut still. Dann erreichte ihn ein gedämpfter Laut, wie ein Ruf. Menschen in der Nähe? Nein! Da war es wieder. Ein Tierschrei. Wahrscheinlich eine Eule. Einmal glaubte er Glocken zu hören. Vielleicht Schafe in seiner Nachbarschaft. Leittiere trugen eine Glocke am Hals.

Nachdem er seine sparsame Mahlzeit zu sich genommen hatte, machte er es sich wieder im Schlafsack bequem. Eine Zeitlang schaute er in die Höhe. Dort schien das Grau etwas heller. Trotzdem umschloss es ihn, Kokon aus feuchter Watte. Ein bisschen nahm es ihm den Atem. Keine Panik, mahnte er sich. Plötzlich beschäftigte ihn wieder der Gedanke allein auf dieser Welt zu sein. Nicht nur der einzige Mensch: Das Einzige überhaupt. Er vermochte nichts zu sehen. Keine Bäume, keine Findlinge, keine Landschaft. Wer sagte ihm, dass sie überhaupt noch da waren? Selbst die Erzeuger der geisterhaften Laute. Trolle, dachte er unvermittelt. Ja! Glaubten Norweger nicht, der Fjell wimmele von ihnen? Nicht ernsthaft, natürlich. Nur zum Spaß. Aber immerhin. Trolle pflegten Menschen zu narren, Streiche zu spielen, Schabernack anzutun. Hatten vielleicht sie dieses Grau erzeugt, um ungesehen die Welt zu stehlen? Seine Gedanken begannen zu zerfasern und er dämmerte wieder in den Schlaf hinüber.

Als er das nächste Mal erwachte, sah er über sich blauen Himmel. Er schaute nach seiner Uhr: kurz vor Zehn. Lang hatte er geruht. Er zog den Reißverschluss auf und schälte sich aus den körperwarmen Textilien. Puh, das war immer noch ziemlich kalt. In seiner Thermoskanne musste noch ein Rest Tee sein. Wenn er Glück hatte, war er noch warm. Er probierte einen Schluck. Ja. Nicht mehr heiß, aber es reichte. Aus der Seitentasche des Rucksacks fischte er Brot, Hartwurst und sein Taschenmesser und begann sein kräftiges Frühstück. Wie ein Steinzeitjäger, dachte er und verwarf den Gedanken sogleich wieder. Der hätte kein Schweizer Offiziermesser gehabt. Und Hartwurst? Vielleicht. Während er kaute, bemerkte er seitlich einen Schatten. Er schloss die Augen und öffnete sie wieder. Der Schatten war weg. Doch bald darauf irritierte ihn etwas seitlich in seinem Blickfeld. Er wendete den Kopf und da stand eine Drehbirke, undeutlich aber eindeutig. Ah, es schien also aufzuklaren. Ein Blick in die Höhe bestätigte ihn. Deutlich kräftiger war das Blau geworden. Zugleich meinte er, einen leichten Lufthauch zu verspüren. Und während er wieder auf den Wirbel der feinen Wassertropfen starrte und glaubte, dass sie sich rascher bewegten, tauchte die Drehbirke ganz deutlich aus den grauen Schleiern auf und Sonnenlicht erhellte für einen Augenblick ihre Umgebung.

In der nächsten halben Stunde ging alles ganz schnell. Das Grau lichtete sich, hier, dort, und wieder da, es zeigte Strukturen, Schwaden. Ein Stück Fjell entblößte sich, eine weitere Drehbirke etwas entfernt. Mehr Sonne tauchte hier und dort das Wallen in wohltuendes Licht. Eine leichte Brise kam auf, verwirbelte alles, enthüllte mehr Landschaft. Mehr Sonnenlicht flutete dazwischen. Warm lag es jetzt auf seinem Gesicht. Und dann schien es, als zöge die Natur einen Vorhang beiseite. Noch garniert mit verwehenden Schlieren und größeren, jetzt gleißend hellen Fetzen lag der Fjell vor ihm mit seinen Birken, Kiefern. Hier, nur ein paar Schritt weiter, der Pfad und dort der kleine See, im Hintergrund der gerundete grüne Hügel mit den grauen Steinbrocken, der sein nächstes Ziel war. Von wegen Trolle, murmelte er.

Plötzlich traf es ihn wie ein Blitzschlag.

Dieser Findling, an dem sein Rucksack lehnte. Der war gestern Abend nicht da gewesen! Ganz sicher nicht. Oder doch? Kopfschüttelnd ging er hinüber zu dem Gewässer, machte Morgentoilette. Als er zum Schlafsack zurückkam, packte er seine Siebensachen und brach endlich auf.

Auf der Spur

Da war es wieder! Dieses Geräusch, das ihn stets wohlig erschauern ließ. Tak – tak – tak – tak …

Ohne lang zu überlegen, wirft er die Decke beiseite und schwingt die Beine aus dem Bett. Dabei streift sein Blick hastig die grün schimmernden Ziffern seiner Armbanduhr. Ja, es ist die richtige Zeit. Geübt schlüpft er im spärlich von einer Straßenlaterne erleuchteten Zimmer in die bereitliegenden Sachen: die Vietkonghose, den langärmligen Pulli, dann Wollsocken und Gymnastikschuhe – alles tiefschwarz. Als er fertig ist, kann er im Spiegel der Schranktür lediglich einen dunklen Schatten erkennen, darüber, heller, das Oval seines Gesichtes. Eine Kommandomaske wäre nicht schlecht. Doch nein, er könnte jemand begegnen, und das würde ihn verdächtig machen. Es muss so gehen.

Rasch verlässt er das Haus, verhält vor der Tür, schaut sich um, lauscht. Nichts, als die geringen Laute der stillen Wohnsiedlung zu dieser späten Stunde. Kein Tak – Tak. Aber das schadete nicht. Sie hielt immer ihre Routine ein. In kurzer Zeit würde er sie eingeholt haben. Nein, nicht ganz, korrigiert er sich selbst. Abstand, er musste Abstand halten, durfte sich keinesfalls zeigen. Wie hätte er ihr je seine Anwesenheit erklären und, falls sie ihn aus der Nähe sah, seinen Aufzug rechtfertigen wollen? Noch muss er Abstand wahren, noch …

Während er flink und völlig lautlos durch den Garten huscht, hinüber zum Bürgersteig, erinnert er sich, wie alles begonnen hatte. Schlaflos wälzte er sich auf seinem Lager, aufgeputscht von sich jagenden Gedanken, die sich nicht bannen ließen. Dann dieses Tak – Tak – Tak. Sofort hatte der noch leise Laut sein Ohr gefangen, seine Aufmerksamkeit beansprucht. Eine Frau! Unverkennbar. Sie trug hohe Absätze oder zumindest Schuhe mit festen Absätzen, und sie ging spazieren. Das verriet ihm ihre Schrittfrequenz. Er warf einen Blick auf die Uhr: halb zwölf. Ungewöhnliche Zeit für einen Spaziergang. Vor allem für eine Frau. Na, wenn schon, hatte er gedacht, die Gegend ist sicher, sollte man jedenfalls meinen. Das Tak – Tak wurde lauter, schien sein Haus zu passieren und klang wieder ab. Er lauschte hinterher. Und da bemerkte er plötzlich, dass das Geräusch etwas ungemein Erotisches hatte. Ein angenehmer Schauer überlief ihn, er gab sich dem Gefühl hin. Wer sie wohl war? Und wie sie aussah?

Als erstes stellte er sich seltsamer Weise die Schuhe vor. Bestimmt sehr elegant, mit hohen Absätzen. High heels, wie die Angelsachsen sagen. Sie machen ein schönes Bein. Freilich konnte seine Unbekannte ebenso gut plumpe Beine haben. Aber irgendwie festigte sich in seinen Vorstellungen die Gewissheit, dass das nicht so war. Sie hatte wohlgeformte Füße, nicht zu groß, schlanke Fesseln, und Zug um Zug, während ihr Tak – Tak leiser und leiser klang, entstand vor seinem inneren Auge ein Bild. Seine Traumfrau?

Blödsinn! Sie war inzwischen sowieso weg. Ihre Schritte verhallt, er würde niemals wissen, ob sie jung war oder älter, groß oder klein, schlank oder mollig, dunkelhaarig oder blond. Er bemerkte, dass er ziemlich müde geworden war. Mit einem letzten Verharren in seinen Phantastereien glitt er in den Schlaf hinüber.

Nein, er hatte nicht von ihr geträumt. Am nächsten Tag erinnerte er sich ein paar Mal an die geheimnisvolle Fremde. Jetzt, bei Tag, erschienen ihm seine Abschweifungen lächerlich. Abends schlief er problemlos ein. Aber nun ist er hier, auf nachtdunkler Straße, die in regelmäßigen Abständen von Laternenschein aufgehellt wird. Irgendwo dort vorn ging die Frau, von der er inzwischen ziemlich viel weiß. Denn ein paar Tage später – er war noch nicht zu Bett gewesen – hatte ihn erneut das Tak – Tak elektrisiert. Er hatte sich wie ein Einbrecher getarnt und war ihr gefolgt. Vorsichtig und mit weitem Abstand. Und dann noch mal und noch mal, immer wieder. Viele Male inzwischen.

Nie hatte er sie angesprochen, sich nie gezeigt. Anfangs verlor er sie zuletzt aus den Augen. Doch bald fand er heraus, in welchem Haus sie verschwand. Er beobachtete es unauffällig, konnte ihren Namen ermitteln. Er wählte am Telefon ihre Nummer, vernahm ihre Stimme und legte stumm wieder auf. Sie hörte sich völlig normal an, nett, aber in keiner Weise aufreizend. Er wusste, wo sie arbeitete und dass sie allein lebte. Und sie war ganz gewiss keine Traumfrau, wenn es denn eine solche überhaupt gab. Vielmehr war sie durchschnittlich hübsch, ganz gut proportioniert, mittelgroß, aschblond und um die Dreißig. Was strahlte sie nur aus, das ihn immer wieder veranlasste, sich wie ein Strolch zu verhalten und ihr verstohlen zu folgen, sooft er sie auf ihrem nächtlichen Weg aufspürte und er nicht verhindert war?

So wie heute. Sorgfältig bedacht, von niemand bemerkt zu werden, bewegt er sich von Dunkelzone zu Dunkelzone. Hält immer wieder inne, lauscht. Dann schallt wieder das Tak – Tak ihrer Absätze an sein Ohr, noch entfernt. Er verkürzt den Abstand, sieht ihr undeutliches Abbild endlich vor sich, heftet sich an ihre Fersen. Unsichtbarer Jäger eines ahnungslosen Wildes. Er weiß, er wird den letzten Schritt tun. Nicht heute, irgendwann, wenn die Zeit reif ist.

Bär

Hercules sei tot, hab ich in meiner Zeitung gelesen. Nein, nein – nicht der antike Sagenheld. Von dem weiß man ja nicht einmal, ob er wirklich gelebt hat. Und wenn doch, wäre er jetzt ein paar tausend Jahre überfällig gewesen.

Hercules wurde nur Fünfundzwanzig. Ich weiß nicht, ob das alt ist für einen Bären. Ja, Hercules war ein Bär. Ein Grizzly, genauer gesagt. Der erfolgreichste britische Filmbär. Immerhin war sein Ende – ob nun früh oder nicht – den Medien eine Meldung wert. Das kann nicht jeder Mensch von sich sagen.